Stellungnahme zum SVR-Gutachten 2002/2003 (PDF, 144 kB )

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Deutscher
Gewerkschaftsbund
Bundesvorstand
Abteilung
Wirtschafts- und Tarifpolitik
Abteilung
Arbeitsmarkt- und Internationale
Sozialpolitik
Zusammenfassung
und
erste Bewertung
des Jahresgutachtens
2002/2003 des
Sachverständigenrates
zur Begutachtung
der gesamtwirtschaftlichen
Entwicklung (SVR)
Berlin, 18. November 2002
Herausgeber:
Verantwortlich:
DGB-Bundesvorstand
Heinz Putzhammer
Abt. Wirtschafts- und Tarifpolitik
Henriette-Herz-Platz 2
10178 Berlin
Rückfragen an:
Johannes Jakob (Abt. ais)
Dr. Wolfgang Scheremet (Abt. wtp)
Telefon 030/ 240 60 –727
Telefax 030/ 240 60 –218
E-Mail: carina.ortmann
@bundesvorstand.dgb.de
Zusammenfassung
Weltwirtschaft
Im ersten Halbjahr 2002 hatte sich die Weltwirtschaft zwar
zunächst von der Rezession im Jahr 2001 erholt. Im Verlauf des
Sommers kam es aber zu einer konjunkturellen Eintrübung. Der
SVR sieht auch die Perspektiven der Weltwirtschaft keineswegs
als positiv an. So wird die Wirtschaftsentwicklung mit Ausnahme
der USA in kaum einem Land von einer binnenwirtschaftlichen
Dynamik getragen. Zugleich wuchs der Welthandel in den beiden
vergangenen Jahren, anders als in den Jahren zuvor, schwächer
als das Welt-Bruttoinlandsprodukt. Die Abkühlung ging folglich mit
einer deutlich schwächeren Ein- und Ausfuhrdynamik einher. Die
konjunkturelle Abkühlung in den großen Industrieländern hat sich
damit sehr schnell auf die Weltwirtschaft übertragen. Die
einzelnen Wirtschaftsregionen werden damit auch durch weniger
außenwirtschaftliche Impulse angeregt. Der SVR prognostiziert für
das Jahr 2003 einen Zuwachs der weltwirtschaftlichen Produktion
von 3,7 %. Die Zuwachsrate bleibt damit wiederum unter dem
längerfristigen Durchschnitt zurück. Die Risiken für einen
ungünstigeren Verlauf werden dabei höher eingeschätzt als die
Chancen für ein besseres Ergebnis.
Nach einer kräftigen Erholung im vergangenen Winter geriet die
Wirtschaft in den USA im Jahresverlauf wieder ins Stottern.
Sinkende Aktienkurse, unsichere Wachstumsperspektiven sowie
die drohende Gefahr eines Krieges im Nahen Osten belasten die
Konjunktur. Besonders stark ist die US-amerikanische Industrie
von der Flaute betroffen, deren Produktion in diesem Jahr um fast
7 % abnahm. Stützend wirkte – nach Aussage des SVR - der
private Verbrauch und der Staatskonsum. Insgesamt nimmt die
gesamtwirtschaftliche Produktion in den USA in diesem Jahr um
2,4 % zu. Impulse erhielt die US-amerikanische Wirtschaft von
der expansiven Geld- und Finanzpolitik. Zum ersten Mal seit fünf
Jahren gerieten die öffentlichen Haushalte wieder in ein Defizit.
Wie bereits in den achtziger Jahren weist die US-amerikanische
Wirtschaft ein sogenanntes „Zwillingsdefizit“ auf, Defizite im
Staathaushalt und in der Leistungsbilanz. Der SVR erwartet aber
keinen deutlich Rückgang des Dollarkurses.
Auch in Japan blieb die Konjunktur schwach. Die Produktion
schrumpfte um 0,8 % und damit zum zweiten mal in Folge.
Impulse kamen in diesem Jahr lediglich vom Export und von den
Staatsausgaben. Demgegenüber stagnierten die privaten
Konsumausgaben, und die Investitionen setzten ihren
Abwärtstrend fort. Im nächsten Jahr erwartet der SVR nur eine
Wachstumsrate von 0,7 %.
