weltmacht china

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Deutschland/Österreich 4 Euro, Schweiz 5 CHF
inprekorr
September/Oktober
5/2013
Foto: Kozuch, flickr.com / Robert Scoble, commons.wikimedia.org
Inter nationa le Pr essekor r espondenz
Weltmacht China
Ausgabe 5/2013
Griechenland
Wohin geht die
Türkei NACH
DER REVOLTE
Dossier
4. Internationale
Dossier
Breite
Parteien
9+1 Bemerkungen zu Syriza
nach ihrem
Gründungskongres
Der letzte Militärputsch in der
Türkei, hat offensichtlich
„ganze Arbeit“ geleistet:
Die Linke tut sich immer
noch schwer damit, ihre
Rolle im Protest auf dem
Taksim-Platz zu finden.
Der Aufstieg des
chinesischen Kapitalismus beruht auf seinem
großen Wettbewerbsvorteil – dem unerschöpflichen Reservoir rechtloser,
prekärer und schlecht
bezahlter Arbeitskräfte.
Einleitungsbericht
zur Debatte über
die internationale Situation, der auf der Sitzung
des Exekutivbüros der
Vierten Internationale
im Juni 2013 vorgestellt
wurde.
Das Ziel bleibt: Am
Ende wollen alle
die sozialistische Massenpartei der ArbeiterInnenklasse. Aber der Weg
dahin ist heiß umstritten.
Drei Zwischenbilanzen
mit den Aufbauprojekten.
Eine breite Partei
sollte es werden,
eine Einheitspartei
scheint dabei herausgekommen zu sein. Was
das für die linke Plattform bedeutet, bleibt die
spannende Frage.
Dossier mit 4 Beiträgen
Dossier mit5 Beiträgen
Von François Sabado
Dossier mit 3 Beiträgen
Von Stathis Kouvelakis
Dossier
4
Weltmacht
China
14
Internationale
Lage
30
35
48
I n h a lt
Brasilien
„ICH WILL
KEINEN BALL,
ICH WILL EINE
SCHULE“
Mit „Brot und Spielen“ lässt sich die
Bevölkerung nicht mehr
über die sozialen Schwierigkeiten hinwegtäuschen. Über den Charakter der Protestbewegung
spricht Juan Tortosa mit
53
João Machado
Lateinamerika
Lateinamerika –
vor einem neuen Erwachen?
Nach den Militärdiktaturen in den
70er und den neoliberalen Regimes in den 80er
und 90er Jahren sind seit
2000 linke Regierungen
gewählt worden.
64
von Franck Gaudichaud
und Pedro Huarcaya
Dossier Türkei
Wohin geht die
Türkei NACH DER
REVOLTE?
On iki Eylül – der 12. September 1980, der bisher letzte der sonst in aller
Regelmäßigkeit im Zehnjahresrhythmus stattfindende Militärputsch in der Türkei, hat
vor mehr als dreißig Jahren offensichtlich „ganze Arbeit“ geleistet: Die Linke, besonders
ihr sozialistischer Teil, tut sich immer noch schwer damit, ihre Rolle im Protest auf dem
Taksim-Platz zu finden.
Ein Dossier mit 4 Beiträgen
Wie weiter in
der Türkei nach
der Revolte vom
Taksim ?
Seite 5
4 Inprekorr 5/2013
Und noch ein Platz
Seite 5
Der Weg der
„islamistischen
Bewegung“
Die Kurden,
Kurdistan und
die Türkei
Seite 8
Seite 11
Dossier Türkei
Wie weiter
in der Türkei
nach der
Revolte ?
Einleitung zum Dossier durch den Autor Masis
Kürkçügil
Der Ausbruch des Zorns vom 31. Mai 2013, der bis Ende
Juni andauerte, ist für die Türkei eine ganz neuartige Bewegung gewesen. In deren Verlauf sind gemäß den Zahlen
des Innenministeriums 2,5 Millionen Personen auf die
Straße gegangen. Es gab vier Tote und 4600 Verletzte,
darunter 600 Polizisten. Tausende Personen wurden verhaftet. Diejenigen, die zu Hause an den Kundgebungen
teilgenommen haben, indem sie auf Töpfe und Pfannen
klopften, sind in diesen Zahlen nicht eingeschlossen.
Diese Explosion, die in der Türkei ausbrach, dem
im Nahen Osten und anderen Entwicklungsländern oft
herangezogenen Beispiel eines neoliberalen Paradieses,
war nicht das Resultat einer präzisen sozialen Forderung,
wie dies auf andere zurückliegende Volkserhebungen oder
auf die aktuelle Revolte in Brasilien zutrifft, die durch
die Widerstandsbewegung vom Taksim-Platz inspiriert
wurde. Bis jetzt ist es zu keinen Plünderungen gekommen.
Die Leute sind auf die Straße gegangen, als sie durch
FreundInnen oder soziale Netzwerke davon erfahren
haben, was die Polizei denjenigen angetan hat, die sich gegen die Entfernung von Bäumen in einem Park mitten im
Zentrum Istanbuls widersetzt haben; und in kurzer Zeit
wuchs ihre Zahl ins Millionenfache. Und dies in einer
Atmosphäre, wo der Präsident glaubt, in jeder Hinsicht
auf dem Höhepunkt seiner Macht zu stehen und wo er in
manche Bereiche des Alltagslebens eingreift, etwa vom
Flirt bis zur Bekleidung oder den Alkoholkonsum, und
selbst die Anzahl Kinder vorschreiben will.
Diese Bewegung ist in einem eher durch Optimismus
geprägten Klima ausgebrochen; so hat die Regierung
Verhandlungen mit der nationalistischen kurdischen
Bewegung aufgenommen. Jetzt, wo die Regierung sich
unerwartet dieser Bewegung gegenüber sah, ging sie
äußerst hart gegen die Protestierenden vor. Sie schüttete so
Öl ins Feuer und die Anzahl der Demonstrierenden wuchs
nach jeder Ansprache des Präsidenten und nach jeder
polizeilichen Gewalttat an. Die Regierung hat es somit
geschafft, alle ihre Gegner in einer Einheitsfront zusammenzuführen, sowohl diejenigen, die bereits bekannt
waren, als auch diejenigen, die zum ersten Mal an einer
politischen Aktion teilnahmen. Von daher wird nun alles
in Frage gestellt in einer Türkei, die mit Neuwahlen und
den Debatten über eine neue Verfassung in eine kritische
Phase tritt.
Istanbul, 25. Juni 2013
Masis Kürkçügil ist ein marxistischer
Theoretiker und einer der Gründer der türkischen Neuen
Linken in den sechziger Jahren. Er ist Mitglied der Führung
von Sosyalist demokrasi için Yeni Yol (Neuer Weg für die
sozialistische Demokratie, der türkischen Sektion der IV.
Internationale).
Und noch ein
Platz
Plaza de Mayo – Tian An Men – Tahrir –
Syntagma … und jetzt Taksim. Die Plätze der
Welt haben es wohl in sich! Masis Kürkçügil
Es besteht ein breiter Graben zwischen der Masse der
Unzufriedenen und der sozialistischen Bewegung. Der
Beweis dafür ist, dass ein großer Teil der TeilnehmerInnen am Widerstand vom Taksim keiner politischen Partei
angehören. Für einen großen Teil von ihnen war dies das
erste Mal, dass sie an einer politischen Aktion teilnahmen;
viele von ihnen haben sogar das Bedürfnis nach einer neuen politischen Partei ausgedrückt.
Vielfalt, Solidarität und Toleranz
Obwohl kein sozialer Inhalt während des Taksim-Widerstands offen zum Ausdruck gekommen ist, konzentriert
sich eine der diversen Fragestellungen in den durch die
Jungen in den verschiedenen Parks Istanbuls organiInprekorr 5/2013 5
Dossier Türkei
sierten Foren auf die möglichen politischen Ergebnisse
dieser Widerstandsbewegung. So möchte man wissen, ob
dieser Ausbruch des Zorns gegen die Regierung und vor
allem gegen den Premierminister sich darauf beschränken wird, die Regierung ein wenig zu schwächen, indem
die wichtigste Oppositionspartei CHP (Cumhuriyet
Halk Partisi, Republikanische Volkspartei) ein wenig
gestärkt wird, oder ob sich für die Opposition ein neuer
Kanal öffnen wird.
