Lobbyismus und Politik

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ZEITGESPRACH
Lobbyismus und Politik
Der Parteispendenskandal schärft das Bewußtsein der Öffentlichkeit für den
Einfluß von Interessengruppen auf die Politik. Welche Rolle spielt der Lobbyismus in der
Demokratie? Besteht hier ein Bedarf an zusätzlichen Regelungen?
Hans Herbert von Arnim*
Staat und Verbände
D
ie Beurteilung von Interessenteneinflüssen auf die Politik
und sogar von Geldzahlungen an
Abgeordnete ist in Deutschland
merkwürdig unsicher. Eine Mischung aus Eigeninteresse der Politiker, Ideologie und mißverstandener pluralistischer Pseudotheorie hat es geschafft, den Eindruck
zu erwecken, als seien finanzielle
Einflußnahmen von Lobbyisten der
pluralistischen Demokratie wesenseigen und jedenfalls harmlos.
An sich ist nichts dagegen einzuwenden, daß sich Verbände
konstituieren, um gleichgerichtete
Interessen ihrer Mitglieder in den
wirtschaftlichen und politischen
Prozeß einzubringen. Interessenverbände sind nicht selten das einzige Medium, mittels dessen der
Bürger in der Massendemokratie
seinen Interessen überhaupt Gehör verschaffen kann. Was unorganisiert ist, bleibt meist unberücksichtigt.
•'
Die Existenz und die Aktivitäten
von Interessenverbänden als Ausfluß grundrechtlicher Freiheiten
grundsätzlich zu akzeptieren bedeutet aber noch lange nicht, daß
die Unabhängigkeit von Politikern
* Der Verfasser hat sich mit Fragen des Lobbyismus wiederholt befaßt, besonders eingehend in Hans Herbert von A r n i m : Gemeinwohl und Gruppeninteressen. Die
Durchsetzungsschwäche allgemeiner Interessen in der pluralistischen Demokratie,
Frankfurt am Main 1977, und vor kurzem in
d e r s . : Vom schönen Schein der Demokratie. Politik ohne Verantwortung - am Volk
vorbei, Verlag Droemer, München 2000.
WIRTSCHAFTSDIENST 2000/IM
nicht schützenswert sei, und schon
gar nicht, daß auch finanziell-materielle Einflußnahmen auf Abgeordnete zu akzeptieren wären. Die
Gegenmeinung von der angeblichen Harmlosigkeit solcher Aktivitäten beruft sich auf die These, jedes Interesse könne sich entsprechend seiner Bedeutung verbandlich organisieren und werde sich
sozusagen von selbst die erforderliche Geltung verschaffen. Drohe
ein wichtiges Anliegen zu kurz zu
kommen, bilde sich eine entsprechende Gegenmacht („countervailing power"), die die Dinge wieder
ins^ Lot bringe. Auf diese Weise
werde eine angemessene Berücksichtigung aller Interessen gewährleistet.
Nicht mehr
haltbare Harmonielehre
Diese in den Schul- und Lehrbüchern noch verbreitete pluralistische Harmonielehre, die auf anglo-amerikanischen Pluralismustheoretikern beruht, unterstellt also, im pluralistischen Kräftespiel
werde das Gerechte, das materiell
Richtige, schon von selbst herauskommen. In unserer Demokratie
orientiere sich die Politik damit
quasi automatisch am Wohl des
Volkes. In dieser Sicht ist die Einflußnahme von Interessenten, ja
selbst die finanzielle Einflußnahme,
nicht nur unbedenklich, sondern
erscheint geradezu als Voraussetzung für eine ausbalancierte ge-
meinwohlorientierte Politik. Nach
dieser Vorstellung könnten die Abgeordneten in letzter Konsequenz
eigentlich sogar alle Interessen Vertreter sein, ohne daß dies gemeinwohlschädlich wäre, eben weil
man glaubt, darauf vertrauen zu
können, die Interessen pendelten
sich im freien Spiel der politischen
Kräfte aus, so daß im Parallelogramm der Kräfte ein angemessener Kompromiß zustande komme.
Doch ist die Harmonielehre heute in Wahrheit nicht mehr haltbar.
Aus verbandssoziologischen, politikökonomischen und verfassungstheoretischen Analysen wissen wir:
Je allgemeiner Interessen sind, je
mehr Menschen sie teilen, desto
schwieriger ist ihre verbandliche
Organisation und desto geringer
sind meist ihre Durchsetzungschancen im Gesetzgebungsverfahren (und auch sonst in der
Politik). Diese Auffassung ist allerdings nicht ganz neu. So hatte
schon der Staatsrechtslehrer Ernst
Forsthoff darauf hingewiesen, in
der Wirklichkeit unserer politischen Willensbildung fänden gerade die allgemeinsten Interessen
„keinen gesellschaftlichen Patron"; sie seien so allgemein, daß
sie „die Grenzen gesellschaftlicher
Patronage"
überstiegen. Der
Staatsrechtslehrer Joseph Kaiser
hatte als Hauptbeispiele dafür die
Interessen der Steuerzahler und
Verbraucher angeführt: Steuerzahler (zumindest von indirekten
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ZEITGESPRACH
Steuern) und Verbraucher sind wir
ja alle. Die Frage, welches die eigentlichen tieferen Ursachen für
die mangelnde verbandliche Organisationsfähigkeit allgemeiner Interessen sind, blieb allerdings lange offen.
Pluralismusdefizite
Hier setzt nun der politische
Ökonom Mancur Olson an; in seinem Buch Logik des kollektiven
Handelns (1967) hat er schlüssig
nachgewiesen, warum sich zwar
enge Partikularinteressen, nicht
aber allgemeine, weite Bevölkerungskreise umfassende Interessen in ausreichender Stärke verbandlich organisieren lassen. Olson legt dar, daß große Gruppen
selbst bei vollständiger Übereinstimmung nicht im Gruppeninteresse handeln, „denn wie vorteilhaft die Erfüllung von Funktionen
auch sein mag, die man von großen freiwilligen Vereinigungen erwartet, es besteht für ein einzelnes
Mitglied einer latenten Gruppe
dennoch kein Anreiz, einer solchen
Gruppe beizutreten". Olsons Thesen verbinden sich mit der Analyse
von Anthony Downs, der - auf Vorarbeiten Joseph Schumpeters aufbauend - schon 1957 in seinem
Buch Ökonomische Theorie der
Demokratie dargelegt hatte, daß
die Verfolgung allgemeiner Interessen auch für Parteien oft nicht
lohnend erscheint. In der Wirklichkeit der Gesetzgebung fehlt es am
Gleichgewicht der organisierten
Kräfte. Bestimmte machtvoll organisierbare Interessen kommen regelmäßig eher zum Zuge, und allgemeine Interessen kommen häufig genug zu kurz. Die von der
Macht der organisierten Interessen
bestimmte pluralistische Wirklichkeit weist deshalb eine Schlagseite zu Lasten nichtorganisierbarer, insbesondere allgemeiner Interessen auf.
Schaut man genauer hin, so ergibt sich allerdings ein differenzierteres Bild: Sonderinteressen las-
140
sen sich in der Regel schlagkräftiger organisieren als allgemeine
Interessen, Gegenwartsinteressen
sind politisch virulenter als Zukunftsinteressen, wirtschaftliche
sind stärker als ideelle, Einkommenserwerbsinteressen werden
nachdrücklicher vertreten als Ausgabeninteressen. Da aber auch die
wichtigsten Ausgabeninteressen
solche der Allgemeinheit (der Konsumenten und der Steuerzahler)
sind und man auch Zukunftsinteressen in einem weiteren Sinn als
allgemeine Interessen ansehen
kann, bleibt die Feststellung von
der Schwäche der Allgemeininteressen typischerweise richtig. Das
Gewicht dieser Feststellung kann
man schwerlich übertreiben. Wenn
Interessen desto weniger politische Berücksichtigung finden, je
größer der Kreis der Betroffenen
ist, läuft das praktisch auf einen
„Mechanismus umgekehrter Demokratie" hinaus.
Die Autoren
unseres Zeitgesprächs:
Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim, 60, lehrt Öffentliches
Recht und Verfassungslehre
an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer.
Prof. Dr. Ulrich von Alemann,
55, ist Inhaber des Lehrstuhls
II für Politikwissenschaft an
der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Prof. Dr. Erwin K. Scheuch,
71, ist Professor em. für Soziologie an der Universität zu
Köln.
Prof. Dr. Siegfried F. Franke,
57, lehrt Wirtschaftspolitik
und Öffentliches Recht an der
Universität Stuttgart und ist
Dekan der Fakultät für Geschichts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften.
Daß diese Pluralismusdefizite in
jüngster Zeit immer stärker in Erscheinung treten, ist kein Zufall.
Solange das Sozialprodukt stark
wuchs und deshalb der Zugriff der
Partikularinteressen immer noch
genug für die Erfüllung allgemeiner
Interessen übrigließ und solange
der Wettbewerb der politischen
und gesellschaftlich-wirtschaftlichen Systeme die Partikularismen
zur Zurückhaltung mahnte, ließen
sich die Mängel des Systems noch
leichter überspielen. Doch die früheren Bedingungen sind seit einiger Zeit entfallen. Das wirtschaftliche Wachstum stagniert, der äußere Druck hat sich gelöst, und zudem haben die Herausforderungen, denen sich das Gemeinwesen gegenübersieht, ungeheuer
zugenommen.
Erweist sich nun aber die pluralistische Harmonie- und Gleichgewichtslehre als unrealistischer
Mythos, kommt es offenbar darauf
an, die Gegengewichte gegen Pluralismusdefizite zu aktivieren und
zu stärken. Daß die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik in Wahrheit selbst gar
nicht von einem demokratischen
Automatismus ausgeht, bestätigt
die Existenz zweier Institutionen,
die den politischen Prozeß ergänzen. Sie machen deutlich, wie begrenzt in Wirklichkeit unser Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der sich selbst überlassenen Parteien und Verbände ist.
