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Zum Programm
Seit vielen Jahren beschäftigen Eva Nievergelt und Tomas Bächli sich mit dem Werk von
Erich Itor Kahn. Tomas Bächli wurde durch Juan Allende-Blin auf Kahns Klaviermusik
aufmerksam gemacht. Als er von 1996 bis 1998 in New York lebte, lernte er dessen Witwe
Frida Kahn kennen, die sich unermüdlich für das Werk ihres Mannes einsetzte. Frida Kahn
sagte, viele Kompositionen habe ihr Mann nur im Kopf gehört. Nach Aufführungen in Berlin,
Frankfurt am Main und Essen, werden diese Werke nun mit den Konzerten Zürich erstmals in
der Schweiz vorgestellt.
Warum blieb Erich Itor Kahns Werk so lange unbekannt? Die Repression der Nazis ist nur ein
Teil der Antwort. Auch nach 1945 fiel Kahns Musik zwischen alle Stühle. Zur Ignoranz des
damaligen Konzertbetriebs kam die verzerrte Wahrnehmung der Nachkriegsavantgarde, die
damals jegliches Espressivo in der Musik als altmodisch ablehnte.
Vielleicht ist ein zeitlicher Abstand nötig, um die Originalität von Kahns Musik zu erkennen. Sie
verbindet hohes kompositorisches Können mit einem ungewöhnlichen Drive. Diese Musik ist
äusserst gedrängt; die Erfindungskraft des Komponisten lässt in keinem Moment nach. Alle
Parameter – und auch die Beziehungen zwischen den Parametern – werden in ständiger
Bewegung gehalten. Für Interpreten und Hörer stellt diese Musik hohe Ansprüche. Und doch
überzeugt sie auch beim ersten Hören auf der unmittelbaren Ebene des Klangs.
Erich Itor Kahn (1905-1956)
Erich Itor Kahn wurde 1905 in Rimbach, Deutschland geboren. Er verbrachte seine Kindheit in
Königstein in einer aufgeschlossenen und künstlerisch wachen Atmosphäre. Sein Vater war
Lehrer und Kantor, seine Mutter eine begabte Amateur-Sängerin. Mit etwa dreizehn Jahren
entdeckte er Arnold Schönberg, dessen Ästhetik in seinem eigenen Werk eine Schlüsselrolle
spielen sollte. Mit sechzehn Jahren trat er, gegen den Widerstand seiner Eltern, in das
Musikkonservatorium in Frankfurt ein. Als er 1928 seine Ausbildung am Konservatorium
abschloss, fand er als Musikdirektor eine Stelle am Radio Frankfurt, wo er mit Künstlern wie H.
Rosbaud, Schönberg, Strawinsky, Webern, Bartók, Berg, Horowitz in Kontakt kam.
Mit der Machtübernahme der Nazis verlor Erich Itor Kahn 1933 seine Stelle und emigrierte mit
seiner Frau, der Pianistin Frida Kahn, nach Paris, wo er sich als Interpret und Lehrer erneut zu
etablieren vermochte. Wieder ereilte ihn die Katastrophe, dieses Mal durch die Invasion der
Nazis in Frankreich. Nach verschiedenen Internierungen in französischen Lagern gelang dem
Ehepaar Kahn schliesslich mit knapper Not die Flucht nach New York. Hier mussten sie 1941
wieder ein neues Leben anfangen. Als Kahn 1956 in New York starb, war er in der
Öffentlichkeit vor allem als Kammermusiker von überragender Gestaltungskraft und Sensibilität
bekannt. Sein zentrales Anliegen war aber das Komponieren.
Erich Itor Kahn hinterliess ein schmales, hochkonzentriertes Oeuvre: Klavierwerke, Lieder und
Kammermusik in wechselnden Besetzungen. Obwohl die Methode der Komposition mit
zwölf aufeinander bezogenen Tönen in Kahns musikalischem Denken eine zentrale Rolle
spielte, war seine Anwendung von Schönbergs Prinzip ausserordentlich frei.
Während seiner Jahre in Frankreich begann Kahn mit Elementen der traditionellen jüdischen
Musik zu arbeiten (etwa in Les Symphonies bretonnes, Petite Suite bretonne, Trois
Chansons populaires sowie Drei Madrigale und Chassidische Rhapsodie). Auf die
Katastrophe des Nationalsozialismus reagierte Kahn mit Werken wie Ciaccona dei tempi di
guerra (für Klavier) oder Nenia Judaeis qui hac aetate perierunt (für Cello und Klavier).
Zeitlebens korrespondierte Kahn mit Freunden wie Erich Schmid in Zürich oder René
Leibowitz in Paris – dieses Netz war für alle Beteiligten überlebenswichtig, sowohl in
künstlerischer als auch in persönlicher Hinsicht.
