Lebenszeichen vom 17.07.2016

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„Eitel Ohrenschmaus“ oder „Gesungenes
Gebet“ - Warum singen Christen?
Von Thomas Daun
Lebenszeichen
17.07.2016
Zitator:
„Suche nicht nach Worten, als könntest Du Gott erklären. Singe Gott!
Was du mit dem Verstand nicht erfassen und mit Worten nicht erklären kannst, lässt sich mit
dem Herzen singen. Das Herz freut sich ohne Worte.“
Sprecher:
Schon der frühchristliche Kirchenvater Augustinus betont in einem Psalm-Kommentar die
enge Verflechtung zwischen Gesang und Glaube – eine Beziehung, die nicht nur für das
Christentum typisch ist.
O-Ton Matthias Balzer:
Es gibt fast keine Religion auf der Welt, in die nicht in irgendeiner Form die Musik
integriert ist. Sicherlich hat das damit zu tun, dass die Musik in anderer Weise als das
Wort ein ganzheitliches Erleben ermöglicht; weil die Musik auch noch Dimensionen
erschliesst, die die Emotionen des Körpers mit einbeziehen, die auch über das rein
rationale hinausgehen und damit natürlich besonders gut geeignet sind, auch
religiösen Inhalten Ausdruck zu verleihen [30] Das ist gerade die Brücke zur Religion
und zum Glauben, die dort viel leichter gebildet werden kann als mit der Sprache.
Sprecher:
Chordirigent Matthias Balzer leitet die Bischöfliche Kirchenmusikschule in Trier und
beschäftigt sich mit den religionsgeschichtlichen Hintergründen des Gesangs in der Kirche.
Schon die hebräische Bibel berichtet davon, etwa im Chronikbuch.
Zitator:
Siehe, der König stand auf seinem Standort am Eingang, bei ihm die Obersten und die
Trompeter. Und alles Volk des Landes war fröhlich und stieß in die Trompeten. Die Sänger
waren da mit Musikinstrumenten und leiteten den Lobgesang.
Sprecher:
Ein wichtiger Teil der hebräischen Bibel sind die „Cantica“.
O-Ton Matthias Balzer:
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des
Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch
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„Eitel Ohrenschmaus“ oder „Gesungenes Gebet“ - Warum singen Christen?
Von Thomas Daun
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Das waren Gesänge, die weitergegeben wurden innerhalb des Volkes. Eines der
ältesten Cantica ist das Lied des Moses, als die Israeliten durch das Rote Meer
gezogen waren und der Pharao versunken ist und das Lied, das er als Loblied
angestimmt hat.
Sprecher:
Schon zu Zeit der hebräischen Bibel ist den Menschen bewusst, dass die Annäherung an
Gott nicht nur im Traum, durch Gebet oder Opfergabe möglich ist, sondern auch mit
Gesang. Stefan Klöckner ist Theologe und Dozent für Gregorianik an der FolkwangHochschule Essen:
O-Ton Matthias Balzer:
Sie wussten, dass angefangen vom tanzenden und singenden David, der vor der
Bundeslade her tanzt und der als Sänger auch mit der Harfe dargestellt wird, dass nur
der singende Mensch der ist, der wirklich mit Gott Kontakt aufnehmen kann, wie es
einem Menschen gebührt.
Es gibt keine Textstelle, die ausdrücklich sagt: Jesus hat gesungen. Es gibt aber
schon in den Briefen des Apostel Paulus die bekannte Stelle im Kolosser-Brief; und
dort steht. Singt Gott in eurem Herzen Psalmen, Hymnen und Lieder, wie sie der
Geist eingibt, denn ihr seid in Gottes Gnade.
Sprecher:
Im Gesang der orthodoxen Kirche wird die Forderung des Apostels in vollkommener Art und
Weise erfüllt. Ein Gottesdienst ohne Gesang ist dort undenkbar – so wie der Duft des
Weihrauchs und das Licht der Kerzen gehört auch der Klang der Stimme zum sinnlichen
Erleben der Gegenwart Gottes.