Die eine Institution ist die Rechtsprechung, besonders die des
Bundesverfassungsgerichts.
Die
Rechtsprechung ist immer mehr
an die Stelle der Politik getreten
und hat teilweise die Rolle eines
Ober- und Ersatzgesetzgebers angenommen. Die Ersetzung der
Politik durch Richterrecht und die
politische Korrekturrolle der Justiz
kommen immer unverhüllter zum
Vorschein. Erinnert sei nur an die
Urteile des BundesverfassungsgeWIRTSCHAFTSDIENST 2000/IN
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richts zur Schwangerschaftsunterbrechung, zum Maastricht-Vertrag, zum internationalen Einsatz
der Bundeswehr und zur Familienbesteuerung. Diese Rechtsprechung wird nach demoskopischen
Umfragen - trotz gewisser zwischenzeitlicher Irritationen - von
zunehmenden Vertrauenswerten
für das Gericht und abnehmenden
Vertrauenswerten für das unter
dem Druck der Verbände stehende
Parlament begleitet; sie entspringt
weniger einem usurpatorischen
Anspruch der Karlsruher Richter,
sondern ist für jeden, der ein Gespür für Gewichtsverlagerungen
zwischen den Verfassungsorganen
hat, ein unübersehbarer Indikator
für zunehmendes Versagen der
Politik.
Die zweite Institution war lange
die Deutsche Bundesbank in
Frankfurt. Sie ist in Sachen Geldpolitik weisungsfrei und von Regierung und Parlament unabhängig. Der Hauptgrund ist: Man will
die Bundesbank vom Spiel der politischen Parteien und der Interessenverbände separieren, da man
diesen die Sicherung des Geldwerts vor Inflation - in Anbetracht
der Versuchung zu kurzfristiger
und partikularer Politik - nicht zutraut.
Wo könnte das - strukturell bedingte - Versagen der Politik deutlicher zum Ausdruck kommen als
in dieser Konstruktion? Auch auf
Europaebene mißtraut man der
Leistungsfähigkeit des von den
Parteien und Verbänden dominierten pluralistischen Prozesses: Zur
Sicherung der Stabilität der neuen
europäischen Währung setzt man
wiederum auf eine unabhängige
Zentralbank - diesmal eine europäische.
Direktwahlen und
Volksentscheide
Um Mißverständnisse zu vermeiden: Der Verfasser möchte das
Augenmerk auf die zentrale Frage
WIRTSCHAFTSDIENST 2000/IN
der Leistungsfähigkeit des pluralistischen Systems lenken, eine Frage, von der sehr viel mehr abhängt,
als ihre öffentliche und leider zum
Teil auch wissenschaftliche Nichtbehandlung glauben macht. Der
Verfasser plädiert jedoch nicht für
die Ausweitung unabhängiger Instanzen. Diese sind ihrerseits nicht
unproblematisch, etwa weil die
politische Klasse, insbesondere
bei der Besetzung der Positionen,
zu starken Einfluß nimmt und wirkliche Unabhängigkeit der Institutionen und ihrer Mitglieder nur
schwer erreichbar erscheint, wie
die Erfahrungen etwa mit einigen
Rechungshöfen und Verfassungsgerichten bestätigen. Zugleich entbehren solche Institutionen der (direkten) demokratischen Legitimation.
In dieser Situation stellt sich
deshalb die Frage, ob nicht die
Wahl der Mitglieder oder des Leiters solcher Institutionen direkt
durch das Volk der bessere Weg
wäre, wie dies Bruno S. Frey zum
Beispiel für die Präsidenten der
Rechnungshöfe vorgeschlagen hat.
Die Direktwahl vermag Legitimation und zugleich Handlungsfähigkeit zu schaffen, auch durch eine
gewisse Distanz zu Parteien und
Interessenverbände. Dies illustriert
in Deutschland besonders das
Beispiel des direkt gewählten Bürgermeisters.
Es geht darum, die vielfach verlorengegangene Verantwortlichkeit
der Politik gegenüber der Allgemeinheit der Wähler zu stärken
und zu diesem Zweck die abgeschotteten und verkungelten
Nominierungs- und Wahlverfahren
zu öffnen. Zudem sollte den Bürgern die Möglichkeit gegeben werden, wichtige Sachentscheidungen durch Volksbegehren und
Volksentscheid selbst in die Hand
zu nehmen. Wichtig ist natürlich
auch, die Interessentenabhängigkeit der Abgeordneten, insbesondere die durch materielle Zuwen-
dungen hervorgerufene, möglichst
zu verringern. Das Grundgesetz
und die Länderverfassungen mit
ihren die Unabhängigkeit der Abgeordneten postulierenden Bestimmungen (siehe für den Bund
Art. 38 I 2, 48 III 1 GG) sind deshalb nicht Ausdruck eines überholten „frühkonstitutionellen" oder
„frühpluralistischen" Verfassungsund Parlamentsverständnisses, wie
Parlaments- und politikernahe Autoren gelegentlich formulieren, sondern stehen auf der Höhe der aktuellen verfassungstheoretischen
Entwicklung.
Das Postulat der Unabhängigkeit des Abgeordneten muß bestehen bleiben und sollte durch gesetzliche Vorkehrungen gestützt
werden. Nur leider ist der von den
Abgeordneten selbst gemachte
Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung (§ 108e Strafgesetzbuch) so eng gefaßt, daß er
praktisch nie zur Anwendung kommen wird. Wirkungslos ist auch
das Verbot von Interessentenzahlungen an Abgeordnete geblieben,
das das Bundesverfassungsgericht aus den genannten Verfassungsbestimmungen entnommen,
das der Bundestag aber nie vollzogen hat.
Verlust an Maßstäben
Es bleibt ein Skandal, wenn Abgeordnete neben ihrem Mandat
noch als Hauptgeschäftsführer eines Lobbyverbandes agieren und
dafür üppig bezahlt werden. Der
Abgeordnete erhält die Diäten zur
Sicherung seiner Unabhängigkeit.
Dann darf er sich nicht gleichzeitig
als vollbezahlter Funktionär in die
Abhängigkeit eines Interessen Verbandes begeben. Was an solchen
Fällen erschüttert, ist weniger der
Mißbrauch des Amts durch einzelne Abgeordnete - das hat es
schon immer gegeben - als vielmehr die Tolerierung und Ermutigung solcher Vorgänge durch die
politische Klasse und der darin
141
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zum Ausdruck kommende Verlust
der Maßstäbe.
Nach den jüngsten Erfahrungen
sollte auch die unbeschränkte
Zulässigkeit von Spenden an politische Parteien überdacht werden.
Ich plädiere dafür, Spenden von juristischen Personen sowie Großspenden von natürlichen Personen, die einen Betrag von 20000
DM überschreiten, überhaupt zu
verbieten. Als die staatliche Parteienfinanzierung 1958 in der Bundesrepublik eingeführt wurde, war
es politische „Geschäftsgrundlage", daß im Gegenzug Großspenden verboten werden sollten. Mit
ihnen erkauft der Geldgeber nicht
selten willfähriges Verhalten der
Politik, auch wenn man dies im
Einzelfall nicht beweisen kann. So
hat 1998 ein Hamburger Ehepaar
beim Verkauf von über 30000 Eisenbahnerwohnungen des Bundes den Zuschlag für 7,5 Milliarden DM bekommen, obwohl es ein
Konkurrenzangebot gab, das eine
Milliarde höher lag. In zeitlichem
Zusammenhang damit hat das
Ehepaar an die damalige Regierungspartei CDU mehrere Millionen gespendet. Ausschlaggebend ist nicht einmal, ob das Geld
wirklich die politische Entscheidung beeinflußt hat. Es genügt
schon der böse Schein, der solche
Großspenden leicht in den Dunst
der Korruption rückt, weshalb es
mir geboten erschiene, sie überhaupt zu verbieten.
Derartige Zahlungen und ihre
rechtliche Zulassung sind geeignet, das Vertrauen der Menschen
in die Demokratie zu erschüttern.
Es ist eine jahrhundertealte Erkenntnis, daß in der Demokratie,
soll sie nicht zur Plutokratie entarten, wirtschaftliches Kapital nicht
unbegrenzt in politische Macht
transformiert werden darf. Es wäre
wirklich überraschend, wenn diese
Erkenntnis für deutsche Abgeordnete und Parteien plötzlich nicht
mehr gültig sein sollte.
Ulrich von Älemann
Lobbyismus heute - Neue Herausforderungen
durch Globalisierung, Europäisierung und Berlinisierung
I
n Deutschland hat Lobbyismus
keinen guten Klang. Der Begriff
weckt immer noch pejorative Assoziationen - wie manipulierte
Machenschaften von Interessenvertretern, illegitime Einflußnahme
in Hinterzimmern, wenn nicht gar
Anklänge an Patronage und Korruption. Im Mutterland des Lobbyismus, im amerikanischen Kongreß, d.h. insbesondere in Washington D.C., bzw. „inside the beltway", ist das längst anders geworden. Das Begriffsbild hat sich neutralisiert, negative Wertungen sind
in den Hintergrund getreten, positive Konnotationen beginnen zu
dominieren.
Deshalb propagieren dort nicht
nur wirtschaftliche Interessengruppen, sondern auch gesellschaftlich-politische Bürgerbewegungen, wie z.B. „Common Cause"
ganz unbefangen „we lobby for
democracy" (oder peace, the poor,
the people, the minorities etc.).
Politischen Einfluß nehmen, Druck
machen, für die eigenen Klientel
142
etwas herausholen, das bedeutet
to lobby in den USA heute.
