SAISON 2015 2016 4. / 5. / 6.6.16 11. SYMPHONIEKONZERT Christian THIELEMANN ZNAIDER Nikolaj SAISON 2015 2016 4. / 5. / 6.6.16 11. SYMPHONIEKONZERT Christian THIELEMANN ZNAIDER Nikolaj 11. SYMPHONIEKONZERT S A M STAG 4. 6 .16 11 U H R SO N N TAG 5. 6 .16 20 UHR M O N TAG 6 . 6 .16 20 UHR PROGRAMM S E M P ER O P ER DRESDEN Christian Thielemann Ludwig van Beethoven (1770-1827) Dirigent Violinkonzert D-Dur op. 61 1. Allegro, ma non troppo 2. Larghetto – attacca subito il Rondo 3. Rondo. Allegro Nikolaj Znaider Violine PAU S E Max Reger (1873-1916) Im Reich der Inspiration Während sich Reger in seinen »Mozart-Variationen« von einem Thema des verehrten Genius aus Wien anregen ließ, entzündete sich die Phantasie des jungen Strauss an der Gestalt des berühmt-berüchtigten Till Eulenspiegel – die gleichnamige Symphonische Dichtung war sicher auch ein gutes Stück Selbstporträt. Beethoven wiederum dürfte bei der Komposition seines epochemachenden Violinkonzertes die virtuose Kunst seines Auftraggebers im Blick gehabt haben, der das Werk ohne Probe zur Uraufführung bringen musste. Aufzeichnung durch MDR Kultur Sendetermin: 7. Juni 2016, ab 20.05 Uhr bei MDR Kultur Variationen und Fuge über ein Thema von Mozart op. 132 Thema. Andante grazioso 1. Variation. L’istesso tempo (quasi un poco lento) 2. Variation. Poco agitato (Più mosso, non troppo allegro) 3. Variation. Con moto 4. Variation. Vivace 5. Variation. Quasi Presto 6. Variation. Sostenuto (quasi Adagietto) 7. Variation. Andante grazioso 8. Variation. Molto sostenuto Fuge. Allegro grazioso Zum 100. Todestag des Komponisten Richard Strauss (1864-1949) Till Eulenspiegels lustige Streiche op. 28 Nach alter Schelmenweise – in Rondeauform – für großes Orchester gesetzt Kostenlose Konzerteinführungen jeweils 45 Minuten vor Beginn im Foyer des 3. Ranges der Semperoper 2 3 11. SYMPHONIEKONZERT Christian Thielemann CHEFDIRIGENT DER S Ä C H S I S C H E N S TA AT S K A P E L L E D R E S D E N D ie Saison 2015 / 2016 ist Christian Thielemanns vierte Spielzeit als Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle. Über Stationen an der Deutschen Oper Berlin, Gelsenkirchen, Karlsruhe, Hannover und Düsseldorf kam er 1988 als Generalmusikdirektor nach Nürnberg. 1997 kehrte der gebürtige Berliner in seine Heimatstadt als Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin zurück, bevor er das gleiche Amt von 2004-2011 bei den Münchner Philharmonikern innehatte. Neben seiner Dresdner Chefposition ist er seit 2013 Künstlerischer Leiter der Osterfestspiele Salzburg, deren Residenz­ orchester die Staatskapelle ist, und seit Juni 2015 Musikdirektor der Bayreuther Festspiele. Den Komponistenjubilaren der Jahre 2013 und 2014, Wagner und Strauss, widmete er sich am Kapell-Pult in Konzert und Oper. Er leitete Neuproduktionen der »Elektra« in Dresden sowie »Parsifal«, »Arabella« und »Otello« in Salzburg. Für seine Interpretation der »Frau ohne Schatten« bei den Salzburger Festspielen 2011 wählte ihn das Fachmagazin Opernwelt zum »Dirigenten des Jahres«. Eine enge Zusammenarbeit verbindet Christian Thielemann mit den Berliner und Wiener Philharmonikern sowie mit den Bayreuther Festspielen, die er seit seinem Debüt im Sommer 2000 (»Die Meistersinger von Nürnberg«) alljährlich durch maßstabsetzende Interpretationen prägt und deren musikalischer Berater er seit 2010 ist. 2015 fand hier sein Dirigat von »Tristan und Isolde« große Beachtung. Im Zuge seiner vielfältigen Konzerttätigkeit folgte er Einladungen u. a. der führenden Orchester in Amsterdam, London, New York, Chicago und Philadelphia und gastierte außerdem in Israel, Japan und China. Christian Thielemanns Diskographie als Exklusivkünstler der UNITEL ist umfangreich. Im Rahmen seiner zahlreichen Aufnahmen mit der Staatskapelle erschienen jüngst der gemeinsame Brahms-Zyklus, Bruckners Symphonie Nr. 5 sowie Strauss’ »Elektra« und »Arabella« auf CD bzw. DVD. Mit den Wiener Philharmonikern legte er eine Gesamteinspielung der Symphonien Beethovens vor. Er ist Ehrenmitglied der Royal Academy of Music in London sowie Ehrendoktor der Hochschule für Musik »Franz Liszt« Weimar und der Katholischen Universität Leuven (Belgien). Im Mai 2015 wurde ihm der Richard-Wagner-Preis der Richard-Wagner-Gesellschaft der Stadt Leipzig verliehen. 4 5 11. SYMPHONIEKONZERT Nikolaj Znaider Violine N ikolaj Znaider wird nicht nur als einer der führenden Geiger unserer Zeit gefeiert, er gilt auch als einer der vielseitigsten Künstler seiner Generation, der gleichermaßen als Solist, Dirigent und Kammermusiker erfolgreich ist. Auf Anregung von Valery Gergiev wurde er 2010 zum Principal Guest Conductor des Orchesters des Mariinsky-Theaters in St. Petersburg ernannt. Engagements führten ihn ans Pult u. a. des Danish Radio Symphony, des Konzerthausorchesters Berlin, des Orchestre National de France sowie der Münchner Philharmoniker. Regelmäßig dirigiert er das Hallé Orchestra sowie das London Symphony Orchestra. Im April 2016 gastierte er beim Washington National Symphony Orchestra. Eine enge Partnerschaft verbindet ihn mit der Filarmonica del Teatro Comunale in Bologna, die er im Juni 2016 erneut leitet. 2011 / 2012 war er Capell-Virtuos der Staatskapelle Dresden und hier als Solist, Dirigent und Kammermusiker zu erleben. Als Solist arbeitet Nikolaj Znaider mit renommierten Orchestern und Dirigenten zusammen. Seine Rezitals und Kammermusikkonzerte führen ihn in die bedeutendsten Säle der Welt, u. a. nach Brüssel, Bilbao, Dublin, Kopenhagen und London. Er war Gründer und zehn Jahre auch Künstlerischer Leiter der Nordic Music Academy. Mit Alan Gilbert und den New York Philharmonic hat er das Violinkonzert von Carl Nielsen aufgenommen. Zudem erschien Elgars Violinkonzert mit der Staatskapelle Dresden unter Sir Colin Davis. Die preisgekrönte Aufnahme der Violinkonzerte von Brahms und Korngold mit den Wiener Philharmonikern unter Valery Gergiev sowie seine früheren Aufnahmen, darunter die Violinkonzerte von Beethoven und Mendelssohn mit dem Israel Philharmonic Orchestra unter Zubin Mehta und die Violinkonzerte von Prokofjew und Glasunow mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Mariss Jansons, erhielten viel Lob von der Fachpresse, ebenso wie die Einspielung des Gesamtwerks für Violine und Klavier von Johannes Brahms zusammen mit Yefim Bronfman. Nikolaj Znaider spielt auf der »Kreisler« Guarnerius del Gesu 1741, die ihm vom Königlich Dänischen Theater – unterstützt durch die Velux Foundations und die Knud Højgaard-Stiftung – als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt wird. 6 7 11. SYMPHONIEKONZERT Ludwig van Beethoven * (getauft) 17. Dezember 1770 in Bonn † 26. März 1827 in Wien EIN »VERWEILE DOCH!