Die Wirtschaftsaktivitäten in den südostasiatischen
Schwellenländern nahmen mit einer Rate von 4,3 % sehr viel
kräftiger zu als im Vorjahr. Konjunkturstützend wirkte auch hier
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die expansive Geld- und Finanzpolitik. In Folge dessen kam es zu
einer Ausweitung der privaten Verbrauchsausgaben und der
Investitionen. In Lateinamerika war die Lage hingegen geprägt von
den Krisen in Argentinien und Brasilien. Das Bruttoinlandsprodukt
in der gesamten Region nahm um 0,9 % ab (Argentinien: -16 %).
Für das kommende Jahr prognostiziert der SVR eine Erholung.
Die Volkswirtschaften des Euroraums erholten sich im ersten
Halbjahr 2002 nur zögerlich im Gefolge der weltwirtschaftlichen
Belebung. Die Binnennachfrage schwächte sich ab. Das
Bruttoinlandsprodukt nahm nur um 0,8 % zu. Bei restriktiver
Finanzpolitik und schwacher Binnenkonjunktur wird die
gesamtwirtschaftliche Expansion im kommenden Jahr mit einer
Wachstumsrate von 1,8 % unter ihren Möglichkeiten bleiben.
Wirtschaftsentwicklung in Deutschland
Gemäß der Diagnose des SVR kam es in Deutschland im Jahr
2002 zu einer Überwindung der rezessiven Tendenzen. Impulse
kamen von der Auslandsnachfrage, die Binnennachfrage blieb
dagegen schwach, nicht zuletzt, weil die Ausrüstungsinvestitionen
ihren im vorletzten Jahr begonnen Abwärtstrend nahezu
ungebremst fortsetzten. Alles in allem reichte es nur zu einer
Wachstumsrate von 0,2 %. Solange die Binnennachfrage keine
Dynamik entwickelt, wird die konjunkturelle Entwicklung auf
tönernen Füßen stehen.
Die Exporte nahmen 2002 um 1‚8 % zu‚ obwohl der Euro an Wert
gewann. Durch die extrem schwache Binnennachfrage gingen die
Importe aber um 3,6 % zurück, so dass vom Außenbeitrag
insgesamt doch ein positiver Wachstumsbeitrag ausging. Als
„kümmerlich“ bezeichnet der Rat die Entwicklung des privaten
Verbrauchs, der um 0,7 % schrumpfte. Sinkende verfügbare
Einkommen, steigende Preise, zunehmende wirtschaftliche
Unsicherheiten und die massiven Kursverluste an den
Aktienmärkten werden als Gründe genannt. Stark rückläufig
waren die Anlageinvestitionen, die insgesamt um 5,5, %
abnahmen (Bauten: -4,9 %‚ Ausrüstungen: -7,4 %).
Die Lage am Arbeitsmarkt hat sich 2002 weiter eingetrübt. Die
Arbeitslosigkeit nahm im Jahresvergleich um 211.000 Personen
zu, die Arbeitslosenquote stieg um 0,4 Prozentpunkte auf 9,8 %‚
die Zahl der Erwerbstätigen ging um 242.000 Personen zurück.
Rechnet man die 1,74 Mio. verdeckt Arbeitslosen hinzu, beträgt
die tatsächliche Arbeitslosenquote aber 13,4 %. Der SVR macht
neben der schwachen wirtschaftlichen Entwicklung und den
ausgebliebenen Strukturreformen am Arbeitsmarkt auch die
überhöhten Tarifabschlüsse für die schlechte
Arbeitsmarktentwicklung verantwortlich.
In den neuen Bundesländern ist der Konvergenzprozess laut SVR
ins Stocken geraten. Seit 1996 ist das Bruttoinlandsprodukt je
Erwerbstätigen lediglich um 3,5 Prozentpunkte gegenüber dem
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westdeutschen Wert gestiegen und liegt nun bei 70,3 % des
Westniveaus. Zwar wächst die Industrie dynamisch, die
industrielle Basis ist jedoch nach wie vor zu schmal, um die
Strukturkrise des ostdeutschen Baugewerbes zu kompensieren.