Der Interessenrepräsentant, der
in der Lobby des Capitöl Hill auf
Senatoren und Abgeordneten des
Repräsentantenhauses wartet, die
er umgarnen kann, das ist weitgehend Vergangenheit. Natürlich ist
damit die wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Interessenvertretung und -Wahrnehmung
nicht untergegangen. Ganz im Gegenteil: Sie hat sich professionalisiert. Zwar sind noch die großen
klassischen Interessenorganisationen präsent, wie die Gewerkschaften AFL/CIO oder die National Association of Manufacturers
und die National Chamber of
Commerce oder auch die berühmt-berüchtigte National Rifle
Association sowie neuerdings unzählige Umwelt- uiid Minoritätenorganisationen. Aber zwei andere
Formen der Vertretung wirtschaftlicher Interessen sind in den USA
typischer geworden: Die Selbst-
repräsentanz der Großunternehmen einerseits und die advokatorische Fremdvertretung durch professionelle (Anwalts-) Kanzleien
und Agenturen für kleinere Unternehmen und Interessen andererseits.
Insgesamt ist der US-amerikanische Lobbyismus extrem zersplittert, zumal da jeder der hundert Senatoren und der 435 Haus-Abgeordneten als Chef-Lobbyist seiner
eigenen „constituency" fungiert,
was sowohl Wahlkreis als auch
Wählerklientel bedeutet und immer
die wirtschaftlichen Interessen der
örtlichen Industrie und Arbeitsplätze mit einschließt. Und dies
wird als absolut legitim geachtet.
Traditionelle
deutsche Staatszentriertheit
Werden wir auch in dieser Hinsicht, wie das in Wahlkämpfen oft
beschworen wird, amerikanisiert?
Auch hier ist, so werde ich zeigen,
wie im übrigen bei den Wahlkampagnen genauso, höchstens
WIRTSCHAFTSDIENST 2000/IN
ZEITGESPRÄCH
die Hälfte der herbeispekulierten
Trends zutreffend.
Warum hat denn in Europa und
insbesondere in Deutschland der
Begriff Lobbyismus noch einen
so deutlich abwertenden Beigeschmack? Hat doch die Erforschung von Lobbyismus und Interessenverbänden immer wieder die
Legitimität von pluralistischer
Wahrnehmung und Durchsetzung
von Interessen betont. Die Erklärung ist wohl, daß hier noch viel
traditionelle deutsche Staatszentriertheit mitschwingt, eine Staatsverliebtheit, die allein schon Gemeinwohlgarant sei. Einzelinteressen, ob als Parteien oder als Verbände, haben sich dem unterzuordnen. Vor Jahren schon sagte
der Klassiker der Pluralismusforschung, Ernst Fraenkel, an die
Stelle der alten deutschen Parteienprüderie sei die Verbandsprüderie getreten.
Direkte Demokratie
keine Alternative
In den letzten Jahren behaupten
allerdings viele, auch mit den Parteien sei kein Staat mehr zu machen. Eine pauschale Parteienverachtung ist in einer Demokratie
aber genauso gefährlich wie eine
Verachtung von organisierten Interessen generell. Direkte Demokratie kann in großen Flächenstaaten keine Alternative, höchstens
eine partielle Ergänzung sein. Ohne die Bündelung politischer Willensbildung in großen Parteien, die
freilich reformbedürftig sind, entstehen Populismus und akklamatorische Politik - wie man beispielsweise an der Demokratieentwicklung in den GUS- und MOEStaaten ablesen kann.
Ohne Bündelung sozio-ökonomischer Interessenvermittlung in
großen Verbänden, die Effizienz,
Transparenz und Partizipation in
Organisation und Aktion verknüpfen müssen, entstehen eine Zersplitterung der InteressendurchWIRTSCHAFTSDIENST 2000/111
setzung und die Gefahr des überproportionalen Abwanderns in Informalität und schließlich Illegalität. In der Schweiz führen die
schwache Parteienkonkurrenz und
die starke direkte Demokratie wie
bei einem System kommunizierender Röhren zu überproportionaler
Macht und Einfluß von Verbänden,
gerade in Referendumssituationen.
Ob Verbände ihre Macht demokratischer wahrnehmen als Parteien,
darf bezweifelt werden.
Mit dem Rückgang der Bedeutung der Legislative gegenüber der
Exekutive ist auch das Parlament,
d.h. in unserem Fall der Deutsche
Bundestag, in seiner Bedeutung
als Hauptanlaufstelle für Lobbyismus zurückgetreten. Dies ist ein
seit Jahrzehnten konstatierter Prozeß, wird doch der Großteil von
Gesetzen, Verordnungen, Fördermaßnahmen und auch staatlichen
Investitionsentscheidungen von
der Regierung vorbereitet und
getätigt. Neben Bundesregierung
und Bundestag zielen die Aktionen
der Interessengruppen aber auch
auf die Parteien,^ konkurrieren sie
mit Wettbewerbern in der Interessenvertretung gegenüber anderen
Verbänden und versuchen insbesondere, Einfluß auf die Öffentlichkeit zu gewinnen - mit eigenen
Aktionen, Kommunikationen und
Public Relations .
Parteienfinanzierungsgebote
einhalten
Der bekannte Politologe Klaus
von Beyme hatte in seinem Lehr1
buch die „Methoden der Interessengruppen" noch unterschieden
in: „Korruption und Bestechung;
Überzeugung, freundschaftliche
Kontakte; Drohung, Nötigung, Gewalt; gewaltloser Widerstand; alternative Strategien". Diese etwas
martialische Typologie dürfte wohl
keine Prioritätenliste des Verbändeeinflusses heute verkörpern Schwarzgeld aus der CDU-Parteienfinanzierung hin oder her.
Sicher liegen hier Probleme auf
der Hand - oder auch nicht, da sie
natürlich hinter dem Rücken verborgen werden. Aber illegale Parteienfinanzierung und politische
Korruption gehören sicherlich
nicht zu den zentralen Problemen
oder den repräsentativen Spitzenthemen des Lobbyismus in
Deutschland. Bei der Finanzierung
von US-Wahl kämpfen durch Political Action Committees (PACs)
steckt man dort in einem deutlich
tieferen Schlamassel. Den Maßstab gerade zu rücken, soll allerdings nicht heißen, die deutschen
Probleme kleinzureden.
Die Parteienfinanzierung gilt es
zunächst so zu fassen, daß längst
bestehende Transparenzgebote
eingehalten und respektiert werden. Ob generell Parteispenden juristischer Personen - neben Unternehmen sind in den jährlichen
Rechenschaftsberichten regelmäßig zahlreiche Wirtschaftsverbände als Großspender insbesondere
an die bürgerlichen Parteien vertreten, im Gegensatz zu den hier
ganz abstinenten Gewerkschaften
- eingeschränkt oder abgeschafft
werden sollen, das ist Gegenstand
der öffentlichen Debatte und bleibt
noch zu prüfen.
An den Grundlagen des Lobbyismus in Deutschland wird aber
durch die CDU-Spendenaffäre nur
ein bißchen gerüttelt. Die Fundamente sind davon nicht tangiert.
Dies erscheint mir eher der Fall bei
drei großen „Megatrends" der Interessenpolitik, die ich so bezeichnen möchte: Globalisierung, Europäisierung und Berlinisierung.
Neue Lobbyismusstrukturen
Die Globalisierung - viel beschworen, wenig konkretisiert verlagert Unternehmensstrukturen,
Kapitalflüsse, Investitionsstrategien, aber auch ökonomische Leitbilder und Identitäten von Massen-'
kulturen weg von nationalstaatlichen Bindungen hin zu transna143
ZEITGESPRÄCH
tionalen Räumen und virtualisier.ten Netzen.
Das betrifft Strategien und
Strukturen von Lobbyismus im
Kern: Wer ist der übernationale Ansprechpartner von Daimler-Chrysler, Vodaphone-Mannesmann oder
Aventis? Weltbank, IWF oder
WTO? Vielleicht demnächst einmal
die UNO? In der Tat hält die jüngere Forschung zur internationalen
Politik Begriffe und Theorien bereit, um solche Entwicklungen zu
identifizieren und zu erklären. Die
Lehre von den „internationalen Regimen" thematisiert Politikfelder
(z.B. Handelspolitik oder Umweltschutz), in. denen sich Regelsysteme und Entscheidungsstrukturen auf der Basis freiwilliger Ver1
einbarungen von staatlichen und
nichtstaatlichen Akteuren herausbilden. Gerade die nichtstaatlichen
Akteure - Großunternehmen, Verbände und „NGOs" (non governmental organizations) - erhalten
hier einen viel größeren Aktionsspielraum, so daß schon von einem „Regieren ohne Regierung"
(Czempiel) gesprochen wird.
Auf den von der UNO gesponserten Großkonferenzen in Rio,
Kopenhagen oder Peking waren
die NGOs schon zahlreicher vertreten als die Regierungen. Handlungsbedarf, den Wildwuchs der
Regelungsdichte bzw. die „regulierte Anarchie" (Rittberger/Zürn)
hier nicht überhandnehmen zu lassen, existiert sicherlich, ist aber ein
Sisyphus-Projekt. Immerhin hat
die OECD Initiativen gegen Korruption in Wirtschaft und Politik ergriffen, und eine internationale,
von einem Deutschen geführte
NGO, „transparency international",
unterstützt sie dabei.