Es ist schwierig, die Zusammensetzung dieser sich
über mehrere türkische Städte erstreckenden Bewegung
genau einzuschätzen. Aber immerhin kann festgestellt
werden, dass die nationalistische Linke und die Mitglieder der CHP breit an den Demonstrationen in Ankara
teilgenommen haben; dort ist die Polizei sehr viel härter
aufgetreten als anderswo.
Zu Beginn wurde eine wenn auch begrenzte Teilnahme der extremen Rechten, das heißt der Grauen
Wölfe, an den Demonstrationen festgestellt. Sie haben
sich jedoch nach Warnungen der Führung der MHP
(Milliyetçi Hareket Partisi, Partei der Nationalistischen
Bewegung, eine rechtsradikale, nationalistisch-türkische
Partei, die Partei der Grauen Wölfe) schnell aus den
Kundgebungen zurückgezogen. Seltsamerweise haben damit die MHP und die BDP (Barı ş ve Demokrasi
Partisi, Partei des Friedens und der Demokratie, eine
kurdische Partei) zum ersten Mal in ihrer Geschichte in
einer bestimmten Situation eine gemeinsame Position
eingenommen.
Was die kurdische Bewegung anbelangt, so hat sie
sich angesichts der türkischen Flaggen und der AktivistInnen der nationalistischen Linken zu Beginn der Mobilisierungen ferngehalten – aus Angst, dies könnte dem
Verhandlungsprozess schaden. Erst die Unterstützungsbotschaft von Abdullah Öcalan aus seinem Gefängnis hat
dies geändert, wenn auch etwas verspätet.
Die jungen KurdInnen haben über diese Tage, wenn
auch wenig zahlreich, mit ihren Tänzen [halays] eine
ständige Präsenz auf den Straßen markiert. Sie und die
nationalistische Linke waren wahrscheinlich zum ersten
Mal in der Geschichte an solchen Festlichkeiten nahe
beieinander.
Es ist aber eine Masse, die weit über die gewohnten
Kreise (wie etwa die Sozialisten, die nationalistische
Linke, die nationalistische kurdische Bewegung und
sogar die AnhängerInnen der CHP) hinausgeht, die an
dieser Bewegung teilgenommen hat. Gerade dank neuer
TeilnehmerInnen an diesem Kampf ist es also einer der6 Inprekorr 5/2013
art heterogenen Masse gelungen, zusammenzukommen.
Sogar die Barrikaden wurden nicht nur von der militanten Linken gebaut: Auch hier handelte es sich um ein
breites Spektrum von AktivistInnen aus LGBT-Gruppen
bis zu Leuten, die zum ersten Mal an politischen Aktionen teilnahmen.
Einzelne Gruppen sind an vorderster Front dabei
gewesen, wovon die bekannteste der Fanclub des Fußballclubs Beşikta ş aus Istanbul ist, bekannt unter dem
Namen ÇAR ŞI (dabei wird der Buchstabe A wie das
Symbol der AnarchistInnen geschrieben). Diese Gruppe,
die sich bereits mehrere Male zu einer Reihe von sozialen Fragen geäußert hat, ist zur Legende des Widerstands
vom Taksim geworden. Die von der Gruppe verfassten
Lieder gegen die Polizei wurden während der Mobilisierungen von allen gesungen; sie stammen aus der Erfahrung von Zusammenstößen mit der Polizei anlässlich
von Fußballspielen.
Übrigens sind die antikapitalistischen Moslems
während dieses Widerstandes zu einem Zentrum des
Interesses geworden; sie haben durch ihre seit Jahren
erfolgte Teilnahme an den Kundgebungen zum 1. Mai in
den linken Zeitungen und Zeitschriften wie auch in den
Fernsehketten einen festen Platz gewonnen. Anlässlich
eines religiösen Festes in der Zeit der Taksim-Revolte
haben die jungen Leute vom Gezi-Park von sich aus
kleine Sesam-Kekse – ein religiöses, sakrales Symbol –
an andere TeilnehmerInnen verteilt; sie wollten damit
aufzeigen, dass ihre religiösen Praktiken von allen respektiert werden.
Die FeministInnen und die LGBT-Bewegung haben
die Gelegenheit genutzt, um sich bekannt zu machen.
Da zu Beginn die gemeinsamen Leitmotive, die von der
breiten Masse hätten geteilt werden könnten, fehlten,
traten Beleidigungen an ihre Stelle. Die FeministInnen
haben die sexistischen und zotigen Graffiti gelöscht, um
den jungen Leuten zu zeigen, wie sie ihre Sprache korrigieren könnten.
Der wichtigste Mangel der Bewegung ist die fehlende
Bildung von Basiskomitees gewesen, die dann über die
Bildung einer Koordination eine starke Interessenvertretung hätten hervorbringen können. Nun versucht man,
diesen Mangel durch die Foren in den Parks der Umgebung auszugleichen. Der Auf bau einer solchen Koordination durch eine derart große Menge ist ohne Zweifel
schwierig; ein solches Instrument wäre trotzdem wichtig
gewesen, um die Angriffe der Polizei abzuwehren und
die Dynamik der Bewegung aufrechtzuerhalten.
Dossier Türkei
Die Schaffung einer Küche, einer Krankenstation,
einer Kinderkrippe und einer Bibliothek für die Bedürfnisse des gemeinsamen Alltags (alles kostenlos) hat
zur Herausbildung einer interessanten „moralischen“
Ökonomie geführt. Obwohl das tagelange gemeinsame
Leben im Gezi-Park zwischen den sehr verschiedenen
Sektoren verschiedene Praktiken der Solidarität entwickelt hat, teilweise mit Bezügen zu Formen direkter
Demokratie, sind keinerlei „linke“ Forderungen oder
Debatten entstanden.
Der Platz der Sozialisten
Erdoğan hat mit dem Zeigefinger auf die radikale Linke
als Sündenbock gezeigt; dies entspricht aber nicht der
Wirklichkeit.
Die Kundgebungen vom 1. Mai sind über die vergangenen Jahre für die sozialistische Bewegung zu einem
Moment geworden, ihre Kräfte zu messen. Die Kundgebungen, die gelegentlich mit Beteiligung der rechten
Gewerkschaften und von Schaulustigen abliefen, und
die deshalb zu den TeilnehmerInnen gezählt wurden,
endeten jeweils nur mehr in Szenen von Zusammenstößen mit der Polizei. Sie wurden deshalb lediglich als eine
Machtdemonstration wahrgenommen.
Erdoğan hat den Taksim-Platz dieses Jahr geschlossen, der im vergangenen Jahr für die Kundgebungen
noch offen war. Die Polizei hat die Zufahrten zur Stadt
besetzt und den Zugang zum Taksim abgeschnitten. Die
DemonstrantInnen konnten ihre Position in der Umgebung von Beşikta ş, gleich neben dem Taksim, nur mit
Mühe halten; dabei wurden sogar die Abgeordneten der
CHP dem Tränengas ausgesetzt. Einen Monat danach
konnte die Taksim-Bewegung dieses Verbot in der Tat
auf heben und den Taksim-Platz in eine befreite Zone,
umgeben von Barrikaden, verwandeln. Während zweier
Wochen konnte kein Sicherheitsbeamter und kein Stadtpolizist diese Zone betreten! Das hätte die sozialistische
Bewegung nie zustande gebracht.
Obwohl sie sich landesweit stark am Taksim Widerstand beteiligten, so betrug die Anzahl der sozialistischen
AktivistInnen nie mehr als 10 % aller TeilnehmerInnen.
