Klinische Ethik Ethische Aspekte der Zwangsmassnahme Leitung Prof. Dr. Stella Reiter-Theil, Dipl.-Psych. http://klinische-ethik.unispital-basel.ch Email: [email protected] Foto: Juri Weiss Gliederung 1. Verhältnis: Forensische Psychiatrie – Ethik: Thesen und Gegenthesen 2. Fokus: Zwangsmassnahmen – Isolation, Fixierung, Zwangsmedikation > Einordnung 3. Was kann Ethik der Forensischen Psychiatrie anbieten? – Ethikkonsultation 4. Kasuistik > Einordnung 5. Fazit – offene Fragen / Vorschläge Verhältnis: Forensische Psychiatrie – Ethik: Thesen • Psychiatrie insgesamt – und Forensische Psychiatrie – hat mit Ethik wenig zu tun. 1. Die ‚grossen Fragen‘ sind bereits rechtlich geregelt – oder werden noch geregelt. Rechtliche Grundlagen sind gut bekannt. 2. Gesetzliche Spielräume werden durch Fachwissen (Evidenz) und durch gesunden Menschenverstand (Pragmatik) ausgefüllt. Dem Auftreten von ethischen Fragen wird durch Kommunikation vorgebeugt. 3. Verhältnis: Forensische Psychiatrie – Ethik: Gegenthesen • Forensische Psychiatrie hat mit Ethik doch mehr zu tun. 1. 2. Rechtliche Regelungen basieren auf ethischen Überlegungen; diese sollten, können aber nicht alle Fragestellungen beantworten. Beim Versuch, gesetzliche Spielräume auszufüllen, zeigt sich ein Mangel an gesichertem Fachwissen (Evidenz); der ‚gesunde Menschenverstand‘ (Pragmatik) ist moralisch nicht immer suffizient. Verhältnis: Forensische Psychiatrie – Ethik: Gegenthesen • Forensische Psychiatrie hat mit Ethik doch mehr zu tun. 1. Die Rechtslage wird teilweise als unklar und unbefriedigend beurteilt (Mausbach 2012). Es dürfte also nicht nur willkommene ‚Spielräume‘ geben, sondern auch problematische Lücken. 2. • 3. Das Verhältnis zwischen Recht und Ethik sollte bzgl. Massnahmenvollzug und Zwangsbehandlung diskutiert werden. Ethische Fragen werden durch Kommunikation weder immer gelöst oder vermieden. Fokus: Zwangsmassnahmen – Isolation, Fixierung, Zwangsmedikation • Diese Grenzfragen stimulieren Emotionen und Moralisierung. • Einordnung: Aber nicht nur die Forensische Psychiatrie setzt diese Praktiken ein. - Auch in der somatischen Patientenversorgung können sie unumgänglich werden, ebenso in der Pädiatrie, der Erwachsenen- und Kinder/Jugendpsychiatrie. - Sonderfall: Zwangsernährung bei Hungerstreik (in Haft oder nicht) Exkurs Ethik-Policy – Modellprojekt • z.B. bei Widerstand von Patienten gg. pfleg. Massnahmen • • Wie? Medikamentöse Ruhigstellung, physische Kraft oder dauerhafte Zwangsmassnahmen, um Therapie / Pflege zu realisieren? Methode für eine individuelle kasuistische Entscheidung • Barandun Schäfer U et al (2011) Ethische Orientierungshilfe bei Widerstand von schwerkranken Menschen gegen Pflegemaßnahmen – am Beispiel der Mundpflege. In: Stutzki R, Ohnsorge K, Reiter-Theil S (Hrsg) Ethikkonsultation heute – vom Modell zur Praxis, S. 185-197 • Ethik-Policy – Modellprojekt • z.B. bei Widerstand von Patienten gg. pfleg. Massnahmen • • Wie? Medikamentöse Ruhigstellung, physische Kraft oder dauerhafte Zwangsmassnahmen, um Therapie / Pflege zu realisieren? Methode für eine individuelle kasuistische Entscheidung • Barandun Schäfer U et al (2011) Ethische Orientierungshilfe bei Widerstand von schwerkranken Menschen gegen Pflegemaßnahmen – am Beispiel der Mundpflege. In: Stutzki R, Ohnsorge K, Reiter-Theil S (Hrsg) Ethikkonsultation heute – vom Modell zur Praxis, S. 185-197 • Minimalstandard freiheitsbeschränkende Massnahmen