Europäisierung des Lobbyismus
Die Europäisierung - der zweite
Megatrend für den Lobbyismus kann man als Unterfall der Regimelehre betrachten, und zwar
als Region, in der die Regelungs-
144
dichte am stärksten angewachsen
ist, insbesondere in den Politikfeldern Agrar- und Außenhandelspolitik. Aber die • Regelungsdichte
wächst von Verordnung zu Verordnung in allen übrigen Politikbereichen täglich weiter und darauf
stellt sich der europäische Lobbyismus ein. In der EU kann man
wohl kaum von „regulierter Anarchie", eher von „regulierender
Bürokratie" sprechen. Das Netzwerk an Interessenorganisationen
in Brüssel ist dichtmaschig, es
wurden Anfang der 90er Jahr über
3000 vermutet, darunter sind über
500 internationale und europäische (Dach-) Verbände, 200 Einzelunternehmen und 100 Beratungsfirmen, die nach US-Muster
professionelles Lobbying anbieten. In einem European Public
Affairs Dictionary von 1995 werden
sogar über 6500 Interessenvertretungen geschätzt. Unter den
Dachverbänden ragen heraus die
Industrie- und Arbeitgeberverbände UNICE, die Bauernverbände
COPA, für den Handel EUROCOMMERCE und für die Gewerkschaften der EGB. Der „Wirtschafts- und Sozialausschuß" der
EU, als institutionalisierte Begegnungsstätte der Lobby mit der
Politik konzipiert, schleicht freilich
als ziemlich zahnloser Tiger durch
die Brüsseler Arena.
Der Brüsseler Lobbyist versteht
sich nicht als Proponent von Pressure groups, sondern als Informationsdienstleister. Der Informationsvorsprung der Verbands-Experten vor der Brüsseler Bürokratie ist zum Teil beträchtlich und
beschert so manchen Interessenvertretern übermäßig viel Einfluß.
. Für die Beamten der Kommission existiert zwar ein Verhaltenskodex zum Umgang mit Lobbyisten, nicht aber eine Regulierung,
Registrierung oder ein code of
conduct für die Interessengruppen. Darüber wird diskutiert zwir
sehen Kommission, Europäischem
Parlament und den Interessenorganisationen. Das ist dringend
geboten, denn nirgends ist der
Lobbyismus so stark in Regulationen und Entscheidungsstrukturen einbezogen wie in Brüssel.
Auch hier macht sich ein Defizit
kritischer europäischer Öffentlichkeit und wohlorganisierter europäischer Parteien bemerkbar. In das
Vakuum stoßen Bürokratie und
Lobbyismus.
Bewegung im
deutschen Verbändewesen
Die Berlinisierung - ein zugegeben nicht sehr klangvoller Begriff soll schließlich den Wandel des
deutschen Lobbyismus nach der
deutschen Einheit auf dem Weg in
die Berliner Republik bezeichnen.
Es handelt sich um mehr als um einen Umzug mit dem Möbelwagen
wie bei den Behörden. Die Verbände müssen über die Art ihrer
Repräsentanz
bei
Bundesregierung und Bundestag neu entscheiden. Geht man gleich mit
dem Schwerpunkt nach Brüssel?
Schließt man sich mit anderen zusammen?
Es ist sowieso einiges im Fluß
im deutschen Verbändewesen.
Welche Kompetenzen bleiben dem
DGB als Dachverband angesichts
der Konzentration in wenige
mächtige Einzelgewerkschaften?
Er wird sich aus der Fläche mit seinen Kreisorganisationen zurückziehen. Werden ihm dann noch genug Kompetenzen auf Landesund Bundesebene bleiben? Wie
tarieren sich die Gewichte zwischen BDI und BDA aus? Welche
Rückwirkungen hat die Tarifvertrags- und Verbandsflucht vieler
Unternehmen auf die Schlagkraft
der Unternehmerlobby? Wird das
„Bündnis für Arbeit" langfristig erfolgreich und in zentrale Funktionen der Interessenorganisationen
eingreifen, diese gar transformieren und substituieren? Dieses letztere erscheint mir allerdings, auch
WIRTSCHAFTSDIEN.ST 2000/III
ZEITGESPRÄCH
auf der Folie der Erfahrungen mit
der seinerzeitigen Konzertierten
Aktion, eher unwahrscheinlich.
Die Regulierung des deutschen
Lobbyismus ist in den Geschäftsordnungen von Bundesregierung
und Bundestag normiert, wo Anhörungsrechte und -prozeduren
beschrieben werden. Die sogenannte „Lobbyliste" beim Deutschen Bundestag nimmt eine Akkreditierung der Interessengruppen vor, die an offiziellen Hearings
und sonstigen amtlichen Kommunikationsformen
teilnehmen
wollen. Viel mehr an Regulierung
existiert nicht, das ist allerdings
schon mehr als in vielen anderen
Staaten.
Ein Verbändegesetz, das die
FDP in den siebziger Jahren vorgeschlagen hatte, um gemeinwohlwidriges Verhalten negativ
und innerverbandliche Demokratie
positiv zu sanktionieren, ist am
einhelligen Widerstahd der großen
Parteien, aller großen Verbände
und der öffentlichen. Meinung
desaströs gescheitert. Seither ist
es still darum geworden. Auch um
eine „Unregierbarkeit" des Staates
angesichts der Anspruchsinflation
der organisierten Interessen, die
ebenfalls in den siebziger Jahren
in konservativen Wissenschaftszirkeln ventiliert wurde, ist es still geworden. Es war nur heiße Luft. Der
Staat regiert kräftig weiter. Er hat
sich auch nicht darum geschert,
daß Systemtheoretiker dem Staat
völlige Unfähigkeit bescheinigt haben, überhaupt Steuerungsleistungen erbringen zu können.
Kein grundsätzlicher
Regulierungsbedarf
Der Lobbyismus regiert ein bißchen mit. Und das ist gar nicht
übel. Einen grundsätzlichen.Regulierungsbedarf sehe ich deshalb
auch auf nationaler Ebene kaum.
Die Gebote der Transparenz müssen immer wieder eingefordert
werden. Hier haben die Medien ihre Hauptaufgabe. Die Effizienz des
Lobbyismus und seiner Organisationsformen gilt es immer neu zu
überprüfen. Gerade Verbände verkrusten leichter als Unternehmen.
Insgesamt muß die Partizipation
im Pluralismus breit gestreut bleiben. Dann droht weder der „Verbändestaat", noch die „Unregierbarkeit". Eine „Amerikanisierung"
des Lobbyismus ist auch in der
Berliner Republik (noch) nicht zu
beobachten. Wohl aber auf dem
Brüsseler Parkett, wo Einzelunternehmen und Lobby-Agenturen immer stärker vertreten sind. Wenn
mehr Regulierung des Lobbyismus
notwendig ist, dann dort.
Erwin K. Scheuch
Lobbyismus und Verbandswesen in unserem politischen System
L
obby" als Wort und als Vorgang
sind Übernahmen aus dem
amerikanischen System der Politik. Im Englischen wird mit Lobby
die Vorhalle bzw. der Wandelgang
eines Parlamentsgebäudes bezeichnet. Im übertragenen Sinn
wurden damit die Vertreter von
Gruppeninteressen gemeint, die
außerhalb der Sitzungssäle, in
eben diesen Nebenräumen, Einfluß auf Abgeordnete zu nehmen
versuchen. Werden die Sitzungsräume der Mandatsträger als die
einzig legitimen Orte der politischen Willensbildung verstanden,
dann ist „Lobby" eine tadelnde
Bezeichnung. Wird dann „Lobbying" noch eingeengter verstanden
als einseitiges Durchsetzen wirtschaftlicher Interessen, dann bezeichnet dies eine Hauptform der
WIRTSCHAFTSDIENST 2000/111
Kritik an unserem Parlamentarismus.
Im Englischen wird parallel hierzu noch die Bezeichnung „pressure group" benutzt für Gruppierungen, die ihre Interessen durch
Druck auf Widerspenstige durchsetzen. Hierfür hat sich im Deutschen die etwas neutralere Bezeichnung „Interessenvertretung"
durchgesetzt und für den Personenkreis, der qua Amt oder Beruf
diesen Einfluß auszuüben versucht,
der Name „InteressenVertreter".
Interessen Vertreter und Interessengruppen sind in allen modernen politischen Systemen ein Bestandteil der Willensbildung. Nach
Form und Inhalt der Einflußnahmen sind sie eng rückverbunden
mit dem Verbandswesen einer Ge-
sellschaft. Deutschland gilt in seiner Struktur als „korporatistisch" darin ähnlich Österreich, aber
weniger extrem als dies die
Schweiz und ganz besonders Japan sind.
Im Mittelalter waren insbesondere in den Städten die Organisationen von Berufen und von Wirtschaftsbereichen der Kern der
Sozialstruktur. Bei den damals
sehr schwachen gesamtgesellschaftlichen Einrichtungen nahmen sie wesentliche Staatsfunktionen wahr und ordneten die wirtschaftlichen Abläufe. |n Erinnerung
an diese Realitäten, aber in romantischer Verklärung, entstand der
Wunsch nach einer berufsständischen Ordnung als „drittem Weg"
zwischen Marktwirtschaft und So145
ZEITGESPRACH
zialismus. Die in Deutschland nach
dem zweiten Weltkrieg eingeführte
Mitbestimmung wurde von den
Gewerkschaften in Anlehnung an
die Ideen von Fritz Naphtali als
Ersatz für die Sozialisierung der
Betriebe verstanden. Sind die
Bündelungen von Gleichartigkeiten
(des Berufs, der wirtschaftlichen
Interessen, der gesellschaftspolitischen Überzeugungen) in Verbandsform und die Respektierung
der in und zwischen diesen „Bündeln" ausgehandelten Entscheidungen auch durch staatliche Instanzen bestimmend für eine Gesellschaft, so hat sich in den Sozialwissenschaften hierfür der Begriff Korporatismus durchgesetzt.
Drei Konjunkturen des Themas
Das Thema Entscheidung über
Interessen in und durch Verbände
hat in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften dreimal Konjunktur gehabt. Ein jedes Mal
wechselte dabei die Perspektive.
