Zwischen extremen Gefühlen Leben mit Borderlinestörungen

Werbung
Georg Hofmeister / Adalbert Riebensahm (Hg.) Zwischen extremen Gefühlen Leben mit Borderlinestörungen Inhalt Vorwort Georg Hofmeister Einführung Michael Franz Borderlinestörungen – Ursachen, Symptome und Behandlungen Ewald Rahn Borderline und Co – eine Herausforderung an alle Beteiligten Berichte von Betroffenen und Angehörigen Anja Link Maria Landgraf Bärbel Jung Zusammenfassung der Gesprächsgruppen 1. Dialektisch‐behaviorale Therapie (DBT) Martine Micol‐Grösch 2. Achtsamkeit und Akzeptanz – Die Kunst des Sehens Benedikt Winkler 3. Wege aus dem Chaos Anja Link Maria Landgraf 4. Wie kann ich mein Kind/meine(n) PartnerIn im Alltag unterstützen und dabei die eigenen Grenzen wahren? Bärbel Jung 5. Borderline bei Kindern und Jugendlichen Michael Völk (<) 6. Umgang mit selbstverletzendem Verhalten Ellen Spangenberg Wie kann eine vernetzte Unterstützung in Nordhessen aussehen? Abschließendes Gespräch Autorenverzeichnis Vorwort Georg Hofmeister Borderline nennen Mediziner eine Störung, unter der immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft leiden, die aber nur wenigen bekannt ist und daher mit Vorurteilen und Ratlosigkeit behaftet ist. Menschen mit dieser Symptomatik leiden an ihren heftigen emotionalen Reaktionen und ihren extremen Gefühlsschwankungen. Wie ist die Erkrankung zu diagnostizieren? Was sind ihre Ursachen? Welche Behandlungs‐ und Therapiemöglichkeiten gibt es? Wie kann man zu mehr Sicherheit im Umgang mit den Betroffenen und zu mehr Lebensqualität gelangen? Und wie können Angehörige die Betroffenen unterstützen und dabei die eigenen Grenzen wahren? Dies waren zentrale Leitfragen der 18. Hofgeismarer Psychiatrietagung, die am 14. März 2009 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar stattgefunden hat. Ziel der Tagung war es, Betroffene, Angehörige und professionelle Helferinnen und Helfer über die Erkrankung gemeinsam ins Gespräch zu bringen und Lösungswege zu finden. Die Tagung wurde in Zusammenarbeit mit Partner für Psychisch Kranke im Landkreis Kassel e. V., Psychosoziale Kontakt‐ und Beratungsstelle – Gesundheitsamt Region Kassel und der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Merxhausen vorbereitet und durchgeführt. Den Kooperationspartnern ist an dieser Stelle für die vertrauensvolle Zusammenarbeit herzlich zu danken. Einführung Michael Franz Bei Borderlinestörungen geht es um Gefühle, das sagt schon der Titel dieser Veranstaltung. Und möglicherweise liegt es auch daran, dass Menschen, die an dieser Störung leiden, und ihre Angehörigen nicht nur zwischen extremen Gefühlen, sondern auch lange Zeit zwischen allen Stühlen gesessen haben. Aus meiner Sicht ist es die Störung innerhalb der Psychiatrie und Psychotherapie, die sich am längsten im Bereich der Ignoranz der Psychiater und Therapeuten befunden hat. Als ich als junger Assistent anfing, das Fach zu lernen, sagte mein damaliger Chef, als ich das Wort benutzte: „Borderline‐Störung, das gibt`s nicht. Quatsch! Die sind alle schizophren.“ Entsprechend haben die Borderline‐Patienten, die ich damals behandeln musste, in erster Linie Tabletten bekommen, gegen Psychosen, zur Beruhigung usw.. Ähnlich wie die Kinder von psychisch Kranken sind Borderline‐Patienten die Gruppe innerhalb von Psychiatrie und Psychotherapie, die am längsten gebraucht hat, bis sie erstmal gesehen wurde und bis das ganz extreme Leid und die Belastung, die Borderline‐Patienten und auch ihre Angehörigen erfahren, bewusst und sichtbar wurden. Es hat sicher viele Gründe, bis endlich klar wurde, dass es eben keine Grenzerkrankung zwischen 2 eigentlichen Erkrankungen ist, nämlich den Neurosen, wie man früher sagte, und den Psychosen, sondern dass es sich tatsächlich um eine ganz eigenständige, wenn auch zunächst nicht ganz einfach zu verstehende Krankheit oder Störung ‐ oder wie auch immer man das bezeichnen will ‐ handelt. Mir hat die erste Patientin, die ich damals lange versucht habe zu verstehen und zu behandeln, irgendwann einen riesigen Pott mit Pillen auf den Tisch gestellt, nachdem sie ein Trauma erinnern konnte in der Therapie; es waren die vielen, vielen Tabletten, die wir ihr verordnet hatten, die sie alle nicht genommen hatte, die sie gesammelt hatte und mir dann dankbar zurückgegeben hat mit den freundlichen Worten: „Es ist jetzt weit gekommen.“ Sie studiert inzwischen Psychologie, Sie können sich vorstellen, auf welches Gebiet sie sich spezialisiert hat. Sie hat eine intensive Therapie gemacht und sehr profitiert, aber nicht von dem, was ich für sie damals anzubieten hatte. Seither ist es mir immer ein besonderes Anliegen, diese Störung zu begleiten und besser zu verstehen. Und als ich dann das erste Mal einen differenzierteren Blick dafür bekam, da gab es eine Frau Rohde‐Dachser; der eine oder andere hat den Namen vielleicht mindestens mal gehört; sie kam aus dem Gebiet der Psychoanalyse und hat ein Buch geschrieben: „Das Borderline‐Syndrom“; erstmals publiziert schon in den 80er Jahren. Sie hat es in der Universität, in der ich damals arbeitete, vorgestellt und hat furchtbaren Ärger bekommen, weil sie nämlich sagte: Da gibt es auch Traumata in der Vorgeschichte, das ist nicht alles irgendwie genetisch begründet. Gerade die Männer, die Oberärzte und der Lehrstuhlinhaber, die selber auch ausgebildete Therapeuten waren, wurden ganz wütend, und es war geradezu paradigmatisch, wie dieser Streit mit Frau Rohde‐Dachser, die Sachen sagte, die für uns heute selbstverständliches Wissen sind, so heftig entbrannt ist. Und das ist auch für das Haus, für das ich heute hier stehe (Zentrum für Soziale Psychiatrie Bad Emstal), ein Paradigma. Wir entdecken Traumatisierungen, Verletzungen, übrigens nicht nur bei Borderline‐Patienten, auch bei Depressiven und anderen Patienten. Das Thema rückt in der Psychiatrie und Psychotherapie in den Fokus der Sichtweise. Die gute Botschaft ist, dass in den letzten Jahren eine Explosion des Wissens stattgefunden hat, mit einem großen Zuwachs an biographischem, psychotherapeutischem, umweltbezogenem und auch anderem Material. Unsere Aufgabe ist es, das jetzt zusammenzuführen und zusammen mit den Betroffenen und den Angehörigen in gute, in vernetzte Angebote umzusetzen. So sind wir dann schließlich heute hier in Hofgeismar angekommen, auf dieser Tagung. Sie ist so überrannt worden, dass wir viele Interessenten abweisen mussten. Ein Trost‐Angebot ist: Im Juni wird die in Nordhessen erste Station und hoffentlich dann auch vernetzt ein ambulantes Angebot an Dialektisch Behavioraler Therapie (DBT) der Borderlinestörungen in Bad Emstal‐Merxhausen offiziell eröffnet. Herr Bohus, der das DBT nach Deutschland gebracht hat, hat uns auch eine Zusage gegeben, dort sozusagen den Startschuss zu geben. Wer heute hier nicht unterkommen konnte, ist herzlich eingeladen, am 20.6 nach Merxhausen zu kommen. Jetzt freue ich mich besonders, Herrn Rahn, Ärztlicher Direktor der LWL‐Kliniken im Kreis Soest, ankündigen zu dürfen. Er ist ausgewiesener Experte, er hat sich lange mit dem Thema beschäftigt, viele kennen ihn, er hat 2 Bücher zum Borderline‐Syndrom geschrieben. Herr Rahn, Ihnen gehört jetzt der Eröffnungsvortrag dieses Symposions, ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Borderlinestörungen – Ursachen, Symptome und Behandlungen Ewald Rahn Ich möchte erst mal für die Einladung danken. Ich bin froh hier zu sein, ich komme ja aus der Nachbarschaft, und ich bin sehr neugierig, was hier passiert. Ich möchte Ihnen auch gerne über das berichten, was wir tun und welche Erfahrungen wir gemacht haben. Wir haben schon seit mehr als 10 Jahren eine Fachstation für die Behandlung von Borderline‐
Erkrankungen. Wir sind also schon mit Erfahrungen ausgestattet. Die eigentliche Intention meines Vortrags ist, Ihnen Optimismus zu vermitteln. Das ist nicht selbstverständlich bei dieser Störung. Aber ich glaube, dass wir mittlerweile, auch die Betroffenen selber, mit ein bisschen mehr Zuversicht in die Zukunft blicken können. Ich bin sehr froh darüber, dass sich inzwischen auch wissenschaftlich im Blick auf die Verlaufsstudien herausstellt, was in unserer klinischen Erfahrung sich auch abgebildet hat und das im Grunde bestätigt: Die Borderline‐Störung hat eine gute Prognose. Es gibt mittlerweile eine sehr zuverlässige 10‐Jahres‐Verlaufsuntersuchung aus den USA, wo über 90 % der Klienten, mit und ohne Behandlung wohlgemerkt, sich nach 10 Jahren gebessert haben. Ein großer Teil ist gesund geworden. Das ist in gewisser Weise eine Wiedergutmachung, weil wir gerade in Deutschland eine, wenn Sie so wollen, nicht so besonders gute Tradition haben. Und zwar weil wir Borderline‐Erkrankungen lange Zeit, Herr Franz hat das gesagt, in Psychose‐Nähe gerückt haben, aber auch, in letzter Zeit aus den USA übernommen, das in den Bereich der Persönlichkeitsstörungen eingeordnet haben. Und Persönlichkeitsstörungen haben in Deutschland einen sehr schlechten Ruf. Sie gelten als sehr schwer behandelbar, nicht veränderbar: Man kann sich als Therapeut abmühen, aber man erreicht nichts. Ich bin froh, dass das so nicht gilt. Ich will auch gleich erklären, dass das im Prinzip ein Missverständnis ist, weil in den USA oder in den angelsächsischen Ländern der Begriff Persönlichkeitsstörung auch noch anders konnotiert ist. Ich glaube nach wie vor, es ist noch immer so, dass der Lerntransfer im Prinzip noch ein bisschen paradox ist. Nach wir vor glaube ich, dass wir als Psychiater und Psychotherapeuten von Borderline‐
Kranken mehr lernen können als umgekehrt. Und zwar nicht nur im Hinblick auf die Behandlung und Betreuung von Borderline‐Störungen, sondern eben auch in Hinblick auf die Haltung, mit der wir seelisch Kranken begegnen. Wir haben da nämlich 2 Traditionen ‐ mal etwas vereinfacht gesagt: Die eine Tradition ist, dass wir denken, wir sind für die Leute verantwortlich. Das führt bei der Borderline‐Störung zu extremen Eskalationen mit hochaggressiven, fast feindseligen Interaktionen. Eine der schmerzhaftesten Erfahrungen, die wir bei uns damit gemacht haben, war: Bevor wir Fachstationen hatten, haben wir die Leute natürlich auf Kriseninterventionsstationen aufgenommen und mussten mit aller Bitterkeit feststellen, dass bestimmte Verhaltensweisen der Borderline‐Störungen auf den Stationen zunehmen und nicht abnehmen. Wir haben gedacht, wir helfen den Leuten, die Krise zu überleben und sich nicht selbst zu verletzen, und genau das Gegenteil war der Fall. Mit dieser Tatsache tun sich heute noch im ganzen Bundesgebiet viele Mitarbeiter der Psychiatrie schwer. Sie haben gelernt, Verantwortung zu übernehmen; und das bedeutet nicht nur, Verantwortung zu übernehmen, sondern es auch eigentlich besser zu wissen, mit allen Konsequenzen, die das für die Beziehung hat. Die andere Tradition, die sicher sehr wirksam ist, insbesondere in der Psychiatrie, ist eine Tradition des Verständnisses, sozusagen auch ein bisschen des Nettseins. Und es ist nicht einfach, nett zu sein und auf eine Reaktion zu stoßen, die alles andere als nett ist, die manchmal sogar feindselig daher kommt. Wenn man netten Leuten feindselig begegnet, sind die nämlich beleidigt. Man müsste nicht vom Ende des humanistischen Handelns sprechen, sondern davon, dass Borderline‐Patienten noch weit davon entfernt sind, humanistisch denken und handeln zu können. Alleine Verständnis hilft den Leuten nicht. Ich glaube, dass wir bei Borderline‐Kranken die Grenzen dieser beiden Haltungen erfahren und damit aufgefordert sind, entweder im dialektischen Sinn einen Kompromiss zwischen diesen beiden Haltungen zu finden oder eine neue, nochmal darüber hinausweisende Haltung. Und da sagen die Borderline‐Therapeuten, insgesamt von Kernberg bis Linehan, dass man im Prinzip gerade bei der Behandlung von Borderline‐Störungen Verhandlungslösungen braucht, gut abgestimmt, miteinander im Dialog, mit dem Begriff der Tagung gesprochen „trialogisch“, dass man Wege findet, gemeinsam zu arbeiten und Fortschritte zu erzielen. Wenn man das in psychiatrischen oder psychotherapeutischen Kontexten erzählt, sagen alle Leute: „Das können wir.“ Ich sage Ihnen, die können das alle noch nicht. Das ist etwas, was wirklich gelernt werden muss, erfahren werden muss, und wir in unserer Klinik haben uns auch lange Zeit sehr schwer getan damit. Mittlerweile ist es so, dass es so in Fleisch und Blut übergegangen ist, dass es zu einer Ergänzung und insofern zu einem wichtigen Beitrag im Hinblick auf die Psychiatrieentwicklung geführt hat. Nochmal zu dem Modell „Persönlichkeitsstörung“: Das angelsächsische Modell ist viel pragmatischer, als wir das in Deutschland kennen. In Deutschland war das ein ausgesprochen typologischer Begriff, der Psychopathie genannt wurde, aber wer möchte denn heute schon Psychopath sein? Vielleicht der Nachbar, Sie selber wahrscheinlich nicht so gerne! Tatsächlich aber folgt die Persönlichkeitsstörung dem allgemeinen Krankheitsmodell, wo bestimmte Faktoren, und zwar durchaus verschiedene Faktoren zur Krankheitsentstehung beitragen. Natürlich gibt es auch bei der Borderlinestörung einen, wenn Sie so wollen, Anlagefaktor. Man vermutet, weil der auch in den ganzen wissenschaftlichen Untersuchungen relativ stabil erhoben wird, dass die emotionale Instabilität sozusagen quasi vorge‐prägt ist, z.T. mit dem Temperament vererbt wird. Aber wie bei allen anderen Erkrankungen auch erklärt das eben nur einen Teil der Problematik. Wir müssen davon ausgehen, dass Borderlinekranke auch bestimmte Erfahrungen in ihrer Entwicklung gemacht haben, die die Entstehung der Erkrankung fördern. Und natürlich sind es auch bestimmte entwicklungszyklische Aufgaben, die die Krankheit letztendlich zum Ausbruch bringen. Es gibt auch aktuelle Krisensituationen, die das überhaupt zum Problem machen. Nicht jeder, der sozusagen eine Disposition zur Borderlinestörung hat, bekommt sie. Manche haben eben einfach Glück, dass sie bestimmte Lebensphasen besser hintereinander kriegen. Und es ist im Wesentlichen die Lebensphase von Adoleszenz und jungem Erwachsensein, die Menschen dazu bringt, borderlinekrank zu werden. Das ist so und das muss man auch wissen. Bei den Entwicklungsfaktoren ist es so: Wir wissen mittlerweile, dass wir mit einem bestimmten Repertoire an Fähigkeiten auf die Welt kommen, wir können schon Mimik erkennen, wir können regelrecht kommunizieren. Auf die Welt gekommen können wir schon kommunizieren. Das ist wunderbar. Es scheint aber so zu sein, dass unser Gehirn mit seiner Plastizität Umwelterfahrungen ausnutzt und dass wir in gewisser Weise auch das Produkt unserer Umwelterfahrungen sind, oder besser gesagt, das, was wir aus den Erfahrungen machen. Im Laufe der Zeit lernen und erwerben wir eine ganze Menge, was uns dann später wieder hilft, mit allen möglichen Lebenssituationen fertig zu werden. Das benennt man im Englischen mit dem Begriff skills, Fertigkeiten. Sie werden aus dieser Denkweise heraus verstehen, dass einer der wesentlichen Ansatzpunkte zur Behandlung der Persönlichkeitsstörungen heute das sogenannte Fertigkeitentraining ist, was im Grunde genommen nichts anderes bedeutet als der Versuch, eine mangelnde oder fehlgeleitete Fertigkeitsvermittlung in der Entwicklung nachzuholen oder noch einmal zu korrigieren. Das ist sozusagen das Modell. Herr Franz hatte das schon erwähnt, ich will das aber jetzt nicht so sehr ausführen, was denn diese Entwicklungsfaktoren sind. Da muss man immer ein bisschen aufpassen, damit man nicht einen alten Fehler macht, dass man die Betroffenen alleine zu Opfern macht. Sie sind nicht nur Opfer, sondern es ist häufig eine Konstellation, in der diese Störung entsteht, wo im Prinzip viele Verletzte sind. Natürlich klagen oder beklagen oder leiden viele Borderlinekranke an den Ursünden der Entwicklung, das ist emotionale Vernachlässigung, das ist Gewalt und das ist Missbrauch. Die findet man in der Entwicklung von Borderlinekranken auch gehäuft, aber es ginge zu weit zu sagen, die Borderlinestörung ist sozusagen eine verkappte, komplexe Traumatisierungsstörung. Das sind Faktoren, die dazu beitragen können, dass Leute krank werden können, sie sind aber nicht eigentlich ursächlich. Das muss man so sehen auch im Hinblick auf den Umgang von Borderlinekranken mit ihrem Kontext, mit ihrer Entwicklung. Da muss nicht immer alles schief gelaufen sein, damit eine Borderlinestörung entsteht. Das hat ja auch etwas mit Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit zu tun. Sie sehen aber, das möchte ich resümieren, dass wir Persönlichkeitsstörungen insgesamt heute ‐ und das gilt für die Borderlinestörung insbesondere ‐ als Fertigkeitsstörungen verstehen, so dass die Krankheit dann ausbricht und symptomatisch wird, wenn entweder Fertigkeiten nicht vorhanden sind oder überentwickelt sind und bestimmte Umweltanforderungen den Menschen so in einen Widerspruch bringen, dass es keine richtige und angemessene Lösung gibt, wo dann Entwicklungsblockaden stattfinden und eben Symptome entstehen. So versteht man heute Persönlichkeitsstörungen. Das bedeutet aber, dass durch die Veränderung der Umgebung und durch die Veränderung der inneren Fertigkeitenkonstellation man durchaus diese Störungen modifizieren kann, als Betroffener und letztendlich auch als Therapeut, als Helfer. Und das macht optimistisch. Es ist keine unveränderliche Störung, die man mit ins Grab nimmt, nach dem Motto „Einmal Borderline, immer Borderline“. So stimmt´s nicht. Es gibt verschiedene Ansätze in der Erklärung dieser Störungen und ich glaube, dass diese Ansätze sich nicht widersprechen, sondern ergänzen. Ich will versuchen, sie anhand der Kernsymptome der Borderlinestörungen zu entwickeln. Ein Faktor, den ich eben schon genannt habe, ist die emotionale Instabilität. Die scheint ziemlich gesichert. Da gibt es keinen Zweifel mehr. Das lässt sich auch schon in der frühen Kindheit nachweisen, dass später Borderlinekranke immer schon emotional instabil waren bzw. Emotionen schlechter regulieren konnten. Es geht aber nicht um eine Kontrollstörung. Borderlinekranke können natürlich ihre Emotionen wie jeder andere kontrollieren, sind also nicht aggressiver oder impulsgestörter als andere, sondern sie scheitern letztendlich häufig in Situationen, wo es darum geht, verschiedene emotionale Möglichkeiten, die in einer Situation bestehen, miteinander in Einklang zu bringen, also sozusagen sich innerlich zu regulieren. Das spielt natürlich bei der Therapie später eine große Rolle, weil es nicht darum geht, sich unter Kontrolle zu kriegen, sondern sorgsamer mit sich umzugehen, sorgsamer im Hinblick darauf, eine bessere Binnenstruktur zu bekommen oder mehr Balance zu entwickeln im Inneren. Das bedeutet nicht, nicht mehr aggressiv zu sein, und auch nicht mehr nur zu lieben, sondern das bedeutet sozusagen, die ganze breite Palette von Emotionen zu erleben und miteinander in Einklang zu bringen. Das ist eine viel kompliziertere Aufgabe, die Borderlinekranke bewältigen müssen, als einfach nur zu sagen: Ich muss nicht mehr so wütend sein. Diese emotionale Instabilität ist einer der Ansatzpunkte beispielsweise der Dialektisch‐