Seit dem Beginn der Ereignisse nehmen verschiedene sozialistische Parteien und Gruppen auf dem Taksim-Platz
mit ihren Fahnen teil. Einigen dieser mehr oder weniger kleinen Gruppen, die hauptsächlich am Rand des
Taksim-Platzes und des Gezi-Parkes kampierten, gelang
es, sich vollständig in die Bewegung zu integrieren. Aber
ein großer Teil dieser Gruppen war nicht in der Lage,
dort mehr als lediglich „Besucher“ zu sein; einige andere
Gruppen haben sich dort nur anlässlich von handfesten
Zusammenstößen mit der Polizei hervorgetan.
Die an Universitäten durchgeführten Untersuchungen über die Zusammensetzung der Mobilisierungen
haben gezeigt, dass die jungen Leute sich weniger
aufgrund sozialer oder politischer Fragen mobilisierten,
sondern sich den Einmischungen der politischen Macht
in beinahe alle Bereiche ihres Alltagslebens widersetzten.
Diese Einmischungen werden durch die paternalistische
und autoritäre Persönlichkeit Erdoğan verkörpert. Die
wichtigste Forderung war die Freiheit. Selbst wenn sie
die sozialistischen Parteien nicht als Teil des von ihnen
bekämpften politischen Systems ansahen, so sahen sie
in ihnen dennoch überhaupt keine Instrumente, die zur
Lösung ihrer Probleme beizutragen in der Lage wären.
Der größte Gewinn der sozialistischen Linken hat in
ihrer Teilnahme an dieser Bewegung als ihr legitimer
Teil bestanden. Aber man kann trotzdem nicht sagen,
dass die Fahnen und Slogans, die sie den Leuten aufdrängen wollten, die sich aus anderen Beweggründen dort
befanden, sehr geschätzt wurden!
Von den drei wichtigsten sozialistischen Gruppen
konnte nur die kommunistische Partei der Türkei, die
TKP, an den Parlamentswahlen von 2011 teilnehmen;
sie erreichte nur 0,14 %, d. h. 60 000 Stimmen, ein
Rückgang von 25 000 Stimmen gegenüber den vorhergehenden Wahlen. Wenn sie sich an den Wahlen hätte
beteiligen können, so hätte die Freiheits- und Solidaritätspartei (ÖDP) ein ähnliches Resultat erreicht. Was
die Volkshäuser (halk evleri) betrifft, die eher als eine
Bewegung denn als eine Partei auftreten, so würde ihr
soziales Gewicht zweifelsohne einem gleichen Wähleranteil entsprechen. Unter diesen Umständen verfügt
keine dieser Bewegungen über die Mittel, einen Sprung
nach vorn zu machen. Übrigens, selbst wenn sie sich zu
einer gemeinsamen Partei zusammenschließen könnten,
würden sie trotzdem keinen Anziehungspunkt bilden.
Die Wahl eines unabhängigen sozialistischen Kandidaten zum Abgeordneten als Resultat einer in einem
einzigen Istanbuler Wahlkreis geführten Kampagne, unter Teilnahme breiter sozialistischer Kreise und anderer,
aber vor allem der Stimmen der Kurden, bleibt für uns
weiterhin eine wichtige aber wenig erfolgreiche Erfahrung; am Ursprung dieses Projekts stand übrigens die
kurdische Bewegung.
Es ist nicht möglich, in der Türkei so etwas wie auch
nur einen Hauch von Syriza zu finden, das getragen
Inprekorr 5/2013 7
Dossier Türkei
würde durch den Schwung der Kämpfe gegen die Krise.
Man muss wissen, dass jede der größten sozialistischen
Organisationen nur wenige Tausend Personen umfasst
und höchstens eine Wählerbasis von einem halben Prozent hat. Deshalb kann man leicht verstehen, weshalb sie
selbst zusammengenommen keinen Anziehungspol für
die DemonstrantInnen sein können.
Die Unfähigkeit der sozialistischen Bewegung,
zumindest einen einheitlichen Kampf zu führen, hat
sich beim Taksim-Widerstand als eine ihrer Schwächen
herausgestellt. Wenn es nicht gelingt, eine glaubwürdige
Alternative zu schaffen, in die die neuen aus der Bewegung hervorgegangenen Elemente ebenfalls integriert
werden, wird es immer schwieriger werden, einem Regime standzuhalten, das sich in der kommenden Periode
noch mehr verhärten wird.
Die soziale Opposition, die seit Jahren ausschließlich
aus Kämpfen gegen Wasserkraftwerke (HES), erfolglosen
Streiks und den gewohnten Mobilisierungen zum 1. Mai
bestand, hat durch den Taksim-Widerstand wieder
Selbstvertrauen gewonnen.
Die sozialistische Bewegung wird das Problem des
Auf baus einer Alternative, die imstande ist, die Chancen
der kommenden und folggenden Wahlen nicht zu verpassen, unbedingt lösen müssen. Dies aber erfordert eine
Neustrukturierung, um neue Kampffelder zu finden,
und sie darf nicht auf die aktuellen Kräfte beschränkt
bleiben.
Der Widerstand vom Taksim hat gezeigt, dass man
gewinnen kann, wenn man kämpft. Die Bewegung
hat sich von der Bleikappe befreit, die auf ihr lastete. Um diese neue Position zu stärken, braucht es nun
neue Kämpfe; Kämpfe, die soziale Forderungen stellen,
einheitliche Kämpfe, die sich nicht ausschließlich auf die
Problematik der Freiheit beschränken und die mit sozialen Forderungen auftreten.
Übersetzung: W. Eberle
„„
8 Inprekorr 5/2013
Der Weg der
„islamistischen
Bewegung“
Der Islam auf dem Weg der Versöhnung
mit dem Neoliberalismus? Ein türkischer
Sonderweg. Masis Kürkçügil
Die „islamistische Bewegung“ hatte sich in der Nachkriegszeit, als die Republik zum Mehrparteiensystem
überging, in den Mitte-Rechts-Parteien versteckt – zunächst in der Demokratischen Partei (DP) und nach dem
Staatstreich des Militärs von 1960 in der Gerechtigkeitspartei (AP). Ende der 1960er Jahre entstand sie als eigenständige politische Partei, denn 1969 war ihr Führer,
Necmettin Erbakan, aus der AP ausgeschlossen worden,
als man die Wahlen zur Leitung der Vereinigung der
Handels- und Industriekammern und der türkischen Börse
(TOBB) annullierte. Der wichtigste Grund, die Partei der
Nationalen Ordnung (MNP) zu gründen, war die unzulängliche Repräsentation der Interessen der anatolischen
Bourgeoisie, also des kleinen und mittleren Industrie- und
Handelskapitals der Städte Anatoliens (im Vergleich zur
Bourgeoisie der Großstädte, [d. Ü.]), durch die regierende
Mitte-Rechts-Partei von Demirel. Allem Anschein zum
Trotz waren es also nicht vorwiegend religiöse oder kulturelle Überlegungen, die für die Verwandlung der „islamistischen Bewegung“ in eine politische Partei gesorgt haben,
sondern Klasseninteressen. Im Übrigen spielte und spielt
die religiöse Hierarchie weder in der Vergangenheit noch
heute eine Rolle in dieser politischen Bewegung, deren
Führung immer „säkular“ war.
Diese Bewegung tauchte nach dem Staatsstreich vom
12. März (1971) machtvoll auf – die Wählerbasis der neuen
„islamistischen“ Partei Nationale Heilspartei (MSP) belief
sich auf etwa 10 Prozent; aber sie profitierte auch von der
Fragmentierung der politischen Landschaft und konnte
somit auf der politischen Bühne des Landes eine Schlüsselrolle spielen, als sie sich an Koalitionsregierungen beteiligte, 1973 zunächst noch in einer Regierung der linken
Mitte, ab 1975 in einer Mitte-Rechts-Regierung neben
der radikalen Rechten (den Grauen Wölfen), die „Nationale Front“ genannt wurde. Die MSP vertrat – im Ver-
Dossier Türkei
gleich zu den Mitte-Rechts-Parteien sogar „fortschrittlichere“ Positionen; so sah sie die Lösung der Kurdenfrage
im Rahmen der „islamischen Brüderlichkeit“ vor, und ihr
sozio-ökonomisches Programm (Vorrang für nationale
Entwicklung), das sie im Slogan der „gerechten Ordnung“
zusammenfasste, bestand aus einer Art Keynesianismus,
der großen Wert auf eine gerechtere Verteilung der Einkommen legte.