Die erste Konjunktur ist eng mit
dem Namen Robert Michels verbunden, der Verbände unter dem
Gesichtspunkt der innerverbandlichen Willensbildung thematisierte.
Ergebnis seiner Untersuchungen
in linken Parteien und in Gewerkschaften ist das „Eherne Gesetz
der Oligarchie". Für alle kopfstarken Verbände soll hiernach gelten:
„Wer Organisation sagt, der muß
auch Oligarchie meinen." Die wichtigste neuere Untersuchung mit
dieser Perspektive ist von Seymour Martin Lipset bei der internationalen Druckergewerkschaft der
USA durchgeführt worden.
Die zweite Konjunktur des Themas fällt bei uns in Deutschland in
die Zeit des wirtschaftlichen und
politischen Wiederaufbaus nach
1945. Beherrscht wurde die Diskussion durch Theodor Eschenburgs „Herrschaft der Verbände?"
1956. Eschenburg war irritiert über
den großen Einfluß, den insbesondere wirtschaftliche Verbände auf
146
Personal und Inhalte der Politik
hatten - und zwar auf allen Ebenen. Daß Lobbyismus in Demokratien ein alltäglicher Vorgang ist,
erschien damals den Deutschen
noch als Scandalon. Inzwischen
hat sich diese Verbändefurcht gelegt, nicht zuletzt wegen der Bedeutungsminderung großer Verbände - nicht jedoch des Verbandswesens allgemein - ab Mitte
der sechziger Jahre. Hierzu trägt
auch ein weniger blauäugiges Verständnis von Demokratie bei, als
es in der Frühzeit der Republik
vorherrschte.
Die dritte Konjunktur des Themas fällt in die achtziger und neunziger Jahre und wurde diesmal
angeregt durch Untersuchungen in
den USA. Die zentrale Figur ist hier
Phillippe C. Schmitter. Dieser
brachte 1979 gemeinsam mit dem
Deutschen Gerhard Lehmbruch
ein Buch mit dem Titel heraus
„Trends Towards Corporatist Intermediation". Bei uns ist die repräsentativste Veröffentlichung dieser
dritten Konjunktur ein Sonderheft
der Politischen Vierteljahresschrift
von Wolfgang Streeck „Staat und
Verbände". Aus der umfangreichen Literatur sei noch die Habilitationschrift von Martin Sebaldt
1996 „Organisierter Pluralismus"
hervorgehoben. Kern der Vorstellung des Neokorporatismus ist ein
gegenseitiges Durchdringen von
Politik und Verbänden.
Die Realität eines
korporatistischen Landes
Ausgerechnet in den USA wurde zuerst thematisiert, daß das
Demokratiemodell, wie es durch
die Bundeszentrale für politische
Bildung in den Schulen zum Unterrichtsgegenstand wird, der Realität nicht gerecht werden kann.
Staatliches und darüber hinaus
politisches Handeln sind in hochdifferenzierten Gesellschaften nicht
möglich ohne ein Bündeln von Interessen. Zugleich kann hier der
Staat dieser Differenzierung nicht
gerecht werden, wenn darauf nur
im Stil und mit dem Wissen von
Behörden reagiert wird. Im Gegensatz zur Thematisierung bei
Eschenburg erscheinen in der
neokorporatistischen Perspektive
Interessenverbände und Interessenvertretung als notwendig für
eine freiheitliche Demokratie. Damit wird zum vorrangigen Thema
empirischer Untersuchungen nicht
die bloße Tatsache einer Einflußnahme von Verbänden auf Staat
und Parteien und auch nicht die
verbandsinterne Demokratie; vorrangig ist die Art und Weise, wie
solcher Einfluß geltend gemacht
wird und was seine Folgen sind.
In der Realität eines korporatistischen Landes, wie es die Bundesrepublik ist, sind die Beziehungen zwischen Verbänden und Staat
gestaffelt intensiv. Da ist zunächst
auf das zu verweisen, was in den
Wirtschaftswissenschaften Parafisci genannt wird und in unserer
Rechtssprache oft Kammern. Beispiele sind die Industrie- und
Handelskammern, die Handwerkskammern, der TÜV oder der DINVerband. Das Deutsche Rote Kreuz,
das Technische Hilfswerk und die
Gewerkschaften sind im Gegensatz zu manchen Kammern Verbände mit freiwilliger Mitgliedschaft, beanspruchen Staatsfreiheit und erhalten doch vom Staat
Privilegien eingeräumt. Hierzu gehören Steuerbegünstigungen, Entsenderechte in alle möglichen Aufsichts- und Entscheidungsgremien, Vorschlagsrechte für Gerichte und bei den Gewerkschaften die
gesetzlich verankerte Verpflichtung der Betriebe und Behörden
auf Mitbestimmung (durchweg
durch Gewerkschaftsfunktionäre).
Funktion der Verbände
Unter Verbänden versteht man
in den Sozialwissenschaften Vereinigungen mit formeller Verfassung,
die vorwiegend Außenwirkung anstreben; meist beanspruchen sie
gegenüber Parteien und Staat
WIRTSCHAFTSDIENST 2000/NI
ZEITGESPRACH
Distanz. Darüber hinaus lassen
sich weitere Formen von Zusammenschlüssen ausmachen, die bis
hinüber zum reinen Vereinswesen
für Freizeit abgestuft tätig werden.
Sie sind hier nicht Thema, wiewohl
auch sie für das politische System
von Belang sind.
Nicht einmal über die Zahl der
Verbände i.e.S. liegen verläßliche
Angaben vor. Thomas Ellwein ist
der Autor einer Faustregel, wonach „auf jeweils tausend Einwohner mindestens drei bis vier Vereinigungen kommen". Das ergäbe
über 200000 Vereinigungen, was
oft zitiert, aber über DaumenSchätzungen hinaus nicht belegt
wird1.
Von den verschiedenen in Literatur und Forschung verwandten
Funktionskatalogen empfiehlt sich
der folgende von Jürgen Weber:
D Artikulation wird die Aufgabe
genannt, auf wirksame Weise Interessen und Kenntnisse einer Vereinigung zu verbreiten. Die Formen
reichen von Gesprächen zwischen
einzelnen Personen bis hin zur
Public-Relations-Arbeit. Es entspricht der Entwicklung des Medienwesens für öffentliche Angelegenheiten, daß für wichtige Verbände die Grenze zwischen der Interessenartikulation als Verband
und einer allgemeinen Pressearr
beit fließend werden.
D Aggregation. Artikulation mag
die auffälligste Form der Verbandsarbeit sein, aber Aggregation dürfte für das Funktionieren unseres
Gemeinwesens auch die wichtigste sein. Mitglieder in Verbänden
haben oft sehr gegensätzliche
Interessen und haben sehr verschiedene Kenntnisse über unterschiedliche Bereiche. Würde diese
Vielfalt unvermittelt öffentlich vertreten, dann hätten Behörden und
politische Institutionen keinen Ver1 Vgl. Ernst-Bernd B l ü m l e ,
Peter
S c h w a r z (Hrsg): Wirtschaftsverbände und
ihre Funktion, Darmstadt 1985.
WIRTSCHAFTSDIENST 2000/IN
handlungspartner.. Den gibt es
erst, wenn ein Verband die verschiedenen Ansichten und Prioritäten zu einer Stellungnahme vereint.
D Selektion als Funktion steht im
engen Zusammenhang mit Aggregation und bedeutet, daß nach
entsprechenden Versuchen der
Bündelung von Interessen zu entscheiden ist, welche zu übergehen
sind.
D Integration ist für die Partner eines Verbandes eine besonders
wichtige Funktion. Damit ist gemeint, daß die nach außen vertretene Position auch nach innen
durchgesetzt werden kann.
Bedeutung der Länderebene
Am besten sind Struktur und
Wirken der Verbände im Bereich
der Wirtschaft untersucht. Hieraus
wird deutlich, daß die Struktur der
Organisation von Interessen in der
Bundesrepublik recht genau den
Besonderheiten der politischen
Zuständigkeitsstruktur folgt. Es ist
auch eine Folge der tatsächlichen
Gewichtung der verschiedenen
Ebenen im politischen System.
Bund und Länder geben tendenziell ungefähr gleichviel an Steuergeldern aus, und der größere Teil
aller im öffentlichen Dienst Beschäftigten sind Landesbedienstete. Schon fachlich muß das Gewicht der Länder bedeutsam sein,
und dem paßt sich denn auch die
Gliederung der Interessenvertretungen an. Auf Bundesebene steht
im Vordergrund der Versuch, auf
die Gesetzgebung Einfluß zu nehmen. Bei der Interessenvertretung
gegenüber Ländern geht es vorrangig um die Umsetzung solcher
Gesetze und Verordnungen im Verwaltungsvollzug. Beispiel hierfür ist
neben der Bildungspolitik auch der
neue Bereich der Umweltpolitik.
Noch in den siebziger Jahren
war es üblich, daß Behörden und
Interessenvertretungen auf Landesebene auf zweifache Weise
miteinander verschränkt waren:
einmal durch personelle Vertretungen von Verbandsfunktionären in
den Landtagsfraktionen und daneben durch fortwährende Kontakte
zwischen Landesbehörden und Interessengruppen. Die personelle
Verflechtung ist nach unseren
Beobachtungen insbesondere aber nicht nur - auf Landesebene
geringer geworden. Hier haben die
Berufspolitiker über den gewachsenen Einfluß der Kreisebene in
der innerparteilichen Willensbildung Verbandsvertreter verdrängt,
wenngleich sie sich dann als Mandatsträger bei der Ausübung ihres
Amtes wieder an Interessen verbände wenden.
