Wege zur integrierten Palliativmedizin

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Wege zur integrierten Palliativmedizin
(Prof. Dr. med. Gerhard Pott, MA)
Notwendigkeit und Chancen
Prof. Dr. med.
G. Pott, MA
(phil.)
Die Fortschritte der Palliativmedizin sind unverkennbar und werden auch in der
Öffentlichkeit wahrgenommen. Der weitaus großen Mehrzahl von ärztlichem und
Pflegepersonal sind die Ziele und das Wesen der Palliativmedizin geläufig: Leiden lindern,
spirituelle Begleitung, Gespräche, Wünsche erfragen, Betreuung der Angehörigen auch
nach dem Tod und vieles mehr - nachlesbar in zahlreichen Publikationen,
Patienteninformationen et cetera. Überdies haben immer mehr Patienten eine
Patientenverfügung, häufig und wünschenswert mit einer Vorsorgevollmacht, um den
Patientenwillen an die aktuelle Situation mithilfe eines Vertrauten anzupassen. Und doch
gibt es regelmäßig Situationen am Lebensende wie dieses Beispiel eines hochbetagten
Patienten vor seinem Tod:
Patientenbeispiel
Ein 84-jähriger, fortgeschritten dementer Patient erleidet eine Oberschenkelfraktur. Die
starken Schmerzen können wirkungsvoll behandelt werden, eine Operation mit Ersatz des
Hüftgelenks ist geplant. Es gibt eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht für
einen Sohn. Dieser gibt seine Einwilligung. Schicksalhaft kommt es postoperativ zu
Komplikationen, so dass ein weiterer operativer Eingriff mit längerer Narkose notwendig
wird. Der Sohn gibt weiter sein Einverständnis, fragt aber nach der Sinnhaftigkeit dieser
Eingriffe. Bei der dritten Operation wird dem Sohn 30 Minuten vor der geplanten Operation
mitgeteilt, dass auch diese Operation notwendig sei. Der Vater stirbt kurz danach.
Kommentar
Eine fortgeschrittene Demenz eines betagten Kranken ist als palliativmedizinisches
Krankheitsstadium anzusehen, das Weiterleben ist sehr begrenzt. In den meisten
Krankenhäusern gibt es eine Palliativstation zur Betreuung von Kranken mit unheilbarer,
bald zum Tod führender Krankheit. Eine Lebensverlängerung ist kaum mehr möglich, die
Linderung der Beschwerden steht im Vordergrund. Aber durchdringt palliativmedizinische
Erfahrung, insbesondere im Umgang mit Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht ein
ganzes Krankenhaus? Wer hätte dem Sohn stellvertretend für den Kranken zur Wahrung
seiner Autonomie Alternativen der Behandlung durch Symptomkontrolle der Schmerzen
und konservativer Behandlung aufzeigen können? Aufgrund einer Sekundärinfektion
entwickelte sich vermutlich eine Sepsis, wäre die alleinige Antibiotikatherapie die
Alternative gewesen? Bei einem 84-jährigen Patienten mit diesem Krankheitsverlauf gibt es
keine evidenzbasierten Studien, die zu einer bestimmten Behandlung raten. Sehr
wahrscheinlich sind die Überlebensaussichten einer dritten Operation und einer
konservativen Behandlung nicht unterschiedlich. Hätte man dem Kranken und seinen
Angehörigen einen würdigen Abschied ermöglichen sollen? Woran dürfen wir hochbetagt
und lebenssatt sterben? Ist Sterben lassen (synonyme, manchmal missverständliche
Bezeichnung: passive Sterbehilfe) hier eine Option? Wer bespricht, ob eine dritte Operation
nicht sinnlos ist, international als futility (Nutzlosigkeit) bezeichnet? Und nicht zu vergessen
ist, dass gerade nach dem Patientenverfügungsgesetz von 2009 auch eine eindeutig
sinnvolle, das Überleben gewährleistende Behandlung abgelehnt werden darf. Der
Kommentar des Sohnes: So hätte mein Vater nicht sterben wollen.
