I. Forschungsinteresse Die Durchsetzung der Vorstellung von

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I. Forschungsinteresse
Die Durchsetzung der Vorstellung von sexuellen
Identitäten und der gesellschaftliche Wandel der
Betrachtung von gleichgeschlechtlicher Sexualität
im 20. Jahrhundert in Deutschland
Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, erscheint es in Deutschland und
anderen westlichen Gesellschaften als selbstverständlich, dass es "heterosexuell veranlagte" und "homosexuell veranlagte" Menschen gibt. Dabei
ist die Vorstellung, Menschen nach dem biologischen Geschlecht der von
ihnen begehrten Personen in Heterosexuelle und Homosexuelle bzw.
"Normale" und "Anormale" unterscheiden zu können, ein recht junges
historisches Phänomen: Das Konzept entstand erst in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts in Europa und wurde hier vor rund 100 Jahren einer
breiteren Öffentlichkeit bekannt. Die Entwicklung der Vorstellung von
der pathologischen "homosexuellen Persönlichkeit" war ein wesentlicher
Bestandteil der Konstruktion von Sexualität im Zuge der Konstituierung
der Humanwissenschaften und der Neukonstituierung der bürgerlichen
Geschlechterordnung.
Betrachtet man die inzwischen zahlreichen Veröffentlichungen, die sich
mit der Konstruktion der "homosexuellen Persönlichkeit" im 19. Jahrhundert beschäftigen oder sich auf diese beziehen, gewinnt man zuweilen
den Eindruck, dass es von der Entstehung dieses Konzeptes bis in unsere
Gegenwart keinerlei gesellschaftliche Entwicklungen und keine individuellen und kollektiven Aneignungs- und Abgrenzungsprozesse gegeben
und dass das Konzept keinerlei Veränderungen durchlaufen habe. So hat
sich auch die historische Forschung bisher kaum mit der Frage beschäftigt, von wem, wann, in welcher Form und unter welchen Bedingungen die Vorstellung der "homosexuellen Persönlichkeit" in unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften verbreitet, als gültiges Konzept oder
als gesichertes Wissen akzeptiert und als positive homosexuelle Identität
von gleichgeschlechtlich begehrenden Menschen angenommen wurde.
Heterosexualität und Homosexualität werden in Deutschland heute als
zwei sich (in der Regel) ausschließende sexuelle Orientierungen des Menschen angesehen. Grundlage dieser Vorstellungen ist das Mitte des 20.
Jahrhunderts formulierte sozialpsychologische Konzept der sexuellen
Orientierung, mit dem die Vorstellung einer Dichotomie zwischen dem
"normalen Menschen" und dem devianten "homosexuellen Charakter"
durch ein entpathologisiertes Modell ersetzt wurde. Sexuelle Identitäten
gelten demnach als polar, verfestigt, unveränderbar und in sich kohärent.
Deutlichster Ausdruck dieses Konzeptes ist die Vorstellung eines Coming© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2005
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Stefan Micheler: Selbstbilder und Fremdbilder der "Anderen"
outs, also die Idee, dass die "wirkliche sexuelle Orientierung" eines Menschen schon vor dem Erwachsen-Werden in ihm "geschlummert" habe,
sei sie nun sozialisationsbedingt oder angeboren, und bei "Homosexuellen" nur "herauskommen" müsse, damit sie ein positives Selbstbild aufbauen könnten.
Seit der Konstruktion des "normalen Menschen" und der "homosexuellen Persönlichkeit" in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts haben
sich in Deutschland die Vorstellungen von "Geschlechtscharakteren" und
"Geschlechterrollen", die Sexualmoral, Partnerschaftsmodelle und damit
verbunden auch der Blick auf gleichgeschlechtliche Sexualität stark
gewandelt. In verschiedenen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen hat
sich die heute vorhandene Vielfalt von persönlichen Lebensentwürfen
und Lebensweisen herausgebildet. Emanzipationsbewegungen von Männer begehrenden Männern und Frauen begehrenden Frauen haben zu diesen Entwicklungen beigetragen, sie forciert und von ihnen profitiert.
Die Geschichte gleichgeschlechtlichen Begehrens ist im Deutschland
des 20. Jahrhunderts sowohl durch extreme Gegensätze zwischen Emanzipation und Repression als auch durch die Durchsetzung des Homosexualitäts-Konzeptes sowohl in Bezug auf Männer begehrende Männer
als auch auf Frauen begehrende Frauen und damit auch durch die Durchsetzung der Dichotomie von Heterosexualität und Homosexualität gekennzeichnet: Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Konzept Homosexualität im Deutschen Reich einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde,
definierten sich nur wenige Männer begehrende Männer und nur vereinzelt Frauen begehrende Frauen innerhalb dieses Modells. Bestimmte
einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern
wurden seit 1871 reichsweit strafrechtlich insbesondere mittels des Paragraphen 175 des Strafgesetzbuches (hier: "Unzucht" zwischen Männern)
verfolgt. Aufgrund der gesellschaftlichen Ächtung gleichgeschlechtlicher
Sexualität und "Homosexueller" und wegen der strafrechtlichen Verfolgung mannmännlicher Sexualhandlungen versuchten viele Männer, ihr
gleichgeschlechtliches Begehren zu verbergen, und wurden oft Opfer von
Erpressern. Die "homosexuelle Bewegung" des Kaiserreiches und der
Weimarer Republik scheiterte zwar mit ihrer Forderung nach Abschaffung des § 175, es gelang ihr aber, während der 20er Jahre ein Gruppenbewusstsein unter Männer begehrenden Männern und Frauen begehrenden Frauen zu schaffen sowie im Rahmen allgemeiner gesellschaftlicher
Auseinandersetzungen um persönliche Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte sowie Ehe und Sexualität in Teilen der Bevölkerung um Verständnis für die "Anderen" zu werben und teilweise zumindest eine Toleranz
gegenüber "Homosexuellen" zu erreichen. Die Diskriminierung von Men© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2005
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schen, die Personen des gleichen Geschlechts begehrten, nahm hingegen
während der NS-Zeit drastisch zu. Männer, die mit Männern Sex hatten,
wurden massiv verfolgt, zahlreiche mussten sich einer Kastration unterziehen, Tausende wurden in den Konzentrationslagern ermordet. Der
1935 verschärfte und auf alle mannmännlichen Sexualhandlungen ausgedehnte § 175 war in der BRD bis 1969 gültig, während die DDR zur
Fassung des Kaiserreiches zurückkehrte und einvernehmliche Sexualhandlungen nur selten vor den Gerichten zur Anklage kamen, bis der
§ 175 im Jahr 1968 aus dem Strafgesetzbuch der DDR gestrichen wurde.