Behavioralen Therapie, die eben schon benannt worden ist. Da geht es im Wesentlichen darum, diese Regulationsstörungen sozusagen zu bewältigen und das Beste draus zu machen. Insbesondere der Engländer Fonagy und der Amerikaner Young haben einen anderen Aspekt der Borderlinestörungen fokussiert. Und zwar nicht nur, was mit den Emotionen passiert, sondern wie jemand im Inneren auf seine Emotionen zurückgreifen kann als Ressourcen. Fonagy hat sehr darauf hingewiesen, dass wir den Umgang mit Emotionen und damit auch das subjektive Erleben nicht sozusagen mitbekommen haben, sondern in Bindungsbeziehungen lernen. D.h. dass die Resonanz des anderen eine ganz entscheidende Bedeutung hat dafür, was emotional in mir passiert. Es geht nicht nur darum, Emotionen angemessen zu erleben und irgendwie damit klarzukommen, sondern es geht auch darum, im Sinne einer Entwicklung Emotionen zu haben, über sie zu reden, zu reflektieren, sie zu nutzen, sie zu versprachlichen, besser gesagt, sie zu symbolisieren. Und er findet, ich meine mit Recht, bei Borderlinekranken häufig Schwierigkeiten, damit in angemessener Weise umzugehen. Subjektiv bedeutet das für die Betroffenen, dass sie sich sozusagen innerlich leer, nicht erlebnisfähig, emotional taub erleben, keine vernünftige innere Resonanz haben, und dass sie dann in Situationen, wo sie alleine sind, wo sie auf sich zurückgezogen sind, häufig große Probleme kriegen. Jeder, der mal müde abends nach Hause kommt und sich hinsetzt und nichts tut, der findet das nicht deswegen angenehm, weil in seinem Kopf nichts mehr los ist, sondern weil dann Gefühle, Assoziationen hochkommen und das Ich, das Selbst als Quelle von Trost, von Erholung, was auch immer, zur Verfügung steht. Wenn das nicht der Fall ist, kann man sich nicht erholen. Und das ist dann das, was ‐ insbesondere durch Fonagy und Young als Verbindung von Gedanken im Sinne der Schematherapie benannt ‐ zu einem sehr sehr großen Problem bei Borderlinekranken führt, mit sich selbst zu sein. Das erklärt auch, warum viele Krisensituationen bei der Borderlinestörung gerade dann nicht platzgreifen, wenn man besonders gestresst ist oder wenn viel auf einen zukommt, sondern wenn genau das Gegenteil passiert, beispielsweise am Wochenende. Die Angst vor dem Alleinsein spielt dabei eine große Rolle; und der verzweifelte Versuch – so kommt das ja auch in den Kriterien vor – , eben dieses Alleinsein zu vermeiden, ist auch ein bisschen die Angst, sich selbst, dieser emotionalen Taubheit ausgeliefert zu sein, was man manchmal nur mit Selbstverletzung oder nur mit irgendwelchen anderen Verhaltensweisen zu stoppen in der Lage ist. Kernberg und seine Gruppe, die aus der klassischen Psychoanalyse kommen, haben dagegen nicht nur den Umgang mit Emotionen benannt, wobei Fonagy seinen Ansatz ja Mentalisierung genannt hat – das ist ein wichtiger Begriff, der in der Therapie zunehmend Bedeutung gewinnen wird. Kernberg hat eher gesagt: Das führt dazu, dass wir im Hinblick auf Beziehungsgestaltung Schwierigkeiten bekommen, weil emotionale Dinge in der Beziehungsgestaltung eine zentrale Rolle spielen; also alles, was implizit in Beziehungen stattfindet, ist auch emotional gebunden. Insofern ist es eigentlich kein Wunder, wenn borderline‐gestörte Menschen aufgrund ihrer inneren Problematik auch mit anderen Menschen Probleme bekommen. Das ist im Wesentlichen gut herausgearbeitet worden, weil Kernberg sagt: Eigentlich geht es nicht nur darum, dass ich mit Menschen angemessen umgehe, sondern ich muss auch mit unklaren Situationen klarkommen. Ich muss in Beziehungen unterschiedliche Affekte zulassen und miteinander regulieren können. Wenn mir das nicht gelingt, bin ich unfähig, Zwischentöne wahrzunehmen. Was das für Borderline‐Kranke bedeutet, will ich an einem Beispiel erläutern, das ich gerne erwähne, weil es mich wirklich beeindruckt hat. Mir hat eine borderline‐gestörte Patientin einmal gesagt, dass sie große Schwierigkeiten mit einer Therapeutin hätte, obwohl sie sie sehr mochte und sehr von ihr angetan war, weil sie ihr geholfen hat. Sie hat die Therapeutin gefragt: Können Sie sich eigentlich auch eine private Beziehung zu einer Patientin vorstellen? Das ist eigentlich eine legitime Frage. Die Therapeutin antwortet: Nein. Was ja auch ganz vernünftig ist. Ich möchte bzw. meine Frau möchte von mir nicht behandelt werden. Immer wenn früher die Kinder etwas hatten, sagte sie: Wir müssen einen Arzt rufen. Ich war manchmal ein bisschen beleidigt. Ich finde es aber auf der anderen Seite in Ordnung. Ich würde mich ja auch nicht selber behandeln, das ist irgendwie widersinnig. Aber diese Borderline‐Kranke weiß damit nichts richtig anzufangen, die Antwort genügt ihr nicht, die ist möglicherweise nicht klar genug. Sie fängt an, dieser Therapeutin hinterher zu spionieren, kriegt alles Mögliche von ihrem Privatleben heraus und zerstört damit die Beziehung. Also nicht nur, weil die Therapeutin beleidigt ist, wenn man ihr sagt: Ich habe Ihnen hinterher spioniert, was Sie so alles in Ihrer Freizeit machen, ist auch nicht so in Ordnung. Sondern weil das Vertrauen verloren geht, dass der Mensch plötzlich eine Position bekommt, die nicht klar ist. Das spielt natürlich bei dem Umgang mit Borderline‐Kranken, auch im stationären Bereich, eine riesengroße Rolle. Weil wir in unserer Beziehungsgestaltung, therapeutisch gesehen, psychiatrisch gesehen, unheimlich viele Unklarheiten haben. Also z.B. wenn wir sagen: Wir sind nett zu ihnen. Was bedeutet das? Ist das eine professionelle Haltung, weil man so gerne nett ist oder weil man meint, dass das irgendwie hilfreich ist? Ist das von Herzen oder ist das nur sozusagen Kalkül? Das sind jetzt alles Punkte, die, wenn Sie sowieso in der emotionalen Gestaltung von Beziehungen Schwierigkeiten haben, Ihnen ganz schönes Kopfzerbrechen machen können. Und viele Borderline‐Kranke versuchen dann Klarheit zu schaffen, indem sie z.B. viele Leute fragen. Fragen sie dann aber 4 verschiedene Therapeuten, was sie von einer Sache denken, kriegen sie 5 unterschiedliche Antworten. Es wird immer komplizierter. Und sie merken, dass an der Stelle ganz viele Missverständnisse ihren Ausgangspunkt genommen haben, viele Feindseligkeiten, irrsinnige Diskussionen über Regeln, Regeln einhalten, Klarheit, Unklarheit und solche Dinge. Und das hat den Psychiatern und letztlich auch den Betroffenen ganz schön zu schaffen gemacht. An der Stelle noch mal der Hinweis: Die Borderlinestörung ist sicher eine Spektrumstörung, alleine diese Diagnostik lässt ganz viele Varianten offen. Das heißt, und das passt auch zu dem Modell der Fertigkeitsstörungen, das ist eine hochindividuelle Größe, wenn Sie so wollen, jeder hat ganz individuelle Fertigkeiten, so dass eigentlich mit der Borderlinediagnose nur ein gewisses Spektrum abgedeckt werden kann. Das wird auch noch dazu führen, dass die Borderlinediagnose in der Zukunft etwas präzisiert werden muss. D.h., wir werden Untergruppen bilden müssen, damit wir auch die Behandlung besser anpassen können. Zusammenfassend kann man sagen – und das sage ich aus der Sicht des Therapeuten: Es ist unser Job, wenn wir Borderline‐Kranken helfen wollen, die beiden Bereiche so zu bearbeiten, dass das Selbstkonzept sich bessert, dass es zu einem angemessenen Identitätsgefühl kommt, und dass die Leute – natürlich mit Hilfe – irgendeinen Weg finden, mit anderen Menschen so umzugehen, dass da was Vernünftiges draus wird, und zwar für beide Seiten. Die Behandlung der Borderlinestörungen ist im Grunde genommen auf diese Bereiche konzentriert und damit auch gar nicht so kompliziert, wie man sich das möglicherweise vorstellt. Es geht noch etwas darüber hinaus: Borderline‐Kranke, wenn man die therapeutischen Strategien sieht, profitieren von den gleichen Faktoren wie alle anderen seelisch Kranken auch, nämlich von einer guten, von Offenheit geprägten Zusammenarbeit, die über eine gewisse Zeit aufrecht erhalten wird. Die Schwierigkeit in der Behandlung der Borderlinestörungen ist nicht: Was ist wirksam?, sondern: Wie kriegt man das hin? Also wie kriegt man eine von beiden Seiten offene, positive und letztlich auch konstruktive Zusammenarbeit hin? Das ist das eigentliche therapeutische Problem bzw. die Aufgabe. Ich will´s noch nicht mal Problem nennen, das muss man irgendwie hinkriegen. Zum Fertigkeitentraining: Es gibt unterschiedliche Erwartungen an die Therapie, im Hinblick auf die Zielsetzung. Das sollte man wissen. Man macht bestimmte Dinge, also z.B. sich mit einer Sache auseinandersetzen, weil man sich natürlich ein Ergebnis erhofft. Man führt Aktivitäten durch, damit meinetwegen der Partner oder die Umwelt anders reagiert, also freundlicher, hilfreicher. Das alles sind Dinge, die in der Zielsetzung des Umgangs mit der Borderlinestörung eine wichtige Rolle spielen. Aber im Hinblick auf das Selbstkonzept ist für Borderlinekranke sehr viel wichtiger, dass die Erfahrungen, die die Leute machen, selbstwirksam sind, also zu einem, wenn Sie so wollen, besseren innneren Gefühl führen, z.B. wieder wirkmächtig zu sein in Hinblick auf die Gestaltung des inneren emotionalen Klimas. Das muss man natürlich wissen, wenn man Therapeut ist und mit Borderlinekranken arbeitet, und das müssen die Betroffenen selber auch wissen. Z.B. machen ja viele Borderline‐Kranke diese innere Taubheit, das innere Nicht‐Erleben‐Können damit ungeschehen, dass sie sich selber verletzen. Das ist ein ziemlich effektives Mittel, das zu beenden. Und das wird noch effektiver, wenn man damit noch eine zwischenmenschliche Wirksamkeit erreicht, indem man z.B. damit Leute aufregt. Das ist wirklich effektiv. Und wenn dann ein Therapeut kommt und sagt: „Das musst du sein lassen!“, dann wird er in der Regel keinen Erfolg haben, weil er eine Ergebniserwartung hat und eigentlich nicht weiß, ‐ und der Betroffene nicht weiß, wie er in einer anderen, selbstwirksamen Art und Weise sein inneres Klima verändern kann. Borderline‐Kranke, das unterstelle ich ihnen, denken dann häufig ungefähr: Ihr habt gut reden. Insofern sind alle Techniken, die wir vermitteln, alle Vorgehensweisen nur dann wirklich hilfreich, wenn sie Selbstwirksamkeitscharakter haben. Das muss man wissen. Und das ist vielen Psychiatern im Prinzip wenig geläufig, spielt aber aus meiner Sicht – und da haben wir ja auch wieder von Borderline‐Kranken gelernt – zunehmend zumindest in der Psychotherapie eine große Rolle, wenn man mal die Bedeutung der achtsamkeitsbasierten Therapien bedenkt. Jetzt aber zu den praktischen Dingen: Was brauchen Borderlinekranke? Ich hatte anfänglich erwähnt, dass Borderline‐Krankheit etwas mit Erfahrung zu tun hat, oder Entwicklung hat etwas mit Erfahrung zu tun. Insofern muss man, wenn man eine Veränderung der Erkrankung erreichen will, andere Erfahrungen machen, ergänzende, weiterführende oder was auch immer. Diese Erfahrungen macht man nicht alleine im stillen Kämmerlein. Borderline‐Kranke brauchen Interventionen auf verschiedenen Ebenen, und zwar auch auf der Ebene der konkreten Erfahrung. D.h., der Transfer von Therapieergebnissen oder den Ergebnissen eigener Gedanken und Selbsthilfestrategien – das Ergebnis wird dann erst deutlich und wird zur langfristigen Erfahrung und Veränderung, wenn es auf unterschiedlichen Ebenen transferiert worden ist und dann selbstwirksam war. Insofern brauchen Borderline‐Kranke und vor allem schwerstgestörte Borderline‐Kranke Interventionen auf unterschiedlichen Ebenen und brauchen auf unterschiedlichen Ebenen auch Hilfe. Dazu hat Linehan beispielsweise den Begriff der Pseudokompetenz gewählt, ich finde den Begriff ein bisschen wertend. Vielleicht ist er auch einfach nur schlecht übersetzt. Pseudokompetenz heißt: Welche Kompetenz ich aktualisieren kann, hängt sehr stark von meinem inneren emotionalen Zustand ab, also vom Stressniveau. Ich kann beispielsweise während eines Einzelgesprächs möglicherweise sehr viel Kompetenz aktualisieren, die ich in einer anderen Situation überhaupt nicht zur Verfügung habe. D.h., ich kann mich dann gar nicht darauf verlassen, auch mein Gegenüber, der Helfer, kann das nicht und ist dann vielleicht beleidigt oder enttäuscht, wenn die Dinge nicht so funktionieren, wie sie in der Situation selber ausgehandelt worden sind. Deswegen verschiedene Interventionsebenen. Wir haben da – das vorab – ein Riesenproblem in der Behandlung. Wir schaffen natürlich mit der Behandlung auch Nischen, das gilt insbesondere für den soziotherapeutischen Bereich, und da gibt es ganz viele Probleme, inwieweit die Nischen nicht den Transfer verhindern statt fördern. Selbstbild und interpersonelle Fähigkeiten habe ich erwähnt. Was noch wichtig ist: dass Borderlinetherapie immer auf Veränderungen zielt, nicht auf Konsolidierung. D.h., die Leute sollen Hilfen nicht erhalten, um irgendwie einen neuen Lebenskontext zu finden mit Hilfe, sondern es geht darum, Hilfe zu überwinden und selbständig zu werden. Was auch wichtig ist, das will ich noch kurz erläutern: dass die Behandlung in Phasen aufgeteilt werden kann. Borderlinekranke brauchen nicht d i e Therapie, sondern sie brauchen Hilfe, die phasenspezifisch organisiert ist. Über die phasischen Dinge werde ich jetzt noch sprechen: Die erste Phase, die wichtig ist, ist, wenn die Krankheit ausbricht, dass man den Leuten hilft, die Krankheit erstmal zu überleben. Das bedeutet natürlich: man muss die Krankheit benennen, muss sozusagen das Problem benennen, und man muss den Veränderungsbedarf erläutern. Und natürlich, wenn die Leute intoxikiert sind oder schwer verwundet, muss man sie entsprechend versorgen. Es geht nicht darum, dass man kein Verständnis dafür hat. Es gibt viele Borderline‐Kranke, die entsprechend – und da mag ich jetzt kein Vorurteil verbreiten – ganz schlechte Erfahrungen machen, wenn sie beispielsweise notfallmäßig in eine Klinik kommen, häufig dann beschimpft werden, man sagt: „Da bist du selber schuld, sieh zu, wie du zurecht kommst.