Seine Prognose betitelt der Rat mit „Erholung mit angezogener
Handbremse“. Er erwartet nur eine behutsame Fortsetzung der
konjunkturellen Aufwärtsbewegung mit einer Zuwachsrate von
1,0 %. Die Prognose deckt sich damit weitgehend mit der des
DGB. Die wesentlichen Impulse kommen dabei erneut von der
Außenwirtschaft. Er setzt vor allem auf die USA. Die Exporte
steigen mit 3,6 % erneut kräftiger als die Importe (3,3 %). Die
Binnenkonjunktur sieht er dagegen kraftlos. Neben dem privaten
Verbrauch (0,8 %)‚ werden auch die Ausrüstungsinvestitionen
verhalten um 0,9 % zunehmen. Der Rückgang der
Bauinvestitionen schwächt sich ab (-0,2%). Die Arbeitslosigkeit
wird weiter auf 4,17 Mio. Personen im Jahresdurchschnitt
zunehmen. Die Beschäftigung wird weiter abgebaut, insbesondere
im produzierenden Gewerbe.
Bewertung der wirtschaftspolitischen
Vorschläge
Seine wirtschaftspolitischen Vorschläge beschreibt der SVR als
ein „Programm für Beschäftigung und Wachstum“. Es umfasst 20
Punkte. Mit durchgreifenden Strukturreformen auf dem
Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen, in den öffentlichen
Haushalten sowie in der Steuerpolitik soll das Wachstum angeregt
werden. Wenig Erfolg verspricht sich der Rat durch die Vorschläge
der Hartz-Kommission. Sie gehen dem SVR nicht weit genug.
Das „20-Punkte-Prgramm“ des Rates lässt sich grob in vier
Bereiche teilen.
1. Reform der institutionellen Ausgestaltung des Arbeitsmarktes
(Punkte 1 bis 8). Im einzelnen sind dies: die Senkung der
Arbeitskosten (1. Den Grenzabgabensatz für Arbeit senken; 2.
Lohnanhebungen unterhalb der Zuwachsrate der
Arbeitsproduktivität halten), Senkung der Lohnersatzleistung
und Schaffung eines Niedriglohnsektors (3. Das
Arbeitslosengeld auf 12 Monate befristen; 4. Arbeitslosenhilfe
in Sozialhilfe integrieren; 5. Mehr Beschäftigung im
Niedriglohnbereich erfordert eine Reform der Struktur der
Sozialhilfe), Flexibilisierung der Tarifverhandlungen (6. Mehr
Flexibilität - Verantwortung der Tarifvertragsparteien; 7.
Gesetzliche Regelungen im Interesse dezentraler Lohnfindung
ändern) und Deregulierung des Kündigungsschutzes (8. Die
Möglichkeiten befristeter Arbeitsverträge erweitern - den
Kündigungsschutz weniger stringent gestalten).
2. Reform der Gesundheitspolitik (Punkte 9 bis 15). Diese
umfassen: 9. Neue Rollenzuweisung für die gesetzliche und
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private Krankenversicherung; 10. Mehr Ergebnisorientierung
bei der ärztlichen Honorierung im ambulanten Bereich; 11.
Liberalisierung des Arzneimittelvertriebs; 12. Vertragsfreiheit
für die gesetzlichen Krankenkassen; 13. Keine diskretionären
Ausweitungen der Beitragsgrundlagen; 14. Von
einkommensabhängigen Beiträgen zu
gesundheitskostenorientierten Kopf-Pauschalen; 15. Mehr
Wettbewerb in der privaten Krankenversicherung.
3. Finanzpolitik (Punkte 16 bis 19). Im einzelnen sind dies: 16.
Haushaltskonsolidierung beherzt angehen - am Stabilitäts- und
Wachstumspakt festhalten; 17. Staatliche Verschuldung
senken bedeutet Wachstumskräfte stärken und zukünftige
Generationen entlasten; 18. Staatsaufgaben zu Gunsten
privater Aktivitäten zurückführen und staatliche Ausgaben
gleichzeitig in Richtung öffentlicher Investitionstätigkeit
umschichten, 19. Steuersätze weiter senken, Integration von
Einkommens- und Unternehmensbesteuerung anstreben.
4. Ostdeutschland (Punkt 20), 20. Elemente eines
Wachstumsprogramms für Ostdeutschland.
Der SVR konstatiert, dass die Probleme der deutschen Wirtschaft
zu Beginn der neunziger Jahre begannen und sich in der zweiten
Hälfte der Dekade verschärft haben. Der Rat trennt in seiner
Diagnose streng zwischen Konjunktur und Wachstum. Wachstum
ist die längerfristige, Konjunktur dagegen die kurzfristige Dynamik.