Türkei
Ankara
EinwohnerInnen:
75 Mio. (2012)
Nationale Minderheiten:
Der Völkermord an den ArmenierInnen
Die Wiedergeburt des Islamismus unter der
Diktatur
(Mord und Vertreibung 1915-17)
reduzierte ihre Zahl von damals 1,3 Mio.
Obwohl die „islamistische“ Bewegung ihre Wählerbasis
nach dem Staatsstreich vom 12. September 1980 verloren
hatte, waren die 1980er Jahre eine Periode der Wiedergeburt des „islamistischen“ Denkens und seiner Aufnahme
durch diverse soziale Schichten. Man muss allerdings
bemerken, dass einigen politischen Kadern der (aufgelösten) MSP aus der zweiten Reihe politische Aktivitäten
nicht verboten waren und sie damit ihre politische Karriere in der Mutterlandspartei (ANAP), die kurz vor den
Wahlen 1983 von Turgut Özal gegründet worden war, der
bei den Parlamentswahlen vom 5. Juni 1977 als Kandidat
der MSP aufgetreten war, fortsetzen konnten. Özal, der
Architekt der berüchtigten Maßnahmen des 24. Januar
1980, die auch die Basis für die neoliberale Wirtschaftspolitik der Junta abgaben, war unter anderem in den 1960er
Jahren Direktor der Organisation der staatlichen Planung
(DPT), Vorsitzender des Verbandes der Unternehmer in
der Metallindustrie und geschäftsführender Direktor der
Sabanci Holding, der zweitgrößten industriellen Gruppe
der Türkei nach der Koç Holding gewesen. Man muss
auch betonen, dass die Bourgeoisie Anatoliens dank der
neoliberalen Wirtschaftspolitik der Junta einen massiven
Aufschwung genommen und in der Hierarchie nach oben
gewandert war; man sprach bereits von den „anatolischen
Tigern“. Die neoliberale Politik hatte ein neues Akkumulationsregime errichtet, das die Ausfuhren auf der Grundlage von Subventionen für Investitionen und der Senkung
der Löhne begünstigte. Diese Politik war von den Regierungen der ANAP fortgesetzt worden, die sich bis 1991 an
der Macht halten konnte. Özal war im Übrigen von der
Junta nach dem Staatsstreich zum Wirtschaftsminister ernannt worden, bevor er dann 1983 Ministerpräsident und
1989 Staatspräsident wurde.
Danach gründete die Bewegung eine neue politische
Partei unter Leitung ihres historischen Führers Erbakan.
Diese neue Wohlfahrtspartei (RP) beteiligte sich 1991 in
einem Bündnis mit der Nationalen Arbeitspartei (MÇP),
auf heute etwa 40 000.
Die größte Minderheit heute sind
die KurdInnen, die ein knappes Fünftel
der Gesamtbevölkerung ausmachen.
OECD-Mitglied:
Die Türkei gehört eigentlich nicht zu
den traditionellen Industriestaaten,
ist aber aus bündnispolitischen Gründen
seit Anfang an OECD-Mitglied. Die
letzten drei Jahre hatte es für OECD-
Verhälntisse außergewöhnlich hohe
Wachstumsraten (zwischen 8 und 9,5%).
Wirtschaftszweige:
V. a. Textilindustrie, Bauindustrie,
Tourismus, Automobilindustrie
eine Weiterführung der rechtsradikalen MHP, sowie mit
einer kleinen nationalistischen Partei an den Parlamentswahlen. Man fürchtete, an der 10-Prozent-Hürde zu
scheitern, die übrigens noch immer gilt.
Die Politik von unten
In den 1990er Jahren erfolgte ein bedeutender Wechsel in
der Geschichte der Bewegung: Sofort nach der Gründung
entschied sich die neue „islamistische“ Partei, Politik von
unten zu betreiben und die benachteiligten Klassen der
armen Stadtviertel zu organisieren, auch auf gewerkschaftlicher Ebene. Sie bezog daher anlässlich der Kommunalwahlen von 1994 gegen die neoliberale Politik Stellung.
Sie wandte sich auch gegen die US-amerikanische Politik
in der Region (der gegenwärtige Staatspräsident Abdullah
Gül verurteilte im Verlauf des ersten Golfkrieges die Koalition (der „Willigen“) gegen den Irak im Parlament (Hafiz
Assad hingegen bot ihr Unterstützung an). Sie profitierte
von der Verwirrung und Zersplitterung der Mitte-LinksParteien und sie mobilisierte die Unzufriedenen in den
armen Stadtvierteln, die die Korruption der Mitte-LinksParteien in den Stadtverwaltungen satt hatten; dadurch
Inprekorr 5/2013 9
Dossier Türkei
gelangen ihr Wahlsiege in den beiden größten Städten des
Landes, Istanbul und Ankara. Die Stimmenanteile der drei
Mitte-Links-Parteien beliefen sich zusammen auf 36 %,
doch der gegenwärtige Ministerpräsident Recep Tayyip
Erdoğan wurde zum Bürgermeister von Istanbul gewählt,
weil er mit 25 Prozent vorn lag (es zählte die relative
Mehrheit). Da sich die Bewegung der Kurden nicht an den
Wahlen beteiligt hatte, gewann die RP sogar das Bürgermeisteramt von Diyarbakır und konnte ihren Stimmanteil
landesweit auf 19 % steigern. So lieferte die neue Kommunalpolitik der „Islamisten“, in der es auch Elemente der
Solidarität im tagtäglichen Leben der BürgerInnen gab,
als Treffen in den Häusern einfacher Menschen abgehalten
wurden, einen fruchtbaren Boden für die Herausbildung
einer organischen Bewegung, die bis heute besteht. Sie bildet die soziale Basis der gegenwärtigen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), deren Organisation und
Propaganda auf diesen Erfahrungen beruhen.
Die erste Regierung
Die RP sah ursprünglich in ihrem Programm ein
besonderes Wirtschaftssystem vor, das weder sozialistisch
noch kapitalistisch sein sollte und „nationale Vision“ (Millî
Görüş) genannt wurde. Ab 1994 hatte sie sich aber für eine
(wenn auch kontrollierte) Marktwirtschaft ausgesprochen.
Diese Wende sollte dann mit der AKP in eine offensichtlich neoliberale Ausrichtung münden.
Die RP beteiligte sich an den Parlamentswahlen von
1995, ohne ein Bündnis einzugehen, und wurde mit 21 %
der Stimmen stärkste Partei, wobei sie von der Zersplitterung der Mitte-Links- und der Mitte-Rechts-Parteien
profitierte. Dadurch wurde sie zum Zünglein an der Waage. Die RP hatte im Hinblick auf die anderen Parteien der
Ordnung, die ihre Glaubwürdigkeit vor allem wegen des
Krieges gegen die Kurden verloren hatten, eine vorteilhafte Stellung erreicht. Sie suchte nun eine Koalition mit den
beiden anderen Mitte-Rechts-Parteien einzugehen, mit
der ANAP und der DYP, die jeweils 19 % bekommen hatten. Nach langen, etwa sechs Monate dauernden Verhandlungen wurde der historische Führer der Bewegung, Prof.
Dr. Necmettin Erbakan, endlich Ministerpräsident. Obwohl die Parteien der linken Mitte auch 25 % der Stimmen
erhalten hatten, hatten sie im Parlament nichts zu sagen.