In beiden deutschen Staaten wirkte die in der NS-Zeit verstärkt gesellschaftlich verankerte Homophobie jahrzehntelang fort. Erst im Zuge der
sexuellen Liberalisierungen Ende der 60er Jahre sowie durch das Auftreten der FrauenLesbenbewegung und der Schwulenbewegung in der BRD
begannen sich hier Wertvorstellungen wieder grundlegend zu verändern.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts definieren sich in der Bundesrepublik
Deutschland zahlreiche Männer, die Männer begehren, öffentlich als
Schwule und viele Frauen, die Frauen begehren, als Lesben entsprechend
dem Konzept der sexuellen Orientierung. Nachdem 1994 im Zuge der im
Vereinigungsvertrag festgelegten Angleichung der Strafrechte der BRD
und der DDR sexuelle Handlungen zwischen Personen gleichen Geschlechts und Personen unterschiedlicher Geschlechter in ganz Deutschland strafrechtlich gleichgestellt wurden und der Bundestag im Jahr 2000
ein Gesetz über die rechtliche Absicherung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften verabschiedete, das nach Ansicht seiner InitiatorInnen ein
wesentlicher Schritt zur völligen rechtlichen Gleichstellung auf Dauer
angelegter gleichgeschlechtlicher Partnerschaften ist, wird gegenwärtig
die Schaffung eines Gesetzes geplant, das die Diskriminierung aufgrund
der "sexuellen Orientierung" bestrafen bzw. verhindern soll, wie es in
anderen europäischen Ländern bereits Praxis ist.
Obwohl die gesellschaftliche Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Lebensweisen in Deutschland größer geworden ist, bestehen bis
heute stereotype Bilder vom "homosexuellen Mann" oder vom "Schwulen" und von der "homosexuellen Frau" oder von der "Lesbe"/"Lesbierin",
die sich seit ihrem Entstehen im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht grundlegend verändert haben oder gar abgebaut wurden, sondern eher weiterentwickelt und weiterverbreitet werden. Grundlage dieser Stereotype ist
heute – wie zum Zeitpunkt ihrer erstmaligen Konstruktion – eine enge
Verbindung von Sexualität und Geschlecht: Nach wie vor gelten vielen
"homosexuelle Männer" als "verweiblicht" und "homosexuelle Frauen"
als "vermännlicht".
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Stefan Micheler: Selbstbilder und Fremdbilder der "Anderen"
Im Zuge der Emanzipationsbestrebungen der "homosexuellen Bewegung" des Kaiserreiches und der Weimarer Republik, wie sich die Gruppen und Zeitschriften selbst bezeichneten, der "homophilen" Emanzipationsgruppen der 50er und 60er Jahre sowie der Schwulenbewegung und
der FrauenLesbenbewegung seit den 70er Jahren verschob sich die sprachliche Bezeichnung von Persönlichkeitskonzepten auf Grundlage sexuellen
Begehrens von der Dichotomie normal/anormal hin zu der Dichotomie
heterosexuell/homosexuell. Die heute allgemein verbreitete Kenntnis des
Begriffspaares heterosexuell/homosexuell verweist darauf, dass die Vorstellung von "normaler Sexualität" und sexuell "normalen Menschen" zumindest brüchig geworden ist und dass "Heterosexualität" nicht mehr
immer und überall als "normal" gesetzt wird, denn etwas, das "normal"
ist, braucht nicht benannt oder beschrieben zu werden. Insbesondere in
den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat dieser Wandel zaghaft
begonnen. So sah sich die Redaktion des Dudens erst 1973 veranlasst, den
Begriff Heterosexualität in das Wörterverzeichnis aufzunehmen, während
der Begriff Homosexualität bereits seit 1915 aufgeführt wird. Offensichtlich war es erst im Zuge der gesellschaftlichen Debatten um die Entkriminalisierung einvernehmlicher mannmännlicher Sexualität Ende der 60er
Jahre und mit dem sichtbaren Auftreten der Schwulenbewegung erforderlich geworden, in den Medien den bis dato auf Fachdebatten und Publikationen Männer begehrender Männer und Frauen begehrender Frauen beschränkten Begriff in der allgemeinen Medienöffentlichkeit zu verwenden
und der "Normalität" einen Namen zu geben.1
Ob sich aber im Laufe des 20. Jahrhunderts tatsächlich – wie manche
SexualwissenschaftlerInnen oder TheoretikerInnen der Sexualität behaupten – neben den homosexuellen Identitäten auch heterosexuelle Identitäten als bewusste Selbstbeschreibungen herausgebildet haben, erscheint
1
Allerdings scheint auch heute nicht allen in Deutschland lebenden Menschen die Bedeutung des Begriffs "heterosexuell" bekannt zu sein. So zeigten sich bei jüngst durchgeführten (satirischen) Fernsehumfragen verschiedene PassantInnen entsetzt, als der
Fragestellende ihnen berichtete, dass "nun bekannt geworden" sei, dass bestimmte
Prominente "heterosexuell" seien. Noch 1989 gab Baldur Ubbelohde (CDU), zu diesem
Zeitpunkt Bezirksbürgermeister von Berlin-Charlottenburg, eine eidesstattliche Versicherung ab, in der er erklärte, er sei nicht "homosexuell, schwul oder heterosexuell".
