Leseprobe 200701

Werbung
weniger ist mehr
LOW-TECH-KONZEPTE UND DIE KUNST DER VERKEHRUNG
VON HERMANN-CHRISTOPH MÜLLER
s gibt keine einzige Kunst, die nicht das Resultat
einer technologischen Innovation gewesen wäre,
einer Entdeckung, die aus einem bestimmten lebensnotwendigen Bedürfnis heraus erwuchs. Das gilt
für die Höhlenmalerei ebenso wie für die elektronische
Musik, die Mitte des vergangenen Jahrhunderts in einer
kompositionsgeschichtlichen Situation entstand, wo
die theoretische Durchdringung des musikalischen Materials an einen Punkt gelangt war, an dem die Instrumentalmusik mit den kompositorischen Erfordernissen
nicht mehr Schritt halten konnte. In dieser Situation
versprach der technische Fortschritt in Form von Sinustongeneratoren, Filtern und Tonbandgeräten nicht nur
die Forderung nach einem integralen und gleichzeitig
unbegrenzten Klang zu erfüllen, er bescherte der Musik
auch ein neues Medium. Dabei erscheint es rückblickend völlig unerheblich, ob die Komponisten dieses
Medium zur Aneignung von Realität mittels konkreter
Klänge (Paris) oder zur Realisierung synthetisch erzeugter Tongemische (Köln) verwendeten. Ein ums andere Mal handelte es sich um Tonbandmusik, die nicht
länger von einem Interpreten aufgeführt, sondern von
Lautsprechern wiedergegeben wurde, mit der Konsequenz, dass die Musik eigenartig körperlos und ohne
Verbindung zu irgendeinem realen Ort in einem von
schwingenden Membranen künstlich erzeugten Raum
existierte. An der Abstraktheit, Tiefe und Leere dieses
virtuellen Raums laboriert seitdem noch jede elektronisch erzeugte Musik, allerdings auf höchst unterschiedliche Art und Weise.1
Im Folgenden geht es um solche Musikkonzepte
und Kompositionsansätze elektronischer Musik, die
mehr oder weniger zwanglos unter den Begriff «LowTech» subsumiert werden können, weil sie einerseits
den ästhetischen Normen und technischen Standards
der Popmusikindustrie nicht entsprechen – oder ihnen
bewusst widersprechen –, andererseits aber auch nicht
den traditionell an Kunstmusik gestellten Ansprüchen
genügen. Allen gemeinsam ist, dass sie mit einfachen
Mitteln Klänge erzeugen. Wollte man die entsprechende künstlerische Haltung in eine Formel fassen, sie
müsste lauten: Weniger ist mehr. Zumeist handelt es
sich bei den musikalischen Mitteln um selbst entworfene Schaltkreise oder modifizierte Geräte der Unterhaltungselektronik wie Spielkonsolen, Kinderinstrumente
oder HiFi-Geräte. Obwohl die Mittel einfach sind,
können die Klänge einen Grad an Komplexität erreichen, der selbst mit modernster Technik nur schwer zu
erzielen ist. Insofern hängen Wert und Evokationskraft
E
16
der Musik nicht mehr vom Materialwert und Herstellungsaufwand ab.
Neben der Materialreduktion gibt es zwei weitere
Merkmale, die fast allen Konzepten und Ansätzen gemeinsam sind. Das ist zum einen der Einbezug des Zufalls in die Aufführung, sei es aktiv als Improvisation
oder passiv als eigenwillige, unkalkulierbare Reaktion
der technischen Apparaturen, und zum anderen die
Tatsache, dass die elektronischen Geräte zumeist entgegen ihrem ursprünglich intendierten Gebrauch verwendet werden. Alle drei Aspekte lassen sich mehr
oder weniger ausgeprägt an einer Reihe von Werken
beobachten, deren Spektrum von der live-elektronischen Musik der sechziger Jahre, über selbst gebaute
Synthesizer bis zu gegenwärtigen Strömungen wie circuit bending reicht.