Da sich die wirtschaftliche Dynamik seit Mitte der neunziger Jahre
bis heute, also über einen längeren Zeitraum, verlangsamt hat,
diagnostiziert er einen abnehmenden Wachstumstrend. Es handelt
sich folglich nicht mehr um eine konjunkturelle Schwächephase.
Dies hat Konsequenzen für die wirtschaftspolitischen
Empfehlungen des Rates. Auf die kurze Frist (ein bis zwei Jahre)
könne die Wirtschaftspolitik, wie Geld- und Finanzpolitik, einen
Einfluss ausüben. Die längere Frist, also das Wachstum, würden
aber allein von den strukturellen Rahmenbedingungen bestimmt.
Da die wirtschaftliche Dynamik aber eben über einen längeren
Zeitraum schwach verlief, und es sich deshalb um eine
Wachstumsschwäche handele, könne die allgemeine
Wirtschaftspolitik dafür nicht verantwortlich sein. Mithin könne
mit den Instrumenten der Geld- und der Finanzpolitik auch nicht
agiert werden. Sie seien nutzlos. Vielmehr seien Maßnahmen zur
Stärkung des Wachstumstrends zu ergreifen.
Der Rat macht es sich mit dieser theoretischen und akademischen
Unterscheidung sehr einfach. Da in der theoretischen Welt des
Rates die allgemeine Wirtschaftspolitik allenfalls für die
Konjunktur, nicht aber für das Wachstum von Bedeutung ist, es
sich aber in Deutschland um eine reine Wachstumsschwäche
handele, kann der Rat die Rolle der Geld- und der Finanzpolitik
ausblenden. Ihr Einfluss wird sozusagen durch die Reduzierung der
schwachen Dynamik auf ein reines Wachstumsphänomen
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„wegdefiniert“. Die allgemeine Wirtschaftspolitik und eine
mögliche restriktive Wirkung von Geld- und Finanzpolitik werden
vom Rat daher auch nicht weiter untersucht. Diese
Unterscheidung ist aber rein hypothetisch. Sie entspricht nicht der
Realität. Wachstum und Konjunktur sind nicht unabhängig
voneinander. Die schwächere Dynamik ging auch auf die
restriktive Geld- und Finanzpolitik zurück. Dies negiert der Rat
völlig.
Der Rat betrachtet dagegen einzig und allein mögliche strukturelle
Ursachen für die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit. So weist er der
deutschen Vereinigung, die mit steigenden Schulden und Abgaben
einherging sowie den Rigiditäten des deutschen Arbeitsmarktes
zentrale Bedeutung zu. Auch die nicht beschäftigungsorientierte
Lohnpolitik hätte hierzu beigetragen. Diese Diagnose schlägt sich
dann in den Empfehlungen nieder.
Laut der Diagnose des Rates begannen die Probleme vor allem in
der zweiten Hälfte der neunziger Jahre. In dieser Zeit blieben die
Lohnzuwächse (einschließlich der Lohnnebenkosten) aber deutlich
hinter dem Produktivitätswachstum zurück. Dies muss zwar auch
der Rat konstatieren, er folgert aber daraus, dass der Zuwachs der
Arbeitskosten zwar niedrig, aber dennoch zu hoch war (weil ja die
Arbeitslosigkeit gestiegen ist). Bis auf das Ratsmitglied Herr Prof.
Dr. Jürgen Kromphardt ignoriert der Rat möglich negative
Rückkopplungen der schwachen Einkommensentwicklung auf den
privaten Verbrauch und damit auf die Beschäftigung.
Aus Sicht des SVR ist ein Grund für hohe Arbeitslosigkeit auch
der angeblich zu hohe Anspruchslohn, den Arbeitslose erwarten,
wenn sie sich um eine neue Stelle bewerben. Als Anspruchslohn
wird der Lohn bezeichnet, den eine arbeitslose Person von einem
neuen Arbeitsplatz erwartet. Es ist quasi der Referenzlohn. Er
hängt ab vom Lohn der vorangegangenen Beschäftigung und der
Höhe der sogenannten Lohnersatzleistungen (Arbeitslosengeld,
Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe). Die arbeitslose Person
vergleicht den angebotenen Lohn mit dem von ihm gebildete
Anspruchslohn und entscheidet dann ob, sie die angebotene Stelle
annimmt. Dieser Anspruchslohn läge in Deutschland angeblich
relativ hoch. Ein Teil der Arbeitslosigkeit sei also darauf
zurückzuführen, dass Arbeitslose wegen zu hoher Ansprüche
einen Arbeitsplatz ablehnen. Als einen Grund für diesen hohen
Anspruchslohn vermutet der Sachverständigenrat, das hohe
Niveau von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe.