Nachdem sie – wenn auch in einer Koalition – an die
Regierung gelangt war, vertrat die RP die verschiedenen islamistischen Schichten. Da ihr Führer zum Ministerpräsidenten ernannt worden war, begannen auch
die neuen Eliten an der Macht von deren Segnungen zu
10 Inprekorr 5/2013
profitieren, was zu Unzufriedenheit und Spannungen
in den Reihen des traditionellen Kemalismus führte,
die sich rasch zuspitzten. Als der Ministerpräsident in
seinem Amtssitz auch noch religiöse Führer empfing,
auch solche von religiösen Sekten und als er auf seinem
Libyen-Besuch unfähig war, auf die „wenig diplomatischen“ Aussagen von Gaddafi über die Regierungsform
in der Türkei adäquat zu reagieren, kam es zu heftiger
Kritik. Hinzu kamen die Probleme mit den Kurden und
mit der NATO.
Im November 1996 starben bei einem Verkehrsunfall
ein hoher Polizeibeamter und ein faschistischer Mafioso,
die vor dem Staatsstreich vom 12. September 1980 in eine
Reihe von mörderischen Attentaten verwickelt gewesen waren (sie gehörten wahrscheinlich zum nationalen
Geheimdienst MIT). Ein Abgeordneter der Partei des
rechten Weges (DYP) – der Chef einer regierungstreuen
kurdischen Miliz – befand sich ebenfalls im Auto, doch er
kam mit schweren Verletzungen davon. Dieser Fall führte
zu öffentlicher Empörung und Protesten. Erbakan unterschätzte diese Zwischenfälle, und die Proteste dehnten sich
auf das ganze Land aus. Erbakan setzte sich nicht für eine
konsequente Untersuchung des Unfalls ein und verbreiterte dadurch die Gegnerschaft zu seiner Regierung.
Ein „postmoderner“ Staatsstreich
Am 28. Februar 1997 traf der nationale Sicherheitsrat
(MGK1) einige Entscheidungen, die direkt auf den Ministerpräsidenten abzielten. Nach diesen Entscheidungen
spaltete sich die DYP und trat aus Erbakans Koalition
aus. Der damalige Staatspräsident Süleyman Demirel,
aber auch die Armee und die Justiz zwangen die bereits
geschwächte Regierung zum Rücktritt. Der Verfassungsgerichtshof löste am 16. Januar 1998 die RP auf, weil sie
„gegen das Prinzip der laizistischen Republik verstoßen“
habe.
In den folgenden Wahlen zum Parlament bzw. den
Gemeinderäten erhielt die „Tugendpartei“ (FP), die anstelle der RP gegründet worden war, 15 bzw. 18 Prozent.
Das Verbot für die historische Parteiführung, sich an den
Wahlen zu beteiligen, hatte in der Partei ein Vakuum geschaffen. Die FP wurde im Juni 2001 ihrerseits aufgelöst,
weil sie während ihres Parteitages „Treuebekundungen auf
ihren Führer, dem politische Betätigung untersagt war“
veranstaltet hatte.
Auch wenn die Bewegung sofort eine Nachfolgepartei für die FP, die „Partei des Glücks“ (SP) ins Leben rief,
profitierte die junge Garde, die gegen die alte Oligarchie
Dossier Türkei
um Erbakan rebellierte, von der Gelegenheit und trat der
neuen Partei nicht bei.
Neoliberale Erneuerung
Diese junge Gruppe gründete ihre eigene Partei, die AKP
(Partei der Gerechtigkeit und der Entwicklung). Sie verzichtete zunächst auf die „nationale Vision“ (Millî Görüş).
Wie die RP, so stieß auch die AKP in einen politisch
unbesetzten Raum. Die 1999 aus dem stark zersplitterten
Parlament hervorgegangene Regierung bestand vor allem
aus zwei nationalistischen Parteien der Linken und der
Rechten, der Partei der demokratischen Linken (DSP) und
der Partei der nationalistischen Bewegung (MHP), die sich
dank einer nationalistischen Welle im Gefolge der Verhaftung und Verbringung in die Türkei von Abdullah Öcalan,
dem Führer der kurdischen PKK, neu formiert hatten. Der
dritte Partner in der Regierung war die Partei von Özal, die
inzwischen in der rechten Mitte angesiedelt war.
Die Wirtschaftskrise von 2001 traf die Regierung hart
und die Krankheit von Ministerpräsident Ecevit beeinträchtigte die Zukunft der Koalition. Im Mai 2002 begannen sich Spekulationen über den Nachfolger von Ecevit
auszubreiten. Schließlich kamen die Regierungsparteien
überein, vorgezogene Neuwahlen anzusetzen, in deren
Gefolge es keiner von ihnen gelang, die 10%-Hürde zu
überwinden und im Parlament vertreten zu sein. Das galt
auch für die DYP, die sich in der Opposition befand. Die
WählerInnen straften somit wegen der Krise die gesamte
politische Klasse ab und warfen alle Altparteien und ihre
Führungen aus dem Parlament.
Bei den ersten Wahlen, an denen sie teilnahm, wurde
die AKP Siegerin, ohne dass sie irgendwelche Versprechungen gemacht oder ein eigenes Programm verkündet hätte. Sie präsentierte sich einfach als neue Partei
angesichts eines Systems politischer Parteien, das bereits
zusammengebrochen war. Sie beendete somit auch einen
zehnjährigen Zeitraum von Koalitionen.
Eine erhebliche Anzahl von Menschen, die jahrelang
behauptet hatten, Gegner des Westens, der EU oder sogar
des Kapitalismus zu sein, zog nun das alte Hemd der „nationalen Vision“ aus und vertrat eine neoliberale Politik. Sie
verwandelten sich aus einer dissidenten Bewegung in eine
neue Mitte-Rechts-Partei, wobei sie von der Verwirrung
und der Zersplitterung der rechten Mitte profitierten.
Das ab 2002 von der AKP entwickelte Profil hat zahlreiche Zweifel aufkommen lassen. Zunächst besuchten
einige Parteiführer die USA, um die dortige Regierung
zu beruhigen. Andererseits fanden Vertreter des Kapitals
im In- und Ausland diese Leute ein bisschen eigenartig,
weil sie ja in der Vergangenheit ziemlich radikale Reden
gehalten hatten. Die staatlichen Institutionen, vor allem
die Armee und die Justiz, begegneten ihnen mit äußerstem
Misstrauen. Sie hatten noch nicht begriffen, dass die AKP,
obwohl sie aus der RP hervorgegangen war, die alte Tradition verraten und sich ins System integriert hatte.
Übersetzung: Paul B. Kleiser
„„
1 MGK (Millî Güvenlik Kurulu) = Institution der Verfassung, die sichtbare Seite der „militärischen Aufsicht“, die
die Spitze des Militärs, den Ministerpräsidenten und einige
Kabinettsmitglieder unter der Leitung des Staatspräsidenten
zusammenführte. Inzwischen wurde die Zusammensetzung
geändert. Der Generalsekretär und die Mehrheit der Mitglieder müssen nun Zivilisten sein.
Die Kurden,
Kurdistan und
die Türkei
Das politische Machtvakuum im Irak, der
unentschiedene Krieg in Syrien und eine
partielle Neoliberalisierung der islamischen
Bewegung in der Türkei verändern die
Perspektiven für ein Kurdistan, das an allen drei
Ländern Anteil hat. Masis Kürkçügil
Mit der Widerstandsbewegung auf dem Taksim-Platz in
Istanbul wurden unter anderem neue Fragen zum Schicksal
des bereits 30 Jahre dauernden kurdischen Widerstandes
aufgeworfen, der ungefähr 35 000 Menschen das Leben
gekostet hat. Es fragt sich, inwieweit ein Regime, das sich
immer autoritärer gebärdet, den Erwartungen der Kurden
gerecht werden kann.