O-Ton Nikolaj Thon:
Der gesamte orthodoxe Gottesdienst geht aus von einer antiken Losung, nämlich, das
Wahre ist auch das Schöne und das Schöne ist das Wahre. Das ist eine Idee der
antiken Philosophie und der orthodoxe Gottesdienst versucht eben, die Wahrheit des
Glaubens, die Schönheit des Glaubens, die Schönheit der Liebe Gottes zu den
Menschen und die Antwort der Menschen in einer möglichst ästhetischen Form
darzubringen. Da soll also möglichst der Raum, die Bilder, Ikonen, die Poetik der
Texte und auch die musikalische Umsetzung dazu dienen, dem Menschen einen
Ausdruck der Schönheit zu vermitteln und letztlich auch einen Blick auf den Himmel.
Sprecher:
Der Theologe Nikolaj Thon ist Generalsekretär der orthodoxen Bischofskonferenz in
Deutschland und beschäftigt sich seit langem mit der Geschichte des Kirchengesangs.
O-Ton Nikolaj Thon:
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„Eitel Ohrenschmaus“ oder „Gesungenes Gebet“ - Warum singen Christen?
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Wir haben einen Bestand an liturgischen Hymnen, der ausgeht von den Psalmen. Wir
haben andere biblische Texte und wir haben darauf basierende Dichtungen, die dort
in einer Korrespondenz stehen. Z.B. werden heute noch, wenn auch in der Praxis
stark verkürzt im Regelfall in der eucharistischen Liturgie, der göttliche Liturgie, die
sogenannten Antiphonen gesungen.
Zitator:
„Wie habe ich geweint unter deinen Hymnen und Gesängen, tief bewegt von dem Wohllaut
der Stimmen deiner Kirche. Sie fluteten in mein Ohr und durch sie ward die Wahrheit in mein
Herz eingeflößt und fromme Gefühle wallten in ihm auf, die Tränen strömten und mir war so
selig zumute.“
Sprecher:
In schwärmerischen Worten beschreibt Kirchenvater Augustinus an der Wende zum 5.
Jahrhundert, wie tief ihn die Musik bewegt. Zugleich aber weist er auf die Gefahren hin, die
mit dem Singen verbunden sind.
O-Ton Stefan Klöckner:
Wenige Seiten später schreibt er dann: ich erwische mich oft beim Gebet dabei, dass
ich der Schönheit der Melodie mehr lausche als dem Text. Nur der Text ist doch die
Ursache, weshalb die Melodie da ist. Ich erwische mich oft, dass ich sündige,
hinterher merke ich dann: ich hab gesündigt. Also das ist ein tiefes Misstrauen gegen
die menschliche Natur, was da drin ist.
Sprecher:
Das Misstrauen des Augustinus ist nicht unbegründet. Schon im Mittelalter beginnt man in
den Klöstern, die festgelegten Hymnen zu erweitern, fügt wohlklingende Melodien und
Melismen ein – reich verzierte textlose Passagen, die nur auf eine Silbe gesungen werden.
Die Musik beginnt, sich zu verselbstständigen – gegen das ausdrückliche Verbot seitens der
Amtskirche.
Zitator:
„Wegen der ganz unverzeihlichen Schlechtigkeit mancher Leute, die aus Freude am
Neumodischen die alten reinen Bräuche ohne Scheu mit ihren Erfindungen verfälschen und
aufputzen, bestimmen wir, dass kein Kleriker und kein Mönch sich vermesse, im Hymnus
der Engel irgendwelche Melodien oder Dichtungen hinzuzufügen, heimlich zu murmeln oder
gar laut zu singen. Wenn er es aber tut, soll er abgesetzt werden.“
Sprecher:
Einstimmig und unbegleitet ist der lateinische Gesang des frühen Christentums. Als
gesungenes Wort Gottes bildet er einen wesentlichen Bestandteil der liturgischen Handlung.
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„Eitel Ohrenschmaus“ oder „Gesungenes Gebet“ - Warum singen Christen?
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Im Laufe der Zeit entsteht ein feststehendes Repertoire von Melodien, die zunächst
mündlich, später auch schriftlich tradiert werden.
Bis heute ist der „Gregorianische Choral“ aus dem klösterlichen Leben nicht wegzudenken.