« IN UNRUHIGEN ZEITEN Beethovens Violinkonzert D-Dur Violinkonzert D-Dur op. 61 1. Allegro, ma non troppo 2. Larghetto – attacca subito il Rondo 3. Rondo. Allegro D ENTSTEHUNG BESETZUNG Herbst 1806 Solovioline; Flöte, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, Pauken und Streicher WIDMUNG Stephan von Breuning U R AU F F Ü H R U N G 23. Dezember 1806 im Rahmen einer Großen musikalischen Akademie im Theater an der Wien zum Vorteil von Franz Clement, Musikdirektor des Theaters 8 9 DAU ER ca. 45 Minuten ie Jahre um 1806 stehen nicht gut. Pferdegetrappel und Schlachtenlärm dringen bis in die hintersten Winkel des Kontinents. Der Zustand einer allgemeinen Erregung ist allgegenwärtig. Folgenreiche Ereignisse binden die Kräfte ganzer Nationen. Eruptiv entladen sie sich und verändern das Gefühl von Zeit. Durch die Vielzahl unmittelbar aufeinanderfolgender Ereignisse wird Zeit neu wahrgenommen und lässt die Fieberkurve steigen. Im August 1806 legt Franz II. von Habsburg-Lothringen die Kaiserkrone nieder und erklärt das Heilige Römische Reich Deutscher Nation für aufgelöst. Fast unbemerkt wird damit die Idee der Translatio imperii begraben, der zufolge das Ostfränkische Reich im Mittelalter die Nachfolge des Römischen Reiches angetreten hatte. Eine jahrhundertealte Geschichtsauffassung findet damit ihr praktisches Ende, begleitet von weiteren Umwälzungen, die die gewohnten Verhältnisse politisch auf den Kopf stellen. Dabei ist es ein einziger Mann, der Europa seinen Willen aufzwingt: Napoleon Bonaparte. Vor allem er ist ein Gehetzter, ein Getriebener seiner eigenen Ambition. Hegel nennt ihn die »Weltseele zu Pferde«. Im Oktober 1806 schlagen seine Truppen bei Jena und Auerstedt die preußische Armee, wenig später zieht er in Berlin ein und besetzt im November Hamburg. Dass es auch anders geht, indem man sich auf die vermeintlich sichere Seite schlägt, zeigt sich in Sachsen, wo am 20. Dezember, drei Tage vor Uraufführung des Violinkonzerts, Kurfürst Friedrich August III. unter Billigung Napoleons zum König proklamiert wird und fortan die Geschicke des Königreiches Sachsen als Friedrich August I. lenkt. 1806 ist es auch, als Goethe mit »Faust. Eine Tragödie« den ersten Teil seines wirkmächtigen Höllentrips beendet. Der Teufelspakt eines Intellektuellen hat Folgen, auch ästhetisch. Fausts Worte: »Werd’ ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehn!« hallen durch eine Zeit, in der sich – überspitzt gesagt – 11. SYMPHONIEKONZERT die Meldungen täglich überschlagen. Der Schulterschluss mit dem Satan narkotisiert und verführt, er zieht in einen Strudel, in dessen Tiefen ent­fesselte Kräfte ihr undurchsichtiges Spiel treiben. Vor diesem Hintergrund mutet es seltsam an, dass 1806 zum vielleicht ergiebigsten Schaffensjahr für Beethoven wird, in dem neben dem Violinkonzert unter anderem auch die vierte Symphonie, das Klavierkonzert G-Dur, die c-Moll-Variationen für Klavier und schließlich die drei Streichquartette op. 59, die nach ihrem russischen Widmungsträger benannten »Rasumowsky«-Quartette, entstehen. Produktivität und Erfolge gehen einher mit einer Stabilisierung der Lebens- und Existenzverhältnisse. Beethoven erweitert seine Kontakte zu Mitgliedern des Adels um den Fürsten Lobkowitz und den Grafen Franz von Oppersdorff, dem beispielsweise die vierte Symphonie gewidmet ist. Dennoch scheint Beethoven etwas zu fehlen. Im Herbst 1806, also während der Komposition solcher Werke wie der Vierten und des Violinkonzerts, bemerkt ein enger Freund: »Seine Gemüthsstimmung ist meistens sehr melancholisch«, was man schnell begreift, wenn man Schwermut als einen Zustand erhöhter Produktivität versteht. In dieser Zeit wird außerdem Beet­hovens Neffe Karl geboren. Damit entsteht eine Familienkonstellation, die später nach dem Tod des Bruders zu schwerwiegenden Konflikten führt. Beethovens intensivierte Innerlichkeit ist vielleicht auch Ausdruck einer nachhaltigen Herzensangelegenheit. Das Verhältnis zu Josephine Gräfin von Brunsvik erlebt einige Monate vor Entstehung des Violinkonzertes seine mutmaßlich größte emotionale Regsamkeit. Beethovens Neigung wird durchaus erwidert, doch widersetzt sich Josephine ihren Kindern zuliebe später einer Heirat. Als er ihr einen Brief zwischen Herbst 1804 und Frühjahr 1805 schreibt, ist ihr endgültiger Entschluss noch nicht gefasst. In dem Schreiben gesteht er ihr: »aber ein innerer Gram – hatte mich lang – meiner sonst gewöhnlichen Spannkraft beraubt, einige Zeit hindurch als das Gefühl der Liebe in mir für sie angebetete J. / zu keimen anfing, vermehrte sich dieser noch – sobald wir einmal wieder ungestört bejsammen sind, dann sollen sie von meinen wirklichen Leiden und von dem Kampf mit mir selbst zwischen Tod und leben, den ich einige Zeit hindurch führte unterrichtet sejn – Ein Ereigniß machte mich lange Zeit an aller Glückseeligkeit des Lebens hienieden zweifeln – nun ist es nicht halb mehr so arg, ich habe ihr Herz gewonnen, o ich weiß es gewiß.« Beethovens Gewissheit ist trügerisch. Im Winter 1806 / 1807 schreibt sie ihm in verzweifeltem Ton: »Dieser Vorzug, den Sie mir gewährten, das Vergnügen Ihres Umgangs, hätte der schönste Schmuck meines Lebens seyn können liebten Sie mich minder sinnlich – daß ich diese Sinnliche Liebe, nicht befriedigen kann – zürnen Sie auf mich – Ich müßte heilige Bande verletzen, gäbe ich Ihrem Verlangen Gehör – Glauben Sie – daß 10 11 Ludwig van Beethoven, Ölbild von Isidor Neugass, um 1806 11. SYMPHONIEKONZERT Theater an der Wien, Jakob Alt, 1815 ich, durch Erfüllung meiner Pflichten, am meisten leide – und daß gewiß, edle Beweggründe meine Handlungen leiteten.« Spürbar zieht sie sich von Beethoven zurück und gibt dem Druck ihrer adligen Familie nach. Wenn er sie besuchen will, lässt sie sich verleugnen. Verschwenderische »Fülle reicher Gedanken« Der Vorgriff auf das Ende einer Liebe spannt den Bogen einer Entwicklung, die während der Arbeit am Violinkonzert im Herbst 1806 noch nicht in ihren Einzelheiten abzusehen ist. Es ist wahr, Beethovens Zuneigung zu Josephine steht nicht in direktem Zusammenhang mit der Genese des Violinkonzertes. Viel eher ist es der Geiger Franz Clement, Konzertmeister am Theater an der Wien, der den Komponisten 1806 um ein Konzert für Violine und Orchester bittet. Das Werk soll in der von Clement organisierten »Großen Musikalischen Akademie« am 23. Dezember im Theater an der Wien erstmals aufgeführt werden. Beethoven, dem Plan zustimmend, komponiert es in ungewöhnlich kurzer Zeit. Neuere Untersuchungen legen nahe, dass er mit der Niederschrift der Partitur Ende November beginnt und sie kurz vor der Uraufführung abschließt. Beethovens Schüler Carl Czerny berichtet, das Konzert sei »kaum zwei Tage nach seiner Vollendung, mit größter Wirkung« aufgeführt worden. Vieles deutet indes darauf hin, dass dem Werk kein großer Erfolg beschieden ist. Johann Nepomuk Möser schreibt 12 13 Anfang 1807 in der Wiener Theater-Zeitung: »Ueber Beethhofens Concert ist das Urtheil von Kennern ungetheilt, es gesteht demselben manche Schönheit zu, bekennt aber, daß der Zusammenhang oft ganz zerrissen scheine, und daß die unendlichen Wiederholungen einiger gemeinen Stellen leicht ermüden könnten … Man fürchtet aber zugleich, wenn Beethhofen auf diesem Weg fortwandelt, so werde er und das Publikum übel dabey fahren. Die Musik könnte sobald dahin kommen, daß jeder, der nicht genau mit den Regeln und Schwierigkeiten der Kunst vertraut ist, schlechterdings gar keinen Genuß bey ihr finde, sondern, durch eine Menge zusammenhängender und überhäufter Ideen und einen fortwährenden Tumult einiger Instrumente, die den Eingang charakterisieren sollten, zu Boden gedrückt, nur mit einem unangenehmen Gefühl der Ermattung das Koncert verlasse. Dem Publicum gefiel im allgemeinen dieses Koncert und Clements Phantasien außerordentlich.