In den letzten fünf Jahren hat sich zwischen der KurdenFrage und der Türkei eine seltsame Beziehung herausgebildet. Einerseits ist die autonome Region Kurdistan im
Inprekorr 5/2013 11
Dossier Türkei
Nordirak so gut wie unabhängig geworden und hat sich
wirtschaftlich praktisch der Türkei angeschlossen. Andererseits hat Westkurdistan als Folge der Kämpfe gegen das
Assad-Regime in Syrien de facto einen autonomen Status
erlangt. Und schließlich widerspricht der Status quo im
türkischen Kurdistan – der andauernde Konflikt auf kleiner
Flamme – mehr und mehr regionalen Interessen des türkischen Kapitalismus. All dies hat die AKP dazu gezwungen,
für die kurdische Frage nach einer Lösung zu suchen. Die
Kurden haben folglich nicht militärisch gesiegt, sondern
das Kräftegleichgewicht, das über Jahrhunderte zu ihren
Ungunsten war, beginnt sich nun zu ihren Gunsten zu verändern.
2009 hat die AKP mittels Staatsagenten geheime Verhandlungen mit den PKK-VertreterInnen in Oslo aufgenommen, um nach einer Lösung der Kurden-Frage zu suchen.
Nach dieser unerwarteten Entwicklung hat eine kleine
unbewaffnete Guerilla-Gruppe symbolisch die Grenze überschritten und sich den Behörden gestellt. Die Ankömmlinge
wurden zum Schein vor Gerichte gestellt, die in aller Eile an
der Grenze eingerichtet wurden und dann freigelassen. Doch
die von einer Riesenmenge am Zoll begeistert empfangene
Guerilla hat die nationalistischen Kreise der Türkei und ein
Großteil der AKP-Wählerbasis aufgeschreckt. Die AKP
hat sofort zum Rückzug geblasen. Darauf folgte eine riesige
Verhaftungswelle gegen den unbewaffneten zivilen Arm der
nationalistischen Kurden-Bewegung, die KCK (Vereinigte
Gemeinden Kurdistans): tausende von KCK-Mitgliedern,
unter ihnen Gemeindepräsidenten, wurden inhaftiert. Die
Lage verschlechterte sich wieder auf einen Schlag und alles
musste zurück auf START, d. h. zum Konflikt.
Erdoğan erklärte, seine Partei verfüge über die Mehrheit
der kurdischen ParlamentarierInnen und über die Stimmenmehrheit in der Kurdenregion (deren Grenzen er nach
eigenem Gutdünken festlegt). Deshalb anerkenne er bei
Verhandlungen über das Kurden-Problem keinen anderen
Gesprächspartner außer sich selbst (seine Partei wird vom
Parteichef vertreten).
Die Partei für Frieden und Demokratie (BDP) hat bei den
Parlamentswahlen 2011 einen großen Sieg errungen: Dank
unabhängiger KandidatInnen konnte sie die 10%-Hürde
überwinden. Aus ihrer Kandidatenliste wurden 36 gewählt,
darunter drei Sozialisten aus Istanbul (Nicht-Mitglieder der
BDP), ein Islamist sowie ein Konservativer aus Diyarbakır.
Damit ist der Partei in ihrer Region mit Islamisten, Konservativen und Sozialisten aus der Westtürkei die Bildung einer
Art nationale Front gelungen. Trotz dieses Erfolges lehnt die
AKP die BDP als Gesprächspartnerin ab. Die BDP ihrerseits
12 Inprekorr 5/2013
hat stets die Anerkennung des gefangenen PKK-Führers
Abdullah Öcalan als Gesprächspartner gefordert.
2012, nach dem Abzug der syrischen Truppen aus
Syrisch-Kurdistan hat die PYD (eine erweiterte PKK) in
der Region enorm an Einfluss gewonnen. Plötzlich wurde
aus der autonomen Region irakisch Kurdistan eine autonome kurdische Region, die sich bis nach Syrien erstreckt.
Die PKK hat den revolutionären Volkskrieg erklärt, um in
Hakkari eine befreite Zone zu schaffen, dabei hat sie jedoch
tausend Guerillakämpfer verloren.
Anschließend hat die türkische Regierung erneut
versucht, mit der kurdischen Bewegung zu verhandeln.
Diesmal hat sie sich direkt an Öcalan gewandt. Die türkische Regierung wusste genau, dass Öcalan bei der PKK
eine Feuereinstellung durchsetzen konnte. Dies zeigte sich
auch an den Gesprächen, die er seit seiner Verhaftung 1999
immer wieder mit der Regierung und anlässlich der Konferenz von Oslo geführt hatte. Schließlich wurde eine von
Erdoğan persönlich abgesegnete BDP-Delegation bestehend aus drei Parlamentariern auf die Insel Imrali gesandt,
wo Öcalan inhaftiert ist, und die Verhandlungen wurden
wieder aufgenommen.
Gemäß einer vorausgegangenen Abmachung unter den
Parteien musste zuerst die PKK über eine Feuereinstellung
entscheiden und ihre bewaffneten Kämpfer aus der Türkei
abziehen. Danach würde es Verfassungs- und Gesetzesänderungen geben, insbesondere einen Sonderstatus für die Kurden. Anschließend würde die PKK den bewaffneten Kampf
einstellen. Danach würde die Lage Öcalans neu beurteilt
und verbessert. Es würden auch die Voraussetzungen dafür
geschaffen, dass sich die PKK-Mitglieder als BürgerInnen in
das normale Leben integrieren könnten.
Dieses Abkommen ist von der Regierung nie veröffentlicht worden. Sie hat zudem darauf geachtet, nicht als
aktive Verhandlungsteilnehmerin in Erscheinung zu treten.
Es wurde nur gesagt: „Der Terror muss beendet und das
Blutvergießen gestoppt werden“, und der Nationale Geheimdienst (MIT) habe die Verhandlungen wiederaufgenommen
und führe sie weiter. Die Kurden ihrerseits sprachen offen
davon, dass Verhandlungen im Gange seien und dass es die
„Führung“ war, d. h. Abdullah Öcalan, der dafür die Initiative ergriffen habe. Doch abgesehen von einigen Artikeln in
den Medien gibt es immer noch keinen schriftlichen Text, in
dem der Rahmen und die Bedingungen für ein Abkommen
offen aufgelistet werden. Die Tatsache, dass die von Öcalan
verfassten Texte von den türkischen Staatsbeamten an die
Leitungsmitglieder der PKK in Europa und in Kandil weitergegeben wurden – die sich bezüglich Wiederaufnahme der
Dossier Türkei
Verhandlungen mit ihrem Führer voll solidarisierten – zeigt,
dass es einen detaillierten Plan geben muss.
Gemäß den Äußerungen der BDP-Sprecher sollte die
zweite Stufe des Plans – für die zweifellos einige rechtliche
Reglementierungen notwendig sind – nach dem Rückzug
der PKK-Kämpfer hinter die Grenzen beginnen. Dies scheint
bis jetzt ohne größere Probleme der Fall zu sein.
Wer von diesen Verhandlungen ausgeschlossen ist – an
denen auch die USA und Barzani beteiligt sind – äußert zu
deren Ausgang ernsthafte Bedenken. Teile der sozialistischen
Bewegung lehnen jegliches Abkommen mit der AKP klar
ab oder verhalten sich zumindest neutral. Andere äußern
ernsthafte Bedenken wegen möglicher Zugeständnisse von
Seiten der Kurden (oder vielmehr von Öcalan) an die AKP
als Gegenleistung für einen Sonderstatus. Den Prozess an sich
halten sie jedoch für eine positive Entwicklung und finden
daran nichts Ungewöhnliches. Sie sind der Meinung, dass die
Kurden dem Erdoğan-Plan zustimmen könnten, der ein Präsidialsystem „nach türkischer Art“ anstrebt als Gegenleistung
für eine Art Autonomie, bei welcher den lokalen Gemeinschaften mehr Kompetenzen zugesprochen würden. Es gibt
auch Stimmen, die fordern, dass der Krieg unbedingt beendet
und den Kurden das Recht zugesprochen werden muss, den
Konflikt mit einem selbstbestimmten Kompromiss zu lösen.
Andererseits tauchen Themen wie „Einheit von Kurden
und Türken“ oder „islamische Bruderschaft“ wieder vermehrt auf, die Öcalan manchmal in seinen Reden erwähnt.