Im Kern geht der Rat also davon aus, dass die Arbeitslosigkeit
zumindest zum Teil freiwillig sei.
Zur Lösung dieses Problems wird vorgeschlagen, mehr
Anstrengungen zur Verbesserung der Qualifikation zu
unternehmen, (das ist sicherlich unstrittig) aber auch den
Anspruchslohn zu senken. Voraussetzung hierfür sei eine
drastische Senkung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. Im
Gegenzug soll Beschäftigten, die trotz niedrigen Lohnes eine
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Arbeit aufnehmen, eine Lohnsubvention gewährt werden. Die
Absenkung der Lohnersatzleistungen sei erforderlich, um das
Modell überhaupt finanzierbar zu machen.
Das Konzept sieht vor: Arbeitslosengeldempfänger sollen bereits
nach drei Monaten – nicht wie bisher nach sechs Monaten - einen
Arbeitsplatz akzeptieren müssen, bei dem sie einen Nettolohn in
Höhe des Arbeitslosengeldes erhalten. Zusätzlich soll das
Arbeitslosengeld für alle Arbeitslosen auf zwölf Monate befristet
werden. Nach Ablauf der zwölf Monate soll nach den
Vorstellungen des Sachverständigenrates jeder Arbeitslose nur
noch eine Sozialleistung in Höhe der heutigen Sozialhilfe erhalten.
Der Rat bezeichnet zwar die Verlängerung der Bezugsdauer von
Arbeitslosenhilfe in den USA als
Konjunkturstabilisierungsmaßnahme, er zieht aber für die
Deutschland nicht auch die entsprechenden Schlussfolgerungen.
Neben Effizienzgewinnen haben Kürzungen bei den
Lohnersatzleistungen erhebliche Einsparungen zur Folge. Im
Ergebnis können so 10,7 Milliarden Euro auf dem Rücken der
Arbeitslosen eingespart werden. Weiter sollen in Zukunft
arbeitsfähige und nicht arbeitsfähige Arbeitslose eine
unterschiedliche Leistung erhalten. Für erwerbsfähige
Sozialhilfeempfänger sollen die Leistungen noch einmal um 30%
auf 70% des heutigen Niveaus gesenkt werden.
Sozialhilfeempfänger, die arbeiten, erhalten einen höheren
Freibetrag, d. h. ein geringerer Teil des Einkommens wird auf die
Sozialhilfe angerechnet. Wer keine Arbeit findet, soll seine
Arbeitskraft den Kommunen für gemeinnützige Arbeit zur
Verfügung stellen.
Der Vorschlag des Sachverständigenrates stellt unser soziales
Sicherungssystem weitgehend in Frage. Durch maßlose
Leistungskürzungen sollen Arbeitslose unter Druck gesetzt
werden, jede angebotene Arbeit zu akzeptieren. Dies hätte
zwangsläufig zur Folge, dass die Löhne gerade im Bereich
geringqualifizierter Arbeit noch einmal dramatisch sinken. Ob
allerdings zusätzliche Beschäftigung ausgelöst wird, ist vom
Sachverständigenrat nicht untersucht worden. Vielmehr wird das
Sozialsystem verantwortlich gemacht für die Arbeitslosigkeit.
Der DGB hat in mehreren Studien nachgewiesen, dass der
Lohnabstand zwischen Sozialhilfe und unteren Einkommen nach
wie vor beachtlich ist. Durch Anhebungen der Leistungen beim
Wohngeld und Kindergeld hat der Lohnabstand sich sogar weiter
vergrößert. Bei der Gruppe der Alleinstehenden, die den größten
Teil der Sozialhilfeempfänger stellen, liegt bereits bei einem
Stundenlohn von 4,00 Euro – das Einkommen höher als die
Sozialhilfe.