Gleichzeitig erwirkte der Familienvater gerichtlich eine Beschlagnahmeverfügung gegen
eine Schwulen- und Lesbenzeitung der Berliner Alternativen Liste, in der er in einer
Satire als "leider heterosexuell" bezeichnet worden war. RiHe: Asexueller Bürgermeister.
Baldur Ubbelohde bekennt per einstweiliger Verfügung. In: die tageszeitung, 24.1.1989.
Zur Begriffsgeschichte in den USA, wo der Begriff "heterosexuell" bis Mitte der 20er
Jahre in Fachdiskursen und Medien im Gegensatz zu Deutschland eine pathologische
Erscheinung beschrieb und sich erst mit dem Kinsey-Report die heute gültige Dichotomie durchsetzte, siehe: Katz 1995. Katz 1998.
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fraglich und kann bestenfalls ab den 90er Jahren eine Gültigkeit besitzen.2
Wahrscheinlicher erscheint, dass sich viele Menschen nach wie vor als
"normal" durch die Abgrenzung von anderen und damit auch durch die
Ausgrenzung anderer definieren.
Die Aktivitäten der Emanzipationsbewegungen von Menschen, die Personen des gleichen Geschlechts begehren, führten somit auch zu einer
Verfestigung der dichotomen Betrachtung von Sexualverhalten und damit
verbunden von sexuellen Identitäten, nicht zuletzt, weil die Bewegungen
positive Selbstbilder gegen die diffamierenden Fremdbilder setzten. Gleichgeschlechtliche Sexualität wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts immer
mehr an sexuelle Identität gebunden. So nahmen auch die Ende der 60er
Jahre durchaus noch unter vielen männlichen Jugendlichen verbreiteten
gleichgeschlechtlichen sexuellen Erfahrungen in den 80er und 90er Jahren
ab, da gleichgeschlechtliche Sexualität offensichtlich grundlegend mit Homosexualität als (abgelehntem) Persönlichkeitsmerkmal verbunden wurde.3
Während das Homosexualitäts-Konzept im deutschen Sprachraum zu
Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt wurde, fand die Implementierung
von sexuellen Identitäten in anderen westlichen Ländern, insbesondere in
romanisch-sprachigen bzw. mehrheitlich katholischen, erst sehr viel später statt, teilweise erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zuge
einer allgemeinen Internationalisierung. Viele Länder in Asien, Afrika und
Südamerika begründen heute ihre strenge Gesetzgebung gegen gleichgeschlechtliche Sexualität und die massive Verfolgung homosexuellen
Verhaltens damit, dass es sich um den dortigen Kulturen fremdes, durch
den Westen importiertes Verhalten handele. Während homosexuelles
Verhalten nicht als kolonialer Kulturimport anzusehen ist, trifft dies aber
durchaus auf die Kategorien homosexuell und heterosexuell zu. Im Zuge
des Kolonialismus sind andere kulturelle Muster von Geschlechtern und
Sexualitäten größtenteils verloren gegangen. Menschen in kolonialisierten
Ländern, die Personen des gleichen Geschlechts begehren, haben begonnen, die westlichen Konzepte für sich als Selbstbeschreibungen zu übernehmen, aber auch die Konzepte ihrer Kulturen wieder zu beleben.4
Heterosexualität wird in westlichen Gesellschaften trotz aller Emanzipationsansätze nach wie vor meistens implizit und seltener explizit als
"normal" konnotiert. Heterosexualität gilt weiterhin als Norm. Andere
Varianten sexuellen Verhaltens, darauf aufbauende Lebensentwürfe und
2
3
4
Siehe etwa: Schmidt 2001. Schmidt lässt m.E. zu sehr außer Acht, dass Heterosexualität
als "das Normale" gilt, das nicht definiert werden muss, nicht aber als gleichgeordnete,
eigenständige Kategorie.
Schmidt 2000, S. 51/52.
Am bekanntesten und intensivsten untersucht sind die Modelle der First Nations in
Nordamerika. Einen ausführlichen Überblick gibt: Tietz 2001.
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Stefan Micheler: Selbstbilder und Fremdbilder der "Anderen"
Partnerschaften, aber auch Personen, die nicht dem herrschenden Bild von
Männlichkeit oder Weiblichkeit entsprechen, werden an dieser Norm gemessen und abgewertet. So werden auch Menschen, die nicht a priori als
geschlechtlich oder sexuell abweichend auffallen oder sich selbst entsprechend einordnen, ganz selbstverständlich als heterosexuell wahrgenommen. Obwohl diese Heteronormativität die Basis für konkrete Vorurteile
und Ausgrenzungspraxen gegenüber anders lebenden Menschen schafft,
wird sie politisch kaum reflektiert, sondern vielmehr auf unterschiedlichen Ebenen bewusst und unbewusst gesellschaftlich vermittelt.5 Heteronormativität ist in verschiedenen Bereichen, von Alltagspraxen über Gesetzestexte bis hin zu Schulbüchern, eine dominante Ideologie. Sie reicht
in Deutschland selbst in Bereiche wie den öffentlichen Wohnungsbau
hinein, der nach wie vor am Modell der Kleinfamilie orientiert ist, in der
aber eine gesellschaftliche Mehrheit heutzutage nicht mehr lebt. Heteronormative Vorstellungen prägen auch zeitgenössische Forschungen, mit
denen das Entstehen von Homosexualität erklärt werden soll, die aber
letztlich dazu dienen, Homosexualität zu beseitigen, wie etwa die Suche
nach einem "Homo-Gen".