O-Ton Abt Laurentius:
Um 5 Uhr in der Früh werden wir geweckt mit Glockengeläut. Um 5.20 Uhr feiern wir
die Vigilien, also die Nachtwache und das Morgenlob, bestehend aus Psalmgesang,
aber auch über längere Strecken Psalmrezitation, dass man auf einem Ton langsam
den Psalm vorträgt. Also Psalmodie, Lesung, Stille, Lobgesang. Das ganze dauert
etwa eine Stunde.
Sprecher:
Siebenmal am Tage singe ich dein Lob“ – dieses Wort aus Psalm 119 prägt den
Tagesablauf im Leben eines Mönches; Bruder Laurentius ist Abt im münsterländischen
Benediktinerkloster Gerleve.
O-Ton Abt Laurentius:
Man kann nicht immer jeden Vers, jedes Wort bei sich behalten. Ich nehme es auf, ich
verabschiede es oder ich lasse es auch schon mal an mir vorbeigleiten oder über
mich hinweg wehen. Das ist mein tägliches Brot. Es gibt natürlich Inhalte und das ist
in meinen Augen das große Geschenk. Aber es gibt auch Momente, in denen – ich
sage gerne: nonverbale Kommunikation geschieht, ein Verschweben, ein im Raum
sich aufhalten, aufnehmen und sich davon buchstäblich beeindrucken, imprägnieren,
beatmen zu lassen.
Atmet immer in Christus – Manchmal gibt es Momente in denen man das spürt.
Insofern hat dieses Choralsingen auch etwas Unangestrengtes. Man stellt sich
aufeinander ein, singt miteinander, achtet aufeinander. Es ist auch ein Singen im
Hören. Also beim Singen selber höre ich. Ich höre auf die anderen, höre auch meine
Stimme. Aber es hat auch so was wie „was man geschehen lässt.“ Und insofern kann
das auch etwas meditatives sein.
Sprecher:
Im Laufe des 13. Jahrhunderts beginnt sich die Funktion der Musik im Gottesdienst zu
ändern. Während der Gesang bis dahin integraler Bestandteil ist, legt man nun fest, dass nur
noch die Worte des Priesters für die Gültigkeit der Liturgie von Bedeutung sind. Musik wird
zum schmückenden Beiwerk – und kann unabhängig von liturgischen Zwängen neue
Formen entwickeln.
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„Eitel Ohrenschmaus“ oder „Gesungenes Gebet“ - Warum singen Christen?
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O-Ton Stefan Klöckner:
Professionalisierung ist möglich, also ganz große Kunstwerke entstehen in der Folge,
weil die ja nicht mehr liturgisch integriert werden müssen oder nicht mehr liturgisch
bindend sind. Auf der anderen Seite verlagert sich dann langsam auch der Ort des
Chores aus seiner liturgischen Geburtsgrotte heraus. Also er wandert topographisch
zunächst auf den Lettner und dann da, wo er heute ist, nämlich auf der Westempore,
genau gegenüber dem Altar.
Sprecher:
Die Kathedralen der Gotik mit ihren hohen und halligen Räumen werden zum Aufführungsort
anspruchsvoller Chorwerke. Die Texte der Hymnen und Motetten rücken in den Hintergrund.
Schule von Notre Dame, Ars Antiqua, Ars Nova und Renaissance – so die Bezeichnungen
aufeinander folgender Musikepochen, in denen Komponisten, im Dienste der Kirche
kunstvolle Werke schaffen. Im frühen 16. Jahrhundert erreicht die musikalische
Prachtentfaltung einen Höhepunkt. In Kathedralen und Stiftskirchen präsentieren
hochbezahlte Berufssänger und virtuose Instrumentalisten abendfüllende Werke. Der
Gottesdienst ist längst zur Nebensache geworden.
Die Humanisten kommentieren die Entwicklung spöttisch.