« Clements Leistung muss in der Tat erstaunlich gewesen sein. Zeitgenossen berichten, dass der Geiger seinen Solopart bei der Uraufführung angeblich »ohne vorherige Probe a vista spielte«. Die Geburt des Konzerts, so lässt sich sagen, steht unter enormem Zeitdruck. Noch während der Niederschrift ist Beethoven komponierend tätig. Dennoch, vermutlich schreibt er schon vor November an dem Werk, da die einzig erhaltene Skizze von September / Oktober 1806 stammt. In dieser Zeit arbeitet er parallel an der vierten Symphonie. Auffällig ist die motivische Verwandtschaft der aufsteigenden Kantilene der Bratschen am Beginn des Adagios in der Symphonie mit dem gleichermaßen aufsteigenden Seitenthema aus dem ersten Satz des Violinkonzertes. Die motivisch-thematischen Überschneidungen dokumentieren eine enge Verflechtung des kompositorischen Prozesses, in dem das Nebenmaterial des einen Stücks zum Hauptmaterial des anderen wird. Im ersten Satz des Konzerts fügt Beethoven je nach Zählung fünf oder sechs Themenkomplexe scheinbar zwanglos aneinander. Dem Satz ist wiederholt eine verschwenderische »Fülle reicher Gedanken« nachgesagt worden. Man nimmt Anstoß an der Vielheit der Motive und vermisst kunstvolle Verschränkungen und Formgebilde, die Beethovens kühne Behandlung des Sonatensatzes sonst auszeichnen. Die gewohnte Strukturierung von Zeit wirkt hier wie aus den Angeln gehoben. Vielleicht mag das an dem Umstand liegen, dass in der Kürze der zur Verfügung stehenden Ausarbeitungszeit keine elaborierte Vertiefung möglich ist. Vielleicht liegt es aber auch an Beethovens Anspruch, künstlerisch zu experimentieren und unentwegt nach neuen Ansätzen zu suchen. Ihm bietet sich hier die Möglichkeit, den symphonischen Konzertstil, den er bereits im »Tripelkonzert« (1803 / 1804) und im vierten Klavierkonzert entwickelt hat, weiter zu variieren. Erinnert sei an sein Wort, dass keine Regel sei, »die nicht durch eine andere um 11. SYMPHONIEKONZERT des Schönen willen verstoßen werden dürfte«. Immerhin dauert der erste Satz je nach Interpretation und Solokadenz zwischen 20 und 25 Minuten, so lange wie ein sonst damals übliches komplettes Violinkonzert. Andererseits ist die thematische Aneinanderreihung womöglich Ausdruck der herrschenden Epoche, in der, wie bereits erwähnt, folgenschwere Ereignisse dem Kontinent ein neues Zeitempfinden aufzwängen. Bereits der konzentrierte Ideenstrom in der Tutti-Einleitung des ersten Satzes arbeitet mit Gegenüberstellungen. Sie verdeutlichen die Widersprüchlichkeiten jener Zeit. Dazu zählt auch, dass sich die Gegensätze im Laufe des Allegros merklich einebnen. Produktive Spannkraft in ungewissen Zeiten Je näher die Einschläge kommen, desto verhaltener wirkt die Atmosphäre. Im zweiten Satz, der leise beginnt, setzen Flöte, Oboen, Trompeten und Pauken gänzlich aus und spielen die Streicher großteils con sordino (mit Dämpfer). Es ist ein zaghaftes, fast stockendes Beginnen, dem eine zart aufblühende Cantilene in den Violinen folgt mit einem anschließenden Ruhepunkt, bevor der Fluss, unterbrochen durch eine weitere Pause, weiterströmt. Gestaltet ist das Larghetto als Variationensatz, wobei das Thema in seiner ursprünglichen Form stets hörbar bleibt, ausgeführt in unterschiedlicher instrumentaler Formation und mit Verzierungen in der Solovioline, zumindest in den ersten beiden Variationen. Beethoven entwirft die Vision eines sich ergänzenden Zusammenspiels zwischen Orchester und Solist. Das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft wird auf der Basis eines Themas verhandelt, dessen Änderungen nicht an seiner grundlegenden Form rütteln. Wie hatte Beethoven 1801 gegenüber einem Schüler behauptet? »Der Mensch repräsentiert einzeln ebenso das Gesamtleben der Gesellschaft, wie die Gesellschaft nur ein größeres Individuum vorstellt.« Im Larghetto gewinnt die Dialektik eines Zusammenwirkens oder höheren Aufgehens exemplarische Züge. Für einen Moment flüchten sich die heroischen Auseinandersetzungen jener Jahre in die Utopie einer weltfliehenden Romanze. Die markig pochenden Punktierungen der Klarinetten, Fagotte und Hörner ungefähr in der Mitte des Satzes werden durch den melodischen Schmelz der Streicher aufgefangen. Unbeirrt zieht die Anmut ihre Kreise, als ob keine Macht der Welt ihr etwas anhaben könnte. Zu einer Stauung kommt es lediglich im Übergang zum dritten Satz. Wenn Beethoven später das Werk für den Druck bearbeitet und dabei vor allem den Part der Solovioline ändert, lässt er den Mittelsatz bezeichnenderweise unberührt. Anders im Finale, dessen Solostimme weitgehende Revidierungen erfährt. Dem Satz liegt der Gestus eines damals beliebten 14 15 Programm der Musikalischen Akademie am 23. Dezember 1806 im Theater an der Wien Auf dem Titelblatt des Manuskriptes zum Violinkonzert heißt es: »Concerto par Clemenza pour Clement« (Konzert aus Barmherzigkeit für Clement) Jagdrondos zugrunde. Die Solovioline trägt das Rondothema zu Beginn zweimal vor, zunächst im tiefen Register, dann zwei Oktaven höher, bevor es schließlich vom Orchestertutti gespielt wird. Man merkt die von Beethoven angestrebte Richtung: alles schwingt sich auf. Indes könnte man auch von einem intendierten Aufschaukeln sprechen, das sich in der Lage allgemeiner Zuspitzung sichtlich unbekümmert gibt. Betrachtet man das Rondothema jedoch genau, so sind ihm von Anbeginn an gegensätzliche Fliehkräfte eingeschrieben. Gerade in seinem Vordersatz ist der ständige Wechsel der Richtungen nach unten und oben bemerkenswert. Das erstrebte Aufsteigen wird gehindert durch ein Beharren bindender Kräfte. Der Unbeschwertheit des Rondos verleihen sie ein leicht trotziges »Verweile doch!«, das den Wirren der Zeit widerständig entgegenzutreten scheint. Beethoven, der leidenschaftlich und engagiert politisch denkt, mag das zwar nicht unbedingt beabsichtigt haben, doch zeigt sich seine produktive Regsamkeit gleichwohl nicht verschlossen für die Spannungen seiner Zeit. ANDRÉ PODSCHUN 11. SYMPHONIEKONZERT »WIR BRAUCHEN NÖTIGST VIEL, VIEL MOZART!!!« Max Reger * 19. März 1873 in Brand (Oberpfalz) † 11. Mai 1916 in Leipzig Max Regers »Mozart-Variationen« Variationen und Fuge über ein Thema von Mozart op. 132 Thema. Andante grazioso 1. Variation. L’istesso tempo (quasi un poco lento) 2. Variation. Poco agitato (Più mosso, non troppo allegro) 3. Variation. Con moto 4. Variation. Vivace 5. Variation. Quasi Presto 6. Variation. Sostenuto (quasi Adagietto) 7. Variation. Andante grazioso 8. Variation. Molto sostenuto Fuge. Allegro grazioso Zum 100. Todestag des Komponisten ENTSTEHUNG BESETZUNG Mai bis Juli 1914 3 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, Pauken, Harfe und Streicher WIDMUNG Meininger Hofkapelle U R AU F F Ü H R U N G 8. Januar 1915 in Wiesbaden, Städtisches Kurorchester, unter Leitung des Komponisten D R E S D N E R E R S TAU F F Ü H R U N G 5. November 1915 im Königlichen Opernhaus, unter Leitung von Hermann Kutzschbach 16 17 DAU ER ca. 30 Minuten N och immer dominiert der Eindruck, als sei das Œuvre von Max Reger vor allem ein Geheimtipp für Kenner und Liebhaber. Die meisten seiner Werke haben es schwer, sich auf den Konzertpodien dauerhaft durchzusetzen. Gemeinhin gelten sie als überladen, mit einer Überfülle des Materials, die eine gewisse Unübersichtlichkeit zur Folge hat. Nicht zufällig ist von einer »Kunst des Überbietens« (Siegfried Schmalzriedt) gesprochen worden. Die melodischen Linien ranken bis in die verborgensten Texturen hinein, verdichten sich und führen zu einer Kompaktheit, die zum Markenkern seiner Musik zählt. So dient etwa die Regersche Kantilene in ihrer Gewundenheit dem Nachspüren feinster Nuancen und Stimmungen. Zum Vorschein kommt eine Technik filigraner Verästelung, die die Schwingungen kleinster Spannungen seismographisch nachzeichnet. Dabei ist Reger mehr als nur ein Vertreter einer nervlich überreizten, manieristischen Zeit. Im Verbund der verschiedenen Strömungen des ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts pflegt er einen betont individuellen Stil. 1895 schreibt er an Ferruccio Busoni: »Richtung habe ich keine; ich nehme das Gute, wie es eben kommt. Und ist mir jede musikalische Parteilichkeit … im Grunde höchst zuwider.