Nicht nur in Bezug auf Sexualverhalten und sexuelle Identitäten besitzen
in westlichen Gesellschaften in früheren Jahrhunderten entwickelte Erklärungsmodelle und Konzepte eine Gültigkeit, deren kulturelle Wurzeln
gesamtgesellschaftlich kaum bekannt sind und die dementsprechend als
ahistorisch und von vielen auch als "natürlich" angesehen werden. So gilt
das Modell der polaren Zweigeschlechtlichkeit von Mann und Frau, das
Grundlage und Voraussetzung für das Konzept sexueller Identitäten ist,
trotz aller Widersprüche als naturgegebene Grundlage menschlichen Lebens. Wurde die Natürlichkeit von "Wesens- und Verhaltensunterschieden" der Geschlechter bereits in den 70er Jahren zunächst im Kontext der
feministischen Theorie als kulturelle Setzung angegriffen, ist in den 90er
Jahren verstärkt auch die Natürlichkeit der biologischen Geschlechter als
polarer Gegensatz infrage gestellt und als kulturelle Konstruktion angesehen worden, mit der die gesellschaftliche Vorherrschaft von Männern
begründet wurde. Mit diesen Genealogien der biologischen Geschlechterdifferenz wurde nicht negiert, dass auch frühere Kulturen Geschlechterunterschiede kannten, sondern betont, dass diese nur selten aus der Biologie abgeleitet wurden und die Modelle weniger statisch und dichotom,
sondern durchlässiger waren.
5
Zum Konzept der Heteronormativität und zu ihrer Verbindung mit anderen Machtdiskursen siehe: quaestio 2000.
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Obwohl das Zwei-Geschlechter-Modell selbst in der gesellschaftlich
als Zeugniswissenschaft herangezogenen Biologie sowohl in Bezug auf
phänotypische Merkmale als auch in Bezug auf Chromosomenkombinationen und Hormonspiegel infrage gestellt und relativiert worden ist6 und
obwohl Intersexuelle ("Hermaphroditen") sich als solche öffentlich zu
erkennen gegeben haben,7 gilt die polare Zweigeschlechtlichkeit als gesichertes gesellschaftliches Wissen. Während die Studien, die die Konstruktion von biologischer Zweigeschlechtlichkeit in medizinischen Diskursen des 18. und 19. Jahrhunderts analysiert und gezeigt haben, dass
Männern und Frauen aufgrund sozialer Vorstellungen innerhalb eines geschlechterhierarchischen Systems eine eindeutige Geschlechtlichkeit "auf
den Leib geschrieben" wurde,8 gesellschaftlich kaum bekannt sind, werden
"Wesensmerkmale" der Geschlechter und Geschlechterrollen in jüngster
Zeit – von wissenschaftlichen Beiträgen über populärwissenschaftliche
Darstellungen bis hin zu deren Niederschlag in Medienberichten und Alltagsdiskursen – wieder verstärkt aus biologischen Unterschieden erklärt,
zum Teil mit ähnlichen Argumenten wie im 18. und 19. Jahrhundert.
Für westliche Kulturen sind "Geschlechterunterschiede" ein fundamentales, Gesellschaft strukturierendes Element: Die Differenzierung von
Menschen in Männer und Frauen ist eine der grundlegendsten kulturellen
Unterscheidungen, die heranwachsenden Menschen früh nahe gebracht
wird und die nicht nur Alltagspraxen, sondern auch gesetzliche Normen
und administratives Handeln bestimmt. In Deutschland brachte das
"Reichsgesetz über die Beurkundung des Personenstandes und die Eheschließung" von 1876 auch eine Vorschrift mit sich, nach der das Geschlecht einer Person gegenüber dem Staat als "Mann" oder "Frau" angegeben werden muss. Auf Grundlage dieses Gesetzes sind Standesbeamte
bis heute dazu verpflichtet, auch auf die geschlechtliche Eindeutigkeit
von Vornamen zu achten.9 Ein Großteil der Bevölkerung hält diese Diffe6
7
8
9
Zur Debatte innerhalb der Biologie siehe u.a. die Untersuchung von Tekla Reimers aus
dem Jahr 1994. Reimers liefert einen gelungenen Überblick über Grundlagen und Denkmodelle, der es leicht ermöglicht, jüngere Erkenntnisse über die "biologische Geschlechtlichkeit" zu integrieren: Reimers 1994.
In der BRD und in anderen westlichen Ländern wird versucht, Personen, die mit männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen geboren werden, durch eine Vielzahl operativer Eingriffe und durch hormonelle Behandlungen, die meist schon kurz nach der
Geburt beginnen, geschlechtlich eindeutig zu machen. Bemerkenswerterweise greift die
sonst in der westlichen Gesellschaft vorherrschende Natürlichkeitsideologie hier nicht.
Intersexe bezeichnen diese Zwangsgeschlechtszuweisungen ohne Einwilligung der Betroffenen in Erfahrung des eigenen Leides als Körperverletzung und Verstümmelung.
Duden 1987. Laqueur 1996 (1990). Honegger 1991. Schmersahl 1998.