Zitator:
„Das ist ein einziger Lärm von Trompeten, Flöten und Harfen, mit denen die menschlichen
Stimmen noch wetteifern. Da bekommt man widerwärtige Liebeslieder zu hören, die sich
eher für Tänze von Kurtisanen und Gauklern eignen. Von allen Seiten strömen die Leute
zum Ohrenschmaus in die Kirche wie in ein Theater.“
„Und zu solchem Brauch ernährt man mit teurem Geld Orgelbauer oder ganze
Kinderscharen, die ihre Zeit damit vergeuden, bis ins kleinste Detail solchen Singsang zu
erlernen, und währenddessen lernen sie nichts Gescheites.“
„Sie bringen nicht mehr menschliche Stimmen zu Gehör, sondern tierisches Geschrei:
Sprecher:
Agrippa von Nettesheim
Zitator:
„…während Kinder im Diskant wiehern, muhen die einen im Tenor, die anderen bellen den
Kontrapunkt, wieder andere blöken im Alt oder grunzen im Bass. So hört man zwar Töne in
Hülle und Fülle, versteht aber von den Texten kein Wort.“
Sprecher:
Die Reformatoren lehnen diese üppige Klangpracht entschieden ab – und setzen neue
Akzente: der Gemeindegesang wird in die Kirche zurückgeholt und zum wesentlichen
Bestandteil des Gottesdienstes.
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O-Ton Matthias Balzer:
Luther hat gesagt: das, was die Gemeinde singt ist Teil der Liturgie und das Lied ist
nicht nur ein Lied, damit die Leute ihre Freude haben, sondern es ist Teil der
Glaubensverkündigung, der Weitergabe des Glaubens.
Luther hat die besten Musiker seiner Zeit geholt und sie deutsche Lieder schreiben
lassen; er hat Lieder genommen oder Melodien genommen, die schon bekannt
waren, sogenannte Kontrafakturen, und hat entsprechend Texte darauf gemacht. Er
selber hat sogar einige Lieder wahrscheinlich komponiert, aber zumindest getextet,
wie etwa „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ oder das Weihnachtslied „Vom Himmel hoch
da komm ich her“ – und das gab es vorher nicht.
Er hat interessanterweise auch gesagt. „So sie‘s nicht singen, werden sie’s nicht
glauben. Will sagen: erst dann, wenn man mit dem Gesang seine Emotionen mit
hinein bringt in das, was man sagt, erst dann kann man es wirklich richtig empfinden.“
Es gibt heute einige Wissenschaftler, die behaupten, die Reformation hätte nie Fuß
gefasst, wenn nicht die Lieder ganz bewusst auch als Form der Glaubensweitergabe,
der Glaubensverkündigung genutzt worden wären.
Sprecher:
Auch im Bereich der evangelischen Kirchenmusik entstehen schon damals bald
professionelle Strukturen: etwa Stellen für Kantoren und Organisten und Singschulen, die
häufig von bezahlten Stadtpfeifern unterstützt werden.
O-Ton Stefan Klöckner:
Trotzdem ist natürlich die evangelische Kantorei, die immer schon eine Mischung
hatte zwischen Berufs- und Laienmusik nochmal ganz anders verankert als das der
Kirchenchor im Katholischen ist. Das hat damit zu tun, dass die evangelische Kirche
die Kantorei und die Musik immer schon als integralen Bestandteil des
Gottesdienstes, der Liturgie und der Verkündigung betrachtet hat, während das in der
katholischen Kirche erst seit den 60er Jahren des 20 Jh wieder der Fall ist. Bis dahin
war die Kirchenmusik Beiwerk, schmückendes Beiwerk, wichtig und schön, aber für
den Verlauf der Liturgie dispensabel.
Sprecher:
Auch die Schweizer Reformatoren machen sich die entflammende Wirkung der Musik zu
nutze. Zwar verbannt Ulrich Zwingli den Kirchengesang zunächst als untugendhaft aus dem
Gottesdienst; doch sein Nachfolger Johannes Calvin führt bald darauf den Psalmgesang
wieder ein; als Illustration benutzt er das Bild eines Trichters: so wie der Wein durch einen
Trichter ins Fass gegossen wird, so wird ein Text durch die Melodie ins Herz des Menschen
gegossen.