« Das Gute nehmen, wie es kommt, erklärt sich aus Regers »genialer Instinktnatur«, die Karl Straube dem Komponisten attestiert. Doch suggeriert Straubes Formel, als lasse sich Reger vornehmlich von Eingebungen und Anregungen leiten. Schon der junge Reger ist bemüht, diesen Eindruck zu widerlegen. In einem Brief an Emil Krause im Sommer 1900 schreibt er: »Wenn Sie glauben, daß ich blindlings darauflos komponiere, so täuschen Sie sich; ich bin mir meiner künstlerischen Ziele sehr wohl und äußerst klar bewußt, und es 11. SYMPHONIEKONZERT Busch: »Kam man damals mit ihm zusammen, so bildeten Instrumentierungsprobleme seinen Hauptgesprächsstoff, und es interessierte ihn beim Durchblättern fremder Orchesterwerke weit mehr die Frage, ob etwa die Violoncelli durch Fagotte verdoppelt waren, als die Erkenntnis, ob eine Fuge gut gearbeitet sei.« 1907 befindet der österreichische Schriftsteller und Musikkritiker Ernst Décsey, man fände in Regers Werken »viele Heimlichkeiten musikalischer Schönheit, Heimlichkeiten, über die sich Musiker im Musikzimmer mit einem Blick über die Schulter, mit einem Worte verständigen, die sich aber in einem Feuilleton kaum zu Papier bringen lassen, und die im Konzertsaal wie nicht vorhanden erscheinen.« Und fragt: »Ist’s eine Musik für Musiker?« »Man kann nicht immer schweren dunklen Bordeaux trinken« Max Reger komponierend, 1913 ist absolut kein Herumtappen im Nebel!« Alles ist darauf ausgerichtet, »Musik zu machen«, wie er einmal festhält. Für ihn liegt das Ideal in einer schönen Instrumentierung, »die sich von allem Suchen nach leeren, bloss sinnlich wirkenden Orchestereffekten … fernhält«, schreibt er 1894 in der Allgemeinen Musik-Zeitung. Das gilt vor allem später, wenn er als Hofkapellmeister in Meiningen arbeitet. Aus dieser Zeit berichtet Fritz 18 19 Im August 1888 kommt es zu einer musikalischen Initiation. Der 15-jährige Reger wird von seinem Onkel zum Besuch der Bayreuther Festspiele eingeladen. Er sieht den von Felix Mottl dirigierten »Parsifal« in der Inszenierung und Dekoration der Uraufführung von 1882 sowie die »Meistersinger« unter Hans Richter. Reger, der zum ersten Mal ein Orchester bzw. ein Musikdrama erlebt, fasst den Entschluss, Musiker zu werden. Er studiert bei Hugo Riemann, gibt später Klavier-, Orgelund Theoriestunden und findet u. a. in Richard Strauss einen Förderer seiner Werke. So gesteht Strauss in einem Brief an Reger, dass er ihn um den Besitz eines so immensen Könnens beneide. Man beginnt sich für seine Kompositionen zu interessieren und ist von der Neuartigkeit und Eigenart seiner musikalischen Sprache eingenommen. Als Liedbegleiter und Kammermusiker findet er uneingeschränkte Anerkennung. Regers umfangreiches Betätigungsfeld ist beeindruckend. Seine praktikablen Beiträge zur Modulationslehre erfreuen sich großer Beliebtheit, die sich in einer beachtlichen Zahl von Neuauflagen und Übersetzungen bis ins Japanische ausdrückt. Während eines Konzertaufenthalts in Karlsruhe empfängt er 1907 seine Berufung zum Universitätsmusikdirektor und Professor am Königlichen Conservatorium zu Leipzig; während er die erste Tätigkeit bereits im folgenden Jahr wieder abgibt, bleibt er der Meisterklasse für Komposition bis zu seinem Tode treu. Im Januar 1909 spielt ihm in Köln der 17-jährige Adolf Busch das Violinkonzert A-Dur auswendig vor, am Klavier begleitet von Buschs Bruder Fritz. Die Begegnung bildet den Auftakt einer engen Künstler-Freundschaft, die über Regers Tod hinaus wirkt. In der ihm eigenen Diktion bezeichnet Reger die Busch-Brüder einmal als seine »musikalischen Säuglinge«. Am 1. Dezember 1911 tritt er sein Amt als Hofkapellmeister des Herzogs 11. SYMPHONIEKONZERT Georg II. von Sachsen Meiningen an. Eine rastlose Konzert- und Lehrtätigkeit ist die Folge. Seine Meininger Ära steht für intensive Vorbereitung, schöpferischen Schwung und eine Reistätigkeit mit der Kapelle, die begeisterte Bestätigung findet. Doch zeigt sich, dass sein enormes Pensum auf Dauer nicht durchzuhalten ist. Reger gerät an den Rand der Überarbeitung. Nach einem Zusammenbruch im Frühjahr 1914 gibt er seine Stellung in Meiningen auf. Während eines Kuraufenthalts in Meran, Karl Straube gegenüber spricht er von einer »Entfettungskur«, und einem anschließenden Erholungsurlaub in Oberbayern zwischen Mai und Juli 1914 komponiert er mit den »Mozart-Variationen« sein vielleicht populärstes Werk. Glänzend instrumentiert, fließen seine Kapellmeistererfahrungen aus der Meininger Zeit ein und formuliert er in der eingehenden Beschäftigung mit Mozart seinen eigenen Standort. Bereits um 1904 lassen sich Sätze finden wie: »Ich bete jeden Tag: Gott der Allmächtige möchte uns einen Mozart senden; der thut uns so bitter noth!« Im gleichen Jahr gesteht er Waldemar Meyer: »Glauben Sie mir, niemand wünscht mehr als ich das Wiedergeborenwerden eines Mozart, der mit göttlich leichter Hand aufräumt mit all dem Wust, den mißverstandener Wagner, Liszt u. R. Strauß gezeitigt haben.« Wenige Monate nach Entstehung der »Mozart-Variationen« schreibt er im November 1914 auf einer Postkarte an Frieda Kwast-Hodapp, der Uraufführungspianistin seines Klavierkonzerts: »Sehen Sie Sich die Partitur meines op 132 Variationen und Fuge für Orchester über ein Thema von Mozart an! Man kann nicht immer schweren dunklen Bordeaux trinken – so ein klarer ›Mosel‹ ist doch auch sehr schön! … Wir brauchen nötigst viel, viel Mozart!!!« In der gewiss nicht zufälligen Gegenüberstellung deutscher und französischer Weine bewegt sich Reger kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs mitten in der allgemeinen Kriegseuphorie. Seine »Vaterländische Ouvertüre« op. 140, komponiert im September 1914, widmet er bezeichnenderweise »Dem deutschen Heere«. Doch sollte ehrlicherweise festgehalten werden, dass die »Mozart-Variationen« vor Ausbruch des Krieges entstehen und neben Regers biographischer Situation vor allem sein musikalisches Bekenntnis dokumentieren. In einem Brief an den Simrock-Verlag vom Oktober 1914 ist sich Reger sicher: »Donnerwetter, die Mozart-Variationen müssen im Orchester wundervoll klingen! Diese Partitur ist mit enormem Fleiße gemacht; da ist jedes Nötchen genaues­ tens auf Klang ›berechnet‹!