Der bekannte türkische Soziologe Ismail Beşikçi, der sein
Leben lang die Rechte des kurdischen Volkes verteidigt
und wegen seiner soziologischen Studien über das Leben
der Kurden insgesamt 17 Jahre im Gefängnis saß, verurteilt
diese Reden bei jeder Gelegenheit. Am 28. Februar ist in den
Medien ein Bericht über ein Gespräch Öcalans mit BDP-Parlamentariern sowie seine Botschaft an die Völker der Türkei
erschienen (in welcher er von der „islamischen Bruderschaft“,
„der tausendjährigen Einheit von Kurden und Türken“ und
„vom Wachstum der Türkei“ spricht, also alles Formulierungen, die nicht unbedingt der ideologischen und politischen Linie der AKP entsprechen). Diese Botschaft wurde
am Newroz (Neujahrsfest) von BDP-Parlamentariern einer
in Diyarbakır versammelten Menge vorgelesen, was all jene
irritiert hat, die sich damit nicht identifizieren können, insbesondere die Aleviten. In den 1990er Jahren, zu einer Zeit,
als die PKK als radikaler galt als heute, hat Öcalan übrigens in
einem Interview mit dem Journalisten Cengiz Çandar einen
ähnlichen Diskurs gehalten. Çandar hatte ihn auf Anweisung
des damaligen Präsidenten der Republik, Turgut Özal, dessen
Berater er war , aufgesucht,.
Die Initiative der AKP, mit den Kurden Verhandlungen aufzunehmen, um die nationale Frage zu lösen, was
bis dahin niemand oder fast niemand gewagt hatte, hat in
breiten Schichten der Bevölkerung im Westen wie im Osten
der Türkei Erleichterung ausgelöst. Seit dem de-factoWaffenstillstand werden keine Leichen junger Soldaten und
Guerillakämpfer mehr gebracht. In Städten der Westtürkei
und vor allem in den Städten des Ostens herrscht ein Klima
großer Hoffnung. Aber mit dieser Hoffnung allein ist noch
kein erfolgreicher Friedensprozess garantiert.
Die Kurden wurden nicht besiegt. Es ist ihnen im
Gegenteil in den letzten 30 Jahren gelungen, ihre Identität
zu entwickeln. Politisch verfügen sie nun über genug Kraft,
um in der Nationalversammlung während zwei aufeinander
folgender Legislaturperioden eine parlamentarische Fraktion
(mindestens 20 Parlamentsabgeordnete) zu stellen. Die Kurdenbewegung, die seit drei fünf Jahresperioden in den meisten Gemeinden der Region und insbesondere in Diyarbakır
an der Macht ist, besteht nicht nur aus Guerillakämpfern in
den Bergen. Sie kann sich heute auf eine riesige, solide zivile
Basis stützen und ist im täglichen Leben der Leute verankert.
Es muss aber auch gesagt werden, dass die PKK beim
Streben nach überzeugenden Resultaten an die Grenzen des
bewaffneten Kampfes gestoßen war. Abdullah Öcalan hat
erklärt, dass der umfassende militärische Sieg nicht möglich
sei. Er sagte dies nicht erst nach seiner Verhaftung, sondern
bereits vor 20 Jahren.
Jene, die an die Urne gehen, der Bewegung helfen und
sie unterstützen, sind mehr für die Zulassung ihrer Muttersprache im Schulunterricht, für die Freilassung der Gefangenen, für die Normalisierung der Lage jener, die in den
Bergen leben, und vor allem für bessere Lebensbedingungen
als für den bewaffneten Kampf „bis zum bitteren Ende“. Von
daher gesehen soll man ohne Zögern lautstark kundtun,
dass „der Friede willkommen ist, woher er auch kommen
möge!“.
Doch es besteht ein tiefer Graben zwischen den Forderungen der Kurden und dem, was die AKP zu geben bereit
ist. Dieser Graben wird momentan nur vom persönlichen
Prestige überbrückt, das Öcalan beim kurdischen Volk
genießt.
Übersetzung: Ursi Urech
„„
Inprekorr 5/2013 13
Dossier China
Weltmacht China
Der spektakuläre Aufstieg des chinesischen Kapitalismus beruht auf seinem großen
Wettbewerbsvorteil – dem unerschöpflichen Reservoir rechtloser, prekärer und schlecht
bezahlter Arbeitskräfte. Wird diese Rechnung auch weiter aufgehen?
Ein Dossier mit 5 Beiträgen
Klassenfrage
Seite 15
Chinesische Wandlungen
China im weltweiten
Kräfteringen
Arbeiterklasse im
Wandel
Seite 17
Seite 20
Seite 23
Gewerkschaftsbewegung und Arbeiterkämpfe in China
Seite 26
14 Inprekorr 5/2013
Dossier China
KLASSENFRAGE
„Unser Leben ist süßer als Honig“ (Titel eines
chinesischen Lieds) Yann Cézard
Die westliche Welt wird seit langem von der Vorstellung getrieben, China könne zu alter Größe erwachen und die (alte)
Welt aus den Fugen heben. Inzwischen ist das Land wieder
zur Großmacht geworden und sorgt mit seiner industriellen
Größe für tiefgreifende globale Veränderungen. Durch den
Umbruch mit über einer Milliarde neuer „Marktteilnehmer“ geraten nicht nur die alten Kräfteverhältnisse ins Wanken, sondern wird auch die weltweite Konkurrenz befördert,
was zulasten der Löhne geht, die Rohstoffpreise treibt und
die Umweltkrise verschärft. Insofern ist die weitere Entwicklung des Landes von globaler Bedeutung.
Die „fünfte Führungsgeneration“, die gerade an die
Macht gelangt ist, wiegt sich nach außen hin nicht in
Illusionen über die äußeren und inneren Widersprüche des
gegenwärtigen Wachstums.
Treibende Kraft dabei sind die massiven Exporte und Investitionen auf der Basis niedriger Löhne, prekärer Verhältnisse und einer Kasernenhofdisziplin, die der Arbeiterklasse
aufgezwungen werden, sowie einer gnadenlosen Zerstörung
des ökologischen Gleichgewichts und der natürlichen Ressourcen. Offen ist nur, wie lange dies gut gehen wird, da die
globalen Märkte nicht unbegrenzt immer mehr chinesische
Waren abnehmen werden und durch die niedrigen Löhne
sowohl die Binnennachfrage beschränkt bleibt als auch eine
nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung blockiert wird.
Und es wird der Import der für die chinesische Industrie
benötigten Rohstoffe immer teurer. Zudem wird auch die
Ausbeutung der Arbeiterklasse dort an ihre Grenzen stoßen,
wo sich der Widerstand der Arbeiter selbst erhebt.
Geschichte verläuft nicht geradlinig. Insofern wäre es
unsinnig, die wirtschaftlichen Entwicklungsdaten Chinas
der vergangenen 30 Jahre für die Zukunft fortzuschreiben.
Das weiß auch die politische Elite des Landes, die ein wenig
von „Dialektik“, aber viel vom Kapitalismus versteht. Das
Wirtschaftswachstum ist auf den gegenwärtigen Grundlagen nicht aufrecht zu erhalten, was weniger an der fehlenden
sozialen Gerechtigkeit und menschlichen Würde liegt, als an
der Gesetzmäßigkeit des kapitalistischen Profits.
Daher verspricht die Regierung in Peking auch ein
„neues Wachstumsmodell“. Nach dem „sozialistischen Aufbau“ unter Mao und der „sozialistischen Marktwirtschaft“
unter Deng Xiaoping und seinen Nachfolgern Jang Zemin
und Hu Jintao soll nunmehr „die harmonische Gesellschaft“ kommen. Eine Konsumgesellschaft für die Massen,
in der das Wirtschaftswachstum von der Binnennachfrage
getrieben wird, die Wirtschaft weniger natürliche Ressourcen aufzehren wird und die Ungleichheiten abnehmen
werden. Dies alles soll sich unter der aufgeklärten Federführung der KPCh vollziehen.