“ Das sind alles Dinge, die an der Grenze der Unfairness sind und der Ignoranz. So als würden Borderline‐Kranke das alles nur machen, um einen Effekt zu erzielen, einen Menschenauflauf zu produzieren oder was auch immer. Das ist einfach schlichtweg unfair. Der erste Schritt, den man machen muss, ist, dass man den Leuten hilft, mit Krisen klarzukommen. Die erste Behandlungsphase ist die der Stresstoleranz. Die Stresstoleranz ist eine Technik, die Sie beispielsweise im DBT finden, aber auch in allen anderen Verfahren, und ist eine Domäne der ersten therapeutischen Schritte. Dann kommt die Phase der Stärkung der Selbstwirksamkeit. Auch das ist eigentlich Gegenstand des Fertigkeitentrainings, das sozusagen damit am Anfang steht. Also erstmal sich kundig machen, sich kompetent machen im Blick auf den Umgang mit Emotionen beispielsweise. Und erst in der folgenden Phase kann man dann an Mustern, Schemata, möglicherweise auch an Traumatisierungen arbeiten. Aber dann braucht man nicht mehr so eine umfängliche Hilfe. Dann kann man, weil man die Fertigkeiten besitzt mit dem Alltag klarzukommen, auch andere therapeutische Verfahren zur Anwendung bringen, etwa die eben schon genannte Mentalisierungstherapie von Fonagy oder die Schematherapie von Young. Da gibt es mittlerweile auch relativ gut valuierte und wirksame Techniken, um dem Betroffenen selber zu helfen. Diese Schritte sind natürlich immer ergänzende Schritte. Wenn ich jetzt wenig über Selbsthilfe gesagt habe, hängt das damit zusammen, dass im Grunde genommen die Therapie komplementär ist. Man kann im Grunde genommen das auch auf die Selbsthilfe beschränken. Um es mal etwas salopper zu sagen: Wenn man eine Borderlinestörung hat, muss man erstmal sehen, dass man die Nase wieder oben hat, und dann muss man sehen, dass man sein Leben nochmal auf den Prüfstand stellt, sich selber, seine Möglichkeiten, seine Stärken und Schwächen. Und dass man dann sich irgendwann entscheidet, wie man leben will und wie man gesund lebt. Das sind so Dinge, die natürlich sich in der Selbsthilfebewegung wiederfinden – und die mittlerweile ja auch ganz leidlich funktioniert. Ein Beispiel für eine Stresstoleranz: das ist der Notfallkoffer. Wir haben 2 stationäre Angebote und wir haben ein stationäres Angebot, wo es sich um die Behandlung von intelligenzgeminderten Borderline‐Gestörten handelt. Man lernt nur aus der Psychotherapie, wenn man auch ein Sprachniveau findet, wenn man Anregungen findet, die man auch versteht und nutzen kann und die man im Sinne der Selbstwirksamkeit nutzen kann. Wir machen den Leuten sehr viele Vorschläge im Hinblick auf Selbstwirksamkeitsstrategien wie Bewegung, Hobby, Kontakte, Genuss, Unterstützen, Vergleichen, Sehen. Das sind ganz spezielle, achtsamkeitsbasierte Vorschläge wie Seine‐Sinne‐Nutzen. Wir vermitteln damit auch letztendlich, das ist sozusagen die Königsdisziplin, sehr viel komplexere und schwieriger zu lernende Strategien wie z.B. Den‐Augenblick‐verändern, Pro‐und Kontra‐Denken. Und eine Technik, die Herr Bohus gerne darstellt, dass man die Realität annimmt, dass man eine gewisse Akzeptanz der Realität lernt. Um es mal so zu sagen: Sie müssen sich den Klinikkontext vorstellen und ein Patient sagt: Ich kann nicht schlafen. Und die Krankenschwester sagt: Versuchen Sie doch mal ein Entspannungsbad zu machen, oder wir machen eine Ohr‐Akupunktur. Und die Betroffene kommt nach einer Viertelstunde und sagt: Ich kann immer noch nicht schlafen. Und die Krankenschwester sagt: Na gut, dann geben wir Ihnen eine Bedarfsmedizin, und die Betroffene kommt nach einer Viertelstunde und sagt: Ich kann immer noch nicht schlafen. Und dann sagt die Krankenschwester – und das finde ich eine ganz schwierige Bemerkung, für beide Seiten: Ich glaube, wir werden das heute Abend mit dem Schlafen nicht mehr hinkriegen. Es ist für beide Seiten ein ganz schwieriger Akt zu akzeptieren, dass die Dinge so sind, wie sie sind, und dass es keine nachvollziehbare und sinnvolle Lösung dieses Wunsches gibt: Ich möchte schlafen. Das ist eine simple Situation und ich will damit diese Technik der radikalen Akzeptanz, wie sie auch genannt wird, erläutern. Bei dem Fertigkeitentraining, das ist mir jetzt ein besonderes Anliegen, will ich Ihnen aber nicht das DBT vorstellen, sondern ein anderes Verfahren: Das stelle ich Ihnen deswegen vor, weil in diesem anderen Verfahren die Angehörigen eine Rolle spielen. Wir haben in der Borderlinetherapie das noch zu wenig berücksichtigt. Borderline‐Kranke leben natürlich in einem Kontext, haben einen Partner, manche haben Familie, viele haben Kinder und müssen damit natürlich klarkommen, und die anderen müssen auch mit den Betroffenen klarkommen und mit der Störung. Und wir müssen natürlich Wege finden, wie wir diesen Kontext, in dem die Menschen leben und auch leben bleiben sollen, und zwar in einer günstigen Art und Weise, mit einbeziehen. Deshalb habe ich ein anderes Programm, das ist eine Übung zur Meditation, die können wir am Ende machen. Ich wollte Ihnen das STEPS vorstellen. Das ist aus Iowa, das ist in Deutschland deshalb nicht bekannt, weil das irgendwie mitten aus den USA kommt, das ist bis Europa noch nicht gekommen. Aber das gibt´s mittlerweile auch in der deutschen Übersetzung. Es ist ein reines Fertigkeitstraining, ist aber anders als das DBT organisiert, nicht als Komplettprogramm, sondern als ergänzendes Programm konzipiert. D.H., die Leute sollen durchaus noch eine Einzeltherapie machen und andere Hilfsquellen nutzen, weil eins der Anliegen dieses Programms ist, die Betroffenen dazu zu befähigen, Hilfe zu benutzen. Weil viele Borderline‐Kranke sich schwer damit tun, weil sie nicht wissen, was kommt da eigentlich auf mich zu oder wie kann ich das sinnvoll nutzen? Und weil sie das möglicherweise auch nutzen, um ihre Pathologie etwas zu kaschieren. Aber das ist nun ein Anliegen des Programms. Und das funktioniert so, dass es selbst keinen Case‐Manager vorsieht – denken Sie mal an die unterschiedlichen Interventionsebenen – sondern dass es den Betroffenen selber die Verantwortung gibt, ein Helferteam zu organisieren. D.h., die Betroffenen werden am Anfang des Programms gefragt: Wer könnte Ihnen helfen? Dann muss man eine Liste schreiben, und diese Helfer werden eingeladen und partizipieren an diesem Programm, kriegen selber dann eine Ausbildung der Schritte oder was auch immer, erfahren dann auch so etwas wie eine Einführung in diese Systematik. Damit sollen, so wird das genannt, „Spaltungen“ vermieden werden. Das klingt wie eine Verballhornung, aber das heißt in dem Originalprogramm so, ich kann das auch nicht ändern. Wir haben als Helfer natürlich das Problem, das haben Angehörige auch, dass seelische Erkrankungen im Prinzip ja ansteckend sind. Wenn man Partner eines Depressiven ist, ist es sehr schwer, immer glücklich und zufrieden zu bleiben. Das klappt nicht so ohne weiteres. Bei der Borderlinestörung passiert auch so ein Ansteckungseffekt: Es gibt kaum eine Erkrankung, die bei dem Gegenüber so viel heftige Emotionen auslöst, wie die Borderlinestörung. D.h., wenn Sie bei Borderlinestörungen Affekte kriegen im Umgang mit Borderline‐Kranken, ist das kein schlechtes Zeichen, sondern ein gutes, dann haben Sie nämlich eine Beziehung. Die Frage ist nur, wie die Helfer oder die Angehörigen mit diesen Affekten umgehen. Das ist sehr entscheidend auch für die konstruktive Gestaltung so einer Beziehung und das muss man eben auch lernen. Das haben sogar die Therapeuten im Wesentlichen lernen können. Denken Sie an das Anfangsstatement: Wie schnell man auf seine eigenen Affekte reinfällt und die Distanz verliert und plötzlich wertet und feindselig wird, wie auch immer. Im Grunde genommen könnte man sagen: Der Autor hat selber so ein bisschen Borderline gekriegt, also Affekte. Sie verstehen, wie wichtig das ist, dass man das akzeptiert, dass das so ist. Auch für psychiatrische Teams, die immer denken, es muss alles einheitlich sein, alle müssen an einem Strang ziehen, und wenn einer abweicht, kann das nur schlimm ausgehen. Auch psychiatrische Teams müssen lernen, mit Unterschieden, mit unterschiedlichen Haltungen klarzukommen, mit emotionalen Unterschieden. Dass es darum geht, Respekt vor Emotionen zu bekommen, in dem Sinne, damit man sie nutzen kann. Und das ist ein Anliegen, das STEPS realisiert, indem es sagt: Wir versuchen das über eine gemeinschaftliche Sprache zu lösen. Wir versuchen eine Sprache zu finden, wo wir über diese Dinge reden können, damit wir uns auch verstehen. Und das sind die 3 Stufen des STEPS: Die Krankheit annehmen, das ist sozusagen der psychoedukative Teil, Fertigkeitentraining im Umgang mit Emotionen, Verhaltenstraining – die Themen, die da angesprochen werden. Das dauert ungefähr 20 Sitzungen, etwa 1 Jahr. Und dann gibt es noch eine 2. Stufe, danach, das sind Versuche, die sich auf der Ebene des Fertigkeitentrainings abbilden, das DBT ist da ein typisches Verfahren. Bitte aber nicht denken, das DBT oder STEPS, das ist d i e Borderlinetherapie, es sind Vorschläge, die entwickelt worden sind, um diese Phase der Behandlung zu gestalten. Die Effekte, beispielsweise des DBT sind, wenn da nichts weiter passiert, nach 2 Jahren wieder weg. Man erreicht damit eine hohe Selbstwirksamkeit, eine Reduktion der selbstdestruktiven Verhaltensweisen. Alles das reicht aber natürlich nicht aus, um die Borderlinestörung zu überwinden. Die Botschaft am Ende, wenn ich das noch sagen darf, 1 Satz: Die Teams machen das 10 Jahre, und Sie werden erstaunt sein, obwohl sie alle Affekte haben, also auch angesteckt sind und sich immer wieder fetzen über weiß ich was, über Regeln beispielsweise, die machen das alles noch sehr gern. Wichtig ist: Wenn man die Störung besser versteht und auch seine eigene Rolle besser versteht, dann kann man auch mit den Betroffenen selber sehr viel konstruktiver arbeiten, und es gibt eben einfach keine Feindseligkeit, sondern Solidarität, und das finde ich eigentlich einen ganz schönen Effekt. Aussprache: Dr. Hofmeister: Ich will die Aussprache mit einer Nachfrage anfangen: Den Bereich der Medikamente haben Sie bis jetzt ausgeklammert. Wie sind die Erfolgsquoten beim Medikamenteneinsatz und was kann man von ihnen überhaupt erwarten? Rahn: Nix Hofmeister: Klare Antwort! Rahn: Es gibt da 2 Aspekte: Man kann natürlich einige Begleitphänomene, Symptome der Borderlinestörung tatsächlich mit Medikamenten behandeln, die dann aber nicht im engeren Sinne Borderline‐Symptome sind, denken Sie mal an Angst, Depressivität, manchmal auch an psychotische Episoden. Die können natürlich medikamentös so behandelt werden, wie man eine Depression usw. behandelt, und das finde ich auch in Ordnung. Ein anderer Aspekt ist, dass die medikamentöse Behandlung von Borderlinestörungen häufig ein Ausdruck von Hilflosigkeit ist und manchmal Borderline‐kranke völlig maßlos mit Medikamenten behandelt werden, mit unterschiedlichen Präparaten, und das selber dann auch möglicherweise einsetzen und ängstlich darauf beharren, dass das so sein muss, aber das ist eher hinderlich als förderlich. Es gibt keine medikamentöse Behandlung der Borderlinestörung. Wir selber sind sehr sehr zurückhaltend. Bei uns bekommen von den etwa 40‐50 Borderlinekranken, die bei uns in der Klinik sind, höchstens 5 oder 6 überhaupt Medikamente. Haffke: Ich bin niedergelassen als Psychiater und Psychotherapeut, ich habe auch mit borderlinegestörten Menschen zu tun und über die auch viel gelernt. Insofern finde ich die Diktion von dem, was Sie vorgetragen haben, sehr schön, das nicht so zu pathologisieren, sondern eher zu verstehen. Mir fehlt noch etwas der Beziehungsaspekt in dem Sinne: Was für eine Rolle spielt die Konstanz des Einzeltherapeuten bzw. auch der therapeutischen Teams, wenn man das von der Klinik her sieht, im Bezug auf all das, was Sie vorgestellt haben. Meine Vermutung wäre, dass das eine ganz hohe Rolle spielt, nicht dauernd wechselnde Personen zu haben, aber ich weiß nicht, ob das auch wissenschaftlich validiert herauskommt. Rahn: Das kann ich durchaus sagen. Ich glaube auch, dass wir von den USA auch lernen können, das hängt ja auch ein bisschen mit dem Gesundheitssystem dort zusammen, was ja nicht nur Vorteile hat. Die kontinuierliche ambulante Behandlung, flankiert mit allen möglichen Hilfen auf den verschiedenen Interventionsebenen, ist das eigentliche Kerngeschäft der Borderlinetherapie. Dafür ist es notwendig, dass die niedergelassenen Therapeuten und Psychiater, aber auch die soziotherapeutischen Einrichtungen dafür Netzwerke bilden, regionale Netzwerke, wo die Koordination dieser Maßnahmen letztendlich realisiert wird. Die Klinik – und wir halten uns da wirklich sehr peinlich dran – hat im Grunde genommen nur eine ergänzende therapeutische Funktion, weil wir ja die Kontinuität gar nicht gewährleisten können, die notwendig ist. Deshalb spielt bei uns die Einzeltherapie in der Klinik kaum eine Rolle. Die Leute kommen zum Fertigkeitentraining, die haben natürlich einen Einzeltherapeuten, aber es ist keine Einzeltherapie, die auf eine kontinuierliche Beziehung ausgerichtet ist. Und wir haben uns da in der Klinik eine gewisse Bescheidenheit angewöhnt, die ich auch gut und richtig finde. Leider Gottes ist es aber so, Sie werden das möglicherweise bestätigen können, dass unser ambulantes psychiatrisch‐
psychotherapeutisches System komplexe Hilfestellungen erschwert und nicht erleichtert. Das ist leider so. Deswegen können wir mit dem DBT in der Ambulanz manchmal gar keine richtigen Blumentöpfe gewinnen, weil es kaum einen Kostenträger gibt, der solche komplexen Leistungen überhaupt finanziert. Bei dem STEPS ist es halt so, dass wir sagen: Das ist kein Komplexangebot, sondern nur ein Teil der Angebote, das kann man dann leichter organisieren, aber in Deutschland gibt es da wirklich Hemmungen, Schwierigkeiten. Aber trotzdem noch mal Bestätigung: Beispielsweise die letzten Phasen, die sollten nicht mehr stationär erfolgen, sondern ambulant. Ich glaube auch, wenn wir daran arbeiten eine noch bessere ambulante Versorgung zu machen, im Sinne von Komplexleistungen, dass wir viele stationäre Behandlungen sparen könnten – obwohl ich weiß, dass ich jetzt an meinem eigenen Ast säge, auf dem ich sitze ‐ aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass da noch einiges drin ist. Teilnehmer: Ich komme hier aus Hofgeismar und betreue eine borderline‐kranke junge Frau. Ich bin in diese Rolle der begleitenden Person durch die Erkrankte hineingezogen worden vor etlichen Jahren. (ausführliche Schilderung, die aber nicht mitgeschnitten wurde) Rahn: Die Schilderung zeigt, wie komplex die emotionale Situation im gesamten Kontext ist und wie wichtig das ist, dass man ins Gespräch miteinander kommt und sich nicht mit Feindseligkeit, sondern mit Respekt begegnet. Das ist sozusagen der Kern des Netzes. Viele Borderline‐Kranke haben sehr viele Helfer und die sind alle untereinander unheimlich zerstritten und schimpfen der eine über den anderen. Das führt nicht zum Fortschritt, nach dem Motto: Ich kann mir den aussuchen, der mir nach dem Mund redet; sondern das führt zu einer Destruktion. Insofern muss man Wege finden, wie man in einen Dialog kommt und auch Kontroversen austragen kann. Kontroverse heißt ja, dass man nicht in jeder Situation der gleichen Meinung ist, vielleicht sogar andere Auffassungen vertritt, Dinge revidieren möchte oder was auch immer. Und so zu lernen, darüber einen offenen Dialog zu führen und an einer konstruktiven Lösung zu arbeiten, das ist eine wichtige Funktion der Netzwerke. Das ist möglicherweise sehr viel aufwändiger und anstrengender als vielleicht bei anderen Krankheitsbildern, um das Heer von Helfern zu einer gemeinsamen Aktivität zu bringen. Ende der Aussprache Borderline und Co – eine Herausforderung an alle Beteiligten Betroffene und Angehörige berichten Anja Link Vorstellung: Anja Link, Borderline‐Betroffene, angestellt als Dipl.‐Sozialpädagogin (FH) beim Förderverein Ambulante Krisenhilfe e.V. in Nürnberg; dort zuständig für die Borderline‐
Trialog Kontakt‐ und Informationsstelle. Die Borderline‐Trialog‐Stelle hat das Ziel, den Trialog für Menschen mit Borderline zu etablieren und verfolgt als übergeordnete Aufgabe, zu einem besseren Verstehen der Borderline‐Störung beizutragen. Vortrag „Zwischen extremen Gefühlen. Leben mit einer Borderline‐Störung Eine Herausforderung für alle Beteiligten“ Der Ausspruch „Wasch mich, aber mach mich nicht nass!“ – drückt im Zusammenhang mit der Borderline‐Störung sehr treffend den Wunsch nach Unterstützung einerseits und der Ablehnung von Hilfe‐Angeboten andererseits aus. Nicht selten sind Angehörige und Fachleute mit dieser Haltung bei Borderlinern konfrontiert und es entsteht dann der Eindruck, dass der Betroffene sich weigert, gesund zu werden. Das Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen, Eigenverantwortung zu übernehmen, stellt eine der größten Herausforderungen für Borderline‐Betroffene dar. Was es so schwer macht, und wie es in kleinen Schritten gelingen kann, sind Inhalte des Vortrags. Maria Landgraf Ich freue mich, dass wir so zahlreich erschienen sind. Für viele von uns war diese Reise eine wahre Mutprobe! Zu den Ängsten, das Haus zu verlassen oder alleine zu verreisen, kommt das Stigma Borderline hinzu! Es ist traurig, dass einige Betroffene heute nicht anwesend sind, weil sie Angst hatten hier gesehen zu werden. Sie hatten Angst mit Borderline in Verbindung gebracht zu werden. Ich stehe heute hier stellvertretend für sie. Vorurteile und die daraus resultierende Diskriminierung entstehen oft durch Unwissenheit, aus Angst und fehlender Begegnung. Ich wünsche mir, dass wir den heutigen Tag nutzen, um Vorurteile abzubauen. Ich habe das Glück sowohl Betroffene als auch Angehörige zu sein. Es ist für mich leichter zu erkennen, dass wir alle ein Teil der Störung sind. Zum Eiertanz gehören immer zwei. Wir brauchen mehr Neugierde und mehr Mitgefühl. Mitgefühl, das nichts mit Mitleid zu tun hat. Denn dafür gibt es keinen Grund! An dieser Stelle möchte ich Ihnen etwas von einer wunderbaren Frau, deren Bücher Teil meines Heilungsweges sind, vorlesen: „Selbst wenn die andere Person hilflos erscheint, nicht ganz HerrIn ihrer selbst, sollten wir uns aus Sicht der kommunikativen Ethik um Gleichberechtigung bemühen, der anderen Person partnerschaftlich zu begegnen. Es findet eine allzu rasche Rechtfertigung paternalistischer Verhaltensweisen unter der Überschrift von „Fürsorge“ statt!