Selbstverständlich wird Einfluß
nicht nur über Verbände ausgeübt,
sondern auch durch Spitzenmanager unmittelbar. Einfluß direkt als
Einzelpersonen und über Verbände ist allerdings in der Praxis kaum
auseinanderzuhalten, weil auf der
Führungsebene großer Unternehmen die Vorstandsmitglieder auch
zugleich Verbandsämter innehaben. Wir hatten in unserer eigenen
Erhebung im Jahre 1995 die Manager von Großunternehmen nach
regelmäßigen Kontakten außerhalb ihrer eigenen Betriebe befragt. Hiernach bestätigte sich unser Eindruck, daß Länder und
Bund nebeneinander entscheidende Bühnen für die Wahrnehmung
von Interessen sind. Das erweist
sich auch als richtig, wenn wir Ergebnisse einer Auszählung berücksichtigen, welche Akteure nun
ihrerseits Einflußnahme auf Spitzenmanager versucht hatten. Dabei
gibt es einen leichten Vorrang der
Einflußnahme auf Bundesebene vor
derjenigen auf Landesebene.
Kontaktpartner der Lobbyisten
Nach den Ergebnissen unserer
eigenen Erhebung bei Spitzenmanagern berichteten 46% von dem
Versuch einer direkten Einflußnahme auf sie durch einen der Ministerpräsidenten der Länder. Von
35% wurde für solche Versuche
147
ZEITGESPRACH
Bundeskanzler. Kohl selbst, genannt. Das dürfte inzwischen in
den USA nicht anders sein, auch
wenn dies der Darstellung des
Lobbyismus in der Literatur nicht
entspricht.
Nach der bereits erwähnten Habilitationsschrift von Martin Sebaldt waren die wichtigsten Kontaktpartner der Lobbyisten in dieser Reihenfolge:
D Interessengruppen mit gleichen
oder ähnlichen Interessen;
D Bundesministerien;
D Medien;
D Bundestagsausschüsse;
D wissenschaftliche Institutionen;
D Landesministerien;
D Bundestagsfraktionen der Opposition;
D Bundestagsfraktionen der Regierungskoalition.
Der Lobbyist wird also in einem
Personen- und Institutionenkranz,
in dem die Regierung, die Presse,
andere Lobbyisten und die Parlamentarier eine Rolle spielen, tätig.
Politische Parteizentralen sind
als Partner für Interessenvertreter
deutlich nachrangig, weil sie durchweg mit laufenden Gesetzgebungsverfahren weniger befaßt
sind als mit längerfristigen Themen. Zudem sind im Nebeneinander von Partei und Fraktion inzwischen die Fraktionen eindeutig
wichtiger.
Im Lobbyalltag muß die Einflußnahme beim frühen Nachdenken
der Beteiligten - Mandatsträger,
hohe Beamte, andere Interessenvertreter - über einen Regelungsbedarf erfolgen. Nach amerikanischen Untersuchungen ist hier die
Reputation eines Interessen Vertreters als sachlich, kompetent und
einigermaßen objektiv für seinen
Erfolg von entscheidender Bedeutung. Das spiegelt sich auch in den
Angaben der befragten deutschen
Interessen Vertreter über Verhal148
tensregeln wider. Hiernach sind
die wichtigsten Eigenschaften des
Lobbyisten seine Ausstrahlung
von Kompetenz und Seriosität sowie sein Ruf, Diskretion und Fairneß zu wahren. Eine solche Art von
Beziehung kann nur über eine längere Zeit aufgebaut werden. und
erfordert auch Kontakte jenseits
der Zeitpunkte, in denen ein Thema tagesaktuell wird. Sebaldt zitiert den Funktionär eines großen
Handwerkerverbandes anonym:
„Ich meine: Das Wichtigste ist, daß
man mit glaubwürdigen Argumenten hantiert und nicht immer in den
Vordergrund rückt: 'Wir haben also
so und soviel Stimmen im Rücken
und wenn Du nicht unseren
Argumenten folgst, dann wird's Dir
ganz schlimm ergehen'...".
Eigene Vorleistungen bei Ministerialbeamten und Mandatsträgern haben für erfolgreiche Lobbyisten eine große Bedeutung.
Das Drohen mit Wählern ist von
Einfluß eigentlich nur auf die Spitzenvertreter einer Partei - Kanzler
oder Oppositionsführer -, die ihr
Schicksal mit dem Abschneiden
der Parteien verbinden müssen;
Beamten kann man mit der Mobilisierung der Straße kaum drohen.
Vorrangig ist beim Lobbyismus
in Deutschland die Einflußnahme
auf die Willensbildung im Frühstadium des Prozesses. Hat die Willensbildung in den Behörden und
den parlamentarischen Gremien
das Stadium eines Beschlußentwurfes oder der Formulierung einer Richtlinie bzw. einer Beschlußvorlage für den Bundestag erreicht, dann sind Einflußnahmen
wenig aussichtsreich. In einem politischen System wie dem deutschen sind für eine Vorlage so viele Verhandlungen zwischen verschiedenen Partnern und Kompromisse nötig gewesen, daß gegen
das Aufschnüren eines einmal zusammengefügten „Pakets" größte
Widerstände üblich sind. Deswegen setzt- erfolgreiche Lobby-Tätigkeit einen hohen Informationsstand voraus und dieser wiederum
die Anwesenheit am Regierungssitz.
Kontrolle der Lobbyisten
In Amerika wurde ein Mechanismus zur Kontrolle des Einflusses
von Lobbytätigkeit entwickelt. Lobbyisten dürfen ihre Tätigkeit, in
Verwaltung und Politik Verbündete
für ihre Ansichten zu gewinnen oder
sie zumindest zu beeinflussen, nur
dann ausüben, wenn sie als Lobbyisten in einem öffentlichen Register verzeichnet sind. Abgeordnete müssen ihrerseits eidesstattlich am Ende einer Wahlperiode
anführen, mit welchen Lobbyisten
sie über welche Inhalte Kontakt
hatten.
In der Bundesrepublik wurde
am 21.9.1972 eine abgeschwächte Kopie dieses Kontrollmechanismus durch den Bundestag beschlossen: Um in die „öffentliche
Liste über die Registrierung von
Verbänden und deren Vertreter"
aufgenommen zu werden, müssen
Verbandsvertreter u.a. die Funktionsträger, den Interessenbereich,
Art und Anzahl der angeschlossenen Organisationen und Sitz des
Büros angeben. Mit der Registrierung wird Lobbying in der Bundesrepublik etwas transparenter. 1996
waren in dieser Liste 1614 Personen und Organisationen verzeichnet. Im Gegensatz zu den USA besteht aber keine Berichtspflicht
über Lobby-Aktivitäten, weder für
die Lobbyisten selbst noch für
Mandatsträger und erst recht nicht
für Entscheidungsträger in den Ministerien.
Mißtrauen ist gegenüber Art und
Umfang der Lobbytätigkeiten angebracht, und eine wesentlich größere Transparenz, als heute gegeben, ist ebenfalls dringlich. Als Fälle problematischer Lobbytätigkeit
werden u.a. genannt die ZigaretWIRTSCHAFTSDIENST 2000/III
ZEITGESPRACH
tenlobby, die wirksame Informationen über die Schädlichkeit von Zigaretten sehr verzögert haben soll;
oder die Autolobby mit ihrem erfolgreichen Kampf gegen Geschwindigkeitsbegrenzungen; oder der
Kampf des Bundesverbandes der
deutschen Brot- und Backwarenindustrie gegen die Aufhebung des
Nachtbackverbotes. Lobbyarbeit
betreiben aber auch Ministerien
wie das Umweltministerium, wenn
es mit der Dramatisierung eines
Problems zugleich die eigene Bedeutung erhöht. Und selbstverständlich dient Lobbying auch
guten Zwecken. Hier wird als Fall
eine neue Antriebstechnik für Loko-
motiven genannt, welche der ABBKonzern entwickelt hatte. Obgleich
die neue Technik von Fachleuten
bevorzugt wurde, sperrte sich die
Bundesbahn. Durch Lobbytätigkeit und Pressearbeit und nicht
durch Fachargumente wurde die
Bundesbahnspitze umgestimmt.
Die wirksamste Form der Einflußnahme auf die politischen Instanzen und die Ministerialbürokratie ist heute das Einbringen von
Sachverstand und daraus folgend
der Aufbau eines Kapitals an Vertrauen. Bei dem Differenzierungsgrad einer Gesellschaft wie der
deutschen muß sehr oft der Kennt-
nisstand selbst auf der Ebene eines Fachreferats, erst recht bei
den Mitgliedern eines sachlich zuständigen Parlamentsausschusses, unzureichend bleiben. Bereits
in der sehr viel älteren Studie „The
Washington Lobbyist" wurde dieser Schwerpunkt in der Wirkung
von Verbänden in einem hoch differenzierten Sozialsystem ausgemacht.
Unter dem Verdacht, eigene Interessen zu wichtig zu nehmen, bis
hin zur maßstabslosen Förderung
einer „idee fixe" steht in einem pluralistischen System allerdings jeder maßgebliche Akteur.
Siegfried F. Franke
Politik und Wirtschaft: Eine notwendige,
aber reformbedürftige Verbindung
jie jüngste Spendenaffäre der
'CDU und die Flugaffäre der
SPD in Nordrhein-Westfalen haben
die latent stets vorhandenen Fragen nach dem politischen Einfluß
der Verbände oder einzelner großer Unternehmen virulent werden
lassen. In der derzeitigen hektischen Atmosphäre mischen sich
naive Vorstellungen von einer
»keimfreien« Politik, die unbeleckt
von Interessen gestaltet wird, mit
pharisäerhaften Moraiansprüchen
und dem bösen Verdacht der
Käuflichkeit der Politik.