Federführend: Irena Anna Frei, PhD, RN, Leiterin Fachbereich Pflege Universitätsspital Basel, Ressort Pflege / MTT, Abteilung Praxisentwicklung Vernehmlassungen, u.a. Ethik-Beirat USB 2012 Universitätsspital Basel, von der Spitalleitung in Kraft gesetzt (Testphase Januar 2013) Anhang 3 Dokumentation FbM Beispiel Zurück zum Thema Massnahmenvollzug Fokus: Zwangsmassnahmen, 1 • Massnahmen gegen den Patientenwillen bedürfen besonderer Begründung. Ethisch relevante Fragen: • Verstossen diese ‚automatisch‘ gegen den Respekt vor der Patientenautonomie? • Sind sie gegen die „Autonomie“ des Patienten gerichtet, – oder können sie diese ggf. sogar helfen wieder herzustellen? Zwang – Einordnung Eskalation • Überzeugung (‚persuasion‘) • Manipulation (‚manipulation‘) • Zwang (‚coercion‘) (Faden, Beauchamp 1986) Fokus: Zwangsmassnahmen, 2 Welche ethischen Begründungen sind möglich? • Argumente von den Folgen her, z.B. – – – Abwehr von Schaden bei Selbst-, Fremdgefährdung Nutzen, Hilfe (Notfall) zum Wohl des Patienten Verhüten einer Störung der sozialen Ordnung (Zusammenleben u.a.m.) • Verhinderung von Straftaten Fokus: Zwangsmassnahmen, 3 Welche ethischen Begründungen sind möglich? • Argumente von Grundwerten her, z.B. – – – Verhütung der Verletzung (legitimer) Normen, d.h. Verhinderung von Straftaten Wahrung der Würde dritter Personen, Respekt vor anderen Betroffenen und ihren Rechten Was leistet Ethik? • Ethik reflektiert Phänomene der Moral. - (Denken, Fühlen, Entscheiden, Handeln) ebenso wie Rechtsnormen und ihre Praxis. • Empirisches Wissen ist im ethischen Diskurs einzubeziehen; - allein kann es keine normativ-ethischen (Sollens-) Folgerungen rechtfertigen, und es muss selbst auch immer wieder übergeprüft werden. • Im Rechtsstaat bewegt sich Ethik im Rahmen legitimierter Gesetze, - sie kann und soll aber Widersprüche oder Lücken kritisch reflektieren und ggf. Vorschläge beitragen. SAMW, med.-eth. Richtlinien z.B. Zwangsmassnahmen in der Medizin, 2005 Regelt: Durchführung • Dauer • Stationäre Überwachung • Begleitmassnahmen und Nachbetreuung • Dokumentation • Rechtsmittelbelehrung Vieles bleibt offen > Probleme in der Praxis SAMW, med.-eth. Richtlinien z.B. Ausübung d. ärztl. Tätigkeit bei inhaftierten Personen, 2002 Auch hier gilt: Vieles bleibt offen > Probleme in der Praxis (Mausbach 2012) Ansatzpunkte für Diskurs mit Ethik? Was kann Ethik der (Forensischen) Psychiatrie anbieten? • Beitrag zum interdisziplinären Diskurs / Recht–Ethik (akademisch) • Beteiligung bei der Diskussion konkreter Situationen (klinisch-praktisch) Ethikkonsultation – Patienten-orientiert / Team-orientiert (klinisch-praktisch) Beratung bei der Entscheidungsfindung / prospektiv Auswertung von Ergebnissen und Verläufen / retrospektiv Formen ethischer Unterstützung im Krankenhaus Formen ethischer Unterstützung Ethikbeirat UPK Ethikkonsultation, verschiedene Formen Abteilungsspezifische Projekte, z.B.: RoutineImplementierung ethischer Zielkriterien, KJPK; Prozess-Begleitung, ZAP Reiter-Theil 2008 Ther Umschau 65: 359-365 Klinische Ethikkonsultation in der Psychiatrie? • Evidenz für ethische Herausforderungen, gerade in der Psychiatrie • Z.B. Evangelisches Krankenhaus, Bielefeld: ca. 10% der Anfragen aus Psychiatrie (in Vorbereitung: Kobert, Löbbing, Pfäfflin) • Z.B. UPK Basel: pro Quartal ca. 10 Anfragen; Kooperation FPK–Ethik: steht am Beginn (in review: Reiter-Theil, Schürmann, Schmeck). Kasuistik aus den UPK