Ausnahmen bestätigen die Regel: Bestimmte Vornamen, wie etwa Eike, die traditionell
sowohl als Männernamen wie auch als Frauennamen gelten, sind von der Regelung ausgenommen.
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Stefan Micheler: Selbstbilder und Fremdbilder der "Anderen"
renzierung in "Mann" und "Frau" für richtig und sinnvoll, Geschlecht und
Zweigeschlechtlichkeit werden ständig deutlich sichtbar in Alltagspraxen
reproduziert, unter anderem durch Auftreten oder Kleidung. Viele Menschen, die sich eindeutig als Mann oder Frau ansehen, befürchten aber,
den mit den Geschlechterbildern verbundenen Vorstellungen und Idealen
nicht ausreichend zu entsprechen, also nicht "männlich" oder "weiblich"
genug zu sein wie sich nicht nur in immer wieder auftretenden Diskussionen in unterschiedlichen Medien, an Alltagsgesprächen und nicht zuletzt am ständig wachsenden Markt der plastischen Chirurgie erkennen
lässt. Darüber hinaus ist das Behaupten defizitärer Männlichkeit oder defizitärer Weiblichkeit ein in westlichen Kulturen oft formulierter Vorwurf. Demgegenüber gibt es viele Menschen, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht innerhalb der Kategorien des polaren und statischen
Zwei-Geschlechter-Modells definieren wollen und können. Abweichungen von dieser Norm treten auch in Bezug auf biologische Merkmale sehr
viel häufiger als vermutet auf.
Trotz der vielfältigen Probleme, die das Zwei-Geschlechter-Modell
nicht nur für diejenigen, die sich nicht darin verorten können, sondern für
zahlreiche Menschen mit sich bringt, wird es nur selten infrage gestellt.
Geschlechtliche Uneindeutigkeiten werden im Alltag und im Rahmen
staatlichen Handelns vielmehr auf vielfältige Weisen unsichtbar gemacht,
der Gender Trouble wird ignoriert, marginalisiert oder normalisiert. So
führt die Tatsache, dass es Menschen gibt, die nach herrschenden biologischen Erklärungen geschlechtlich nicht eindeutig zuzuordnen sind, nicht
zu einem Überdenken oder einer Erweiterung des Zwei-GeschlechterModells, sondern man versucht mit der Begründung, dass intersexuelle
Menschen als solche gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt wären,
eine geschlechtliche Eindeutigkeit herzustellen. Bis heute macht auch das
deutsche Transsexuellengesetz die Annahme einer statischen, irreversiblen Geschlechtsidentität zur Bedingung einer hormonellen und operativen
Veränderung des Körpers.10
Es soll hier nicht bestritten werden, dass man die meisten Menschen in
Männer und Frauen einteilen kann, sondern gefragt werden, warum diese
Unterscheidung kulturell so wichtig ist: Offensichtlich ermöglicht sie bis
heute, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu naturalisieren. Die US-amerikanische Sprachwissenschaftlerin Judith Butler hat 1990 in ihrem Buch
Gender Trouble gezeigt, wie Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität
sich als normative Machtregime im Rahmen einer heterosexuellen Matrix
10
Transsexuelle kritisieren dies, da sie sich oft nicht innerhalb des starren Geschlechtermodells verorten wollen und weil die Entscheidung über die "wahre Geschlechtsidentität" fremdbestimmt ist.
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gegenseitig stützen und bedingen: Das polare Geschlechtermodell ist
demnach nicht nur androzentrisch, sondern auch fundamental mit dem
Begehren zu Personen des anderen Geschlechts verbunden und schließt
ein Monogamie-Ideal ein.11 Eine derartige Gesellschaftsanalyse schließt
nicht aus, dass das offene und verborgene Unterlaufen einzelner Normen
ungeahndet möglich ist, sofern das Gesamtsystem der Heteronormativität
nicht fundamental infrage gestellt wird. So ist in vielen zeitgenössischen
westlichen Gesellschaften die Vorstellung einer lebenslangen Ehe durch
ein Modell serieller Monogamie12 ersetzt worden. Oft ist in zeitgenössischen und historischen bürgerlichen Gesellschaften in Bezug auf das
Monogamie-Ideal eine Doppelmoral zu beobachten: Für Männer bietet
sich durch verschwiegene "Affären" oder Sex mit Prostituierten die Möglichkeit, den Schein der Monogamie aufrechtzuerhalten, Frauen müssen
bei ähnlichem Verhalten mit existenzbedrohenden Sanktionen rechnen.
Ebenso stellt der Umstand, dass insbesondere in europäischen Gesellschaften auch Schwule und seltener Lesben in jüngster Zeit an gesellschaftlicher und ökonomischer Macht teilhaben können, als Prototypen
des flexiblen "Humankapitals" und als gefragte KonsumentInnen gelten,
die Heteronormativität an sich nicht infrage. Auffällig ist jedoch, dass
geschlechtlich abweichenden Personen diese Teilhabe nach wie vor verweigert wird.13
Die Differenzierung von Menschen nach ihrem Geschlecht in Männer und
Frauen und nach ihrer "sexuellen Orientierung" in Heterosexuelle und
Homosexuelle – basierend auf der Vorstellung des monolithischen ZweiGeschlechter-Modells des medizinischen Diskurses des 18. Jahrhunderts
und auf dem Modell der homosexuellen, "perversen" Persönlichkeit im
Gegensatz zum "normalen" Mann bzw. Menschen des medizinischen Diskurses des ausgehenden 19. Jahrhunderts – wirkt also bis in unsere Gegenwart fort. Es gilt als gesichertes gesellschaftliches Wissen, das ständig,
auch im Interesse der Festschreibung eines Status quo und von gesellschaftlichen Machtverhältnissen, reproduziert wird. Wenn wir uns mit der
Geschichte der Sexualität, der Geschichte der Homosexualität oder der
Geschichte gleichgeschlechtlichen Begehrens und gleichgeschlechtlicher
11
12
13
Butler 1990. Die deutsche Ausgabe verwirrt durch die unpräzise Übersetzung von zentralen Analysekategorien und Begriffen: Butler 1991. Butler 1993. Deutsche Übersetzung: Butler 1995.