Der Rat verkennt auch, dass Arbeitslosenhilfe- und
Sozialhilfeempfänger keinesfalls Dauerarbeitslose sind. Der größte
Teil der Sozialhilfeempfänger kann bereits innerhalb eines Jahres
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den Leistungsbezug verlassen. Bei der Gruppe der jüngeren
Langzeitarbeitslosen, liegen häufig individuelle Probleme vor, die
eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt erschweren.
Gleichzeitig würde der Vorschlag das bestehende
Sozialversicherungssystem infrage stellen. Arbeitnehmer würden
zu Recht fragen, warum sie Beiträge zahlen sollen, wenn bereits
nach zwölfmonatiger Unterstützung nur noch eine reduzierte
Sozialhilfe gezahlt wird und gleichzeitig das gesamte Vermögen
zur Bestreitung des Lebensunterhaltes eingesetzt werden muss.
Dies soziale Sicherungssystem würde seinen Namen nicht mehr
verdienen.
Noch gravierender sind die Auswirkungen auf niedrige Löhne. Die
Konkurrenz von Beschäftigten und Arbeitslosen wird massiv
verstärkt – mit dem Ergebnis, dass auch tarifvertragliche
Regelungen unterlaufen werden und in einigen Bereichen
Tarifverträge nicht mehr abgeschlossen werden können.
Das soziale Sicherungssystem hat aus Sicht der Gewerkschaften
auch die Funktion, Arbeitnehmer vor Ausbeutung mit niedrigen
Löhnen zu schützen. Der Arbeitnehmer soll eben nicht gezwungen
werden, eine Arbeit um jeden Preis zu akzeptieren. Der Rat legt
damit Hand an die Wurzeln der sozialen Marktwirtschaft.
Ein weiterer Pfeiler der Empfehlungen des Rates ist die Forderung
nach einer Dezentralisierung der Lohnverhandlungen. Im Kern geht
es aber nicht nur um eine Dezentralisierung, sondern primär um
eine Schwächung der Gewerkschaften, damit die
Einkommenszuwächse geringer ausfallen. Der Rat ignoriert jedoch
auch hier, dass das System des Flächentarifvertrags in den
vergangenen 20 Jahren in der Tendenz zu stabilitätskonformen
Löhnen geführt hat. Des weiteren ignoriert der Rat, dass eine
gewisse Rigidität der Nominallöhne eine stabilisierende Funktion
hat. Wie die Erfahrungen in Japan gezeigt haben, droht eine
Deflation erst bei sinkenden Nominallöhnen. Bei der
gegenwärtigen Gefahr einer sich verstärkenden Abwärtsspirale der
Konjunktur bietet der Flächentarifverträge einen Schutz gegen eine
solche Entwicklung. Er verhindert einen Rückgang der Einkommen
und damit des Konsums und stabilisierten die Nachfrageseite.
Alles in allem ist zu konstatieren, dass der Rat die eigentlichen
Probleme in der Weltwirtschaft nicht zur Kenntnis nimmt. Alle
Welt redet von deflatorischen Tendenzen. Der Rat geht darauf
nicht ein. Für alle anderen Regionen der Weltwirtschaft würdigt
der Rat die expansiven Effekte der Geld- und Finanzpolitik. Nur in
Europa spiele beides keine Rolle. Mehr und mehr internationale
Institutionen rufen die Europäische Zentralbank mittlerweile zu
einer expansiveren Politik auf. Der Rat dagegen sieht die
Geldpolitik in Europa auf dem richtigen Kurs. Mittlerweile herrscht
weitgehend Einigkeit darüber, dass die hohen Realzinsen für
Deutschland ein erhebliches Problem darstellen. Der Rat
beschreibt diesen Umstand zwar, geht aber nicht weiter darauf
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ein. Es gibt immer mehr Ökonomen, die vor einer prozyklischen
Finanzpolitik warnen und den Stabilitätspakt kritisieren. Der Rat
dagegen fordert die Bundesregierung auf, den Sparkurs zu
forcieren.
Es gab wohl selten ein Gutachten des Sachverständigenrates,
dass so abseits der weltwirtschaftlichen Probleme stand, wie das
in diesem Jahr. Sollten die Empfehlungen des Rates umgesetzt
werden, wird sich die wirtschaftliche Lage in Deutschland nicht
verbessern. Im Gegenteil: Die Vorschläge des Rates führen
geradewegs in die Deflation.
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