HOMEMADE ELECTRONICS
Anfang der sechziger Jahre haben amerikanische Komponisten wie John Cage, David Tudor, Alvin Lucier,
Gordon Mumma, Robert Ashley und David Behrman
damit begonnen, einfache elektronische Geräte wie
Schallplattentonabnehmer, Tonbandschleifen und selbstgebaute Tongeneratoren in ihre experimentellen Kompositionen einzubeziehen. Daraus entstand, was heute
im Unterschied zur Tonbandmusik als live-elektronische Musik bezeichnet wird. Mit ihr betritt die elektronische Musik erstmals die Bühne und knüpft an das
Konzert als Institution an. Raumbezogenheit, klangliche Flexibilität und vor allem die körperliche Präsenz
des Composer-Performers sind ihre wesentlichen
Merkmale. Ein Beispiel für diese neue Form elektronischer Musik ist David Behrmans Komposition Runthrough für vier Spieler und so genannte homemade
electronics – selbstgebaute Synthesizer mit Sinus-,
Dreieck- und Sägezahnwellen-Generatoren, sowie Frequenz- und Ringmodulatoren, eingebaut in kleine
Aluminiumkästen. Die selbst entwickelten Schaltungen
sind Teil der Komposition, die wiederum erst im Verlauf der Aufführung ihre endgültige Klanggestalt annimmt. Eine Besonderheit des Stücks besteht in der
räumlichen Verteilung des Klangs mit Hilfe von lichtempfindlichen Sensoren in einem abgedunkelten Raum.
Mit seiner Konzeption der homemade electronics schuf
Behrman eine im wahrsten Sinn tragbare Elektronik
und reagierte damit nicht zuletzt auf die ökonomischen
Zwänge der Produktion und Reproduktion elektronischer Musik der sechziger Jahre. Allerdings bestand der
Gegensatz zwischen «Low-Tech» und «High-Tech»,
wie er sich heute darstellt, damals noch nicht. Die Erfinder der ersten analogen Synthesizer Bob Moog und
Don Buchla galten als ebensolche Einzelgänger wie die
Komponisten, die sich der neuen Technik bedienten.2
CIRCUIT BENDING
18
Ganz anders verhält es sich dagegen mit dem circuit
bending, einer in den vergangenen Jahren immer stärker
gewordenen Bewegung. Geprägt wurde der Begriff
von Qubais Reed Ghazala, der in den neunziger Jahre
in der Zeitschrift Experimental Music Instruments in
einer Reihe von Artikeln beschrieb, wie aus elektronischen Billiggeräten exotisch klingende Musikinstrumente werden können. Die Methode ist ebenso simpel
wie bestechend: Auf den Platinen der geöffneten Geräte werden mit Hilfe von Krokodilklemmen und Kabeln zufällige Verbindungen hergestellt, so dass die
vormals stabilen Schaltkreise kollabieren und in einen
chaotischen Zustand übergehen. Durch diese Methode,
die vorzugsweise an Elektronikspielzeug wie Speak &
Spell oder Mini-Keyboards wie dem Casio SK 1 praktiziert wird, lassen sich die vorprogrammierten Samples,
Sounds und Patterns in Geräuschkaskaden und chaotische Klangmuster überführen. Bei all dem spielt der
Überdruss an konfektionierten Sounds ebenso eine
Rolle wie die geheime Lust, den Konstrukteuren der
Musikgeräteindustrie ein Schnippchen zu schlagen,
und schließlich entbehrt es nicht einer gewissen Ironie,
wenn aus kitschigen Sounds mit nur wenigen Handgriffen komplexe Klanggebilde entstehen. Das Konzept
des circuit bending ist allerdings nicht so neu, wie es
auf den ersten Blick erscheint. Schon Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts entwickelten
die Klangkünstler Andy Guhl und Norbert Möslang,
die unter dem Namen «Voice Crack» auftraten, eine
ähnliche Materialästhetik, für die sie den Begriff der
«geknackten Alltagselektronik» wählten.
Dass sich mit der Technik des circuit bending neue
Klang- und Ausdrucksmöglichkeiten erschließen lassen, belegen die Arbeiten des Klangdesigners und Improvisators Joker Nies. Mitte der neunziger Jahre bekam er ein Omnichord geschenkt, eine Art elektrischer
Auto-Harp mit Akkordknöpfen für jeweils neun Dur-,
Moll- und Septimakkorde, deren dünner Klang an billige Kinderorgeln aus den siebziger Jahren erinnerte.