« Die unmittelbar klanglich ansprechende Außenseite des Werks deckt sich mit einem motivisch differenzierten und plastischen Satz. Den Variationen liegt das Ausgangsthema aus Mozarts Klaviersonate A-Dur KV 331 zugrunde, das selbst im Schaffen des Salzburger Meisters als Inbegriff des klassisch Schönen herausragt. Eingängigkeit, Natürlichkeit, Schönheit und Anmut bilden die auffälligsten 20 21 Max Reger mit Adolf und Fritz Busch beim Brahms-Reger-Fest in Bad Pyrmont, 12. Juni 1912 11. SYMPHONIEKONZERT Merkmale des Themas und mögen generell als Schlagworte für Regers Mozartbild gelten. Dass Regers Auseinandersetzung mit dem Wiener Klassiker zuweilen idyllische, gar verzuckerte Züge annimmt, sei dabei nicht unerwähnt. Der Eindruck einer gewissen Versüßung des ohnehin lieblichen Themas durch eine ausgesucht »schöne« Instrumentation in einigen der Variationen ist jedenfalls nicht gänzlich von der Hand zu weisen. »Es lag viel wilde Zärtlichkeit in der Art, wie die beiden Spielenden [Reger und Paul Aron] mit dem lieben Mozart umgingen, den sie teils verzuckerten, teils totzudrücken schienen«, schreibt Arthur Smolian in der Leipziger Zeitung am 25. Januar 1909. Smolian ist es auch, der an gleicher Stelle von übermäßigem Pedalgebrauch und einem »stereotypen Wechsel von Spieldosen-Pianissimo und Orchester-Fortissimo« berichtet. Noch Jahre später wird die »Kunst des Überbietens« die Anmut der Einfach- und Natürlichkeit selbstgewiss überwölben. »Jetzt bleibt es also bei dem Krach, – und wie!« Am 16. März 1914 bestellt Reger eine Ausgabe der Thema gebenden Sonate bei Breitkopf & Härtel. Zwei Monate später kündigt er gegenüber dem österreichischen Komponisten und Dirigenten Siegmund von Hausegger die »Mozart-Variationen« mit der Bemerkung an, dieser kenne das Thema gewiss aus seiner Jugendzeit, »als Sie die ersten Versuche machten, das Klavier zu meistern«. Wo auch immer die Verknüpfung von Mozart und Reger gegeben sein mag, in der Verpflichtung auf Wohlklang liegt sicher ihrer wesentlichster Nenner. Bei näherer Betrachtung stellen die ersten vier Variationen eine zusammenhängende Gruppe dar. In allmählicher Steigerung entfernt sie sich schrittweise von der Originalgestalt. Der Bezug zum Ausgangsmaterial bleibt für den Hörer jedoch gewahrt. Reger entwirft die ersten vier Variationen in einem Zug und reicht sie vorab beim Verlag ein. Sie festigen das Thema im Sinne einer Exposition. Die fünfte Variation fällt durch ihre freie Form und relative Themenferne auf, zudem verweist sie mit ihren parallelen großen Terzen der Oboen und Klarinetten auf den »Harlequin« aus Regers Ballett-Suite op. 130. Die sechste und siebte Variation warten mit deutlichen Rückbezügen auf, so dass sich eine Bogenform ergibt, in der die »schönen« Sätze 1-3 und 6-7 die scherzhaften Variationen 4 und 5 umschließen. Davon abgesetzt steht die achte, schwerblütig-langsame Variation. Eine versonnene Stimmung sowie Neigung zum Grüblerischen geben ihren Ton an: »Trauer über die verlorene Harmonie, elegische Spätwerksgedanken und Retrospektiven auf das bisherige Schaffen betonen die Entfernung, nicht die Nähe zu Mozart«, vermerkt Susanne Popp 1991. Der Variation kommt die Funktion eines Gegengewichts zu, auch 22 23 »Mancher alte Gegner äußerte sich befriedigt, daß der einst so verrückte Musiker jetzt so vernünftig komponiere.« Alexander Berrsche, Musikkritiker und Pianist, nach der Münchner Erstaufführung der »Mozart-Variationen« in ihrer zeitlichen Ausdehnung. Der Satz dauert fast 7 Minuten, während die vorangegangenen Variationen zwischen 1 und 2 Minuten pendeln. Abschließend konzipiert Reger eine Doppelfuge als Steigerungsfuge, in der sich beide Themen als Kontrapunkte auf den Cantus firmus beziehen. Schließlich schmettern Trompeten und erste Hörner (mit zweiter Oboe) das Mozart-Thema, während beide Fugenthemen jeweils in den hohen Stimmen und im Bassregister zum Einsatz kommen. Das fast plakative Auftrumpfen des lieblichen Mozart-Themas bleibt nicht unkommentiert und ruft bei manchem Zweifel hervor. Aus Anlass einer auf Initiative von Hans Gál in Edinburgh geplanten Aufführung der »Mozart-Variationen« meldet Fritz Busch 1950 Bedenken an, er habe »das Werk im letzten Jahrzehnt weit weniger aufgeführt als vorher«, da ihn je länger je mehr ein »Grundfehler« störe: »Es ist mit dem Charakter des graziösen Themas unvereinbar, … es am Ende der Fuge, auf ihrem Höhepunkt … ohne jede Veränderung o. ä. im ff … zu bringen.« In seinem Antwortschreiben nimmt Gál an, Buschs Bedenken hingen »vermutlich damit zusammen, daß das Thema als solches eine Aura von unbewussten Assoziationen um sich hat, eine Art Heiligenschein«. Regers Vorgehen sei aus grundsätzlichen Erwägungen jedoch nicht abzulehnen, am Ende zielten alle Einwände nämlich auf eine reine Geschmacksfrage, welche Gál ohne zu zögern und gänzlich unprätentiös beantwortet: »Ich weiß, daß jedem Hörer bei dem fff in A Dur das Herz lacht, wofern er eines im Leibe hat. Lassen Sie dem Herzen diese vulgäre Freude!« Gáls unvoreingenommenes Plädoyer für die vermeintliche Schwäche in Regers Partitur überzeugt Busch: »Jetzt bleibt es also bei dem Krach, – und wie!« Rückblende: Im Dezember 1920, dreißig Jahre vor Fritz Buschs finaler ›Bekehrung‹, stehen Regers »Mozart-Variationen« auf dem Programm seines ersten Dresdner Konzerts: »Ich bin noch dauernd in 11. SYMPHONIEKONZERT einer Seligkeit über den herrlichen Klang und all die anderen wunderbaren Eigenschaften des Orchesters«, gesteht er dem Orchestervorstand Theo Bauer. Buschs Gattin Grete bezeugt es: »Nie vorher und niemals später habe ich meinen Mann so außer sich, so beseligt und geradezu trunken gesehen wie damals bei seiner Rückkehr aus Dresden.« Der frühere Orchesterdirektor Arthur Tröber schildert die erste Probe: »In der 2. Sinfonie von Brahms, mehr noch aber in den abschließenden Mozart-Variationen von Reger schienen wir in eine andere Welt versetzt. Fritz Busch zwang uns dynamische Schattierungen auf, die uns gänzlich fremd und unbekannt waren. In der Agogik und Gestaltung entwickelte er so starke suggestive Kräfte, dass Programmzettel zum Konzert wir seiner Stabführung folgen am 10. Dezember 1920, mussten.« Daraufhin wird ihm Fritz Buschs Dresdner Debüt die Leitung aller Kapellkonzerte übertragen, 1922 übernimmt er die Dresdner Chefposition. Fortan gelten die »Mozart-Variationen« in Dresden als »Chef-Stück«: Fritz Busch, Karl Böhm, Joseph Keilberth und Franz Konwitschny dirigieren sie, bevor sie 1977 von Herbert Blomstedt angesetzt werden, der sie 1990 ein weiteres Mal mit der Staatskapelle aufführt. Die »Mozart-Variationen« – ein Stück auch für Dresden? Die Berührung des Neuen mit dem Alten, so viel lässt sich sagen, setzt Produktivkräfte frei. In der Sinnlichkeit des Klangs und der Besinnung auf das Vergangene liegen Regers »Mozart-Variationen« und Dresdens Klangkultur nahe beieinander. Das Kommende schöpft sein Potential aus der Überlieferung. Die Auseinandersetzung mit dem Erbe prägt die Gegenwart. Aus den Schichten der Vergangenheit schält sich eine Identität heraus, die im Wissen um die Tradition ihren eigenen zeitgemäßen Standpunkt formuliert – damals wie heute. ANDRÉ PODSCHUN 23.6. 