Einordnung Clinical Unit PATIENT, e.g. Forensic Psychiatry 25y man, severe mental retardation, rep. sexual offender > chemical castration to allow for more freedom (instead of closed ward) Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | ETHICS FOCUS Clinical Unit PATIENT, e.g. ETHICS FOCUS Forensic Psychiatry 25y man, severe mental retardation, rep. sexual offender > chemical castration to allow for more freedom (instead of closed ward) Respect for autonomy vs prevention of harm dissent btw institutions (representatives) Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | Clinical Unit PATIENT, e.g. ETHICS FOCUS Child Psychiatry 8y girl, developm. retard.; mother: borderline disorder / neglect > child placement? 30y man, delusions, refuses medication, threatens his environment Child welfare conflicts with mother‘s interest & capablities; dissent btw institutions (representatives) 25y man, severe mental retardation, rep. sexual offender > chemical castration to allow for more freedom (instead of closed ward) 60y woman, psychosis; „chaman“ identity; wants to leave clinic; repetitive exposition to violence when out Respect for autonomy vs prevention of harm dissent btw institutions (representatives) Adult Psychiatry Forensic Psychiatry Gerontopsychiatry Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | Respect for autonomy vs prevention of harm questions of team Respect for autonomy vs prevention of harm dissent in team Protokoll, Beispiel Verblinded Verblinded Ethische Prinzipien • • • • Respekt vor der Autonomie / Respect for autonomy / Voluntas aegroti Vermeidung von Schaden / Nonmaleficence / Nil nocere Hilfeleistung / Beneficence / Salus aegroti Gerechtigkeit / Fairness Beauchamp & Childress 1994 ff Ethische Prinzipien • • • • Respekt vor der Autonomie / Respect for autonomy / Voluntas aegroti Vermeidung von Schaden / Nonmaleficence / Nil nocere Hilfeleistung / Beneficence / Salus aegroti Gerechtigkeit / Fairness Beauchamp & Childress 1994 ff Perspektiven • • • • • • Patient / Patientin Arzt / Ärztin, Pflege, andere Fachleute Team / Kooperation der Berufsgruppen Partner/in, Familie / Angehörige des Patienten Institutioneller Kontext Gesundheitswesen – Psychiatrie als Teil der Gesellschaft - Kostenträger • … Generationen? Perspektiven • • • • • • Patient / Patientin Arzt / Ärztin, Pflege, andere Fachleute Team / Kooperation der Berufsgruppen Partner/in, Familie / Angehörige des Patienten Institutioneller Kontext Gesundheitswesen – Psychiatrie als Teil der Gesellschaft - Kostenträger • … Generationen? Was kann Ethikkonsultation beitragen? • Konstruktiv-kritische Reflexion – – – • von moralischen / ethischen Fragen und Anliegen der Beteiligten von empirisch-faktischen Daten, die zur Orientierung herangezogen werden, von normativ-rechtlichen Rahmenbedingungen, ihren Spielräumen und Lücken, die es zu füllen gilt Beratung, d.h. – – – – – Zuhören, Austausch; Einbringen von Inhalten und Methoden; Hilfestellung b. Auswertung / Anwendung v. Normen; Vertretung von Diskursregeln; ggf. Parteinahme für Benachteiligte Moral Case Deliberation how it works and how it can be used in the reduction of coercion in psychiatry Yolande Voskes, Elleke Landeweer, Bert Molewijk & Guy Widdershoven Department of Medical Humanities Coercion in the Netherlands • Seclusion and restraint is controversial – Traumatic for both patients and professionals – No evidence of therapeutic effects • Projects