“ (Luise Reddemann: „ Würde in der Psychotherapie“) Im Januar 2004 wurden bei mir Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung, Alkoholmissbrauch, Essstörung, Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Ich schäme mich nicht für all das, was mir in meiner Kindheit passiert ist. Ich schäme mich nicht für die Überlebens‐Strategien, die ich als Kind entwickelt habe. Ich schäme mich nicht, dass ich erst, als ich mit einem Fuß in der Gosse stand, bereit war Hilfe anzunehmen und mich für die Heilung zu entscheiden. Zu der Diagnose Borderline: Dieser Begriff wird für alles Mögliche missbraucht. Es gibt so viele Persönlichkeitsstörungen, aber alle kennen diesen Namen. Emotionsregulationsstörung kann ich eher annehmen, weil es genau das beschreibt, worum es geht: Nicht ganz Herrin meiner selbst, durch Emotionen von Extrem zu Extrem geschleudert zu werden. Lassen Sie sich nicht von Diagnosen zu sehr beeindrucken oder fertig machen! Diagnosen sind starre Schubladen, geeignet für die Abrechnung mit den Krankenkassen oder zur Vereinfachung und Unterscheidung, fürs Studium; aber: Sie können mich als die Person, die ich bin, nicht erfassen! Menschen mit den gleichen Diagnosen sind völlig verschieden. Wir haben unterschiedliche Gene und Biografien, unterschiedliche Schwerpunkte bei der Symptomatik und Mischformen zwischen verschiedene Persönlichkeitsstörungen. Ich bin mehr als die Summe meiner Diagnosen! Ich möchte als ganzer Mensch wahrgenommen und behandelt werden! Ich gehe sogar einen Schritt weiter: Jeder Betroffene, der sich seiner Vergangenheit stellt und sich für die Heilung entscheidet, hat Anerkennung für diesen mutigen Schritt verdient. Ich setze an dieser Stelle voraus, dass es klar ist, dass Heilung möglich ist. Bitte zweifeln Sie nicht daran – Anja Link und ich stehen hier vor Ihnen und sind ganz real. An dieser Stelle möchte ich Ihnen einen Ausschnitt aus dem Buch „Dem Leben wieder trauen“ von Ellen Spangenberg vorlesen: „Meines Erachtens bedeutet Heilung, dass eine betroffene Frau beginnt, ihr Leben (wieder) in die Hand zu nehmen, dass sie handlungsfähiger wird, sich selbst besser verstehen und annehmen kann und lernt, mit den Folgen der Traumatisierung zurechtzukommen. Dazu gehört für mich auch, dass sie Lebensperspektiven und Pläne entwickelt, dass sie Lebenslust und Lebensfreude sowie Zufriedenheit und Zuversicht empfinden kann – oder wie immer sie für sich selbst Heilung definiert. Heilung heißt für mich nicht die Abwesenheit unangenehmer Gefühle wie Ärger oder Traurigkeit, denn sie gehören zum Leben dazu – sondern vielmehr ein Einverständnis damit, dass das Leben auch Widriges oder Schwieriges bereithält und dass es sich lohnt, damit umgehen zu lernen. Der Begriff Heilung ist meiner Meinung nach nicht nur dann zu verwenden, wenn eine traumatisierte Frau alle Traumatisierungen oder Lebensbelastungen aufarbeitet. Das erscheint mir zu hoch gegriffen und oft gar nicht möglich. Heilung ist für mich kein statisches Ziel, auf das man zusteuert und nach dessen Erreichen sich nichts mehr verändert. Ich spreche daher lieber von Heilungsprozess, weil damit deutlich wird, dass es eine Bewegung und eine Suche ist, die wahrscheinlich ein Leben lang anhält.“ Wie viele Betroffene trage auch ich die Symptome zumindest der letzten 2 Generationen meiner Verwandtschaft in mir. Ich bin Symptomträgerin! Die letzten Generationen haben sich dieser Herausforderung nicht gestellt. Weil sie nicht konnten oder nicht wollten – es spielt keine Rolle! Das tue ich heute stellvertretend für sie. Das ist meine Lebensaufgabe. Ich habe sie angenommen! Ich möchte mit niemandem tauschen und ich möchte diese Lebensaufgabe nicht missen. Indem ich mich dieser Herausforderung stelle, beende ich einen langen Leidensweg bei mir und tue alles, was in meiner Macht steht, um künftige Generationen vor diesem Leid zu bewahren. Ich fühle mich wie eine Frau, die einen Garten geerbt hat, dessen Boden völlig ausgelaugt war. Bei den Unmengen Kompost, die mir mitgegeben wurden, konnte ich nur entweder daran ersticken oder daraus einen wunderschönen Garten gestalten. Ich bin also eine Gärtnerin geworden, um aus dem, was da war, einen wunderschönen Garten für mich selbst und für die künftigen Generationen zu bauen. Einen Garten zu gestalten und zu pflegen, ist nicht nur mit schmerzhaften Aufgaben, sondern auch mit wundervollen Momenten verbunden. Es erfordert viel Kraft, Hingabe, Liebe, Durchhaltevermögen, Kreativität, Zuversicht, Geduld, Geduld und noch mal Geduld. Dieses Bild gefällt mir sehr gut. Weil es so vielschichtig ist. So ein Garten ist nicht starr ‐ er ist nie ganz fertig – er entwickelt sich immer. Ich bin die Gärtnerin und auch der Garten! Und als Gärtnerin trage ich die Verantwortung für den Zustand des Gartens und entscheide, wie dieser gestaltet werden soll. Ganz wichtig für mich an dieser Stelle ist, dass ich entscheide, ob mit oder ohne Chemie! Nach einem intensiven Prozess bin ich dankbar und glücklich wie nie zuvor! Heute habe ich mit meiner Biografie Frieden geschlossen und fühle mich zum ersten Mal im Leben als ein Ganzer Mensch! Die Liste der Menschen, die mich bei meinem Heilungsweg begleitet haben, ist sehr lang. Diese völlig verschiedenen professionellen Helferinnen haben Folgendes gemeinsam: Sie sind ein Beispiel für Mitgefühl und würdevollen Umgang mit Patienten bzw. Klienten. Ihre Arbeit ist für mich der Inbegriff von beziehungsorientierter Therapie. Früher dachte ich, dass man entweder mitfühlen kann oder eben nicht. Heute weiß ich, dass verschüttete Empathiefähigkeit wieder lernbar ist. Empathie ist unbedingt notwendig, damit wahre Begegnung stattfinden kann. Wenn wir den anderen auf derselben Höhe in die Augen schauen, sehen wir unser Spiegelbild. Auf dieser Ebene findet wahre Beziehung statt! Auf dieser Ebene wird uns klar, dass wir gleich wertvoll sind. Auf dieser Ebene kann Beziehung heilsam sein, statt eine Brutstätte für Borderline zu sein. Es ist ein mutiger Schritt, sich für die Heilung zu entscheiden. Sie haben es sich verdient, mit menschlicher Würde und Respekt auf Ihrem Weg begleitet zu werden. Ich wünsche Ihnen, Betroffene und Angehörige, dass Sie die richtige Begleitung auf Ihrem Heilungsweg finden. Ich wünsche uns allen, dass auch wir es anregend finden, jede Lebensäußerung von uns selbst und anderen unter dem Aspekt „Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ zu sehen. Bärbel Jung Es gibt immer eine Geschichte vor der Geschichte. Entstehung von Co‐Abhängigkeit Co‐Abhängigkeit ist ein Gefühls‐ und Verhaltensmuster, das im betroffenen Individuum (Menschen) angelegt ist und das sich in einer dysfunktionalen (nicht funktionierenden) Familienstruktur entwickeln kann. Die nicht funktionierende Familie zeichnet sich aus durch starre und extreme Rollenzuschreibungen. Dies ist für alle Familienmitglieder Vorraussetzung, um in einer länger anhaltenden, belastenden und schmerzlichen Familiensituation bestehen zu können. Die Rollenzuschreibung entwickelt sich langsam und unmerklich. Die Übernahme einer bestimmten Rolle ist Abwehrmechanismus gegen den emotionalen Schmerz. In einer solchen Familie herrschen unausgesprochene Regeln. In meiner Ursprungsfamilie herrschten solche Regeln wie: • Über Gefühle spricht man nicht! Ich behielt sie für mich. • Seine Gefühle zeigt man nicht! Ich versteckte sie. • Nimm dich nicht so wichtig! • Sei stark! Ich wurde „stark“. • Sei gut, sei perfekt! Ich versuchte es. • Sei selbstlos! Ich–Botschaften sind egoistisch! So wurde ich zum co‐abhängigen Kind, zur co‐abhängigen Frau, zur co‐abhängigen Mutter, zur co‐abhängigen Partnerin. Und was lebt eine Mutter ihren Kindern vor? Die eigenen, in der Kindheit erlernten Glaubenssätze. Ich genau so wie meine Mutter und ihre Mutter und deren Mutter. • Behalte deine Gefühle für dich! • Sei nicht so empfindlich! • Sei stark! So wurden aus meinen Kindern fünf junge Menschen, die sich erst sehr spät auf den Weg machen konnten, ihr eigenes ICH zu finden. Eines dieser Kinder hat sich in die Borderline ‐ Welt geflüchtet, um den seelischen Schmerz, den es in seiner Kindheit nicht allein ertragen konnte, auszuhalten. Anfang 40 erlebte ich die wichtigste Beziehung meines bisherigen Lebens. Mein damaliger Partner leidet an einer Borderlinestörung. Mit ihm erlebte ich drei tiefdunkle, traurige, leblose Jahre. In dieser Zeit alterte ich innerlich um 200 Jahre. Nichts, was mir jemals wichtig war, hatte noch Bedeutung: Meine Bücher, die Musik, die Natur, Freunde. Selbst meine Kinder glitten in weite Ferne ab. Ich verschwand in seinem Leben. Ich war eine Verschwindende. Als ich am Abgrund stand, war es nur ein Gedanke, der mich weiter kämpfen ließ: Ich darf meinen Kindern keine Antwort schuldig bleiben! Heute bin ich sehr dankbar dafür, diese Zeit erlebt zu haben. Habe ich doch erst in ihr endlich gespürt, dass ich nie vorher wirklich mein eigenes Leben gelebt habe. Meinen Kindern bin ich heute so nah wie nie. Ganz besonders meiner ältesten Tochter. Es gab Zeiten, da lagen Welten zwischen uns. Jetzt empfinden wir gegenseitigen Respekt, Wärme und Verständnis für unsere gegenseitigen Gefühlswelten. Ein Balanceakt, den wir beide recht gut beherrschen. Sie dank ihrer DBT, ich durch die konsequente Bereitschaft, die volle Verantwortung für mein eigenes Leben zu übernehmen. Wie man Wege findet, sie gehen kann, darüber später mehr. Dialektisch‐behaviorale Therapie (DBT) Martine Micol‐Grösch Die Station 6.1 der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Merxhausen bietet ab März 2009 Patientinnen mit Borderline‐Störung ein stationäres Behandlungsprogramm nach dem dialektisch‐behavioralen Therapiekonzept (DBT) von Marsha Linehan und Martin Bohus an. Nach DSM IV kennzeichnen folgende Kriterien die Borderline‐Störung: Chronisches Gefühl der Leere, verzweifeltes Bemühen, Trennungen zu vermeiden, Identitätsstörungen, impulsives selbstschädigendes Verhalten, wiederkehrende Suizidalität, affektive Instabilität, unangemessen intensive Wut, dissoziative Symptome. DBT – dialektisch behaviorale Therapie basiert auf der Entstehungshypothese der Borderline‐Störung, wonach das Zusammenwirken von neurobiologischen Anlagefaktoren und von Umweltfaktoren, wie Vernachlässigung, Missbrauchs‐ und Gewalterfahrungen in der kindlichen Entwicklung, zu einer ausgeprägten emotionalen Verletzlichkeit und Störung der Affektmodulation führen. So reagiert ein überempfindliches Nervensystem auf kleinste Reize mit einem starken Erregungsanstieg und extremen quälenden Hochspannungszuständen. Als Bewältigungsversuche entwickeln sich inadäquate, dysfunktionale Verhaltensmuster wie selbstverletzendes Verhalten, Suizidversuche, Suchtmittelmissbrauch oder Essstörungen. DBT setzt an diesen dysfunktionalen Verhaltensmustern an, nach einer klaren Hierarchie. Das am stärksten (sich oder andere) gefährdende Verhalten wird zuerst bearbeitet: 1.Suizidalität, 2. schweres selbstverletzendes Verhalten, 3. therapieschädigendes Verhalten, 4.Begleitsymptome wie Essstörungen, Suchtmittelmissbrauch, 5.Verbesserung der Lebensqualität. Die DBT bedient sich verschiedener Techniken aus Verhaltens‐ und kognitiver Therapie, Gesprächs‐ und Hypnotherapie, Körpertherapie und Zen‐Meditation. Verhaltensanalysen helfen, inadäquates Verhalten zu verstehen und neue Wege zu entwickeln. Über verschiedene Zugangswege, wie Körper, Sinne, Denken, werden Skills (Fertigkeiten) vermittelt und geübt, um Spannung selbst zu kontrollieren und zu vermindern. Achtsamkeitsübungen schaffen mehr Bewusstheit für das Hier und Jetzt. Körpertherapie hilft, den Körper anzunehmen und zur Emotionsregulation zu nutzen. Wichtige Begriffe in der DBT sind Commitment und Validierung: Commitment bedeutet Zustimmung, Engagement und Selbstverpflichtung und ist Voraussetzung und Ziel der Therapie. Validieren bedeutet Wertschätzen, Ernstnehmen und vermittelt dem Gegenüber, dass seine subjektive Sicht der Dinge verstanden wird, stimmig und nachvollziehbar ist. Dialektisch bedeutet, extreme Gegensätze, Widersprüche, Ambivalenzen, als Teil des Erlebens anzunehmen und eine bessere Balance zu entwickeln. Häufige Gegensätze bei Betroffenen sind Nähe und Distanz, Akzeptanz und Veränderung. Es ist ein Weg aus dem Alles‐oder‐Nichts‐Denken, dem Schwarz‐Weiss‐Denken. Therapieprogramm der Station 6.1 der KPP Merxhausen: 1. Anmeldung: • Direkt auf Station: 05624 60 10 578 • Dr.Micol‐Grösch (Oberärztin): 05624 60 10 600 Mailto:martine.micol‐groesch@t‐online.de 2. Vorgespräch mit Therapeutin und Pflegekraft: • Klärung von Diagnose und der Behandlungsindikation • Informationen zum Behandlungskonzept 3. Bedenkzeit: ca 1 Woche. Dies steigert nachweislich die Motivation und den Therapieerfolg! 4. Geregelte stationäre Aufnahme 5. Stationäres DBT‐ Programm über 12 Wochen: Behandlungsmodule: Einzelpsychotherapie, Einzelgespräche mit Bezugspflegekraft, Abendgruppe, Bezugsgruppe, Achtsamkeitsgruppe, Skills‐Gruppe, Körpertherapiegruppe, Stabilisierungsgruppe, Musikgruppe, Ergotherapie, Physiotherapie Therapiestufe I: 1. – 3. Woche Inhalte: Vermitteln des neurobehavioralen Borderline‐Entstehungsmodells und des Behandlungskonzepts. Commitment‐Phase : Behandlungsvertrag unterschreiben. Testpsychologische Untersuchung Arbeitsmaterialien wie Spannungsbogen, Diary‐card kennenlernen Problem‐ und Verhaltensanalyse, Erarbeiten von Behandlungszielen Erfassen von psychosozialen Problemen Therapiestufe II: 4. – 9. Woche Inhalte: Erlernen und Einüben von Skills nach Manual von M.Linehan/M.Bohus Schwerpunkt Stresstoleranz und Achtsamkeit. Erstellen eines Notfallkoffers. Arbeit an den Behandlungszielen Therapiestufe III: 10. – 12.Woche Inhalte: Entlassungsvorbereitung Unterstützung bei der Lösung psychosozialer Probleme Die Anbindung von Angehörigen ist uns sehr wichtig. Zusammen mit den Patientinnen werden wir die bestmögliche Art und Weise einer hilfreichen Zusammenarbeit entwickeln. Veränderungen brauchen Zeit, deshalb bieten wir zur Auffrischung und Vertiefung eine stationäre Intervalltherapie an, zwei Mal 4 Wochen in einem 2‐Jahres‐ Zeitraum. Merxhausen 23.03.2009 Achtsamkeit und Akzeptanz ‐ Die Kunst des Sehens Benedikt Winkler Inhalt des Work‐Shops: „Achtsamkeit in der Psychotherapie, Wurzel und Herkunft der Achtsamkeit“ Wir wollen gemeinsam erforschen und erfahren, was für unterschiedliche Arten des Sehens es gibt und wie die Art, wie wir uns selbst und die äußere Welt betrachten, unser Erleben verändert. Bereits vor knapp 100 Jahren wurde Achtsamkeit in psychotherapeutische Konzepte übernommen und integriert. In neuerer Zeit hat Jon Kabat Zinn Achtsamkeit als Möglichkeit der Stressreduktion bekannt gemacht. In seinen Büchern hat er viele Übungen aufgezeichnet, die helfen, die Achtsamkeit für den Augenblick zu erhöhen. Ein Großteil dieser Übungen lässt sich in den Alltag integrieren. Marsha Linehan, die Begründerin der DBT zur Behandlung der Borderline‐Störung, hat ebenfalls alltagsnahe Achtsamkeitsübungen in ihr Therapiemanual integriert. Sie sollen helfen sich von negativen Gefühlen, von Stress und Anspannung zu distanzieren. Unterschied Achtsamkeit, Konzentration: Achtsamkeit bedeutet Ausweitung der Aufmerksamkeit, offene Geisteshaltung als Panorama‐Bewusstsein. Denken als Versuch Sicherheit zu schaffen. Nachteil: Denken reduziert die Erlebnisfähigkeit und hindert uns daran im Augenblick zu sein. Übungen: Betrachten eines Blumenstraußes mit der Aufgabe die Blumen zu zählen. Betrachten eines Blumenstraußes ohne Intention. Unterschiede der Wahrnehmung. Zwei Arten des Sehens: 1. Rezeptiv, empfangend 2. Aktiv Man kann mit seinem Blick andere Menschen kontrollieren und ihr Verhalten beeinflussen. Man kann jedoch auch einen anderen Menschen mit offenen Augen und vorurteilslos anschauen. Dann lässt man diesen Menschen auf sich wirken. Neben dem äußeren Sehen gibt es das innere Sehen: Visualisierung oder Imagination Luise Rettemann: Imagination als heilsame Kraft Übung: Der sichere innere Ort Unser Blick wird oft von negativen Erfahrungen und Gefühlen gefangen gehalten. Wie können wir es lernen unseren Blick frei zu bewegen, nicht das Problem, sondern die Lösung zu sehen. Wie kann es uns gelingen neben dem Großen auch das Kleine zu sehen. Erfahrung der inneren Leere z. B. bei einer Borderline‐Störung. Vielleicht erfahren wir innere Leere, weil wir nach etwas Großem suchen. Vielleicht muss man sich bei seiner inneren Suche auf etwas Kleines einstellen. Wenn man sich erlaubt, selbst kleiner zu werden, könnte es auch gelingen die kleinen Dinge besser zu sehen. Wege aus dem Chaos Maria Landgraf/ Anja Link Begrüßung, Ablauf Welche Selbsthilfestrategien gibt es? o Maria erzählt von ihren Selbsthilfestrategien (Anja notiert Stichpunkte dazu) o Bitte an die Teilnehmer, zu überlegen, welche Selbsthilfestrategien sie kennen (Sie dürfen sich dazu mit Ihrem Tischnachbarn beraten); hilfreiche Fragen dafür sind: was macht mir Spaß/in welchen Situationen fühle ich mich wohl/was hat mir schon mal geholfen? Æ diese auf Zettelchen aufschreiben (anonym) Æ Zettel werden eingesammelt und sortiert nach: ƒ Ablenken ƒ Beruhigen ƒ Um sich wieder zu spüren ƒ Dinge zum Festhalten ƒ Selbstfürsorge ƒ Beziehung Æ Zuordnung auf der Spannungskurve (s.u.) (Anja erklärt Spannungskurve) -
Notfallkoffer o Idee des Notfallkoffers erklären o Vorstellen unserer Notfallkoffer o Wie können sich Betroffene einen Notfallkoffer zusammenstellen? -
Input Frühwarnzeichen Übung zu Frühwarnzeichen [falls noch Zeit ist: Input von Anja zum Thema „Absprachen“] -