20.30 Uhr Königsufer SYMPHONIE DER MENSCHLICHKEIT Franz Welser-Möst, Dirigent Sächsische Staatskapelle Dresden Dmitri Schostakowitsch »Leningrader Symphonie« KARTEN FÜR 5 € AUF ALLEN PLÄTZEN EINLASS AB 19.30 UHR Vorverkauf: Besucherservice Semperoper Telefon 0351 4911705 SZ-ticketservice sowie an allen bekannten Vorverkaufsstellen Internet www.sz-ticketservice.de Telefon 0351 48642002 KULTUR 24 25 11. SYMPHONIEKONZERT Richard Strauss * 11. Juni 1864 in München † 8. September 1949 in Garmisch-Partenkirchen EIN SCHELM DES MUSIKALISCHEN SCHABERNACKS Richard Strauss’ »Till Eulenspiegels lustige Streiche« Till Eulenspiegels lustige Streiche op. 28 Nach alter Schelmenweise – in Rondeauform – für großes Orchester gesetzt ENTSTEHUNG D R E S D N E R E R S TAU F F Ü H R U N G 1894 / 1895 vollendet am 6. Mai 1895 in München 20. Dezember 1895 im Hoftheater im 3. SymphonieKonzert unter Leitung von Ernst von Schuch WIDMUNG »Seinem lieben Freunde Dr. Arthur Seidl gewidmet« U R AU F F Ü H R U N G 5. November 1895 im Gürzenichsaal im 2. Abonnementskonzert der Kölner Konzertgesellschaft mit dem Städtischen Gürzenich-Orchester unter Leitung von Franz Wüllner BESETZUNG 3 Flöten, Piccolo, 3 Oboen, Englischhorn, 3 Klarinetten, Bassklarinette, 3 Fagotte, Kontrafagott, 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagzeug und Streicher DAU ER ca. 18 Minuten 26 27 V ieles ist über Richard Strauss’ »alte Schelmenweise« gesagt worden. In Claude Debussys launigen Worten verbirgt sich etwa ein hohes Maß an Bewunderung: »Da vollführen Klarinetten wahnsinnige Sturzflüge, die Trompeten sind immer verstopft, die Hörner, Ihrem ständigen Niesreiz zuvorkommend, beeilen sich, Ihnen artig ›Wohl bekomms!‹ zuzurufen; die große Trommel macht bum-bum, als ob sie den Auftritt von Clowns unterstreichen wolle, während eine Ratsche das Ganze mit Ihrem Jahrmarktslärm übertönt.« Noch 1910 schreibt Ferruccio Busoni an seine Frau: »Strauss’ Eulenspiegel klang wie ein modernerer Papa Haydn der in seiner naivsten Laune ist und die alten Wiener Aristokraten die selbst mitspielen, zum Lachen bringt.« Die Purzelbäume des Gelächters scheinen für den Komponisten genau das zu sein, worauf er abzielt. Als Strauss in hohem Alter gefragt wird, ob ihm klar sei, dass er mit seinem »Till« an den metaphysischen Grenzen des Humors gerührt habe, lautet die prompte Antwort: »Aber nein – ich wollte nur, daß die Leute im Konzertsaal einmal richtig lachen.« Die letzten Fragen über Sinn und Scherz werden ausgeblendet zugunsten eines aus dem Geist der Musik geborenen, unmittelbar wirkenden Witzes, der durchaus an »Papa Haydn« erinnert. Lustvoll spickt Strauss seine Partitur mit schelmenartigen Gesten und musikalisiert einen Übermut, der auf alles pfeift, was sich ihm in den Weg stellt. Das kommt nicht von ungefähr. Dem vitalen Scherzo ist auf dem Feld der Tondichtung einige Jahre zuvor »Tod und Verklärung« vorangegangen. Strauss wendet sich hier in seiner vielleicht metaphysischsten Tondichtung den letzten Dingen zu und spürt dem Übergang einer Menschenseele ins Jenseits nach. Die anschließende Kehre zu einem Sujet, das mit »Till Eulenspiegel« ausdrücklich heiter und schalkhaft ist, zeigt die komplementäre Verfügungsgewalt, mit der Strauss sein vielfältiges Œuvre vorantreibt. Und sie wird später erneut zu beobachten sein, wenn es in seinem Opernschaffen zur vermeint- 11. SYMPHONIEKONZERT lichen Wende von »Elektra« zum »Rosenkavalier« kommt. Nicht selten flackert nach der Beschäftigung mit dramatischen Stoffen Strauss’ komödiantische Lust auf und erschließt sich seine schöpferische Phantasie auf diesem Wege neue Arten des Ausdrucks. Seltsame Vorgänge in Schilda Man könnte geneigt sein, »Till Eulenspiegel« als künstlerische Reflexion auf Strauss’ ereignisreiche Weimarer Jahre zu sehen. Am 1. Oktober 1889 tritt er seine Stellung als großherzoglich sächsischer Kapellmeister am Weimarer Hof mit dem Ziel an, die Klassikerstadt zu einem wichtigen Zentrum für »exemplarische« Wagner-Aufführungen zu machen und sich für die symphonischen Dichtungen von Franz Liszt, seinem großen Vorgänger in der Stadt an der Ilm, einzusetzen. Er dirigiert Neuproduktionen von »Tannhäuser« und »Rienzi« sowie zahlreiche Werke von Mozart, Cornelius und Lortzing aus dem Kernrepertoire, eine überarbeitete Version von Glucks »Iphigenie auf Tauris« eingerechnet. Immer häufiger folgt er Einladungen als Gastdirigent. Am 17. Januar 1892 feiert eine ungekürzte Produktion des »Tristan« ihre Premiere. Zuvor redet Strauss von »riesige(n) Arrangierproben … wie sie in Weimar unerhört, die ganze Stadt spricht auch davon«. Einige Monate später, angesichts seines enormen Arbeitspensums kaum verwunderlich, erkrankt er an einer Rippenfellentzündung. Gezwungen Urlaub zu nehmen, nutzt er die Zeit für eine längere Erholungsreise nach Griechenland und Ägypten. Schriften von Wagner, Platon, Sophokles, von Schopenhauer, Nietzsche und vermutlich auch Max Stirner begleiten ihn und geben Anstoß zu neuen Projekten, unter anderem zu einer Oper über den umherstreifenden Schalk Till Eulenspiegel. Die Wahl des Sujets ist hier nicht weniger aufschlussreich. Nach dem späteren Misserfolg seiner Oper »Guntram« und der Auseinandersetzung mit Wagners Metaphysik scheint sich Strauss wiederum ganz dezidiert für einen leichten, satirischen Stoff zu interessieren. Mag sein, dass es auch die provinzielle Engstirnigkeit ist, die ihn in Weimar mittlerweile zu vielsagendem Spott reizt. Doch erreicht der Einakter »Till Eulenspiegel bei den Schildbürgern« 1894 nicht einmal das Stadium eines vollständigen Textentwurfs. Immerhin zeichnet sich für die geplante Oper ein Szenario ab: in einem beliebigen Schilda verurteilen dumme, unglückselige Bürger Till Eulenspiegel zu Tode, um ihn dann anschließend zu ihrem Bürgermeister zu machen. Bezogen auf Strauss liest sich das besonders ironisch, da mit Schilda unschwer seine Vaterstadt München zu erkennen ist. 1894 ist Strauss erneut auf dem Sprung in die bayerische Residenzstadt, um als Königlicher Kapellmeister am 28 29 Richard Strauss, um 1895 Hoftheater zu wirken. 1886 war er bereits als Dritter Kapellmeister an der Münchner Hofoper angestellt gewesen und hat die damaligen, durchaus zwiespältigen Erfahrungen nicht vergessen, so wie er es auch nie verwinden wird, dass man seinen Vater im Juni 1889 plötzlich von seinem Posten im Orchester in den Ruhestand versetzt hat. Strauss’ Vaterstadt ist für ihn problembehaftet, auch wenn er jetzt im Alter von 30 Jahren durchsetzungsfähiger ist. Warum Strauss die geplante Eulenspiegel-Oper nicht weiter verfolgt und stattdessen eine Tondichtung auf den Stoff komponiert, ist nicht klar. Vielleicht will er das Sujet unbedingt bearbeiten, hat aber im Jahr des Wechsels von Weimar nach München nicht ausreichend Zeit für die Realisierung eines im Vergleich zu einem Orchesterwerk umfangreicheren Bühnenstücks. Man darf nicht vergessen, dass 1894, also um die Zeit der Entstehung von »Till Eulenspiegel«, eine Serie weiterer tiefgreifender Ereignisse für Strauss bereithält. Kurz vor Beginn des Jahres dirigiert er am 23. Dezember 1893 in Weimar die Uraufführung 11. SYMPHONIEKONZERT von Humperdincks »Hänsel und Gretel«. Am 12. Februar stirbt Hans von