29. Januar 2008
Zu den einzelnen Kompositionen
Erich Itor Kahn: Schlaflied, Four Nocturnes
Die Nocturnes sind ausgedehnte Lieder: „Les Djinnes“ beispielsweise (nach einem Text von
Victor Hugo) ist eine riesenhafte Passacaglia. Der symmetrische Textaufbau wird einerseits in
der Musik nachvollzogen, andererseits durch eine Fülle von wuchernden Einfällen überlagert.
Die Texte der vier Lieder stammen aus drei verschiedenen Sprachräumen: deutsch,
französisch, englisch. Diese Sprachenvielfalt spiegelt Kahns eigenen Lebensweg von
Frankfurt nach Paris und schliesslich nach New York. Das zweite Lied mit dem Titel „Schlaflied“
(nach einem Text von Kahn selbst) existiert auch in einer früheren Fassung, dort nach einem
Text von Hans Sahl, einer exakten, knappen Schilderung des Exils. Wir führen beide
Fassungen dieses Liedes auf.
Erich Itor Kahn: Drei Bagatellen, op. 5b
Der Titel dieser Klavierstücke ist eigentlich irreführend, handelt es sich bei diesen Bagatellen
doch um zeitlich ausgedehnte Kompositionen. Wahrscheinlich wollte Kahn an den
experimentellen Gestus von Beethovens Bagatellen anknüpfen.
Robert Schumann: Dicherliebe, op. 48
Erich Itor Kahns Frau Frida Kahn bemerkte einmal lakonisch: „Erich war ein Romantiker.“ Zu
Schumann hatte Kahn, ein hervorragender Liedbegleiter, zeitlebens eine besondere Affinität.
Erich Schmid: Widmungen, op. 9
Mit dem Schweizer Komponisten Erich Schmid verband Kahn eine lebenslange Freundschaft
und ein Austausch kompositorischer Ideen. Dies bezeugen die gegenseitigen Widmungen in
den Klavierstücken.
5. Februar 2008
Zu den einzelnen Kompositionen
Juan Allende-Blin: Drei Lieder nach Rainer Maria Rilke
Die Rilke-Lieder von Juan Allende-Blin sind etwa zur gleichen Zeit entstanden wie Kahns
Lyrisches Conzert. Damals kannte Juan Allende-Blin Kahns Musik noch nicht. Später wurde er
sein Biograph und unermüdlicher Förderer. Obwohl die beiden Komponisten eine ähnliche
musikalische Haltung haben, resultieren daraus ganz verschiedene Klangbilder.
Arnold Schönberg: Gurre-Lieder, frühe Fassungen
Die frühen Fassungen von Schönbergs Gurreliedern enthalten im wesentlichen den ersten Teil
der späteren Komposition. Schönberg wollte sie für einen Kompositionswettbewerb
einsenden, und hätte er sich nicht zehn Jahre später entschlossen, die Gurrelieder zu
vollenden, wären sie Fragment geblieben, wie Kahns Lyrisches Conzert.
Der Musikwissenschaftler Ulrich Krämer, der die Gurre-Lieder für die SchönbergGesamtausgabe in Berlin betreut, hat diese frühen Fassungen rekonstruiert. Einige Lieder sind
vollständig, andere brechen kurz vor dem Ende ab. Auch wenn Schönberg von Anfang an an
eine Orchesterfassung dachte, haben die vorliegenden Klavierfassungen einen
eigenständigen Tonsatz. Man hat nur selten das Gefühl, einen Klavierauszug zu spielen. In
seiner gut zehn Jahre später fertiggestellten Orchesterfassung hat Schönberg einige Lieder
fundamental verändert. Am meisten vielleicht das erste Tove-Lied: Er hat es nicht nur um eine
kleine Terz nach oben transponiert – er hat der Singstimme und den Begleitakkorden ein
ganzes Geflecht von Gegenstimmen hinzugefügt. Die frühe Fassung ist schlichter, hat aber
durchaus einen eigenen Reiz. Es ist eine direkte Antwort auf das vorangehende Lied
Waldemars.
Erich Itor Kahn: Lyrisches Conzert
In dieser Komposition lässt Kahn die traditionelle Gattung des Klavierlieds hinter sich. Die
Rollen von Solo und Begleitung lassen sich nur selten eindeutig zuweisen, auch was das
Verhältnis von Text und Musik angeht, beschreitet er neue Wege. In Lyrisches Concert
verwendet er nur einzelne Sätze aus Rilkes Duineser Elegien, die jedoch durch die Musik
immer wieder neu ausgeleuchtet werden; dazwischen erklingen ausgedehnte Klavierstücke.
Das Werk ist ein halbstündiges Fragment. Vom zweiten Satz, den Kahn bereits komponiert
hatte, aber noch überarbeiten wollte, fehlt jede Spur. Vom ausgedehnten dritten Satz, der aus
sieben Variationen besteht, fehlt der Schluss.
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