Diskussion
Ethische Basis unseres Handels sind folgende Prinzipien:
Gutes tun
Nicht schaden
Autonomie (Selbstbestimmung des Patienten)
Gerechtigkeit
Gutes tun und nicht schaden sind seit dem Altertum Richtschnur ärztlichen Handelns.
Heutzutage kommen Autonomie des Patienten und Gerechtigkeit hinzu. Besonders die
Autonomie hat zu Recht eine große Bedeutung erfahren, die Selbstbestimmung ist die
notwendige Bedingung der Menschenwürde in demokratischen Gesellschaften. Allerdings
kann sie nie absolut sein, weil sie dann die Gemeinschaftsbildung verhindert. Zu einer
Gemeinschaft gehören immer Menschen und dies in großer Mehrzahl, die zum
Allgemeinwohl auf ihre Autonomie partiell und zeitlich verzichten. Was ist die Basis ihres
ethischen Handelns? Intuitiv spüren sie die Notwendigkeit der Hilfe für Kranke, Leidende
und solche Menschen, die sich selbst nicht helfen können. Gutes tun - und deshalb steht es
an erster Stelle im Sinne einer Graduierung - ist die Basis der Gemeinschaft. Auch die
Gerechtigkeit, in unserem Patientenbeispiel als gerechte Verteilung der Mittel im
Gesundheitswesen, ist begrenzt. Es ist offensichtlich geworden, dass zum Beispiel die
begrenzten finanziellen Mittel im Gesundheitswesen falsch verteilt werden. Unser
Abrechnungssystem (DRG: Diagnosis Related Groups) bezahlt einseitig die technische
Medizin, aber die sprechende, fürsorgende Medizin nicht ausreichend. Es fehlt, weil nicht
bezahlt, ausreichend ärztliches und Pflegepersonal, um Gespräche zu führen und zum
Beispiel das Für und Wider einer zweiten und dritten Operation zu diskutieren. Darüber
hinaus sind die Krankenhäuser zum Teil sogar existenziell bedroht, unterfinanziert. Damit
wird nicht nur die Fürsorge, sondern auch die Selbstbestimmung des Kranken, hier
vertreten durch den Sohn, geschwächt. Kritisch muss man neuere Vorhaben zur
Patientenautonomie sehen, die als gesundheitliche Vorausplanung (APC: Advance Care
Planning) bezeichnet, einerseits die genannten Vorausverfügungen als gescheitert
ansehen, andererseits eben diese als Instrument des Patientenwillens nutzen wollen mit
einer differenzierten gesundheitlichen Vorausplanung und Vernetzung von Hausarzt,
Notarzt, Krankenhäusern, Angehörigen und Altenheimen. Das Problem ist nicht, wie
geschehen, in kostenaufwendigen Modellprojekten mit zusätzlichen Beratern die
Machbarkeit zu dokumentieren, sondern die personellen Voraussetzungen für ärztliches
und Pflegepersonal zur gesundheitlichen Vorausplanung zu schaffen. Beide Berufszweige
sind aufgrund der Ausbildungsgänge dazu in der Lage. Das Beispiel eines Kranken mit
Demenz wurde bewusst gewählt, weil eine weit fortgeschrittene Demenz als
palliativmedizinisches Krankheitsstadium anzusehen ist und weil die Zahl dieser Patienten
und die geschilderte Situation häufiger auftreten werden. Aber auch allgemein, das heißt,
wenn kein palliativmedizinisches Krankheitsstadium besteht, muss den Wünschen der
Kranken zum Beispiel zur Begrenzung invasiver, lebensverlängernder Behandlung Folge
geleistet werden. Was kann man tun?
Vorschläge zur Integration palliativmedizinischen Wissens in den
Alltag von Klinik und Praxis
Unterscheiden muss man zwischen kurzfristigen, bald zu erreichenden Erfolgen und
langfristigen Veränderungen. Eine langfristige Verbesserung ist zum Bei-spiel die bereits
vollzogene Einführung einer Pflichtvorlesung Palliativmedizin mit einer Wissenskontrolle in
den letzten Semestern vor dem Staatsexamen. Eigene Erfahrungen dazu sind sehr positiv.