Zum Begriff und Konzept der seriellen Monogamie siehe: Schmidt 1996.
Exemplarisch sei hier auf Michaela Lindner verwiesen, die als Norbert Lindner Mitte der
90er Jahre zum Bürgermeister einer Gemeinde in Sachsen-Anhalt gewählt wurde, wegen
ihres während der Amtszeit vollzogenen "Geschlechtswechsels" als Repräsentantin und
Verwaltungschefin aber nicht mehr als tragbar angesehen wurde.
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Stefan Micheler: Selbstbilder und Fremdbilder der "Anderen"
Sexualität beschäftigen, müssen wir uns bewusst machen, dass die Kategorien, die in unserer Gesellschaft zur Betrachtung von Sexualverhalten
und Geschlecht als gültig angesehen werden, keine ahistorischen Konstanten, sondern historische Produkte sind, die unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen entstanden und ihre Wirkungsmacht entfalten
konnten. Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist es dementsprechend, zu
ergründen, wie sich das Zwei-Geschlechter-Modell und das Modell sexueller Identitäten entwickelt haben, wie sich die heterosexuelle Matrix im
Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts herausgebildet und verändert hat und
welche Rolle Sexualität dabei zukam. Da wir aber "Kinder unserer Zeit"
sind und da wir ein Vokabular und Instrumentarium brauchen, um die in
Quellen gefundenen Informationen im Kontext unserer Gegenwart beschreiben zu können, ist es nicht möglich, uns vollständig außerhalb heute
gültiger Erklärungsmodelle zu platzieren.
Während zur Konstruktion von Geschlechterunterschieden zahlreiche
Untersuchungen vorgelegt wurden, ist das heutige gesellschaftliche Wissen über die Entstehung und Entwicklung sexueller Identitäten in wechselseitiger Beeinflussung von Fremd- und Selbstbildern in Deutschland
nach wie vor rar. Selbst die Geschichte des Lebens, der Diskriminierung
und Verfolgung, aber auch der Emanzipation gleichgeschlechtlich begehrender Männer und Frauen ist bisher nur in Ansätzen erforscht.
Die deutsche Geschichtswissenschaft hat, wie die Mehrheit der deutschen Gesellschaft, nach Paragraph 175 StGB verurteilte Männer bis in
die 80er Jahre hinein als Opfergruppe des Nationalsozialismus – auch infolge der fortbestehenden Kriminalisierung und gesellschaftlichen Marginalisierung – ignoriert. Auch heute finden sich nur vereinzelt Veröffentlichungen etablierter HistorikerInnen zu diesem Thema, obwohl seit den
70er Jahren von VertreterInnen anderer Disziplinen und semiprofessionellen ForscherInnen verschiedene Untersuchungen durchgeführt wurden, die
als Grundlage für weitere vertiefende Forschungen hätten dienen können.
Wie schlecht es in Deutschland um die Integration sexualitätsgeschichtlicher Fragen in die Geschichtswissenschaft bestellt ist, zeigt nicht zuletzt
die 2001 erschienene Veröffentlichung Hitlers Geheimnis. Das Doppelleben eines Diktators des an der Universität Bremen lehrenden Historikers Lothar Machtan, die eine breite gesellschaftliche Aufmerksamkeit erfahren hat. Die Untersuchung, mit der Machtan nachweisen will, dass
Adolf Hitler (1889-1945) "homosexuell" gewesen und seine "verdrängte
Homosexualität" die Ursache für die Verbrechen des NS-Regimes gewesen sei, basiert auf einer Fülle längst widerlegter Gerüchte. Abgesehen
davon, dass eine derartige Personalisierung von NS-Gewaltverbrechen
unhaltbar ist, mangelt es der Studie an wissenschaftlicher Seriosität.
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Machtan hat nicht nur eine der grundlegenden Methoden des Faches, die
Quellenkritik, außer Acht gelassen, sondern darüber hinaus die Forschungen der letzten 30 Jahre zum Thema nicht zur Kenntnis genommen. Er hat
sich weder mit der grundlegenden Literatur zum Stereotyp des "homosexuellen Nazis" auseinander gesetzt noch hat er die vielen Veröffentlichungen zur Geschichte der Homosexualität als gesellschaftliches Konstrukt herangezogen. Er verwendet so nicht zuletzt die Begriffe sexuelle
Orientierung, homosexuelle Veranlagung, sexuelle Identität, homosexuell, homoerotisch, homophil und homosozial ohne jegliche Trennschärfe.