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Zitator:
„Man muß sich nur gründlich hüten, daß nicht das Ohr mehr Aufmerksamkeit auf die Melodie
verwendet, als das Herz auf den geistlichen Sinn der Worte.“
Sprecher:
1539 erscheint die erste Ausgabe des „Genfer Psalters“ oder „Hugenottenpsalters“– ein
Gesangbuch mit französischen Psalmliedern, die bald darauf ins Deutsche übersetzt
werden. Calvin selbst ordnet an, dass die Lieder schlicht gehalten werden, damit die Musik
bei den Gläubigen keine Leidenschaften weckt: kleine Tonschritte, sangbare Intervalle, keine
Chromatik, kein Dreier-Metrum, das als Tanzrhythmus verpönt ist. Der Komponist Loys
Bourgeouis wird sogar zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er ein Lied schreibt, das den
vorgegebenen Umfang der Oktave um einen Ton überschreitet. Die eingängigen Melodien
des Genfer Psalters erfreuen sich schnell außerordentlicher Beliebtheit und werden landauf,
landab gesungen. Erst um etwa 1800 entstehen im ganzen Lande Kirchenchöre, in denen
Laien aus der Gemeinde mitwirken – eine Entwicklung, die eng mit der Emanzipation des
Bürgertums und dem neu entstandenen patriotischen Chorwesen verknüpft ist. Die
Kirchenchöre gestalten nicht nur den Gottesdienst mit, sondern tragen auch zum sozialen
Leben innerhalb der Gemeinde bei.
O-Ton Matthias Balzer:
Der große Vorteil der Musik, gerade auch des Chorsingens ist, dass es ein sehr stark
interaktives Handeln ist; also man muss auf den anderen hören, man muss auch
selber aktiv werden, das ganze muss fein aufeinander abgestimmt werden, dass nicht
der eine den anderen übertönt. Also man lernt sozial relativ viel dabei und im guten
Fall, häufig ist das auch geschehen, wächst man zu einer Gemeinschaft zusammen.
Sprecher:
In der individualisierten Gesellschaft der Gegenwart hat der Kirchenchor an Attraktivität
verloren. Auch das Repertoire der Lieder wirkt auf viele Menschen veraltet. Die Kirchen
versuchen Abhilfe zu schaffen und neue musikalische Akzente zu setzen; das gelingt nicht
immer, wie Theologe Stefan Klöckner anmerkt.
O-Ton Stefan Klöckner:
Der Bereich der Popularmusik – da bin ich sehr skeptisch; bei uns gerade im
Ruhrgebiet: jetzt bitte das Steigerlied und Helene Fischer; da jetzt die
Niederschwelligkeit zum Programm zu erklären und geschmäcklerisch zu sagen: alles
was schön und seicht und anspruchslos ist – also irgendwann zieht das nicht mehr,
das hält keinen in der Kirche. Keiner kommt in die Kirche, weil dort das Steigerlied
gesungen wird und keiner bleibt in der Kirche, zumindest nicht lange, wenn Helene
Fischer singt. Das sind Werbeplaketten. Nur: Werbung hat mit der Substanz dessen,
was vermittelt wird, häufig nichts zu tun. Und nach dem Motto. „Sie wünschen – wir
spielen“ kann ich keinen Gottesdienst gestalten. Das geht nicht.
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„Eitel Ohrenschmaus“ oder „Gesungenes Gebet“ - Warum singen Christen?
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Sprecher:
Wenn Musik vor allem als Köder dient, um Menschen in die Kirche zu locken, beim
Gottesdienst eine angenehme Atmosphäre zu schaffen und für wippende Füße zu sorgen,
dann wird sie tatsächlich zu „eitlem Ohrenschmaus“ reduziert.
Aber der Gesang kann die Menschen auch tief berühren, bis hin zu Erlebnissen der
Gottesnähe.
O-Ton Stefan Klöckner:
Es gibt nichts, was ich vor Gott verstecken müsste. Ich darf auch fluchend singen
oder singend fluchen. Ich darf mein Herz ausschütten und einen riesengroßen
stinkenden Misthaufen daraus machen in der Hoffnung, dass sich das über den Klang
auf dem Weg nach oben alles in Weihrauch verwandelt hat, wenn‘s oben
angekommen ist. Mit Leib und Seele und ganzer Existenz zu singen und wirklich auch
zum Teil wie ein jüdischer Kantor; wenn sie die singen hören, mit welcher
elementaren Kraft und Existentialität, bis an das Singen, das Schluchzen, das
Flüstern, Diese Farben alle, die wünsche ich mir für unsere singende Kirche und dann
werden vielleicht die Menschen kommen und sagen: wahrhaftig, Gott ist bei Euch.
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