Abschluss: o (Anja) Erbsen zählen o (Maria) Karten aus der Mitte Erbsen zählen Bei uns gibt es so ein Sprichwort: „Nun hör endlich auf Erbsen zu zählen“. Übersetzen lässt sich das mit Herumkritisieren an allem. Das fand ich ja eigentlich immer schrecklich. Mittlerweile bin ich aber ein Anhänger des Erbsenzählens. Ich habe Ihnen daher Erbsen mitgebracht. Nehmen Sie sich einfach einige aus der Tüte. Erbsen zählen ist ein Element meines Notfallkoffers. Ich bin ein Mensch, der oft nur die negativen Dinge wahrnehmen kann und ich vergesse dann die positiven. Die Idee beim Erbsenzählen ist, immer wenn man etwas Positives erlebt, eine Erbse von der rechten in die linke Hosentasche wandern zu lassen. Abends kann man dann gucken, wie viele Erbsen auf der linken Seite sind. Witzigerweise fallen einem zu den Erbsen auch die Situationen wieder ein. So ähnlich wie bei dem Knoten im Taschentuch. Bei mir war es so, ich wollte natürlich dringend Erbsen in der linken Hosentasche haben und entsprechend habe ich auf positive Situationen geachtet und plötzlich konnte ich mich über ein Lied im Radio freuen, über einen freien Parkplatz mitten in der Innenstadt usw. Und seit dem Trialog wissen wir, Erbsenzählen schadet auch Angehörigen und Fachleuten nicht. Vielleicht haben Sie ja Lust, das mit den Erbsen mal bei der Arbeit auszuprobieren. Borderline‐Störung: Emotionsregulationsstörung! Zur Diskussionsrunde Maria Landgraf Borderline oder besser: Emotionsregulationsstörung ist eine Persönlichkeitsstörung. Persönlichkeitsstörungen sind Beziehungsstörungen, sie sind nicht eine Störung der Persönlichkeit an sich, sondern eine Störung der Interaktion. Diese entstehen in unserer Biografie und sind Lösungen für schwierige Interaktionssituationen. Interaktion bedeutet aufeinander bezogenes Handeln zweier oder mehrerer Personen. Interaktionsproblem: Alle haben einen Anteil daran und im idealen Fall kann das Problem gemeinsam gelöst werden. Es gibt keinen Schuldigen! Es ist o.k., wenn Angehörige sich dem nicht gewachsen fühlen und sich dem nicht stellen möchten. Es ist nicht o.k., sich als Helfer hinzustellen, nicht an sich selbst arbeiten zu wollen, nicht bereit zu sein, sich menschlich weiterzuentwickeln und mit dem Finger auf den Symptomträger zu zeigen! In diesem Fall ist es besser, der Angehörige hält sich aus dem Genesungsprozess raus. Genauso ist es o.k., wenn Betroffene sich gegen eine Therapie entscheiden. Angehörige und professionelle Helfer haben das zu respektieren. Für Angehörige, die sich dann auf abhängige Kinder berufen wollen: Wenn es Ihnen wirklich um die Kinder geht und nicht darum, Krieg als Eltern oder Elternteil zu führen, dann seien Sie einfach da für das Kind in dem Masse, wie es möglich ist. Wenn Sie eine Front gegen den Betroffenen aufbauen, helfen Sie dem Kind nicht, sondern handeln selbstsüchtig. Ich reagiere etwas allergisch auf Menschen, die behaupten Kinder seien bei Ihnen besser aufgehoben. Die Verwandtschaft, die mich großgezogen hat, war auch dieser Meinung… Ich bin nicht nur Betroffene, sondern auch Angehörige. Liebe Angehörige, ich weiß, dass Sie leiden. Ich möchte auch Sie dazu einladen, diese Chance, die Borderline uns schenkt, zu nutzen und über sich hinaus zu wachsen. Es ist in Ordnung, wenn Sie es nicht können oder nicht wollen, aber stehen Sie Betroffenen bitte nicht im Weg, wenn die das gerade versuchen. Es ist nicht einfach zu verstehen, was mit uns los ist. Wir können es Ihnen währenddessen auch nicht erklären. Viele Angehörige jammern, weil wir Ihnen Leid zufügen. Dieser Schmerz, den Sie sozusagen abkriegen, ist nur ein kleiner Bruchteil dessen, was wir in uns spüren. Ich nehme Ihren Schmerz ernst. Es ist nicht meine Aufgabe als Betroffene und Symptomträgerin mich um Ihren Schmerz zu kümmern. Die Kraft dazu ist oft einfach nicht vorhanden. Außerdem weiß ich als Betroffene nicht, dass ich Teil des Problems bin und dass ich durch mein Verhalten andere verletze, ist mir in dem Moment nicht bewusst. Durch Wiederholungen der gleichen Situationen, die wir oft selbst hervorrufen, lernen wir leider nicht daraus, da wir leider unseren Anteil darin nicht sehen können. Wenn ich mich um meinen Schmerz kümmere und Sie um Ihren. Wenn wir alle an unserer Empathiefähigkeit arbeiten, können wir den anderen dort abholen und ihm dort begegnen, wo er gerade ist. Wenn wir auch unabhängig voneinander lernen die Muster zu erkennen und zu verändern, können wir uns auf einer neuen Ebene treffen. Zitate zur Therapeutischen Beziehung: Professorin Marianne Leuzinger‐Bohlebe (Sigmund‐Freud‐Institut in Frankfurt): „In einer Therapie, wo wir mit Menschen arbeiten, die an einer Krankheit der Seele leiden, ‐ meine Erfahrung ist, wenn man da nicht eine Haltung der Erfurcht hat und des Tastens und eigentlich des Wissens, dass man die Seele des Anderen nur immer ein klein bisschen verstehen kann und den Anderen sehr dazu braucht, für diesen Erkundungs‐ und Erforschungsprozess, dann ist alles schief. Nur gemeinsam lassen sich innere Welten erschließen.“ Egal ob Psychoanalytiker, Verhaltenstherapeut oder Gesprächspsychotherapeutin – die Therapeuten verbindet mehr als sie dachten. Denn ein konstantes Ergebnis in der Psychotherapie‐Forschung ist: Auf die Beziehung kommt es an. Die Qualität der Arbeitsbeziehung zws. Klient und Therapeut entscheidet wesentlich darüber, ob eine Therapie erfolgreich ist oder nicht. Inzwischen unumstritten: Psychotherapie verändert auch das Gehirn! Bei Ärzten und Therapeuten ist Einfühlungsvermögen eine wünschenswerte und oft sogar unerlässliche Qualität. Sie haben eine besondere Aufgabe, mit den Befindlichkeit ihrer Patienten wie auch mit ihren eigenen Reaktionen darauf verantwortungsvoll und gelassen umzugehen. In der Psychotherapie ist Empathie ein wichtiges therapeutisches Instrument und wesentlicher Bestandteil einer erfolgreichen Beziehung zwischen Therapeut und Klient. Forschungen zeigen: wenn ein Arzt zugewandt ist und sich bemüht, seinen Patienten zu verstehen, dann hilft das dem Kranken, Vertrauen zu entwickeln und sich für die Heilung zu öffnen. David Siegel „Das achtsame Gehirn“: Wer achtsam ist, nimmt nicht nur sich selbst besser wahr, sondern auch die andere. Eine regelmäßige stressreduzierende Achtsamkeitspraxis wird empfohlen. Das mache Menschen einfühlsamer, mitfühlender und belastungsfähiger. Konfusius sagt: „Wer andere kennt, ist klug, wer sich selbst kennt, ist weise.“ Wie kann ich mein Kind/meine(n) PartnerIn im Alltag unterstützen und dabei die eigenen Grenzen wahren? (Konzept für die Gesprächsgruppe) Bärbel Jung Vorstellung des Borderline Trialog Kassel e.V. (Flyer, Termine ) 1. Stunde: 1.1. Eisbergmodell (Plakat v. A.Link /C. Tilly) Obere, sichtbare Seite des Eisberges: Was wir als Angehörige im Umgang mit Betroffenen erleben, sehen. Untere, nicht sichtbare Seite des Eisberges: Die unter der Oberfläche verborgene Gefühlswelt der Borderline‐Persönlichkeits‐Störung. Wenn ich erkenne, welches Bedürfnis sich hinter dem offensichtlichen Verhalten meines Gegenübers verbirgt, fühle ich mich nicht sofort angegriffen. Ich bringe ihm mehr notwendiges Verständnis entgegen, bleibe gelassener. 1.2. Theoretische Annahme der inneren Erlebensstruktur (Plakat TH München) Gegenüberstellung: Mensch mit Borderlinestörung – Mensch ohne BPS Verdeutlicht Schwarz‐Weiß‐ Fühlen,‐ Denken,‐ Handeln Guter Einstieg für Fragen nach: Wahrheit, Lüge, unbewusstes oder bewusstes Handeln einer BPS. 1.3. Spannungskurve (Plakat aus DBT‐Seminar für Angehörige, M. Bohus) Emotionen, Gefühle sind messbar, sichtbar. Modell einer „Fieberkurve“. In der DBT (Dialektisch‐Behavioralen Therapie) lernt der Betroffene seine Gefühle wahrzunehmen. So lernt er frühzeitig seine inneren Spannungszustände zu messen, frühzeitig notwendige Skills einzusetzen, die ihn auf einen “normalen“ Spannungszustand zurückversetzen. Das kann der Angehörige ebenfalls. Es ist eine sehr hilfreiche Methode, sich gegenseitig die augenblickliche Anspannung zu signalisieren. Z.B.‐ Du, lass mich jetzt in Ruhe, ich bin auf der Fieberkurve gerade bei gefährlichen 70%. Ab 70% befindet sich der Mensch im Hochstress. Da herrscht nur ein innerer Impuls: Wie werde ich diesen Druck los? (Beispiel) Pause 2. Stunde 2.1. Kurze Erklärung zur inneren Achtsamkeit: Achtsamkeit bedeutet innehalten, wachsam und neugierig ein. Vergleich Autofahren‐ Fahrrad fahren: Wenn man eine Strecke, die man üblicherweise mit dem Auto fährt, einmal mit dem Fahrrad oder zu Fuß zurücklegt, wird man erstaunt sein, dass man Dinge entdeckt, die man vorher aus Gewohnheit und aufgrund der hohen Fahrgeschwindigkeit nicht wahrnehmen konnte. Genauso verhält es sich mit der Selbstwahrnehmung im Zustand der inneren Achtsamkeit. Selbstwahrnehmung ist die Grundlage für emotionale Intelligenz. Sie ist Vorraussetzung für die Einsicht in die eigenen Verhaltensmuster und für bewusstes Handeln. Je weniger ein Mensch seine Gefühle, Denkmuster, Assoziationen und Impulse wahrnimmt und versteht, umso stärker ist er ihnen ausgeliefert. Im Extremfall ist man der Sklave, das Opfer seiner eigenen Gefühle. Es folgt eine kleine „Süße“ Übung. 2.2. Vorstellen der Validierung ( aus DBT‐Seminar f. Angehörige M. Bohus) Dem Gegenüber vermitteln, dass man dessen subjektive Sichtweise der Dinge nachvollziehen kann und versteht. Was nicht heißen muss, dass man die Meinung des Anderen teilt. Auswirkung von Validierung ist: Aufbau von Vertrauen, Verminderung von negativen Gefühlen, Stärkung der Selbstachtung, Unterstützung in schwierigen Situationen, keine negative Auswirkung. Praktische Übung mit den Anwesenden an Fallbeispiel oder Rollenspiel (wenn Freiwillige ), es soll kein Leistungsdruck entstehen. 2.3. Abschlussrunde: Sammeln von Eindrücken, Gedanken, Wünschen. Borderline bei Kindern und Jugendlichen Michael Völk(<) Menschliche Entwicklung ist ein lebenslanger Prozess, die Geschwindigkeit der Veränderung ist in jungen Jahren allein schon aufgrund körperlicher Aspekte ein besonders rasantes Geschehen. Dies ist deutlich in der Kindheit zu beobachten und wird in der Adoleszenz mit den Schritten auf das Erwachsenenleben hin nochmals betont. Der Beginn der Adoleszenz ist durch die körperlichen Veränderungen der Pubertät definiert, ihr Ende variiert in Abhängigkeit von kulturellen und individuellen Bedingungen. Das Konzept der Entwicklungsaufgaben bezieht sich auf diesen Prozess, der sich in der Interaktion mit der Umwelt des Jugendlichen abspielt. Entwicklungsaufgaben •Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung und effektive Nutzung des Körpers •Erwerb der männlichen bzw. weiblichen Rolle •Erwerb neuerer und reiferer Beziehungen zu Altersgenossen •Gewinnung emotionaler Unabhängigkeit von Eltern und anderen Erwachsenen •Vorbereitung auf das Berufsleben •Vorbereitung auf Heirat und Familienleben •Gewinnung eines sozial verantwortungsvolleren Verhaltens •Aufbau eines Wertesystems und ethischen Bewusstseins •Über sich selbst im Bilde sein: Wissen, wer man ist und was man will •Aufnahme intimer Beziehungen zum Partner •Entwicklung einer Zukunftsperspektive Viele Aufgaben‐ viele Risiken In vielen Fällen gelingt es Jugendlichen, diese Aufgaben ohne größerer Probleme zu lösen. Nicht selten jedoch – und das wissen alle, die eigene Kinder oder beruflich mit jungen Menschen zu tun haben oder die sich noch gut erinnern können ‐ gibt es Verwirrungen, Abwege, Umwege, emotionale und soziale Komplikationen. Diese gehören oft mit zu den Erfahrungen auf dem Lebensweg, an die man sich manchmal nur ungern, aber auch manchmal mit dem Gefühl erinnert, etwas durchlebt zu haben, was einen zu dem Menschen gemacht hat, der man heute ist. Und oft möchte man diese Erfahrungen auch nicht missen. Für Situationen, in denen sich diese Erlebnisse krisenhaft zuspitzen und in der der junge Mensch auch Hilfe und Unterstützung benötigt, wurde der Begriff „Adoleszenzkrise“ geprägt. Ziel dieses Begriffes ist es, eine Pathologisierung jugendlicher Verhaltensweisen zu vermeiden. Nicht selten treten z.B. Selbstwertprobleme, Schuldgefühle, Insuffizienzgefühle, suizidales Verhalten, Weglaufen, übertriebene Protesthaltung, Drogenexperimente etc. auf. Diese „Komplikationen“, die für alle Beteiligten mit erheblichen Belastungen verbunden sind, können nach Beendigung der Adoleszenz verschwinden, sie können aber auch in psychiatrische Störungsbilder münden. Wohlgemerkt handelt es sich bei der Adoleszenzkrise nicht um eine psychiatrische Diagnose, obwohl die Erscheinungsformen psychischen Störungen ähneln. Es bleibt also die Aufgabe – und die Schwierigkeit – in der „turbulenten“ Zeit der Adoleszenz eine angemessene Abgrenzung einer behandlungsbedürftigen Problematik, hier der„Borderlinestörung“ (Persönlichkeitsstörung vom Borderlinetyp BPS), von so genannten „Normvarianten“ zu leisten. Pubertätsbedingte Einflüsse: Veränderungen im Verhalten und im Gefühlsleben der Jugendlichen hängen auch von den in dieser Zeit stattfindenden Veränderungen im Hormonhaushalt ab. So ist empirisch gesichert, dass die vermehrte Produktion von Östrogenen in einem Zusammenhang mit gehäuftem Auftreten depressiver Symptome bei Mädchen steht. Bei Jungen wiederum besteht ein Zusammenhang zwischen der vermehrten Ausschüttung von Androgenen mit gesteigertem Antrieb und erhöhter Impulsivität. Auch zeigt die aktuelle Forschung Veränderungsprozesse in der Strukturierung des Gehirns. „Im gesamten präfrontalen Cortex kann man noch bis zum 16. Lebensjahr eine gebrauchsabhängige Selektion synaptischer Verbindungen und damit einhergehende Umstrukturierung neuronaler Verknüpfungsmuster beobachten“ (Markowitsch & Welzer, 2006) Dies zur Beruhigung gestresster Eltern von 15Jährigen. Normvariante‐Diagnose‐Differentialdiagnose Die erwähnten Erscheinungsformen von „Adoleszenskrisen“ ähneln, wie bereits erwähnt, pathologischen Symptomen. Dies erschwert die Aufgabe, Kennzeichen psychischer Störungen, z.B Borderlinesymptome, von ihnen abzugrenzen. Kompliziert wird die Diagnosestellung auch noch dadurch, dass die Diagnosekriterien von Persönlichkeitsstörungen (und hierunter sind die Borderlinestörungen in den gebräuchlichen Diagnosekatalogen ICD‐10 und DSM IV eingeordnet) nicht trennscharf sind. „Nicht gerade wenige Menschen erfüllen sogar die Mindestzahl von Kriterien einer oder mehrerer Persönlichkeitsstörungen, kommen jedoch in ihren sozialen Bezügen ohne große Probleme zurecht, gehören gelegentlich sogar zu hoch angesehenen Personen unserer Gesellschaft.“ (Fiedler, 2000). Hinzu kommt die Frage: Wäre die Einordnung im Sinne einer einfacheren Störungsdiagnose (Achse 1, z.B. Depressive Störung) nicht ausreichend oder ist eine Persönlichkeitsstörung (z.B. Achse 2, Borderlinestörung) angemessener? Spricht man von einer Störung der Persönlichkeit, so ist es sinnvoll, sich zu verdeutlichen, was man eigentlich unter einer Persönlichkeit verstehen will. Persönlichkeit – eine Definition "Persönlichkeit und Persönlichkeitseigenschaften eines Menschen sind Ausdruck der für ihn charakteristischen Verhaltensweisen und Interaktionsmuster, mit denen er gesellschaftlich‐kulturellen Anforderungen und Erwartungen zu entsprechen und seine zwischenmenschlichen Beziehungen auf der Suche nach einer persönlichen Identität mit Sinn zu füllen versucht. Dabei sind jene spezifischen Eigenarten, die eine Person unverkennbar typisieren und die sie zugleich von anderen unterscheiden, wegen ihrer individuellen Besonderheiten immer zugleich von sozialen Regeln und Erwartungen mehr oder weniger abweichende Handlungsmuster." (Fiedler, 1997) Störungen der Persönlichkeitsentwicklung, also Ausprägungen von Persönlichkeitszügen, die bei dem Betroffenen selbst oder bei seiner Umgebung Leiden verursachen, werden traditionell im Erwachsenenalter diagnostiziert. Hinsichtlich der Diagnose von Persönlichkeitsstörungen im Jugendalter finden sich folgende Formulierungen in den Kriterienkatalogen zur Diagnostik: •DSM‐IV: •„Das Muster ist stabil und langandauernd, und sein Beginn ist zumindest bis in die Adoleszenz oder ins frühe Erwachsenenalter zurückzuverfolgen.“ •ICD‐10: •„Die Störungen beginnen immer in der Kindheit oder Jugend und manifestieren sich auf Dauer im Erwachsenenalter.“ •Die Stellung einer Persönlichkeitsstörungs ‐ Diagnose ist „... vor dem Alter von 16 oder 17 Jahren wahrscheinlich unangemessen.“ •In den Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings‐, Kindes‐ und Jugendalter (2000) wird formuliert: „...dass die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung in der Adoleszenz aufgrund der noch vorhandenen Entwicklungspotentiale zurückhaltend gestellt werden sollte.“ Die Zurückhaltung, entsprechende Diagnosen zu stellen, hat dazu geführt, dass bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zwar Charakteristika festgestellt wurden, die den Borderlineproblemen bei Erwachsenen ähneln und auch behandelt wurden, sie aber häufig unter anderen diagnostischen Bezeichnungen liefen (z.B. Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen). Folgende Argumente für Zurückhaltung bei PS‐Diagnosen bei Jugendlichen wurden angeführt: •Bei Kindern und Jugendlichen ist die Persönlichkeit noch unzureichend stabil. Aufgrund von Entwicklungsprozessen sind viele Veränderungen zu erwarten. •Die Diagnose ist stigmatisierend. Die Stigmatisierung erfolgt dadurch, dass bei Persönlichkeitsstörungen die Störung nicht nur auf eine bestimmte Verhaltens‐ oder Erlebnisweise bezogen ist, sondern auf die Person als Ganzes, es findet eine Verallgemeinerung über konkretes Handeln hinaus statt. •Ein ungünstiger Einfluss auf den Therapieerfolg ist zu befürchten (Glauben Patient und Therapeut an geringe Veränderbarkeit einer Störung, kann dies zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden.) Die beiden letztgenannten Punkte gelten im Prinzip auch bei Erwachsenen, was grundsätzlich einen vorsichtigen Umgang mit Persönlichkeitsstörungsdiagnosen begründet. Argumente für PS‐Diagnosen bei Jugendlichen •Wird eine zutreffende Diagnose nicht gestellt, kann dies eine erfolgreiche Therapie verhindern. •Eine PS‐Diagnose kann nicht nur stigmatisierend für den Betroffenen, sondern auch entlastend für ihn sein. •„Üblicherweise lassen sich typische Verhaltensmuster bereits in der Kindheit und Jugend beobachten“ (Fiedler, 1994). •Aufgrund neuerer Forschungen, u.a. zur neuronalen Plastizität, sind Stabilität und Veränderbarkeit im psychischen Geschehen neu zu bewerten! Die Persönlichkeit wird in Abhängigkeit vom Alter stabiler (Roberts. & DelVecchio, 2000): Jahre Stab.‐Koeffizient 0‐3 0.35 3‐6 0.52 6‐12 0.45 12‐18 0.48 18‐29 0.57 30‐49 0.62 50‐70 0.75 Dies bedeutet einerseits, dass schon im Kindesalter Persönlichkeitszüge (in jungen Jahren primär als Temperamentseigenschaften zu verstehen) vorliegen, andererseits in jedem Alter auch Veränderungen möglich sind. Nicht nur die Persönlichkeit, sondern auch Persönlichkeitsstörungen verändern sich mit und ohne Therapie. „Die vorhandenen Daten legen nahe, dass Persönlichkeitsstörungen nur eine mittelgradige Stabilität aufweisen und dass sie, obwohl Persönlichkeitsstörungen generell mit einem negativen Outcome verbunden werden, sich über die Zeit hinweg bessern können und von spezifischen Behandlungen profitieren.“ (Grilo & McGlashan, 1999) Betrachtet man Veränderungen speziell von Borderline‐PS, dann finden sich Komponenten, die –veränderlicher und als Reaktionen auf akuten Stress zu bewerten sind (z.B. Selbstverletzen, Suizidalität), und solche, die –stabiler, grundlegender und vermutlich genetisch mitbedingt sind (z.B. Impulsivität). Borderline bei Kindern •Im Kindesalter ist die Diagnose deutlich umstrittener als im Jugendalter. •Es wird teils der Begriff „Borderlinepathologie“ verwendet. •Es wird eine „heterogene Symptomatik externalisierender und internalisierender Störungen und kognitiver Beeinträchtigungen“ beschrieben. •Bisher existieren kaum Studien zum Thema „Borderline im Kindesalter“, eine ist z.B. von Paris et al. (1999): 7‐12jährige Kinder zeigen im Vergleich zu einer klinischen Vergleichsgruppe Defizite im Bereich von Selbstregulation und zielgerichteter Handlungssteuerung. Zusammenfassung der Argumente: - Grundlagen der Persönlichkeit bestehen schon im Kindesalter und entwickeln sich über die Adoleszenz zum Erwachsenenalter fort. - Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörungen unterliegen trotz stabiler Komponenten auch Veränderungen. - Die Verwendung einer PS‐Diagnose im Jugendalter ist dann gerechtfertigt, wenn sie die zutreffendste Beschreibung der vorliegenden Problematik darstellt, vor allem -