Weder einer Geschichtswissenschaft noch einer Gesellschaft, in der
fundamentale Erkenntnisse der Geschichte der Sexualität zum allgemeinen Wissen gehören, hätte Machtan eine derart oberflächliche homophobe
Studie präsentieren können. Zwar wurde Machtans Buch angesichts
seiner unhaltbaren Thesen und grundlegenden wissenschaftlichen Mängel
in der Fachwelt zu Recht vehement kritisiert, auf die fehlende Berücksichtigung sexualitätsgeschichtlicher Forschungen im Allgemeinen und
zur NS-Zeit im Besonderen haben jedoch bezeichnenderweise nur HistorikerInnen hingewiesen, die sich mit der Geschichte der (Homo-)Sexualität beschäftigen, wie auch nur diese die Frage nach der politischen Bedeutung solcher Verbindungen von Homosexualität und Verbrechen aufgeworfen haben. Trotz der deutlichen wissenschaftlichen Kritik hat
Machtans Veröffentlichung eine große Breitenwirkung gehabt: Das Buch
wurde nicht nur in den Feuilletons renommierter Zeitungen und Zeitschriften besprochen und in Kulturmagazinen des Fernsehens vorgestellt,
sondern Machtans "Forschungsergebnis" wurde auch durch die Bild-Zeitung popularisiert – unter anderem durch die plakative Hauptschlagzeile
"Neue Erkenntnisse der Geschichts-Forschung: War Hitler schwul?".
Nicht nur das größte deutsche Boulevard-Blatt, sondern auch viele andere
Medien inszenierten das Buch als den "Schlüsselloch-Report", den alleine
schon der Titel des Buches suggeriert. Seit Daniel Goldhagens Studie Hitlers willige Vollstrecker – Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust
von 1996 ist keine geschichtswissenschaftliche Veröffentlichung derart
breit in der deutschen und zum Teil auch internationalen Öffentlichkeit
rezipiert worden.
Das starke Medieninteresse an Machtans Buch ist nicht nur damit zu
erklären, dass es vermeintliche Neuigkeiten zur Person des deutschen
Diktators liefert, sondern dadurch, dass Hitler als homosexuell bezeichnet
wird. Einem alten Stereotyp folgend wird Homosexualität in Zusammenhang mit Verbrechen, in diesem Fall gar Massenmord, gebracht. Hingegen ist die Frage, welche Bedeutung Heinrich Himmlers, Joseph Goebbels' oder Hermann Görings "heterosexuelle Veranlagung" für ihre Gewalt© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2005
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Stefan Micheler: Selbstbilder und Fremdbilder der "Anderen"
verbrechen gespielt hätte, nie gestellt worden. Selbst wenn Adolf Hitler
"homosexuell" gewesen wäre, ist hierin wohl kaum der Grund für die
Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes zu sehen. Versuchen
Aktivisten der Homosexuellen-Bewegungen jedoch, positive Identifikationsfiguren der Geschichte, wie etwa Michelangelo oder jüngst auch Robin Hood, in eine homosexuelle Ahnengalerie zu stellen, setzen manche
Historiker und Autoren vieles daran, die von ihnen verehrten historischen
Persönlichkeiten von dem "Ruch" der Homosexualität zu "befreien", was
zu zum Teil grotesken Argumentationen führt.14 Zumeist wird das gleichgeschlechtliche Begehren einer historischen Persönlichkeit jedoch verschwiegen, wie etwa im Falle des preußischen Königs Friedrich II. oder
des bayrischen Königs Ludwig II.
Machtans Buch, das in wissenschaftlicher Hinsicht nicht weiter beachtet werden muss, ist also nicht nur innerhalb der Geschichtswissenschaft,
sondern auch gesellschaftspolitisch als problematisch anzusehen, weil es
einerseits "Erkenntnisse" kolportiert, die eine geeignete Projektionsfläche
bieten, NS-Verbrechen zu personalisieren, und die andererseits mit nach
wie vor bestehenden, überwunden geglaubten Bildern vom "Homosexuellen" korrespondieren. Stereotype und Feindbilder, Borniertheit und Unkenntnis haben immer wieder zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen
bis hin zu Verfolgung und Ermordung von Menschen geführt und sind
nach wie vor wesentlicher Bestandteil von Diskursen der Ausgrenzung.
Machtans Unkenntnis, das Schweigen der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft zum Thema "Homosexuellen-Verfolgung" und die Reaktion
der deutschen Öffentlichkeit unterstreichen so einmal mehr, wie notwendig die Beschäftigung mit der Geschichte der Sexualität ist.
In dieser Untersuchung werden Selbstbilder und Fremdbilder Männer
begehrender Männer in der Weimarer Republik und der NS-Zeit anhand
von Zeitschriften gleichgeschlechtlich begehrender Menschen und Strafjustizakten untersucht. Ein besonderer Schwerpunkt wird dabei auf Identitätskonzepte auf Grundlage gleichgeschlechtlichen Begehrens gelegt.
Unter dem Begriff Selbstbild oder Selbstkonzept verstehe ich in Anlehnung
an die Sozialpsychologin Ingrid M. Deusinger Einstellungen des Indivi-
14
So etwa in der Debatte um einen Leonardo da Vinci zugeschriebenen Brief, der ihn als
Vater eines Sohnes zeigen soll. Alessandro Vezzosi, der Direktor des Ideal-Museums in
Florenz, veröffentlichte ihn im Jahr 2000 als Beweis für die "Heterosexualität" Leonardos. Selbst wenn der Brief von diesem Leonardo aus dem Dorf Vinci stammen sollte,
relativiert die Zeugung eines Kindes wohl kaum die Verhältnisse, die der Erfinder zu
mehreren seiner Schüler hatte. Leonardo da Vinci hatte möglicherweise einen Sohn,
Agenturmeldung der AP vom 17. August 2000.
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I. Forschungsinteresse
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duums zur eigenen Person, das heißt, Auffassungen, Vorstellungen, Bewertungen, Gefühle und Haltungen gegenüber sich selbst.15 Dementsprechend verstehe ich unter Fremdbildern bzw. Fremdwahrnehmungen entsprechende Sichtweisen, Wahrnehmungen und Zuschreibungen anderer.