Angehende Ärzte haben großes Interesse und diskutieren zum Beispiel erlebte Beispiele in
ihren Famulaturen der oben geschilderten Art.
Kurzfristig:
Verpflichtung zum Besuch eines Basiskurses Palliativmedizin. Da die Curricula der
Facharztweiterbildungen schon jetzt überfüllt sind, müssen Kostenträger verpflichtet
werden. Kontrollinganschreiben et cetera um 50 Prozent zu reduzieren.
Pro Krankenhausabteilung Bestimmung eines Konsiliar-Arztes mit
palliativmedizinischer Erfahrung, der bei speziellen Fragen und Problemen das
Personal der Palliativstation zusätzlich konsultieren kann.
Das Pflegepersonal erfragt verbindlich, ob eine Patientenverfügung und
Vorsorgevollmacht vorliegt.
Bewusstseinswandel des ärztlichen Personals, differenzierter die Sinnhaftigkeit einer
apparativen, invasiven Behandlung abzuwägen und gemäß dem
Patientenverfügungsgesetz die Ablehnung einer Behandlung zu befolgen.
Langfristig:
Änderung des DRG-Abrechnungssystems, das stark einseitig die technische,
apparative und invasive Medizin vergütet
Bessere Vergütung der "sprechenden Medizin" für die Krankenhäuser. Damit
effektivere Beratung zu Patientenverfügung und Vorsorgevoll-macht im Einzelfall.
Kontrollreduktion der Kostenträger auf ein sinnvolles Maß, Abschaffung des
überbordenden Schriftverkehrs, etwa 40 Prozent der Arbeitszeit des ärztlichen
Personals besteht in Ver-waltungsarbeiten.
Ordnungspolitische Überarbeitung konkurrierender Bundes- und
Ländergesetzgebung im Gesundheitswesen einschließlich der 180 gesetzlichen
Krankenkassen.
Bewusstseinswandel der Gesellschaft, die Lebenszeit nicht numerisch quantitativ
sondern qualitativ und erfüllt, schließlich lebenssatt zu begreifen.
Prof. Dr. med. Gerhard Pott, MA (phil.)
Internist, Gastroenterologe, Palliativmediziner
Osnabrückerstr. 1, 48529 Nordhorn
Prof. Dr. med. Gerhard Pott, MA ( phil ), ehem. Leitender Arzt. Lehrbücher zur
gastroenterologischen Endoskopie, Ethik am Lebensende und Palliativmedizin. 2009
Ehrenplakette der Ärztekammer Niedersachsen. Nach der Pensionierung Praxis- und
Beiratstätigkeiten, Vorlesungen zur Palliativmedizin und medizinischen Ethik
Literatur
1| In der Schmitten, J: Advanced Care Planning - Gebot der Stunde, Z. Palliativmed 2013
14 (04) 148-149
2| Lipp, V, Brauer, D: Behandlungsbegrenzung und "futility" aus rechtlicher Sicht, Z.
Palliativmed 2013; 14(03): 121-126, DOI: 10.1055/s-0033-1343112
3| Pott, G: Ethical Motivation of Palliative Care, J. Anästhesie und Intensivbehandlung,
2010; 3: 40
4| Pott, G, Domagk, D, ( Hrsg.): Integrierte Palliativmedizin, Schattauer-Verlag , Stuttgart,
2013
5| Sahm, S: Am Anfang sagte der Arzt, was sein soll, FAZ 13.6.09
6| van der Steen JT, Radbruch L, Hertogh CM, de Boer ME, Hughes JC, Larkin P, Francke
AL, Jünger S, Gove D, Firth P, Koopmans RT, Volicer L: on behalf of the European
Association for Palliative Care (EAPC). White paper defining optimal palliative care in older
people with dementia: A Delphi study and recommendations from the European
Association for Palliative Care, Palliat Med. 2013 Jul 5
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