wenn sie ihrem eigentlichen Sinn, nämlich der Vorbereitung der adäquaten Therapie, dient. Abgrenzung zu Normvarianten und anderen Problemen ist wichtig (auch schwierig, Kontinuum, Veränderungen im Entwicklungsverlauf!) Bei der Vermittlung einer Persönlichkeitsstörungsdiagnose muss der „Stigmatisierungs‐ und Hoffnungslosigkeitstendenz“ entgegengewirkt werden. Die BPS‐Diagnose muss mit Bedacht gestellt werden (siehe „ADHS‐Boom“). Diagnostische Charakteristika der BPS: • Angst, verlassen zu werden • Instabile zwischenmenschliche Beziehungen • Identitätsstörungen • Wiederkehrende Impulshandlungen mit selbstschädigendem Charakter • Suizidhandlungen und ‐drohungen • Affektive Instabilität • Chronisches Gefühl der Leere • Schwierigkeit, Wut und Ärger zu kontrollieren • Vorübergehende, stressabhängige paranoide und dissoziative Symptomatik Laut DSM‐IV ist bei Vorliegen von 5 dieser 9 Kriterien die Diagnose einer Boderlinestörung gerechtfertigt. Epidemiologie im Jugendalter •Prävalenzraten in der Allgemeinbevölkerung: •6,7 % w– 3,2 % m (13 ‐ 21 Jahre, Berner et al. 2001, Deutschland) •7,8% ‐18% (Bernstein et al. 1993, Johnson et al. 2000, Chabrol et al. 2001) •Prävalenzraten in Behandlung: •ca. 10 % ambulant 15‐20% stationär (Skodol et al., 2002) •Signifikante Komorbidität mit depressiven Störungen, Angststörungen, Essstörungen (v.a. Bulimie), Drogenmissbrauch, andere PS (Persönlichkeitsstörungen). Leitsymptom: Störung der Affektregulation Affektive Instabilität •Die Interaktion einer physiologischen Basis (niedrige Reizschwelle für interne und externe emotionsinduzierende Ereignisse, hoher Erregungsgrad, verzögerte Rückbildung) mit •sozial vermittelten Einflüssen („invalidierende Umgebung“, belastenden Erfahrungen, Traumatisierungen) •und einer spezifischen kognitiven Verarbeitung (interne Schuldzuweisung) •und einem spezifischen Interaktionsstil (Kontaktsuche und ‐Vermeidung) machen die Symptomatik verstehbar! Die verschiedenen Komponenten können im Einzelfall unterschiedlich gewichtet sein (Ein spezifisches Trauma muss nicht bestehen!). Sie sind in der Regel gut vermittelbar und lassen spezifische Haltungen und Handlungen ableiten. Ein wesentlicher Aspekt der Affektregulation ist die Aufmerksamkeitssteuerung. Sie ist eine unabdingbare Voraussetzung zur Modulation und Steuerung von Affekten. Dabei geht es um die Ablenkung von negativ erlebten Reizen (z.B. Erinnerungen) und die Zuwendung zu positiven. Hierzu zeigt eine Studie (von Ceumern‐Lindenstjerna et al., 2006) mit 16‐jährigen Patientinnen mit BPS: Diese Jugendlichen zeigten bei guter Stimmung eher eine Vermeidung unangenehmer Reize, bei Verschlechterung der Stimmung eine immer stärkere Einengung auf diese. Bei den Kontrollgruppen (gesunde und Jugendliche mit anderen psychischen Störungen) war das genau umgekehrt. Dieser Befund passt gut zu Beobachtungen aus der klinischen Arbeit. Häufig gelingt es den Patientinnen nicht, wenn schlechte Stimmungen angestoßen sind, diese zu unterbrechen. Vielmehr erfolgt ein weiteres Drängen von negativen Empfindungen und Erfahrungen ins Bewusstsein mit entsprechender Zuspitzung der affektiven Verfassung. Gleichzeitig fällt es einigen Patientinnen schwer, sich bei guter Stimmung mit Problemaspekten zu befassen, d.h. genau in einem emotionalen Zustand, wo dies hinsichtlich ihrer emotionalen Belastbarkeit besser möglich wäre. Derartige Befunde bestätigen die Notwendigkeit, die Patientinnen mit Interventionen zu unterstützen, die ihre Fähigkeit zur Steuerung der Aufmerksamkeit fördern, damit sie ihre Stimmungen besser regulieren können. Neben dem Leitsymptom der affektiven Instabilität stehen weitere Symptome im Zentrum der Borderlinestörung bei Jugendlichen. Spezifische Behandlungsmethoden, wie die „Dialektisch Behaviorale Therapie DBT“, bieten empirisch abgesicherte Methoden, auch jugendliche Patienten zu unterstützen. Das diesem Vorgehen zugrunde liegende Konzept bietet auch therapeutische Ansätze für die Behandlung, wenn keine Umsetzung des „vollständigen“ Behandlungsprogramms möglich ist. Im Folgenden einige Anmerkungen aus der klinischen Arbeit mit Jugendlichen mit Borderline‐problemen zum Umgang mit zentralen Symptomen: •Suizidalität Mit suizidalen Krisen ist zu rechnen. Es gilt immer: Sicherheit hat Vorrang. Schutz und Stabilisierung sind die vorrangigen Ziele. Hinweise auf Suizidhandlungen sind immer ernst zu nehmen. Geschieht dies nicht, kann damit provoziert werden, dass der Betroffene die Ernsthaftigkeit seiner Situation unter „Beweis“ stellt. 4‐9% von BPS betroffene Patienten sterben durch Suizid (50fache der Allgemeinbevölkerung), bei 60‐75 % kommt es zu Suizidversuchen. Suizidgedanken sind entsprechend häufig, gleichwohl ist zu bedenken, dass diese bei 10‐24% Jugendlichen der Allgemeinbevölkerung ohne diese Problematik auftreten. •Interaktionelle Probleme •Aufgrund der häufig sehr komplizierten und belastenden interaktionellen Erfahrungen in der Biographie der Betroffenen zeigen sich für sie auch Belastungen in ihren aktuellen Kontakten. Es treten oftmals Wechsel zwischen Annähern und Abstoßen auf. Für Interaktionspartner ist zentral: nicht schnell gekränkt sein. So steigt die Chance, dass sich eine positive Beziehung entwickeln kann. •Die Haltung der Interaktionspartner sollte emotional zugewandt ein, gleichzeitig selbst komplementär ruhig und gelassen und nicht symmetrisch mit intensiver Emotionalität reagieren. •Menschen mit Borderlineproblemen zeigen eine hohe interaktionelle Sensibilität, sie können Stimmungen anderer teils erstaunlich zutreffend erspüren. Gleichzeitig können sie hier erhebliche Fehleinschätzungen machen, die ihnen subjektiv sehr sicher zutreffend erscheinen. Dies hängt mit der Verzerrung durch eigene kognitive Schemata zusammen – die Selbstwahrnehmung als „nicht liebenswert“ lässt teilweise Verhaltensweisen von anderen als feindselig oder ablehnend erscheinen, die gar nicht so gemeint sind. Beziehungsklärung ist hier zentral. •Menschen mit Borderlineproblemen haben in vielen Lebensbereichen hohe Kompetenzen, was an und für sich natürlich sehr erfreulich ist, gleichzeitig ist hierin auch die Gefahr der Überschätzung durch Interaktionspartner begründet.– Es geschieht daher manchmal, dass fälschlicherweise erwartet wird, dass die Betroffenen mit Situationen zurecht kommen, mit denen sie überfordert sind. Es besteht für die Interaktionspartner die manchmal schwierige Aufgabe, neben der Wertschätzung der Fähigkeiten auch die Beeinträchtigungen im Bewusstsein zu halten. •Der Aufbau von Vertrauen ist zentral, dies erweist sich z.B. manchmal schwierig beim Umgang mit Suizidalität (s.o.). Der Therapeut ist in diesem Fall einerseits in der Situation, dass er das Risiko eines Suizid abwenden muss, andererseits können Vorschläge einer stationären Krisenintervention, die auch als angemessene Fürsorge und Unterstützung zu sehen sind, die Beziehung belasten. •Kontinuität und Kooperation sind für die Unterstützung der Menschen mit Borderlineproblemen wesentlich. Dies bedeutet z.B., dass für die therapeutische Beziehung eine personelle Konstanz wesentlich ist. Daneben muss eine Kooperation zwischen dem Betroffenen, seiner Familie, der Psychiatrie/Psychotherapie und der Jugendhilfe angestrebt werden. •Selbstverletzendes Verhalten •Selbstverletzendes Verhalten (SVV) tritt bei 69‐80 % der Menschen mit Borderlineproblemen auf. Gleichzeitig besteht es auch in anderen Zusammenhängen, d.h. es ist kein eindeutiger Hinweis auf Borderline. SVV tritt vermehrt in den letzten 15 Jahren auf. •In der Heidelberger Schulstudie 2004/05 wurden 5759 Schüler der 9. Klasse (Durchschnittsalter 14,9 Jahre) untersucht: •Gelegentliche Selbstverletzung: 10,9 % •Repetitive Selbstverletzung: 4% • Es zeigte sich ein Zusammenhang mit internalisierenden (z.B. Angst, Depression) und externalisierenden Störungen (z.B. Störung des Sozialverhaltens). Empfehlungen für Angehörige •offen über das Thema „Selbstverletzung“ sprechen •die betroffene Person unterstützen •für den selbstverletzenden Jugendlichen da sein •nicht versuchen, das selbstverletzende Verhalten zu unterbinden •die Belastung des Jugendlichen anerkennen •professionelle Hilfe suchen •sich selbst Hilfe suchen Literatur: Bohus, M. Borderline‐Störungen. In Hautzinger, M. (Hrsg.) (2000) Kognitive Verhaltenstherapie bei psychischen Störungen. Weinheim: PVU. Brunner, R., Resch, F. (Hrsg.) (2008) Borderline‐Störungen und selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Cierpka et al. (Hrsg.) (57./8‐9, 2008) Entwicklungsstörungen der Persönlichkeit im Kindes‐ und Jugendalter. Themenheft der Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychatrie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Fiedler, P. (2000) Integrative Psychotherapie bei Persönlichkeitsstörungen. Göttingen: Hogrefe. Kohnstamm, R. (1999) Praktische Psychologe des Jugendalters. Bern: Hans Huber. Markowitsch, H.J., Welzer H. (2006) Das autobiographische Gedächtnis. Stuttgart: Klett‐
Cotta. Oerter, Rolf & Montada, Leo (Hrsg.) (2008) Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz‐PVU Petermann, F., Winkel, S. (2005) Selbstverletzendes Verhalten. Göttingen: Hogrefe. Remschmidt, H. et al. (2006) Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes‐ und Jugendalters nach ICD‐10 der WHO. Bern: Hans Huber. Saß, H. et al. (1996) Diagnostisches Manual psychischer Störungen DSM‐IV. Göttingen: Hogrefe. Umgang mit selbstverletzendem Verhalten Ellen Spangenberg Menschen mit Borderline‐Störungen haben häufig selbstverletzendes Verhalten, wobei es wichtig ist, betroffene Menschen nicht auf diese Symptomatik zu reduzieren. Da aber Selbstverletzungen im Umfeld (sowohl bei privaten als auch bei professionellen BegleiterInnen) oft große Verunsicherung und Hilflosigkeit hervorrufen und oft auch für die Betroffenen selbst mit hohem Leidensdruck einhergehen, ist es wichtig, sich mit diesem Phänomen auseinanderzusetzen. Nicht immer geht selbstverletzendes Verhalten mit einer Borderline‐Störung einher, so können auch Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (phasenweise) Selbstverletzungen durchführen. Bei dissoziativer Identitätsstörung (DIS), früher auch „multiple Persönlichkeitsstörung“ genannt, besteht fast immer selbstverletzendes Verhalten, ohne dass gleichzeitig eine Borderline‐Störung vorhanden sein muss. Bei der überwiegenden Mehrheit der Borderline‐KlientInnen finden sich in der Anamnese Traumatisierungen, von manchen Traumatherapeuten wurde die Borderline‐Störung daher auch als chronische Form einer Traumafolgestörung eingeordnet. Doch nicht immer sind Traumatisierungen ursächlich für die Entwicklung einer Borderline‐Erkrankung. Von daher ist die simple Gleichung Borderline=Trauma nicht zutreffend. Im Workshop wurde auf die Zusammenhänge zwischen Traumatisierungen und selbstverletzendem Verhalten genauer eingegangen, insbesondere was die Funktion dieses Verhaltens betrifft. Definition von selbstverletzendem Verhalten (SVV) Eine Selbstverletzung ist ein aktives und direktes Herbeiführen einer Verletzung, oft der Haut, aber auch anderer körperlicher Bereiche, in aller Regel nicht in suizidaler Absicht, sondern zur Entlastung bei intrapsychischen oder interpersonellen Konflikten. Selbstverletzungen sind somit also auch Bewältigungsversuche und Versuche der Selbstfürsorge im Sinne von „das Leben erträglicher machen, statt es zu beenden“. Dieser Ressourcen‐Ansatz soll jedoch nicht dazu führen, dass Selbstverletzungen verharmlost und nicht ernst genug genommen oder dass gefährliche Entwicklungen/Zuspitzungen übersehen werden. Selbstverletzendes Verhalten beinhaltet z.B. ritzen, schneiden, brennen, kratzen, Haut schrubben, sich schlagen, verätzen, verbrühen, Haare ausreißen und vieles weitere mehr. Abgegrenzt wird das SVV im engeren Sinne somit von anderen selbstschädigenden Verhaltensweisen wie Drogen‐ oder Medikamentenmissbrauch, Suchtverhalten, Essstörungen, Impulskontrollstörungen, Zwängen, riskanten sexuellen Praktiken, Prostitution, Aufrechterhalten von Gewaltbeziehungen etc. Oft tritt SVV jedoch in Kombination mit diesen anderen selbstschädigenden Verhaltensweisen auf. Schließlich gibt es ein Phänomen, das ich „delegierte Selbstverletzung“ nennen möchte: hierbei handelt es sich um indirekte Formen von Selbstverletzungen, indem das Zufügen der Verletzung an andere Personen delegiert wird, z.B. bei (wiederholten, unnötigen) Operationen, Zwangsmaßnahmen wie Zwangsernährung bei Anorexie etc. Hierdurch wiederholt die betroffenen Person ihre Opferrolle, das Gegenüber wird zum Täter/zur Täterin. Selbstverletzungen und Suizidalität Früher wurde selbstverletzendes Verhalten auch von professionellen BegleiterInnen oft als sehr bedrohlich und beängstigend eingeschätzt, was in Kliniken bisweilen dazu führte, dass es zu drastischen Zwangsmaßnahmen wie Fixierungen u.a. kam. Das Wissen um die Hintergründe und Funktionen von SVV hat sich seitdem verbessert, so dass vermehrt Ansätze wie z.B. DBT zum Einsatz kommen. Dadurch wird der Umgang mit Selbstverletzungen entdramatisiert und für alle Beteiligten erleichtert. Selbstverletzungen sind nicht mit Suizidalität gleichzusetzen, sondern können bisweilen sogar eine Suizidprophylaxe darstellen, → aber: es kann gleichzeitig Suizidalität bestehen, die auch mit (ernsthaften) Suizidversuchen einhergehen kann → aber: manche Selbstverletzungen bzw. selbstschädigende Verhaltensweisen können gefährlich sein oder in parasuizidales oder suizidales Verhalten übergehen, z.B. gefährliche Selbstverletzungen, die zu schweren Blutungen führen, riskantes Autofahren, Tabletten‐Überdosierung, „auf Gleisen spazieren gehen“ usw. → aber: Menschen mit selbstverletzenden Verhaltensweisen haben eine höhere Suizidrate → aber: auch Selbstverletzungen und parasuizidales Verhalten können „schief gehen“ und „versehentlich“ zum Tode führen Daher ist es so wichtig, Selbstverletzungen nicht zu verharmlosen, sondern sie sehr ernst zu nehmen, in der Therapie vorrangig daran zu arbeiten und auch Selbstschutzvereinbarungen zu treffen. Funktion von Selbstverletzungen Bevor selbstverletzendes Verhalten aufgegeben oder abgebaut werden kann, muss zunächst herausgearbeitet werden, welche Funktionen dieses Verhalten hat. Erst dann können Alternativen hierzu erarbeitet werden, die das SVV langfristig ablösen können. Wichtig ist hierbei eine Balance zwischen Annehmen (Akzeptanz) und Veränderung des selbstverletzenden Verhaltens, wie es in der folgenden Abbildung der Wippe verdeutlicht werden soll. Akzeptanz Veränderung Wenn eine der beiden Seiten überbetont wird, dann entsteht ein Ungleichgewicht, durch das auch die betroffene Person aus dem Tritt gebracht werden kann. Wenn zu schnell zu viel Veränderung gefordert wird (durch die Therapie oder auch durch den eigenen Anspruch), kann es zu einer Überforderung kommen, was sich in Verlust an Motivation