Die Weimarer Republik und die NS-Zeit waren zwei völlig gegensätzliche Zeiträume in Bezug auf die homosexuelle Emanzipation einerseits und die Entwicklung von Bildern über "Homosexuelle" bzw. "homosexuelle" Identitäten andererseits. Während der Weimarer Republik und
der NS-Zeit fand die Vorstellung von Charaktereigenschaften aufgrund
sexuellen Begehrens bzw. das Konzept der "homosexuellen Persönlichkeit" verstärkt Eingang in öffentliche Diskurse: In der Weimarer Republik
durch die eigene Presse der "homosexuellen Bewegung" und ihren politischen Kampf gegen die Diskriminierung, in der NS-Zeit durch eine intensive homophobe16 Propaganda, die auch für politische Ziele instrumentalisiert wurde. Bis heute bestehende Bilder des "Homosexuellen" wurden
insbesondere in diesen beiden Epochen etabliert, weiterentwickelt und
verfestigt. Es werden in der Untersuchung exemplarisch allgemeine
Strukturen des Diskurses der Ausgrenzung sowie Mechanismen konkreter
Repression gegen Einzelne und Gruppen und deren Instrumentalisierung
im Sinne von Machtausübung aufgezeigt.
Die Analyse bezieht sich auf das gesamte Deutsche Reich bzw. auf den
deutschen Sprachraum, es werden aber bestimmte Aspekte anhand Hamburger Quellen untersucht, die als exemplarisch – zumindest für Großstädte – angesehen werden können. Sie konzentriert sich auf Selbstbilder
von Männer begehrenden Männern, obwohl durchaus auch eine gemeinsame Identität von gleichgeschlechtlich begehrenden Männern und Frauen
etabliert wurde. Da für die Weimarer Republik fast ausschließlich Zeitschriften für Männer und Frauen oder solche für Männer herangezogen
wurden und nicht die ab 1924 erscheinenden Frauen-Zeitschriften, wird
die Frage des Verhältnisses von eigenen gleichgeschlechtlichen Identitäten von Männern und Frauen oder einer gemeinsamen gleichgeschlechtlichen Identität lediglich in einem eigenen Unterkapitel untersucht. Bezüge zu den Selbstkonzepten Frauen begehrender Frauen werde ich dort
ergänzen, wo mir ein Vergleich sinnvoll erscheint.
Die Untersuchung gliedert sich wie folgt: Zunächst werde ich einleitend
einen ausführlichen Überblick über die theoretischen Grundlagen der Ge15
16
Deusinger, Ingrid M.: Die Frankfurter Selbstkonzeptskalen (FSKN), Göttingen, Verlag
für Psychologie Hogrefe 1986.
"Homophobie" und "homophob" verstehe ich weniger im Sinne einer medizinisch-psychologischen Definition von "Angst", sondern als "Feindlichkeit" und "Abwehr" in sozialen und politischen Kontexten.
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Stefan Micheler: Selbstbilder und Fremdbilder der "Anderen"
schichte der (Homo-)Sexualität geben, meine Forschungsbegriffe erläutern,
den aktuellen Forschungsstand skizzieren und die verwendeten Quellen
vorstellen (Kapitel II). Anhand der Geschichte der Freundschaftszeitschriften, Freundschaftsverbände und Freundschaftslokale der Weimarer Republik sollen die Rahmenbedingungen gleichgeschlechtlichen
Lebens und damit auch der Möglichkeiten zur Gruppen- und Identitätsbildung umrissen werden, zeitgenössische Fremdwahrnehmungen fließen
durch deren Reflexion in den Quellen ein (Kapitel III). Selbstbilder,
Mentalitäten und Identitätskonzepte Männer begehrender Männer in der
Weimarer Republik und in der frühen NS-Zeit, etwa bis zum Beginn des
II. Weltkrieges, stehen im Mittelpunkt der Untersuchung (Kapitel IV).
Obwohl die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler für die Homosexuellen-Bewegung durch die Auflösung der Verbände und die Einstellung der Zeitschriften einen entscheidenden Einschnitt darstellte und
auch viele Menschen durch die Schließung von Lokalen in zahlreichen
Städten des Deutschen Reiches unmittelbar von den Maßnahmen der
neuen Regierung betroffen waren, veränderten sich ihre Auffassungen
und Mentalitäten selbstverständlich nicht schlagartig. Vor diesem Hintergrund ist der 30. Januar 1933 nicht als klare Zäsur in den Biographien
Männer begehrender Männer anzusehen. Den Einfluss der zunehmenden
Repression bis hin zu den Ermordungen in den Konzentrationslagern auf
die Lebenswelten und Selbstbilder Männer begehrender Männer werde
ich in einem eigenständigen Kapitel (Kapitel VII) behandeln. Hingegen
kann der Einfluss des Krieges auf die Lebenswelten und die Lebensbedingungen Männer begehrender Männer als Soldaten der Wehrmacht
nur marginal betrachtet werden, da die hier untersuchten Quellen hierüber
keine Auskunft geben. Zum Verständnis des Wandels der Selbstwahrnehmungen und der Fremdbilder der Verfolger in der NS-Zeit (mit Rückblicken auf die Weimarer Republik) sowie allgemeiner Einstellungen in
der Bevölkerung (Kapitel VI) wird die Ausgrenzung der "Homosexuellen" aus der "Volksgemeinschaft" und die Verfolgung Männer begehrender Männer in der NS-Zeit betrachtet (Kapitel V). Die Ergebnisse der
Untersuchung werden in einem abschließenden Kapitel zusammengefasst
und in die Geschichte der Männlichkeiten und der Sexualität eingeordnet.
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