Bülow, langjähriger Hofkapellmeister in München, Uraufführungsdirigent von Wagners »Tristan und Isolde« und »Die Meistersinger von Nürnberg«, Hofmusikintendant der Meininger Hofkapelle und einer der wichtigen Mentoren des jungen Strauss. Am 10. Mai, dem Tag der Uraufführung seines »Guntram«, wird Strauss’ Verlobung mit der Sopranistin Pauline de Ahna bekanntgegeben, die Heirat erfolgt am 10. September 1894 in der Burgkirche St. Veit im oberbayerischen Marquartstein. Im Sommer 1894 singt Pauline die Rolle der Elisabeth in Wagners »Tannhäuser« in Bayreuth, dirigiert von ihrem zukünftigen Gemahl. Schließlich unterstützt Strauss die musikalischen Vorbereitungen für die Versammlung des Allgemeinen Deutschen Musikvereins in Weimar unter anderem mit ersten Proben zu Gustav Mahlers erster Symphonie. Kaum vorstellbar, dass bei den vielfältigen Aktivitäten ausreichend Zeit für die Komposition einer abendfüllenden Oper bleibt. Da die Rückkehr nach München unter dem Vorzeichen eines gesellschaftlichen Aufstiegs auffällige Parallelen zur Handlung der geplanten Oper aufweist, ist es durchaus vorstellbar, dass er darüber nachdenkt, das Sujet zumindest für eine Tondichtung zu »retten«. »Meisterwerk des klingenden Humors« Im Hochzeitsjahr 1894. Strauss’ Eheschließung mit Pauline fällt in die Zeit der Entstehung von »Till Eulenspiegels lustige Streiche« und kennzeichnet einen für Strauss typischen Widerspruch: Während er den Weg einer bürgerlichen Existenz einschlägt, arbeitet er an einer Tondichtung, deren Titelfigur als Bürgerschreck unterwegs ist. Noch Jahre später beschreibt der Romanheld Adrian Leverkühn in Thomas Manns »Doktor Faustus« Strauss’ Doppelnatur mit den Worten: »Was für ein begabter Kegelbruder! Der Revolutionär als Sonntagskind, keck und konziliant. Nie waren Avantgardismus und Erfolgssicherheit vertrauter beisammen. Affronts und Dissonanzen genug. – Und dann das gutmütige Einlenken, den Spießer versöhnend und ihm bedeutend, daß es so schlimm nicht gemeint war.« 30 31 Doch folgt der symphonische »Till Eulenspiegel« einem eigenen Szenario: »Es war einmal ein Schalksnarr. Namens Till Eulenspiegel. Das war ein arger Kobold. Auf zu neuen Streichen.« Im Zuge der Kölner Uraufführung vom 5. November 1895 lehnt Strauss jedoch eine detaillierte Erklärung der Handlung ab: »Es ist mir unmöglich, ein Programm zu ›Eulenspiegel‹ zu geben: was ich mir bei den einzelnen Teilen gedacht habe, würde, in Worte gekleidet, sich oft seltsam genug ausnehmen, vielleicht sogar Anstoß erregen. Wollen wir daher diesmal die Zuhörer selbst die Nüsse knacken lassen, die der Schalk ihnen verabreicht. Zur Erleichterung des Verständnisses dürfte genügen, die beiden Eulenspiegelthemen mitzuteilen, die das Ganze in den verschiedensten Verkleidungen und Stimmungen wie Situationen durchziehen bis zur Katastrophe, wo Till aufgeknüpft wird, nachdem das Urteil über ihn gesprochen wurde. Im übrigen: lassen wir die lustigen Kölner erraten, was ihnen ein Schelm für musikalischen Schabernack angetan hat.« Auch wenn Ernst Krause von einem »Meisterwerk des klingenden Humors« spricht, »der hier, vermischt mit leicht ironischen Zügen, ungemein warm und versöhnlich aufleuchtet«, hat man zuweilen den Eindruck, eher einen derben Witz wilhelminischer Provenienz zu vernehmen. Zumindest passt das Sujet gut in jene Epoche, in der sich ein unbekümmertes Selbstbewusstsein kaum um Grenzen schert. Der Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick schreibt von einer 11. SYMPHONIEKONZERT »wahren Weltausstellung von Klangeffekten und Stimmungskontras­ten«, während der alte Bruckner die »köstliche Humoreske« in Wien gleich zweimal hören will. Strauss’ brillante, äußerst suggestive Tonmalerei führt ihn zu einer orchestralen Buffokunst, die der Komponist nach der erfolgreichen Uraufführung weiterhin auf die Oper zu übertragen gedenkt – mutmaßlich auf Grundlage von Ferdinand von Sporcks »Die Schildbürger«. Noch 1896 bemerkt Strauss: »Freund Sporcks vortreffliches Buch fängt allmählich an, in meinem Kopf und Herzen Widerhall zu finden und neue Gedanken zu erwecken und ›vielleicht‹ lebensfähig zu werden.« Aber auch dieser Opernplan gelangt nicht zur Umsetzung. Strauss’ Meisterschaft klanglicher Aperçus zeigt sich bereits zu Beginn. Im Duktus eines erzählerischen »Es war einmal« stimmt er eine historisierende Wendung an, die mozartische Züge trägt. Die Einkleidung in ein quasi rokokohaftes Gewand rückt das Geschehen aus der Zeit um 1900 heraus und gibt eine Maskerade vor, mit der Eulenspiegel fortan in neue Rollen schlüpft. Zuvor charakterisiert ihn der Komponist mit zwei Motiven: das erste schalkhafte ist stimmig für Horn gesetzt (Strauss’ Vater war erster Hornist im Münchner Hoforchester und erklärter Gegner der Werke von Richard Wagner). Das zweite Motiv ist aus dem Prolog abgeleitet und wird nach überdrehter (»lustiger«) Schelmenart von der Klarinette rhythmisch verschoben gespielt – ein fast koboldartiger Sprung ins Geschehen hinein, dessen Auslegung einzelner Musikforscher später von Strauss autorisiert wird. Der Ritt »durch die Marktweiber« endet in einem Mauseloch, das Versteck deutet Strauss mit sich verlierenden Linien und einer Generalpause an. Anschließend verwandelt sich Eulenspiegel in einen Moralprediger, doch guckt »aus der großen Zehe der Schelm hervor«. Eine Abfuhr seiner Werbung bei den schönen Mädchen führt zum Schwur, »Rache zu nehmen an der ganzen Menschheit«, woraufhin die Philister auf den Plan treten, von Strauss durch drei Fagotte, Bassklarinette und Kontrafagott in höchst trockener Weise nachgezeichnet. Till verwirrt die Gelehrten und entfernt sich mitten in dem von ihm gestifteten Chaos mit einer Gassenhauer-Melodie – ein Anstachler und Aufrührer, der im Moment der Zuspitzung unverblümt und leichtfertig weiterzieht. Doch kommt er diesmal nicht davon. Man schleppt ihn vor Gericht, wo es ihm »kläglich« zumute wird, wie es in der Partitur steht. Unheilvoll wird das Urteil verkündet: Tod. Ein letzter Triller in der Flöte haucht das Leben des Spötters aus. Im Epilog bindet Strauss an den Anfang zurück und rahmt die Geschichte ein. Mutterwitz ist eben nicht ohne weiteres unterzukriegen: noch einmal blitzt Eulenspiegel motivisch in der Bassklarinette leise auf. Es ist jenes »Noch einmal«, das dem anfänglichen »Es war einmal« folgt und die Wiederkunft eines Archetypus andeutet, der der menschlichen Natur sinnenreich eingeschrieben ist. 32 33 Till Eulenspiegel verwickelt den Pfarrer und seine Leute in einen Streit und stiehlt sich davon, aus: Ein kurtzweilig lesen von Dil Ulenspiegel, geboren uß dem Land zu Brunßwick. Wie er sein Leben volbracht hatt. 96 seiner Geschichten, nach dem Druck von 1515 mit 87 Holzschnitten »Nach alter Schelmenweise – in Rondeauform – für großes Orchester gesetzt« lautet der Untertitel des Werks. Strauss präferiert für den unterhaltsamen Rundgesang eine altertümelnd-verschnörkelte Weise, die von der konventionellen Schulform weit entfernt ist. Ein Kritiker vermutet, in der Bezeichnung »Rondeau« könnte bereits der erste Streich liegen, da die einzige Verbindung mit der alten französischen forme fixe allein die Art sei, wie Strauss das Wort buchstabiert. Später beschreibt der Komponist sein