und Verschlechterung der Symptomatik äußern kann. Wenn hingegen die Akzeptanz überbetont und Veränderung vernachlässigt wird, kommt es meist zu Stagnation oder Rückschritten, auch hier kann die Motivation verloren gehen. KlientIn und TherapeutIn sollten gleichermaßen immer wieder überprüfen, wie diese Wippe gerade steht und dann ihre innere Haltung in Richtung Gleichgewicht korrigieren. In diesem Bild der Akzeptanz‐Veränderungs‐Wippe zeigt sich auch der dialektische Ansatz, der der dialektisch behavioralen Therapie (DBT) nach Marsha Linehan zugrunde liegt und in dem es darum geht, von einem „entweder/oder“ zu einem „sowohl/ als auch“ zu kommen. Im Folgenden werde ich verschiedene Funktionen von selbstverletzendem Verhalten aufzeigen: Spannungsreduktion: Am häufigsten wird selbstverletzendes Verhalten eingesetzt, um schwer aushaltbare Spannungszustände zu unterbrechen, da nach der Verletzung die innere Spannung meist nachlässt. Dieser Effekt hält jedoch nur kurze Zeit an und löst daher das Grundproblem nicht, sondern schiebt es nur auf, bis die Spannung wieder ansteigt. Manchmal werden Häufigkeit und Schwere der Verletzungen gesteigert, um schneller wieder in diesen ersehnten Ruhezustand zu kommen. Das kann regelrecht süchtig machen. Antidissoziativum: Selbstverletzungen können aufgrund des sehr starken Reizes dissoziative Zustände beenden, sie „helfen“ also dabei, sich im Hier und Jetzt, in der Realität wieder zu orientieren, v. a. bei abgespaltenem Körperempfinden oder Flashbacks. Das Gefühl, lebendig zu sein, kann durch die Verletzung, das Fließen von Blut, das Spüren von Schmerz oder von Gefühlen wieder zurückkehren. Oft besteht nachher eine Amnesie oder eine nebulöse Erinnerung an den Selbstverletzungsvorgang. Affektregulation unerträglicher Gefühle: Umgekehrt kann eine Selbstverletzung auch dazu führen, in einen dissoziativen Zustand hineinzugelangen, wenn etwas plötzlich unerträglich wird. Mit dem „Cut“ wird dann auch das überflutende Gefühl oder eine Erinnerung abgeschnitten. Dies „hilft“ vorübergehend beim Umgang mit den überwältigenden Affekten nach Traumatisierungen wie Angst, Schuld, Scham, Verlust, Verzweiflung, Schmerz, Verlassenheit, Leere, Wut, Hass. (Auto‐)Aggressivität: Eine Selbstverletzung kann eine Art Ventil für Wut und Aggression sein, manchmal sogar das einzige Ventil, wenn die betroffene Person es sich noch nicht erlauben kann, diese Wut angemessen zum Ausdruck zu bringen oder wenn Angst besteht, die Wut nicht kontrollieren zu können. Dann kann es sich sicherer anfühlen, die Wut in Form einer Selbstverletzung gegen sich selbst zu richten. Mit der Selbstverletzung werden somit die Außenbeziehungen vor dieser Wut geschützt. Körperlicher Schmerz: Körperlicher Schmerz (wie nach einer Selbstverletzung) ist meist leichter auszuhalten als seelischer Schmerz, körperlicher Schmerz ist greifbarer, besser steuerbar und realer, somit auch besser handhabbar. Auch Fürsorge gegenüber dem Körper nach einer Selbstverletzung z.B. Wundversorgung, ist oft leichter möglich und kann auch tröstende Funktion haben. Selbstbestimmung und Autonomie: Eine Selbstverletzung kann auch eingesetzt werden, um sich die eigene Stärke und Unempfindlichkeit immer wieder zu beweisen, sich selbst zu versichern, mit Entsetzlichem und Verletzendem zurechtzukommen. Eine Haltung der Härte sich selbst gegenüber („Nur die Harten kommen in den Garten“) kann diesem Verhalten zugrunde liegen oder aber im Laufe der Zeit daraus entstehen. Kontrolle: Manchmal werden Selbstverletzungen auch eingesetzt, um Kontrolle zurückzugewinnen, sich den eigenen Körper wieder anzueignen, der durch Traumatisierungen oder andere Verletzungen massiv enteignet worden ist. „Wenn ich mir selbst wehtue, dann bin ich diejenige, die entscheidet, wann ich das tue, wie ich das tue und wann ich damit wieder aufhöre!“ Dem liegt oft die Annahme zu Grunde, an der Verletzung selbst schuld gewesen zu sein, was die Illusion beinhaltet, die Verletzung abwenden zu können. Reinszenierung: Es kann auch sein, dass mit einer Selbstverletzung das wiederholt wird, was der betroffenen Person früher angetan wurde. Die Verletzung ist dann wie eine Art Symbol oder eine Sprache für die erlebte Gewalt oder Verletzung, wobei dies meist unbewusst abläuft. Gleichzeitig wird damit aber die erlebte Missachtung und Entwertung am eigenen Körper wiederholt. Selbstbestrafung: Eine Selbstverletzung kann auch die Aufgabe haben, sich selbst zu bestrafen, z.B. wenn ein (früheres) Redeverbot übertreten wurde. Der betroffene Mensch dosiert dann mit der Selbstverletzung ggf. auch, wie intensiv in der Therapie gearbeitet werden darf und setzt (oft unbewusst) Grenzen, wenn zu schnell zu viel aufgedeckt wird. Auch Schuldgefühle, wie wenig berechtigt auch immer sie sein mögen, können durch Selbstverletzungen womöglich reduziert werden. Oft steckt dahinter auch ein extrem negatives Selbstbild, das durch die früheren Verletzungen erzeugt wurde: „Ich habe nichts anderes verdient.“ „Ich bin schlecht.“ „Mir darf es nicht gut gehen.“ Auch Schuldgefühle/Allmachtsphantasien gegenüber der Therapeutin können die Ursache für Selbstverletzungen sein: "Ich habe Sie mit meiner Geschichte verseucht". Die Selbstverletzung kann dann wie eine Buße als Entlastung erlebt werden. Körper verunstalten: Als Versuch, sich durch Narben „unattraktiv“ zu machen und somit weiteren Übergriffen, Misshandlungen und Verletzungen vorzubeugen. Kick‐Schneiden: Selbstverletzungen können unter Umständen regelrecht süchtig machen, da durch die Hormonausschüttung eine Beruhigung oder angenehme Gefühle herbeigeführt werden können – allerdings mit allen Risiken und Nebenwirkungen einer Suchterkrankung. Andere Stress‐Bewältigungs‐Strategien sind meist mühsamer und benötigen mehr Zeit, um ihre volle Wirkung zu entfalten. Hinweis auf Täterkontakt: Wenn trotz hoher Motivation und guter Unterstützung die Selbstverletzungen anhalten oder sogar zunehmen, sollte immer exploriert werden, ob noch Täterkontakt besteht bzw. die betroffene Person noch weiteren Traumatisierungen ausgesetzt ist. Das Herstellen äußerer Sicherheit, d.h. Abbruch des Täterkontaktes hat dann allerhöchste Priorität. Kontaktsignal: Nicht zuletzt sind Selbstverletzungen auch ein (unbewusstes) Signal nach außen: ein Hilferuf, damit jemand wahrnimmt, dass die betroffene Person in Not ist und Hilfe braucht. Dies ist oft dann der Fall, wenn sie noch wenig über das Erlebte sprechen kann und es sich wenig erlaubt, Hilfe und Unterstützung einzuholen und auch anzunehmen. Alarmsignal gegenüber der TherapeutIn und dem sozialen Umfeld: Eine Selbstverletzung kann auch ein Alarm‐Kontaktsignal sein. Oft gelingt es der betroffenen Person noch nicht anders, ihre Grenzen zu setzen oder sich vor Abhängigkeiten zu schützen, als über dieses drastische Signal einer Selbstverletzung, das nicht übersehen werden kann. Die Selbstverletzung hilft dann dabei, Macht und Kontrolle zurückzugewinnen, Nähe und Intensität des Kontaktes/Prozesses zu dosieren, aufdeckende therapeutische Arbeit zu begrenzen etc. Auch kann ungewohnte Nähe und Wohlbefinden als bedrohlich erlebt werden und dazu führen, dass ein Rückzug in das Alte, d.h. Vertraute, sicherer Erscheinende herbeigeführt werden muss. Die Selbstverletzung kann auch dabei „helfen“, die eigene Ohnmacht an ein Gegenüber zu delegieren, da die betroffene Person dieses Gefühl selbst noch nicht aushalten kann. Auch kann es sein, dass der betroffene Mensch sich mit der Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben noch überfordert fühlt und auf dem Weg der Selbstverletzung zeigt, dass es hierfür noch zu früh ist. Manipulation und Erreichen von Zuwendung: Diesen Aspekt führe ich nicht zufällig an letzter Stelle auf, da er meiner Erfahrung nach von helfenden Menschen im privaten wie im professionellen Rahmen deutlich überschätzt wird. Das hat wohl damit zu tun, dass Selbstverletzungen bei Menschen im Umfeld in aller Regel Sorgen, Stress, Wut und Hilflosigkeit bis hin zur Ohnmacht auslösen. Um diese unangenehmen Gefühle von sich fernzuhalten, kommt es dann oft und rasch zu Unterstellungen, dass der betroffene Mensch dies nur tue, um damit etwas zu erreichen, wovon wir uns dann energisch abgrenzen können. Meiner Erfahrung nach versuchen betroffene Menschen mit Selbstverletzungen in den allermeisten Fällen, eine Entlastung für sich selbst zu erreichen, statt sie einzusetzen, um beim Gegenüber etwas zu bewirken oder ihr Umfeld mit eigenem belasten oder manipulieren zu wollen. Und selbst wenn es tatsächlich darum geht, die Umwelt aufmerksam zu machen, dann ist die Selbstverletzungshandlung in aller Regel nicht eine absichtsvoll und planvoll durchgeführte Tat, sondern eher ein Ausdruck dafür, dass reifere Strategien, das Umfeld zu erreichen, noch nicht zur Verfügung stehen. Die Selbstverletzung ist dann wie ein Sprechen ohne Worte. Therapeutischer Umgang mit Selbstverletzungen • ansprechen und aktiv erfragen, schon im Erstkontakt • Suizidalität abklären • ernst nehmen • Bewältigungsversuch darin würdigen Therapieziele vereinbaren: • Reduktion des Selbstverletzenden Verhaltens (SVV „verbieten“ oder „abschaffen“ ist unrealistisch und überfordernd und führt eher zu Heimlichkeiten und überhöhten Erwartungen an die Therapie) • Funktion und Sinn des SVV herausarbeiten • konstruktive Alternativen hierzu entwickeln Selbstschutzvertrag erarbeiten • KlientIn sollte hierbei möglichst aktiv beteiligt sein, "Commitment" ist wichtiger prognostischer Faktor • KlientIn ist verpflichtet, SVV anzusprechen • TherapeutIn ist verpflichtet, Unterstützung zu geben • KlientIn wird auf gefährliche SVV und stark entstellende SV verzichten und keinen Suizidversuch unternehmen • Konsequenzen bei Nichteinhaltung werden gemeinsam erarbeitet und eingehalten Notfall‐Liste erarbeiten und anwenden • enthält: alles was hilft, was jemals geholfen hat oder was helfen könnte • zuoberst Dinge/Aktivitäten, die KlientIn alleine durchführen kann, z.B. leichtes Body Workout, Lieblingsvideo, Musik, Meditation, Entspannungsverfahren, Atemübungen, Erdungsübungen, Reorientierungsübungen, deutliche Sinnesreize, Malen und Schreiben (zeitlich begrenzt), Umgebung verändern, spazieren gehen, Haustier streicheln, bewusst ablenken, Kuscheltier nehmen, Badewanne, Imaginationsübungen wie z.B. Innerer sicher Ort, Inneres Hilfswesen, Tresor‐Übung etc., safe activity, Bedarfsmedikament einnehmen etc. Skills speziell bei SVV: intensiver Body‐Work‐Out, Eiswasser, Kühlpack, Gummiband, Bandage, Igelball, Malen statt schneiden, aufschreiben statt schneiden (cave Trigger! Daher zeitlich begrenzen), Peperoni, Chili‐Kaugummi, scharfe Meerrettich‐Creme, Calcium‐Tablette auf die Zunge legen, Handtuch kneten, kalt duschen. (Bei all diesen intensiven Reizen ist es allerdings wichtig, sie so zu dosieren, dass sie nicht ebenfalls selbstschädigend werden. Kaltes Duschen sollte also nur wenige Minuten erfolgen, das Schnipsen mit dem Gummiband nur so weit, wie es keine Verletzungen erzeugt, das Coolpack nur so lange, dass keine Erfrierungen entstehen.) • dann Punkte, zu denen die KlientIn ihr soziales Umfeld benötigt FreundIn/PartnerIn anrufen (Telefonnr. in Liste aufnehmen), besprechen, was mit ihr ist, sich trösten lassen, ablenken lassen, Verabredung treffen, gemeinsame Aktivität, sich an Ressourcen und Perspektiven erinnern lassen, Krisenplan durch instruierte Vertrauensperson in Gang setzen z.B. Einweisung • dann Kontakt zum professionellen System Telefonseelsorge, Beratungsstellen, TherapeutIn, Klinik, (Telefonnummern in die Liste aufnehmen) Bei Rückfall ins selbstverletzende Verhalten: • ansprechen und ernst nehmen • keine emotionale oder narzisstische Zufuhr, sondern "kühle Akzeptanz" „Rückfälle sind Vorfälle, wir arbeiten weiter daran, sie zu vermindern“ • erfolgte Anstrengungen würdigen, KlientIn ermutigen • Bearbeitung des SVV hat sehr hohe Priorität und steht über anderen Anliegen, v.a. keine Traumaexploration oder ‐exposition Durchführen einer Verhaltensanalyse Ö Auslöser, welche Ausgangssituation mit welcher Belastung? Ö Welche Funktion hatte die Selbstverletzung? Ö Welche Coping‐Strategie wurde angewendet und mit welchem Erfolg? Ö Welche Besserung wurde hierdurch erreicht? Ö Warum hat das nicht ausgereicht? Ö Was könnte zukünftig verbessert werden? • Commitment besprechen und Vereinbarung erneuern Selbstverletzendes Verhalten abzubauen, kann langwierig und anstrengend sein, doch es lohnt sich, weil sich die Lebensqualität hierdurch deutlich verbessern lässt. Ich möchte daher schließen mit einem Gedicht, das Betroffenen und Helfenden Mut machen soll, auch in Phasen von Frust und Überforderung nicht die Hoffnung aufzugeben. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig. Autobiografie in fünf Kapiteln Ich sehe es. von Portia Nelson Ich falle immer noch hinein.... 1. Ich gehe die Straße entlang. aus Gewohnheit. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig. Meine Augen sind offen. Ich falle hinein. Ich weiß, wo ich bin. Ich bin verloren... Ich bin hilflos. Es ist meine eigene Schuld. Ich bin ohne Hoffung. Ich komme sofort wieder heraus. Es war nicht meine Schuld. 4. Ich gehe dieselbe Straße entlang Es dauert ein ganzes Leben, da wieder herauszufinden Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig. Ich gehe darum herum. 2. Ich gehe dieselbe Straße entlang Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig. Ich tue so, als sähe ich es nicht. Ich falle wieder hinein. Ich kann nicht glauben, schon wieder am gleichen Ort zu sein Aber es ist nicht meine Schuld. Immer noch dauert es sehr lange, herauszukommen. 3. Ich gehe dieselbe Straße entlang 5. Ich gehe eine andere Straße. Literatur: Becker‐Fischer, Monika & Fischer, Gottfried: Sexuelle Übergriffe in Psychotherapie und Psychiatrie. Asanger Verlag 2008. Bohus, Martin & Wolf, Martina: Interaktives Therapieprogramm für Borderline‐Patienten. Schattauer‐Verlag, 2008 Bohus, Martin: Borderline‐Störung. Das DBT‐Konzept. Hogrefe‐Verlag 2002. Bronisch, Bohus, Dose, Reddemann, Unckel: Krisenintervention bei Persönlichkeitsstörungen. Klett‐Cotta, 2000. Butollo, Willi, Hagl, Maria, Krüsmann, Marion: Kreativität und Destruktion posttraumatischer Bewältigung. Klett‐Cotta, 1999. Dulz, Birger & Schneider, Angela: Borderline‐Störungen. Theorie und Therapie. Schattauer Verlag, 2001. Fischer Gottfried & Riedesser Peter: Lehrbuch der Psychotraumatologie. UTB Verlag (2. Aufl.) 1999. Flatten, G., Hofmann, A., Liebermann, P., Wöller,W., Siol, T., Petzold, E.: Posttraumatische Belastungsstörung. Leitlinien und Quellentext. Schattauer Verlag, 2001. Gahleitner, Silke, Birgitta & Gunderson, Connie Lee (Hg.): Frauen, Trauma, Sucht. Neue Forschungsergebnisse und Praxiserfahrungen. Asanger 2008. Hadorn, Hanna: Früh verletzte Seelen. Patmos‐Verlag 2006. Herman Judith L.: Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. Junfermann Verlag, 2002. Huber, Michaela: Trauma und Traumabehandlung. Trauma und die Folgen, Teil 1. Junfermann Verlag, 2003. Huber, Michaela: Wege der Traumabehandlung. Trauma und die Folgen, Teil 2. Junfermann Verlag, 2003. Kreisman, Jerold & Straus, Hal: Zerrissen zwischen Extremen. Leben mit einer Borderline‐
Störung. Hilfe für Betroffenen und Angehörige. Goldmann‐Verlag 2008. Kreisman, Jerold J. & Straus, Hal: Ich hasse dich – verlass mich nicht. Die schwarz‐weiße Welt der Borderline‐Persönlichkeit. Kösel‐Verlag, 1992. Linehan, Marsha: Dialektisch‐Behaviorale Therapie der Borderline‐Persönlichkeitsstörung. CIP‐Medien Verlag 1996. Lohmer, Martin: Borderline‐Therapie. Psychodynamik, Behandlungstechnik und therapeutische Settings. Schattauer Verlag 2002. Mason, Paul T. & Kreger, Randi: Schluss mit dem Eiertanz. Für Angehörige von Menschen mit Borderline. Das Arbeitsbuch. Balance‐Verlag, 2008. Nijenhuis, Ellert, van der Hart, Onno & Steele, Kathy: Das verfolgte Selbst. Strukturelle Dissoziation. Die Behandlung chronischer Traumatisierung. Junfermann, 2008. Olbricht, Ingrid: Sexualisierte Gewalt. Traumatisierung von Mädchen und Jungen. Prävention – Zeitschrift des Bundesverbandes zur Prävention von sexuellem Missbrauch, 2003, Jahrgang 5, Heft 5‐6, S. 3‐21. Olbricht, Ingrid: Wege aus der Angst. Gewalt gegen Frauen. Ursachen, Folgen, Therapie. Verlag C.H. Beck 2004. Peichl, Jochen: Die inneren Trauma‐Landschaften. Borderline / Ego‐State / Täter‐Introjekt. Schattauer Verlag, 2007. Peichl, Jochen: Die inneren Trauma‐Landschaften. Borderline / Ego‐State / Täter‐Introjekt. Schattauer Verlag, 2007. PTT (Persönlichkeitsstörungen. Theorie und Therapie) Zeitschrift: Trauma – Gewalt – Sexualität. Schattauer Verlag, 2001. Rahn, Ewald: Basiswissen: Umgang mit Borderline‐Patienten. Psychiatrie‐Verlag 2007. Rahn, Ewald: Borderline: Verstehen und bewältigen. Balance Verlag 2007. Reddemann Luise: Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren. Klett‐Cotta Verlag (10. Auflage) 2004. Reddemann, Luise: Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie. PITT – das Manual. Klett‐