to reduce seclusion and to improve the quality of care since 2000 Conclusions Moral case deliberation leads • to reflection on values, and stimulates openness and honesty regarding uncertainties • to greater understanding between staff • to new perspectives on difficult cases • Moral case deliberation may • lead to joint solutions • contribute to the reduction of (the duration of) seclusion Voskes Y et al (in prep) Themenheft Ethik / Psychiat Praxis (Hrsg: Reiter-Theil & Dittmann) Ethikkonsultation – Moral Case Deliberation • • • • • • • • • • Zuhören, sprechen Klären Interpretieren, evaluieren Analysieren, vergleichen Argumentieren, balancieren Bezugnehmen, berufen auf ... Probleme artikulieren Anwenden, ausarbeiten, schlussfolgern Plädieren, verteidigen Insistieren, Widerspruch artikulieren Reiter-Theil S (2009) Cambridge Quarterly Healthcare Ethics 18(4): 347-346 Ethikkonsultation – Moral Case Deliberation • • • • • • • • • • Zuhören, sprechen Klären Interpretieren, evaluieren Analysieren, vergleichen Argumentieren, balancieren Bezugnehmen, berufen auf ... Probleme artikulieren Anwenden, ausarbeiten, schlussfolgern Plädieren, verteidigen Insistieren, Widerspruch artikulieren Reiter-Theil S (2009) Cambridge Quarterly Healthcare Ethics 18(4): 347-346 Ethikkonsultation – Moral Case Deliberation • • • • • • • • • • Zuhören, sprechen Klären Interpretieren, evaluieren Analysieren, vergleichen Argumentieren, balancieren Bezugnehmen, berufen auf ... Probleme artikulieren Anwenden, ausarbeiten, schlussfolgern Plädieren, verteidigen Insistieren, Widerspruch artikulieren Konversation Hermeneutik Analyse Diskurs Vorschlag Konstruktion Normativer Fokus Zielgerichtete Interventionen Reiter-Theil S (2009) Cambridge Quarterly Healthcare Ethics 18(4): 347-346 Voskes Y et al (in prep) Themenheft Ethik / Psychiat Praxis UPK: Klinische Ethik – Formen der Unterstützung - Eigene ethische Orientierung Rücksprachemöglichkeit im Team Screening bzgl. ethischer Fragen, z.B. via Visite Fallbesprechung mit ethischen Aspekten Ethikkonsultation, ggf. auch einzeln Fort- und Weiterbildung Themenspezifische Projekte, z.B. Ethik-Policies für wiederkehrende Fragen oder Probleme - Ethische Beratung für Patienten / Angehörige - Interinstitutionelle Kooperation, z.B. 20.3.2014, USB–UPK Fazit – offene Fragen Trennung / Unterscheidung – zwischen medizinisch-indizierter Behandlung und – massnahmenindizierter Behandlung wird gefordert • Diese gilt als nicht (trennscharf) möglich. • Das Problem soll durch künftige Gesetzgebung gelöst werden. • Was aber bis dahin? Fazit – Vorschläge „Muddling through“? – d.h. Verfahrensregeln, interdisziplinäre Abstützung Kooperation zwischen Forensik und Ethik: – Wissenschaftlich: • Begleitforschung > Problemanalyse – Klinisch-ethisch / praktisch • Beratung, Begleitung > Unterstützung, Problemlösung Clinical Ethics international … Website www.clinical-ethics.org • ICCEC Series: Cleveland – Basel – Toronto – Rijeka – Taipei – Portland – Amsterdam – Sao Paulo – Munich – Paris – New York … • Invitation ICCEC 2014: 10. International Conference Clinical Ethics & Consultation Paris, France, 24-26 April 2014 “The patient’s voice” Hosted by Centre d’éthique clinique, Hôpital Cochin Assistance Publique-Hôpitaux de Paris, Université Paris Descartes Sous le Haut Patronage du Pôle de Recherche et d’Enseignement Supérieur (PRES) Sorbonne Paris-Cité Co-Directors: George Agich, Stella Reiter-Theil