Werk als eine »Erweiterung der Rondoform durch poetischen Inhalt« und nennt den letzten Satz aus Beethovens achter Symphonie als Vorbild für die Tondichtung. Der Episodencharakter und Tills libertäre Eigenschaften mögen die Wahl der Rondoform in der Tat begünstigt haben. Vielleicht aber schnappt die metaphysische Falle am Ende doch noch zu, wenn man die Wiederkehr des Humors als Refrain betrachtet, der die Irritationen der Zeit durch Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung zu absorbieren versucht. ANDRÉ PODSCHUN 11. SYMPHONIEKONZERT 11. Symphoniekonzert 2015 | 2016 Orchesterbesetzung 1. Violinen Kai Vogler / 1. Konzertmeister Michael Eckoldt Federico Kasik Michael Frenzel Christian Uhlig Volker Dietzsch Jörg Kettmann Birgit Jahn Martina Groth Wieland Heinze Anja Krauß Anett Baumann Annika Thiel Anselm Telle Franz Schubert Hannah Burchardt ** 2. Violinen Heinz-Dieter Richter / Konzertmeister Holger Grohs / Konzertmeister Matthias Meißner Stephan Drechsel Jens Metzner Alexander Ernst Mechthild von Ryssel Emanuel Held Kay Mitzscherling Martin Fraustadt Christoph Schreiber-Klein Robert Kusnyer Yukiko Inose Minah Lee 34 35 Bratschen Michael Neuhaus / Solo Stephan Pätzold Anya Dambeck Michael Horwath Ulrich Milatz Zsuzsanna Schmidt-Antal Claudia Briesenick Susanne Neuhaus Luke Turrell Björn Sperling ** Torsten Frank * Henry Pieper * Violoncelli Norbert Anger / Konzertmeister Simon Kalbhenn / Solo Martin Jungnickel Uwe Kroggel Bernward Gruner Johann-Christoph Schulze Jakob Andert Anke Heyn Titus Maack Aleisha Verner Kontrabässe Andreas Wylezol / Solo Razvan Popescu Torsten Hoppe Fred Weiche Reimond Püschel Thomas Grosche Johannes Nalepa Paweł Jabłczyński Flöten Andreas Kißling / Solo Bernhard Kury Cordula Bräuer Jens-Jörg Becker Oboen Céline Moinet / Solo Sibylle Schreiber Volker Hanemann Michael Goldammer Klarinetten Wolfram Große / Solo Dietmar Hedrich Jan Seifert Christian Dollfuß Fagotte Joachim Hans / Solo Erik Reike Joachim Huschke Andreas Börtitz Hörner Trompeten Mathias Schmutzler / Solo Helmut Fuchs / Solo Sven Barnkoth Gerd Graner Posaunen Uwe Voigt / Solo Jürgen Umbreit Frank van Nooy Tuba Jens-Peter Erbe / Solo Pauken Manuel Westermann / Solo Schlagzeug Bernhard Schmidt Christian Langer Jürgen May Harfe Astrid von Brück / Solo Zoltan Macsai * / Solo David Harloff Manfred Riedl Lars Scheidig ** * als Gast ** als Akademist/in 11. SYMPHONIEKONZERT Vorschau KLASSIK PICKNICKT S O N N A B E N D 18 . 6 .16 2 0 U H R D I E G L Ä S ER N E M A N U FA K T U R VO N VO L K S WAG E N Krzysztof Urbański Dirigent Nemanja Radulović Violine Wojciech Kilar »Orawa« für Streichorchester Samuel Barber Konzert für Violine und Orchester op. 14 Antonín Dvořák Symphonie Nr. 9 e-Moll op. 95 »Aus der Neuen Welt« »Symphonie der Menschlichkeit« D O N N ER S TAG 2 3. 6 .16 2 0 . 3 0 U H R 6 .2 0 1 6 L E . 6 2 – . 24 IONA T A N SCH INTER T I W O K A SCHOST T A G E CH S I R H O G 7. T S C H – BEET Franz Welser-Möst Dirigent Dmitri Schostakowitsch Symphonie Nr. 7 C-Dur op. 60 »Leningrader« 12. Symphoniekonzert S O N N TAG 3.7.16 11 U H R M O N TAG 4 .7.16 2 0 U H R D I E N S TAG 5 .7.16 2 0 U H R N – E HOVE ISLER AYA, NITSK G, NA VIN AN HERBER N A , N I E T D S S A E B T DR E L, S E T, SCH ONCER R RÖS HQUARTET SDEN O C A L C E R S, P E T E C E I V E , R L R D E T S N ND DS OR DA ANG E SDNER MPER WIN E Q U AT U O L L O N G , I S W S K I , D R E S , CH IAS W HAIL JURO HAEL SCHÖ P L AT Z M AT T H MIC E AT E R , MIC R E G AM TH N E A H T C R A E 0 25 E LW NORB C H IN K ( 0 3 5 0 2 1 ) 5 9 DER S ER IN T N N E U T KAR S O W IE IT D E R S D E N IO N M P E R AT A P E L L E D R E O O K IN TSK N S TA A IS C H E SÄCHS OWI O S TA K O P E N - A I R - KO N Z ER T A M KÖ N I G S U F ER Manfred Honeck Dirigent Christian Tetzlaff Violine György Kurtág »Stele« op. 33 für Orchester Karol Szymanowski Violinkonzert Nr. 1 op. 35 Antonín Dvořák Symphonie Nr. 8 G-Dur op. 88 Kostenlose Konzerteinführungen jeweils 45 Minuten vor Beginn im Foyer des 3. Ranges der Semperoper WWW.SCHOSTAKOWITSCH-TAGE.DE Semperoper Semperoper Dresden Dresden 11. SYMPHONIEKONZERT IMPRESSUM Sächsische Staatskapelle Dresden Künstlerische Leitung/ Orchesterdirektion Sächsische Staatskapelle Dresden Chefdirigent Christian Thielemann Spielzeit 2015 | 2016 H E R AU S G E B E R Sächsische Staatstheater – Semperoper Dresden © Juni 2016 R E DA K T I O N André Podschun G E S TA LT U N G U N D L AYO U T schech.net Strategie. Kommunikation. Design. DRUCK Union Druckerei Dresden GmbH ANZEIGENVERTRIEB Christian Thielemann Chefdirigent Juliane Stansch Persönliche Referentin von Christian Thielemann Jan Nast Orchesterdirektor Tobias Niederschlag Konzertdramaturg, Künstlerische Planung André Podschun Programmheftredaktion, Konzerteinführungen Matiss Druvins Assistent des Orchesterdirektors EVENT MODULE DRESDEN GmbH Telefon: 0351 / 25 00 670 e-Mail: [email protected] www.kulturwerbung-dresden.de Elisabeth Roeder von Diersburg Orchesterdisponentin T E X T N AC H W E I S E Agnes Thiel Dieter Rettig Notenbibliothek Die Einführungstexte von André Podschun sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. Alexander Berrsche, Trösterin Musika. Gesammelte Aufsätze und Kritiken, München 1942 (S. 23) Kultur- und Tourismusgesellschaft Pirna mbH RICHARD-WAGNER-STÄTTEN GRAUPA Richard-Wagner-Straße 6 · 01796 Graupa Tel.: 03501 4619650 · www.wagnerstaetten.de Matthias Claudi PR und Marketing Matthias Gries Orchesterinspizient VERANSTALTUNGEN im Jagdschloss Graupa Mi | 8. Juni | 19 Uhr | Konzertsaal Tickets für alle Veranstaltungen unter www.ticket.pirna.de 1./2. und 8./9. Juli | 20 Uhr | Schlosshof B I L D N AC H W E I S E Matthias Creutziger (S. 4); George Lange (S. 7); H.C. Robbins Landon, Beethoven. Sein Leben und seine Welt in zeitgenössischen Bildern und Texten, Zürich 1970 (S. 11); Historisches Museum der Stadt Wien (S. 12); Österreichische Nationalbibliothek Wien (S. 15); Max Reger. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Helmut Wirth, Reinbek bei Hamburg 1973 (S. 18, 21); Historisches Archiv der Sächsischen Staatstheater (S. 24); Münchner Hofphotograph Lützel, aus: Laurenz Lütteken, Richard Strauss. Musiker der Moderne, Stuttgart 2014 (S. 29); Kurth Wilhelm, Richard Strauss persönlich. Eine Bildbiographie, Berlin 1999 (S. 30); Ein kurtzweilig lesen von Dil Ulenspiegel, Faksimileausgabe, Leipzig 1979, Nachdruck der Originalausgabe von 1515, Straßburg (S. 33) Urheber, die nicht ermittelt oder erreicht werden konnten, werden wegen nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. Private Bild- und Tonaufnahmen sind aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet. W W W. S TA AT S K A P E L L E - D R E S D E N . D E SCHUMANN-QUARTETT Vom BBC Music Magazine zu den besten Newcomern des Jahres 2016 gekürt, spielen die jungen Musiker preisgekrönte Streichmusik mit Werken von Joseph Haydn, Robert Schumann und Franz Schubert. RICHARD WAGNER SPIELE Auch 2016 erwartet Johannes Gärtner die Gäste mit einem alle Sinne ansprechenden Theater-Spektakel mit Musik, Gesang und Schauspiel. Musik: Johannes Wulff-Woesten www.richard-wagner-spiele.com www.wagnerstaetten.de 38 Tickets unter Tel. 03501 461965-0 oder 03501 556 446 und www.ticket.pirna.de