Bei allem Verständnis für den
Wunsch nach Sachaufklärung und
klaren Verhältnissen gilt es indes1
Statt vieler Anmerkungen sei auf zwei Publikationen des Verfassers (mit umfangreichen
Literaturangaben) hingewiesen. Differenzierungen, die hier aus Umfangsgründen nicht
näher ausgeführt werden können, sind dort
erläutert: Siegfried F. F r a n k e : Sind die
Volksparteien am Ende? Zur Kritik an den
Volksparteien: Bestandsaufnahme und Ausblick, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 44. Jg.,
1999, S. 9 ff.; d e r s . : (Irrationale Politik?
2., Überarb, und erw. Aufl., Marburg 2000.
WIRTSCHAFTSDIENST 2000/NI
sen, die Einsicht zu stärken, daß
Politikgestaltung ohne den ständigen Kontakt mit den organisierten
Gruppen der Gesellschaft - dazu
zählen insbesondere die Wirtschaftsverbände - nicht denkbar
ist. Hochindustrialisierte, arbeitsteilige und pluralistisch strukturierte Gesellschaften, die sich zudem
immer stärker im internationalen
Feld behaupten müssen, haben eine Fülle von kaum überschaubaren und zudem stetig wachsenden
Aufgaben zu bewältigen, die ein im
Sinne von Fritz W. Scharpf und
Niklas Luhmann außerordentlich
ausdifferenziertes System auf politisch-administrativer Ebene erfordern1.
Politik als offenes System
Das politisch-administrative System ist ein offenes System, das
laufend Kontakt mit seinem Umfeld pflegt. Nur so kann es unter
wechselnden Bedingungen seinen
Bestand sichern. Das Motiv der
Existenzsicherung ist zugleich für
die einzelnen Subsysteme - vor allem für die Regierung - von zentraler Bedeutung. Folglich sind Regierung, Parteien, Parlament, Bundesrat und Ministerialbürokratie
über zahlreiche „Schnittstellen"
mit den gesellschaftlichen Interessengruppen verknüpft.
Bereits die Regierung reagiert
mit ihrer Einteilung (Kabinett, Kanzler, Minister, Staatssekretäre; Referatszuschnitte) in unterschiedlicher
Weise auf die mannigfach an sie
herangetragenen Forderungen. Sie
stützt sich staatssoziologisch gesehen auf die Mehrheit der sie
im Parlament tragenden Partei(en)
und auf die Ministerialbürokratie.
Dabei kann die Regierung die
Staatsangelegenheiten nicht selbst
steuern. Sie muß vielmehr versuchen, von den beteiligten Akteuren
in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
und der eigenen Administration jene Informationen zu erhalten, die
sie für eine zielführende Politik und
damit für ihr eigenes „Überleben"
149
ZEITGESPRACH
braucht, um auf dieser Basis das
Verhalten eben dieser Akteure zu
beeinflussen. Als Informationslieferanten kommen vor allem das
Parteiensystem, die Ministerialbürokratie und die Verbände in Betracht.
Das bipolare
Mehrparteiensystem
Das deutsche Parteiensystem ist
durch das Zusammenspiel zweier
großer Volksparteien und einer begrenzten Zahl kleinerer Parteien
gekennzeichnet. Die zentralen politischen Ausrichtungen von CDU/
CSU und SPD haben historischweltanschaulich bedingte Gründe. Zum einen sind sie auf den als
Folge der Industrialisierung aufgebrochenen Großkonflikt zwischen
Arbeit und Kapital zurückzuführen.
Zum anderen spielte die Zeit des
Nationalsozialismus, aber auch die
rüde Art und Weise, in der mit liberalen, konservativen und christlich
ausgerichteten Parteien bereits im
vorigen Jahrhundert umgegangen
wurde, eine wichtige Rolle. Diese
Erfahrungen führten zur interkonfessionellen Ausrichtung in der
CDU/CSU.
Mittlerweile haben sich die großen Parteien jedoch zu Volksparteien gewandelt, d.h., sie sprechen
möglichst viele Schichten des Volkes an, um ihre Politik im kritischen Dialog mit den betreffenden
Gruppenrepräsentanten zu gestalten, ohne dabei ihre Wurzeln und
Grundsätze zu verleugnen. Das
bedeutet nichts anderes, als daß
sie ihre vormals deutlich „links"
oder deutlich „rechts" zu verortenden Positionen so erweitert und
teilweise verschoben haben, daß
sie auch breitere Wählerschichten
in der Mitte erreichen können.
Dieser Ansatz bescherte den
beiden Volksparteien zusammen
regelmäßig überdurchschnittlich
hohe Stimmenanteile. Den Wäh-
150
lern ist nämlich im Laufe der ökonomischen Entwicklung bewußt
geworden, daß es im Konflikt zwischen Arbeit und Kapital nicht um
den Vorrang für die eine oder andere Seite geht, sondern um einen
schonenden Ausgleich, der letztlich für alle Gruppen von Vorteil ist.
Von den Parteien wird also - bei
Wahrung ihrer Identität - ein solcher Ausgleich erwartet.
Das Streben der beiden großen
Parteien zur stark besetzten Mitte
bewirkt, daß Randgruppen und
weniger stimmenträchtige Interessen keine hinreichende Berücksichtigung finden. Zum Teil können
die Parteien schon aus personellen Gründen nicht mit allen Interessen gleichermaßen im Dialog
bleiben. Auch gibt es in der Mitte
zahlreiche Wähler, die wegen der
bereichweise großen Deckungsgleichheit der Wahlaussagen der
großen Parteien unsicher sind,
welche der beiden denn die wirklich besseren Alternativen zu bieten hat. Schließlich ist nicht zu verhehlen, daß die großen Parteien
eine aus ihrer Größe resultierende
Unbeweglichkeit aufweisen, die es
ihnen immer wieder schwer macht,
rechtzeitig und nachdrücklich auf
sich ändernde Umstände zu reagieren.
Die vernachlässigten Interessen
sind häufig langfristig orientierte
Belange, die sich nicht - wie etwa
die des Umweltschutzes - in ein
einfaches „Rechts-Links-Schema"
einordnen lassen. Weil die Integrationsfähigkeit der großen Volksparteien mit der Berücksichtigung
aller Interessen überfordert wäre,
kommt den kleineren Parteien die
wesentliche Funktion zu, unbeachtete oder im Kampf der Großen gar
zerriebene Interessen aufzugreifen, zu artikulieren und in die Politik einzubringen. Auf diese Weise
halten sie nicht nur das Parteiensystem, sondern zugleich das po-
litische System insgesamt funktionsfähig.
Ebenso wichtig ist, daß jede der
beiden Volksparteien einen ebenbürtigen Partner hat. Die Sorge der
SPD, daß die CDU auseinanderbrechen oder zu einer unwesentlichen Schrumpfpartei degenerieren könnte, ist kein reines Lippenbekenntnis; weiß die SPD doch,
daß sie wegen der Gefahr von Flügelkämpfen das dadurch frei gewordene Spektrum selbst nicht
abdecken könnte. Sich dort etablierende Splitterparteien würden
jedoch die politische Stabilität erheblich gefährden.
Die Ministerialbürokratie
Regierung, Parlament und Parteien bedienen sich des Sachverstands der Bürokratie, weil sie nur
mit deren Hilfe ihre Grundsatzentscheidungen in konkrete Regelungen umgießen, mögliche Auswirkungen abschätzen und negative
Folgen minimieren können. Dabei
geht nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Bedeutung der Verwaltung über die
einer rein ausführenden Gewalt
hinaus; sie soll vielmehr einen bewußt ausgleichenden Faktor gegenüber den das Staatsleben gestaltenden politischen Kräften darstellen.
Wenn auch die Verwaltung direkt keine politischen Ziele festlegt, so ist damit nicht gesagt, daß
sie weder Einfluß auf die Ziele
nimmt noch selbst Ziele hat. Zielvorgaben und mögliche Lösungswege sind immer interpretationsbedürftig, woraus sich Spielräume
für die Verwaltung ergeben. Ihre eigenen Ziele vermag sie in der Regel hinter ihrer dienenden Funktion
zu verbergen, gleichwohl ist klar,
daß die Ministerialbeamten einen
wesentlichen Beitrag zur Präzisierung und Umsetzung der politischen Ziele nur insoweit leisten,
WIRTSCHAFTSDIENST 2000/IN
ZEITGESPRACH
als sich dies mit ihren individuellen
Interessen.deckt. Hier liegt das Einfallstor für die weit geübte Praxis
der Ämterpatronage. Die Durchsetzung der Bürokratie mit „eigenen Leuten" hilft zugleich, die Kontinuität einer einmal eingeschlagenen politischen Richtung zu wahren, selbst wenn die Regierungsgewalt verlorengeht.
Weil das eigene berufliche Fortkommen wesentlich von einer
möglichst konfliktfreien und Nachteile vermeidenden Umsetzung
der Gesetze abhängt, ist die Ministerialbürokratie selbst an engen
Kontakten zu den Repräsentanten
relevanter Gruppen der Gesellschaft interessiert, denn sie erlangt
so aus erster Hand Informationen
über die externe Akzeptanz geplanter Maßnahmen und deren
möglicher Auswirkungen.
Die „Schnittstellen"
Regierung und Bürokratie wollen in erster Linie Unsicherheiten
vermeiden oder wenigstens begrenzen. Organisationssoziologisch
entspricht dem der Versuch, durch
permanente Kontaktpflege und
Kooperation mit anderen externen
Entscheidungsträgern ein Umfeld
zu schaffen, das als „negotiated
environment" zu bezeichnen ist.