Cotta, 2004. Reddemann, Luise: Würde ‐ Annäherung an einen vergessenen Wert in der Psychotherapie. Klett‐Cotta, 2008. Sachsse Ulrich: Selbstverletzendes Verhalten , Psychodynamik – Psychotherapie. Das Trauma, die Dissoziation und ihre Behandlung. Vandenhoeck & Ruprecht (6.Aufl.) 2002. Sachsse Ulrich: Traumazentrierte Psychotherapie. Theorie, Klinik und Praxis. Schattauer Verlag, 2004. Spangenberg, Ellen: Dem Leben wieder trauen. Traumaheilung nach sexueller Gewalt. Patmos‐Verlag, 2008. Ellen Spangenberg: Ärztliche Psychotherapeutin, langjährige Mitarbeit in Frauennotruf, Assistenz‐Ärztin in der Wicker‐Klinik Bad Wildungen mit Schwerpunkt frauen‐orientierter Traumatherapie. Als Oberärztin Aufbau einer Traumatherapie‐Station in einer Psychosomatischen Klinik in Bad Wildungen, seit Januar 2008 niedergelassen in eigener psychotherapeutischer Praxis in Kassel, daneben Angebote von Fortbildungen und Supervision für Traumatherapie. www.ellen‐spangenberg.de Buchveröffentlichung: s.o. Wie kann eine vernetzte Unterstützung in Nordhessen aussehen? Abschließendes Gespräch Moderation: Dr. Michael Franz Teilnehmende: Bärbel Jung, Dr. Martine Micol‐Grösch, Maria Landgraf, Anja Link, NN. Herr Dr. Franz begrüßt die Teilnehmer nach sehr interessanten und intensiven Arbeitsgruppen zur Abschlussdiskussion, in der er über die vernetzte Unterstützung in Nordhessen ins Gespräch kommen möchte. Ein Missverständnis, das ihm im Rahmen seiner Arbeitsgruppe passiert ist, erscheint ihm paradigmatisch für den Beginn von Netzwerken: Er befand sich nämlich mit nur einer Person in einem Gruppenraum und war überrascht, dass sich niemand für seine Arbeitsgruppe interessieren würde; aber es war der falsche Raum, und als er dann in den richtigen geholt wurde, erwartete ihn eine großen Gruppe, in der dann eine sehr intensive Diskussion aus den unterschiedlichen Perspektiven von Betroffenen, Angehörigen und professionellen HelferInnen über Borderlinestörungen, über eine gemeinsame Sprache und passgenaue Hilfen geführt wurde. Dass man am Anfang einer Netzwerkbildung zuerst einmal einige Missverständnisse überwinden und Wege zueinander finden muss, ist auch typisch für den Anfang von Netzwerken aus Professionellen, Betroffenen und Angehörigen. Darauf bittet er die auf dem Podium sitzenden Vertreterinnen von Betroffenen, Angehörigen und professionellen HelferInnen um Stellungnahmen, was sie sich für eine vernetzte Unterstützung in Nordhessen wünschen und was für dieses Netzwerk bedeutsam sei. Frau Link kommt nicht aus Nordhessen und möchte daher über ihre Erfahrungen mit Strukturen in Franken berichten: der erste Schritt sei – so banal es klingen mag ‐ alle auf den gleichen Informationsstand zu bringen, sodass alle Betroffenen und Angehörigen über die Krankheit, über Heilungschancen sowie auch über wohnortnahe Hilfsangebote Bescheid wissen. Beim Informieren ist es wichtig, die Betroffenen‐ und Angehörigenperspektive im Blick zu haben und Betroffene wie Angehörige als Informanten oder auch als gegenseitige Begleiter einzubinden. Ein niedrigschwelliger Zugang zu Betroffenen ist dabei sehr wichtig. Frau Landgraf ist angetan von der Idee einer Schulung für diejenigen, die Menschen mit einer Borderlinestörung begleiten. Dabei ist es besonders wichtig, an der Beziehung zu arbeiten. Wenn Betroffene, Angehörige und Therapeuten in Reflexionsgruppen intensiv zusammen arbeiten, wie es wünschenswert ist, dann spielt die Beziehung untereinander, z.B. wer für wen Partei ergreift, eine große Rolle. Die Patienten brauchen ein Gefühl der Sicherheit, dass eine stabile Beziehung zwischen der/dem Betroffenen und Therapeuten entsteht, dass aber auch die Angehörigen einbezogen und begleitet werden. Frau Jung denkt, dass Ansätze in der Verbesserung der Beziehung von Angehörigen, Betroffenen und Therapeuten bereits vorhanden sind. Allerdings hält sie es für sinnvoller, die Therapie und Begleitung von Betroffenen und Angehörigen getrennt und nicht zusammen durchzuführen, da dies von den TherapeutInnen zu viel abverlangen würde. „Ein Therapeut ist auch nur ein Mensch.“ Daher plädiert sie für separate Begleitung von Betroffenen und Angehörigen. Erst später, bei gegebener Zeit, solle man sie wieder zusammenbringen und gemeinsam begleiten. Zudem hat Frau Jung in ihrer Arbeitsgruppe etwas Positives über die Begleitung in Nordhessen erfahren und möchte das gerne weitergeben: Sie wollte als betroffene Angehörige auf die schwierige Situation eingehen, dass Eltern von Kindern mit Borderline oft nicht wissen, was mit ihren Kindern in der Klinik passiert. Daraufhin hat ein Ehepaar, Eltern einer Tochter mit einer Borderlinestörung, widersprochen. Ihr Kind sei in einer Klinik in Guxhagen (einer Außenstelle von Merxhausen) untergebracht und die Eltern werden gut über die in der Klinik unternommenen Schritte informiert und begleitet. Frau Jung fasst dies als charakteristisch für den neuen Geist auf, der in Merxhausen herrscht, und betont, dass dies der richtige Weg sei. Abschließend wünscht sich Frau Jung mehr Gelassenheit für alle Beteiligten, Entschleunigung, und dass sich alle die angemessene Zeit für den Umgang mit dem Thema „Borderline“ geben. Gelassenheit ist auch der Aufhänger für Frau Dr. Micol‐Grösch. Sie gesteht ein, dass ihr in dem Kraftakt der seit über einem Jahr andauernden Veränderungsphase in Merxhausen immer wieder die Gelassenheit abhanden kommt. Daher wünscht sie sich mehr Zeit für das Team, um zu einem langsameren, achtsameren Umgang mit sich selbst und dem Veränderungsprozess zurück zu finden. Das Team muss sich die Zeit und Ruhe nehmen, um Fehler durch zu schnell und zu hoch gesetzte Ziele zu vermeiden und so in der so wichtigen Beziehung zu Betroffenen und ihren Familien zu bleiben. Für die Institution hält sie neben dem organisatorischen Prozess, der schon weit fortgeschritten ist, die Änderung der inneren Haltung (angesichts der neuen Methodik im Denken, in den Interventionen und Regeln) gegen‐über Betroffenen für bedeutsam, um einen neuen Weg gemeinsam zu entdecken. „Das sind alles Dinge, die gehen nur, wenn wir achtsam und langsam, bedächtig vorgehen. Das ist mein großer Wunsch für das nächste Jahr.“ Herr Dr. Franz spricht Frau Dr. Micol‐Grösch und dem Team von Haus 6 seine Achtung aus, dass sie es geschafft haben, als erstes Team ein Programm für Dialektisch‐Behaviorale Therapie (DBT) in Nordhessen aufzubauen, nachdem sich die DBT bisher auf den Süden Deutschlands konzentrierte. In seiner Arbeitsgruppe wurde dieser Prozess von Betroffenen, Angehörigen und professionellen Helfern geschildert: Prozesse beginnen immer damit, dass Betroffene mit einer Borderlinestörung ihre Gefühle, ihre Bedürfnisse und ihr eigenes Erleben beschreiben. Da dies so schwer ist, sind Kommunikationsversuche oft inadäquat, die dann durch inadäquate Reaktionen von Angehörigen beantwortet werden, die zwar wohlmeinend sich Mühe geben, es aber meist auch einfach nicht besser wissen. Dann kommen meist noch inadäquate Reaktionen von Profis ins Spiel, da die Botschaften schwer zu entschlüsseln sind. Daher ist es sehr wichtig, Netzwerke zu bilden, in denen die verschiedenen Bereiche abgebildet sind und eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Begrifflichkeit gefunden werden muss, so dass nicht jeder Betroffene, Angehörige und Profi alles neu erfinden und beschreiben muss. Daher ist das Netzwerk der richtige Weg. Die größten Schwierigkeiten dabei sind Kommunikationsstörungen und der Zwiespalt „Abgrenzen versus Mitgefühl“. Die dafür notwendigen Veränderungen können nur in Netzwerken stattfinden. Auch die Profis brauchen Netzwerke, nicht nur die Betroffenen und die Angehörigen. Netzwerk bedeutet: Koordinierte Intervention auf verschiedenen Ebenen mit verschiedenen Phasen in verschiedenen Stadien an verschiedenen Orten. Es gibt einen Ort für die Phase der Krise – das soll dieses „Mutterschiff“ in Merxhausen sein, da darf man auch eine Sucht haben, da darf man suizidal sein, da darf man auch mit sozialen und finanziellen Problemen hinkommen, da gibt es dann Sozialarbeiter und eine Suchtstation und eine Krisenintervention. Und dann wird es andere Phasen geben, in denen man so weit ist, dass man ein Commitment machen kann, diese Entscheidung und Zusage gegenüber sich und anderen: Ab jetzt will ich einen ambulanten Weg gehen – mit den Netzwerken und vielleicht den professionellen ambulanten Helfern zusammen, und dann wird es wieder Krisen geben und es wird auch zwischendurch immer wieder Anlaufstellen geben müssen. Dr. Franz wirbt für ein gegenseitiges Verständnis der verschiedenen Gruppen im Trialog. Und er möchte ausnahmsweise einmal besonders für ein Verständnis für die Profis werben. „Profis sind so eine Art Angehörige auf Zeit, die abends wegdürfen.“ Die professionellen Teams sind hohen Belastungen ausgesetzt. „Unsere Patienten sagen uns, den Slogan modifiziert: ´Ich hasse dich, entlass mich nicht!`“ Die Patienten kommen nach Merxhausen mit einem dramatischen Hilfebedarf: Suizidalität, Komorbidität, Depressionen, Sucht, Ängste, Essstörungen, finanzielle, soziale Probleme etc.. Und sie sollen nun möglichst ohne Medikamente nach einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von 28 Tagen entlassen werden. Daher ist eine Vision von Dr. Franz, dass alle immer gut für sich selber sorgen, aber auch im Sinne der „Mentalisation“ im Hinterkopf behalten, was das eigene Verhalten mit den jeweils anderen macht, also auch gelegentlich reflektieren, wie es den Profis geht, was sie können und was nicht. Frau Landgraf hat in ihrem Heilungsprozess genau so ein Netzwerk erfahren, das sie sich allerdings selbst aufgebaut hatte. Sie hatte stationäre Aufenthalte in Haus 6 in Merxhausen, hatte in den Zwischenphasen eine Therapeutin, mit der sie per Mail und telefonisch Kontakt hielt, weil sie nicht nach Merxhausen fahren wollte, sie hatte eine Sozialarbeiterin, mit der sie ihre praktischen und finanziellen Probleme bearbeitete; und dann hatte sie ein buddhistisches Kloster sowie buddhistische Gruppen für die spirituelle Krankheitsbewältigung. So hatte sie ein eigenes Netzwerk aufgebaut, als Ersatz für die Familie, zu der sie den Kontakt abgebrochen hatte. Es kostet aber viel Kraft, so ein Netzwerk selbst aufzubauen, und daher ist es ist sehr gut zu wissen, dass ein Netzwerk vorgehalten wird. Zentral ist dabei auch, von vornherein die Zusammenhänge zu betrachten und nicht die einzelnen Symptome getrennt voneinander zu behandeln. Dr. Franz leitet zu der Frage über, wo Andockstellen im Netzwerk sind, bei denen sich Lehrer, Jugendarbeiter, Therapeuten und Ärzte besser über Borderline informieren können. Dr. Micol‐Grösch führt aus, dass sich die Klinik Merxhausen mit ihren Institutionsambulanzen und den ambulant Tätigen als Andockstelle anbietet, wo Interessierte Gesprächstermine vereinbaren können, um den Unterstützungsbedarf und vorhandene Angebote zu erkunden. Zu dem Netzwerk, das hoffentlich in den nächsten Jahren entstehen wird, gehören notwendigerweise die niedergelassenen, ambulanten PsychotherapeutInnen und PsychiaterInnen. Daher müssen Kontakte aufgebaut und Vorbehalte zwischen ambulantem und stationärem Sektor abgebaut werden, so dass eine konstruktive Zusammenarbeit entstehen kann. Gerade für die DBT gilt, dass nur ein Zusammenkommen von ambulanten und stationären Behandlungszeiten nachhaltige Therapie‐ und Heilungserfolge erzielt. Somit werden in Merxhausen nun Kontaktaufbau und Kooperationen im Rahmen des Netzwerks angestrebt. Frau Jung kann es nicht verstehen, dass es im Landkreis Kassel noch keine/n ambulante/n Therapeuten/‐in gibt, der auf DBT spezialisiert ist. „Wäre ich einer dieser Therapeuten, ich würde mich mitten in Kassel oder im Umkreis niederlassen und ich wüsste, da könnte ich richtig gut Geld verdienen. Ich bekomme täglich Anrufe, Anfragen nach Therapeuten, die DBT beherrschen; ich kann diese Anfragen nicht beantworten, ich weiß niemanden.“ Allerdings kommt daraufhin aus dem Publikum die Rückmeldung, dass es mindestens eine Therapeutin gibt, die auf DBT spezialisiert ist, und mehrere mit Fortbildungen in diesem Bereich. Daraufhin wird angeregt, dass die Klinik in Merxhausen als Vermittler und Vernetzer dienen sollte, wo sich ambulant Tätige melden sollten, so dass DBT ‐ Listen für den nordhessischen Raum erstellt werden sowie Vernetzungstreffen angeregt werden können. Herr Dr. Franz dankt für die Anregung und hofft, über die Psychotherapeutenkammer Namen zu bekommen, Erhebungen zu machen, Listen zu erstellen und Vernetzung zu fördern und kommt auf die Frage zurück, wie man sich als Betroffene/r oder Angehörige/r, LehrerIn, JugendamtsmitarbeiterIn oder Arzt/Ärztin besser informieren kann. Frau Jung bietet an, dass sich Interessierte oder Menschen mit Fragen an den Borderline‐
Trialog e.V. Kassel wenden können. Die Arbeit findet auf der Ebene der Betroffenen, Angehörigen und professionellen Helfer statt. Herr Völk führt aus, dass die Kinder‐ und Jugendpsychiatrie schon länger in diesem Bereich als Ansprechpartner arbeitet. Mittlerweile wird eine DBT–Gruppe aufgebaut, die momentan nur für stationäre PatientInnen offen ist. Im Laufe des Jahres soll dieses Angebot aber auf den ambulanten Bereich ausgeweitet werden. Betroffene, Lehrer, Eltern können sich an die Ambulanz der Jugendpsychiatrie in Kassel mit den Außenstellen in Hofgeismar, Eschwege, Witzenhausen und Korbach als Ansprechpartner im Jugendbereich wenden. Frau Dr. Micol‐Grösch: Für den Erwachsenenbereich sind die Institutsambulanzen in Merxhausen oder Kassel‐Wilhelmshöhe Ansprechpartner. Wünschenswert wäre, immer wieder öffentliche Veranstaltungen zur Information oder Schulungsangebote für andere Berufsgruppen als TherapeutInnen anzubieten … allerdings bleibt offen, wer das macht. Herr Dr. Franz führt den Zielfokus auf das Netzwerk zurück, wie es am Wachsen ist und wie sich die Kommunikation untereinander verbessert. Allerdings wurde bis jetzt noch gar nicht über Prävention gesprochen und in der Region gibt es momentan noch keine Präventionsangebote. Es gibt ein Schulungsangebot der Kinder‐ und Jugendpsychiatrie in Ulm, ein ambulantes Elterntraining . Frau Landgraf: Es gibt das Schulprojekt „Verrückt? Na und!“, das in einem Team einen Infotag an Schulen über psychische Erkrankungen und seelisches Leid organisiert, um Vorurteile abzubauen. Die Jugendlichen sind sehr interessiert, wenn sich Menschen mit psychischer Erkrankung outen, und man hat das Gefühl, dass nach diesem Tag die Schüler ihr Sozialverhalten sensibler und reflektierter gestalten. Sie würde gerne eine solche Schulung für Lehrer einberufen, weil sie selbst tolle Lehrer erlebt hat, die gemerkt haben, dass bei ihr zu Hause etwas nicht stimmt, und die ihr dann geholfen haben. Lehrer sollten jedenfalls so weit geschult sein, dass sie Anzeichen bei den Jugendlichen erkennen und wissen, wie sie sich verhalten sollen und wohin sie die Jugendlichen verweisen können Zudem wäre es sinnvoll, eine zentrale Hotlinenummer oder Internetadresse zu haben und in den Schulen zu plakatieren, z.B. an Toilettentüren, damit die Jugendlichen sie sich ganz anonym notieren können. Frau Jung würde diese Ausführungen zur Prävention gerne um den Aspekt der Familie erweitern. Zu Prävention gehört auch, dass Eltern – ohne Institutionen – (wieder) lernen, sich selbst und ihre Kinder zu lieben. Wir müssen nicht nur nach Institutionen rufen, wir müssen uns auch zusammensetzen und gucken, was wir selbst tun können. „Das ist ein Angebot, was ich selbst gerne mache für alle Eltern.“ Herr Dr. Franz weist bei den präventiven Möglichkeiten noch auf die Möglichkeit für die Jugendhilfe hin, junge Mütter in Feinfühligkeitsprogrammen zu trainieren, zu bilden und so Bindungstraumata in der frühesten Lebensphase zu vermeiden oder zu vermindern. NN.: Ich möchte sagen, dass ich sehr froh bin, heute hergekommen zu sein. Ich bin Angehörige und Mutter einer Tochter, und ich bin Lehrerin. Seit 10 Jahren ist „Borderline“ ein Begriff, der mir Angst gemacht hat, der mich unsicher gemacht hat, mit dem ich nichts anzufangen wusste. Ich stand vor verschlossenen Arzttüren, vor verschlossenen Kliniktüren. Ich weiß, dass das eine Krankheit ist, die uralt ist, und es gab vor tausenden von Jahren Großfamilien, Familien, die diese Menschen mitgetragen haben. Deshalb finde ich es großartig, dass wir heute hier sind und dass sich hier eine Gruppe bildet, die diese Menschen mit tragen will. Vielen Dank! NN.: Ich wollte mich nur noch mal bedanken. Ich habe die Atmosphäre hier sehr angenehm empfunden, warmherzig, sehr menschlich; ich kenne auch andere Fortbildungen. Ich bin Ergotherapeutin, ich bin davon angetan hier reinzuschnuppern und irgendwann auch etwas anbieten zu können. Herr Dr. Franz dankt den Anwesenden und Mitwirkenden für die Tagung und verweist auf den 20. Juni 2009, dann wird das DBT–Angebot in Merxhausen mit einem Symposium eröffnet. (Protokoll C. Barth) Autoren PD Dr. Michael Franz Ärztlicher Direktor der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Merxhausen, Bad Emstal Dr. Georg Hofmeister Pfarrer und Studienleiter der Evangelischen Akademie Hofgeismar Bärbel Jung Vorsitzende des Vereins Borderline‐Trialog Kassel e.V. Maria Landgraf Buchhändlerin, Kassel Anja Link Sozialpädagogin, Ansprechpartnerin der Bundesweiten Informations‐ und Kontaktstelle Borderline‐Trialog, Nürnberg Dr. Martine Micol‐Grösch Oberärztin, Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Merxhausen Prof. Dr. Ewald Rahn Ärztlicher Direktor der LWL‐Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Warstein Ellen Spangenberg Ärztliche Psychotherapeutin in eigener Praxis, Kassel Michael Völk (<) Psychotherapeut Dr.med. Benedikt Winkler Facharzt für Psychotherapie und psychotherapeutische Medizin, Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Merxhausen 
Herunterladen