Schon nach wenigen Versuchen stelle sich heraus, dass
die integrierten Schaltkreise eine wahre Flut von ungewöhnlichen Klängen erzeugen können – vorausgesetzt
die Schaltungen werden entsprechend neu verdrahtet.
Nies hat das Omnichord zu einem so genannten body
contact instrument umgebaut, bei dem die Schaltkreise
über den Hautwiderstand der Finger geschlossen werden. Damit können die Klänge nicht nur gezielt abgerufen und zu immer neuen Gebilden kombiniert werden, sie lassen sich durch minimale Bewegungsänderungen auch sehr fein modulieren und der jeweiligen
musikalischen Situationen anpassen.
ANGELPUNKT ELEKTRONISCHE MUSIK
Die Zweckentfremdung von Alltagsgegenständen hat
in der modernen Kunst eine lange Tradition, die mit
den historischen Avantgardebewegungen des vergangenen Jahrhunderts beginnt. Doch muss man gar nicht
bis zu Marcel Duchamps ready mades oder den Intonarumori der italienischen Futuristen zurückgehen, um
jenen Motiven nachzuspüren, die Künstler dazu veranlassen, im allzu Bekannten das Unbekannte aufzuspüren. Geradezu habituell ist dieser Impuls bei John
Cage geworden, der es sich nicht nehmen ließ,
alles ihn Umgebende auf seinen möglichen Kunstgehalt
hin zu befragen. Geradezu legendär sein Auftritt bei
der Fernsehshow Lascia o Radoppio im italienischen
Fernsehen, wo er mit Schnellkochtopf, Gummifisch,
Wachtelpfeife und einer Flasche Campari seinen Water
Walk aufführte und das Fernsehen zur Bühne umfunktionierte. Wann immer es darum geht, aus den gegebenen Umständen das Beste zu machen, kann Cage als
prototypischer Künstler gelten. Allseits bekannt ist die
Tatsache, dass er in Ermangelung eines Schlaginstrumentariums den lediglich zur Verfügung stehenden
Flügel in ein Perkussionsinstrument verwandelte und
so das prepared piano erfand. Das sprichwörtliche
«Aus der Not eine Tugend machen» zieht sich wie ein
roter Faden durch sein Schaffen und lässt sich an einer
ganzen Reihe von Werken nachweisen. Stellvertretend
sei hier die Living Room Music genannt, die man zu
Hause mit dem Inventar seines Wohnzimmers aufführen kann. (Es gibt keine Pauke? Gut, dann schlagen
wir eben die Türen zu!) Und schließlich ist da noch der
Aspekt des Experimentellen, der sich in Form einer
eigenartigen Verdrehung zeigt. Häufig werden Instrumente und Objekte nicht zweckgemäß, sondern entgegen ihrem intendierten Gebrauch eingesetzt, Produktionsabläufe umgekehrt oder ganze Institutionen auf
den Kopf gestellt. Auch hierfür sind die Beispiele hinlänglich bekannt, angefangen bei den umfunktionierten
Testschallplatten der Imaginary Landscapes bis zur
Dekonstruktion der Gattung Oper in den Europeras.3
MUSIQUE ÉLECTRONIQUE CONCRÈTE
Zumeist erfolgt die Ästhetisierung des Banalen dadurch, dass die alltäglichen Objekte in einen neuen
Kontext gestellt und umgedeutet werden. Dieses Kunstgriffs bedient sich auch die musique électronique concrète, wobei sie aber einen Schritt weiter geht, indem
sie die Grenze zwischen Produktion und Reproduktion verschiebt. Mitte der siebziger Jahre beginnt der
französische Komponist René Bastian damit, das unterdrückte Innenleben analoger HiFi-Geräte zu erforschen und die Störgeräusche, die beim Abspielen von
Schallplatten, Tonbändern und Musikkassetten zwangsläufig entstehen, nicht länger zu ignorieren…
… mehr erfahren Sie
in Heft 2007/01
Herunterladen