So ist es erstens üblich, Repräsentanten wichtiger gesellschaftlicher
Gruppen, z.B. der Gewerkschaften
oder starker regionaler Parteigliederungen, ins Kabinett oder in Spitzenpositionen der Ministerialbürokratie zu berufen. Zweitens ist eine
große Verzahnung zwischen gegenwärtig oder ehemaligen hauptberuflich tätigen Verbandsfunktionären und Bundestagsabgeordneten
zu verzeichnen. Drittens ist den
Verbänden ein Dauerpetitionsrecht
garantiert, das ihnen den permanenten Zugang zu den Ministerien
erlaubt. Darüber hinaus ist es erklärter Zweck zahlreicher parteiinWIRTSCHAFTSDIENST 2000/111
terner Arbeitskreise, Kontakte zu
den Verbänden zu pflegen. Wichtig
ist schließlich der direkte Zugang
zu den Spitzenpolitikern, z.B. durch
die Teilnahme an „Bündnissen",
„Runden Tischen" o.a. Im übrigen
vermag die Möglichkeit, den Bundeskanzler als Verbandsvertreter
oder Journalist bei wichtigen Auslandsreisen begleiten zu dürfen, sicher auch Bindungswirkungen zu
entfalten.
Daß die Verbände ihrerseits auch
mit Spenden ein „negotiated environment" fördern, dürfte seit dem
berühmten Wort von der „Pflege
der politischen Landschaft" (Eberhard von Brauchitsch) unbestritten
sein. Natürlich dienen Zuwendungen, neben dem Bekenntnis zum
Allgemeinwohl und jenseits konkreter Absichten im Einzelfall, sicher zugleich dem Ziel, ein bestimmtes „Klima" herzustellen oder
aufrechtzuerhalten.
Nachteile des
Verbandseinflusses
Der Einfluß der Verbände geht
über die Vorstellung simpler „pressure groups" hinaus. Sie werden
als Informationslieferanten, Mittler
und Adressaten direkt in den Prozeß der politischen Willens- und
Entscheidungsbildung eingebunden. Dagegen ist grundsätzlich
nichts einzuwenden, weil Unsicherheiten abgebaut und Informationen über Sachzusammenhänge
und Wählereinstellungen erlangt
werden, die sonst kaum beschaffbar wären.
Nachteilig ist, daß wegen der
begrenzten zeitlichen und geistigen Problemverarbeitungskapazität der Politiker und Bürokraten
nur jene Interessen Berücksichtigung finden, die durchsetzungsfähig sind. Um mit den verschiedenen Ebenen des politisch-administrativen Systems gleichzeitig in
Kontakt bleiben zu können, ist ein
beträchtlicher Aufwand nötig: Weil
Regierungswechsel möglich sind,
weil der Bundesrat in vielen Fällen
ein entscheidendes Wort mitredet
und weil die Ausführung der
meisten Gesetze Ländersache ist,
muß eine wirksame Interessenvertretung nicht nur die Regierungspartei und die Ministerialbürokratie
ansprechen, sondern zugleich die
Pflege der Oppositionsparteien auf
Bundesebene und die Beziehungen zu den Ländern im Auge behalten. Es liegt auf der Hand, daß
das mit nur einem Repräsentanten
in Berlin nicht zu bewältigen ist.
Hinzu kommt, daß vom politisch-administrativen System im
allgemeinen nur solche Interessen wahrgenommen werden, die
mit relevanten Informationen verknüpft sind und die homogen organisiert sind, so daß ein mehr
oder weniger dezenter Wink mit einem etwaigen Stimmenentzug
glaubwürdig ist. Mandatsträger
und Ministerialbürokraten wenden
folgerichtig ein überdurchschnittlich hohes Maß an Zeit für die Kontaktpflege und Konsensbeschaffung im Sinne der hier beschriebenen Interessen auf.
Interessen, die dem beschriebenen Raster nicht entsprechen, werden vernachlässigt, selbst wenn
sie langfristig gesehen außerordentlich wichtig sind. Sie sind
nämlich oft nicht organisationsfähig, weil sie die Bürger nicht zentral ansprechen, sondern nur einen
Aspekt unter vielen berühren, oder
weil ihre Träger noch gar nicht geboren sind. Daher wird verständlich, daß der Höhe und Sicherheit
der Bezüge von jetzt lebenden
Rentnern oder bald in den Ruhestand tretenden Bürgern mehr
Aufmerksamkeit geschenkt wird
als der Frage, welche Folge dies
für die jetzt 30jährigen oder für. die
noch gar nicht Geborenen hat.
151
ZEITGESPRÄCH
Ähnliches gilt für die Bildungspolitik, den Umweltschutz und die
überbordende Staatsverschuldung.
Wie erwähnt bietet es sich insbesondere für die kleineren Parteien
an, als Fürsprecher solcher vernachlässigter Interessen zu fungieren.
Systemverbessernde
Vorschläge
Das politisch-administrative System kann mit seinen Subsystemen eine Unmenge von zum Teil
gegensätzlichen Interessen aufnehmen und verarbeiten. Allerdings dient ein beträchtlicher Teil
der Systemkapazität dazu, sich im
Falle von Fehlleistungen zu exkulpieren. Weil zudem überhaupt nur
bestimmte Interessen aufgegriffen
und in den Problemlösungsweg
des Systems gelangen, sind massive Fehlsteuerungen zu beklagen.
Bereits seit langem liegen Vorschläge vor, mit denen diese Nachteile vermieden werden können.
Sie sind abschließend zu skizzieren.
Das Plenum des Bundestages
sollte bereits in der Ersten Lesung
stärker in die Beratung der Gesetzesvorlagen eingebunden werden.
Darüber hinaus ist die Parlamentsarbeit und hier insbesondere die
Arbeit der Opposition, die sich im
Gegensatz zur Regierung nur begrenzt der Hilfe des Ministerialapparats bedienen kann, durch eine
Verstärkung des parlamentarischen Hilfsdienstes effektiver zu
gestalten. Um die Entscheidungsabläufe zwischen Regierung, Ministerialbürokratie und Verbänden
transparenter und kontrollierbarer
zu machen, wären die - leider in
der Versenkung verschwundenen
- Überlegungen zu einem Verbändegesetz wieder aufzugreifen. Dadurch könnten die gesellschaftlichen Kräfte aus dem Dilemma
befreit werden, das sie oft genug
152
nur zu kräfteverschleißenden NullSummen-Spielen führt.
Die konstitutionelle Ergänzung
dieser Vorschläge setzt an der Berücksichtigung der systematisch
vernachlässigten Interessen an,
und zwar durch eine plebiszitäre
Ergänzung des repräsentativen
Systems. Auch könnte ihre vikarische Wahrnehmung in Anlehnung
an die bereits eingeführten Institutionen des „Wehrbeauftragten"
und des „Datenschutzbeauftragten" einem „Steuerbeauftragten",
einem „Umweltbeauftragten" sowie einem „Generationenbeauftragten" anvertraut werden.
Die Sensibilität der Parteien hinsichtlich der sinkenden Wahlbeteiligung würde erhöht, indem die
Zahl der Mandate an die Höhe der
Wahlbeteiligung geknüpft wird.
Auch dürften die wegen der 5%Klausel wegfallenden Mandate
nicht mehr den Parteien zugute
kommen, die diese Grenze überschritten haben. Auf diese Weise
könnte nach wie vor der Zersplitterung des Parteiensystems begegnet werden, ohne Parteien mit
Sitzen zu belohnen, denen eigentlich keine Wählerstimmen zugrunde liegen.
Der kaum zitierte Art. 137 Abs. 1
GG bietet die Möglichkeit, die Ämterpatronage zu begrenzen. Die
quotenmäßige Beschränkung des
Anteils von Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes
im Parlament würde nicht nur die
„Selbstbedienung" eindämmen,
sondern zugleich der Gefahr begegnen, daß von der Sozialstruktur des Parlaments einseitige und
zu enge Entwicklungstendenzen
der Politik ausgehen.
Nicht zuletzt ist an eine institutionelle Trennung des bisher für
konstitutionelle und einfach-gesetzliche Regeln zuständigen Parlaments zu denken. Dieser auf
Friedrich A. v. Hayek zurückgehen-
de Vorschlag eines „Zwei-Kammer-Systems" würde weite Teile
des öffentlichen Rechts, darunter
das Parteien- und Spendenrecht
sowie das Steuer- und Abgabenrecht der rechtsetzenden Kammer
zuordnen, die für einen erheblich
längeren Zeitraum gewählt ist als
die Kammer, die im wesentlichen
dem bisherigen Parlament entspräche. Nur so können sich die
regierenden Politiker gegen ein
Übermaß an Sonderinteressen
wehren, weil sie nicht mehr über
die Mittel verfügten, ihnen durch
entsprechende Gesetzesgestaltungen zu entsprechen. Die von
James M. Buchanan und seinen
Schülern immer wieder vorgebrachte Idee einer konstitutionellen Beschränkung von Ausgaben
und Einnahmen würde auf diese
Weise überhaupt erst möglich.
Die genannten Reformen würden das politisch-administrative
System funktionsfähiger machen,
indem sie bisherige Mängel und
Fehlsteuerungen vermeiden helfen. Problematisch daran ist, daß
diese Reformen ihre Wirksamkeit
erst in langfristiger Sicht entfalten.
Kurzfristig aber bringen sie die bestehenden Parteien in Hahdlungsund Begründungszwänge, weil sie
ihnen Privilegien nehmen und eine
erhöhte Aufnahmebereitschaft für
die Interessen der Bürger abverlangen, ohne garantieren zu können, daß sie keine Mandatseinbußen erleiden werden. Ohne ihre
Einsicht und Mitwirkung ist allerdings keiner der Reformvorschläge zu verwirklichen. Bislang
ist auch noch niemandem eingefallen, auf welche Weise die Parteien für die Reformen gewonnen
werden könnten. Das politisch-administrative System wird also nach
wie vor halbwegs befriedigend arbeiten, aber seine volle Effizienz
nicht erreichen, und - der nächste
Skandal kommt gewiß.
WIRTSCHAFTSDIENST 2000/IN
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