Denn die Partei stellt sich natürlich so dar, als sei sie die
Wiedergeburt der ehemaligen Reichsverwalter-Bürokratie
der Mandarine, die das Reich der Mitte zu historischer
Größe führte, und als sei sie die Vertreterin des ganzen Volkes, die über den sozialen Klassen steht und die Marktkräfte
freisetzt und zugleich beherrscht.
Bloß dass Geschichte nicht so gemacht wird. Dass der
Kapitalismus in einigen Ländern – für eine bestimmte Zeit
seiner langen Geschichte und beileibe nicht für immer
– eine Konsumgesellschaft für die Massen zugleich mit
politischen Freiheiten und sozialen Rechten hervorgebracht
hat, dies lag nicht an der genialen Weitsicht der herrschenden Klassen, sondern am Klassenkampf und ging auch nicht
ohne tragische Episoden einher.
Der Staat als Teil des Problems oder der Lösung?
Für die Unternehmen in China ist der chinesische Nationalstaat als Vermächtnis der maoistischen Revolution
ein wichtiger Trumpf. Damit lassen sich noch immer die
Kämpfe der Arbeiterklasse und der Bauern erfolgreich
unterdrücken und die Metropolen und multinationalen Konzerne hinhalten. Er dient als Türöffner zu den
Rohstoffmärkten und gewährt zugleich den Zugang zum
eigenen Binnenmarkt nur im Austausch gegen Technologietransfer und Kompensationsgeschäfte. Als Herrscher
über seine Grenzen – einschließlich der Finanzströme
– kann er in gewisser Weise die wirtschaftlichen Aktivitäten steuern, bestimmte Sektoren gezielt befördern und
Investitionsströme lenken.
Außerdem ist der chinesische Staat nicht der „aufgeklärte Despot“, der er zu sein vorgibt. Wie lassen sich der
chinesische Kapitalismus und der Staat, der ihm so machtvoll unter die Arme greift, charakterisieren? Au Loong Yu
bezeichnet ihn in seinem Buch China‘s Rise: Strength and
Fragility als „bürokratischen Kapitalismus“, also nicht als
„Staatskapitalismus“, in dem der Staat die Privatkapitalisten
und die Märkte an den Rand gedrängt hätte, um selbst die
Funktionen der Kapitalakkumulation zu übernehmen, und
auch nicht als bloßen „autoritären Kapitalismus“.
Im Rahmen eines ungezügelten Kapitalismus existiert
Inprekorr 5/2013 15
Dossier China
eine Bourgeoisie, die Privateigentümer ihrer Unternehmen ist, neben einer Bürokratie, die ihrerseits integraler
Bestandteil der Bourgeoisie und zugleich deren Herz und
Kopf ist.
Zunächst einmal sind die größten chinesischen Unternehmen – angefangen beim Bankenwesen als Kontrollinstanz der Wirtschaft – staatlich, sei es, dass sie dem Staat
gehören oder dass sie von den Provinzen, Kommunen etc.
kontrolliert werden. Aber dies ist nicht ausschlaggebend. So
wie die Klasse der Privateigentümer an den Produktionsmitteln stetig wächst – ebenso wie der Anteil des Privatsektors an der Gesamtproduktion (nach OECD-Angaben
ist dessen Anteil an der Wertschöpfung im Industriesektor
zwischen 1998 und 2005 von 29 % auf 71 % gestiegen) – so
ist die chinesische Bürokratie selbst immer mehr Teil der
Bourgeoisie geworden.
Die Kontrolle über ein Ministerium oder eine Ortsverwaltung ermöglicht es einem Klan, Schmiergelder
abzuzweigen, Gelder zu veruntreuen und auch unmittelbar Privatgeschäfte zu steuern. Armeebataillone werden
plötzlich zu „Eigentümern“ von Fabriken; die Stadtverwaltung bestellt die Ausrüstung für die Feuerwehr bei einem
Unternehmen … das den Stadtverordneten gehört, oder
sie enteignet Bauern und verkauft die Ländereien gegen
Kommission an die Industrie; die Familien der Lokalhonoratioren re-investieren in die Immobilienspekulation. Bei
den massiven Privatisierungen der 90er Jahre landete ein
Großteil der billig verkauften Unternehmen in den Händen
„kommunistischer“ Manager eben dieser Unternehmen,
die dadurch ins „Business“ einstiegen.
Daran beteiligt sind alle Ebenen des Staatsapparats. In
den zehn Regierungsjahren des ehemaligen Premier Wen
Jiabao häufte dessen Familie ein Vermögen von 2,7 Milliarden Dollar an. Und Li Xiaolin, die Tochter des Schlächters
des Tian‘anmen-Platzes 1989 und damaligen Premierministers Li Peng, ist Chefin von China Power International,
eines der fünf größten staatlichen Unternehmen, die sich
den chinesischen Elektrizitätsmarkt teilen. Die Firma von
Hu Haifeng, Sohn des ehemaligen Präsidenten Hu Jintao,
beliefert exklusiv die chinesischen Flughäfen mit ihren Sicherheitsscannern … und auch die Flughäfen in den afrikanischen Ländern, die der Herr Papa seinerzeit bereist hatte.
Bürokratischer Kapitalismus, kapitalistische
Bürokraten
Dieser Kapitalismus, wo die Grenzen zwischen privat und
öffentlich zerfließen, existiert nicht am Rande des Systems,
sondern ist dessen tragender Bestandteil. Die Zentralre16 Inprekorr 5/2013
gierung deckt dies, schlichtet und steuert dies, auch wenn
gelegentlich einige Ausgerastete oder im Fraktionskampf
Unterlegene auf dem Hochaltar des Kampfes gegen die
Korruption geopfert werden.
In ihrem neuesten Buch Chine, Le nouveau capitalisme
d’État beschreibt Marie-Claire Bergère die chinesische
Bourgeoisie als „eine disparate Welt von Unternehmern.
Diese entstehen entweder im Privat- oder im öffentlichen Sektor, meist jedoch irgendwo dazwischen, und sie
beherrschen die Marktstrategien, bleiben aber unter der
Kontrolle der Behörden. Die Machthaber umsorgen oder
unterdrücken sie, manche werden ausgeschaltet und die
anderen eher mit den Spitzen aus Politik und Verwaltung
verschmolzen. Dadurch soll ihre Transformation in eine
autonome soziale Schicht vermieden werden, die sich zu
einer oppositionellen Kraft auswachsen könnte. Dass diese
Unternehmer der privilegierten Minderheit von Kindern
oder Verwandten hoher Funktionäre entstammen, zeigt die
Korruption und Vetternwirtschaft, die die Funktionsweise
eines Staatskapitalismus untergraben, der zum Kapitalismus
der Spießgesellen verkommen ist. Die größten Unternehmer – Bürokraten, die die großen staatlichen Unternehmen
als Geschäftsmänner leiten – sind eng mit dem Regime
verflochten.“
In der Tat lassen sich Bourgeoisie und Staatsbürokratie
nicht säuberlich trennen, da beide eng miteinander verflochten sind. Wie also sollte die Entstehung einer unabhängigen chinesischen Bourgeoisie der Diktatur ein Ende
bereiten können, wie die Ordoliberalen behaupten? Und
umgekehrt, wie soll eine aufgeklärte KP-Spitze den chinesischen Kapitalismus menschlich und rational gestalten
können, wie deren Kritiker meinen?
Warum sollten diese Ausbeuterklassen von sich aus ein
Wachstumsmodell aufgeben, das ihnen so viele Vorteile
verschafft? Weil die Arbeiter dabei kaserniert werden? Oder
die Natur zerstört wird? Oder etwa wegen der Immobilienspekulation? Wie sollte die Zentralregierung ihre eigene soziale Basis zum Verzicht auf die Quellen ihrer ungezügelten
Bereicherung bewegen? Das chinesische Wachstum wird
– allen offiziellen Verlautbarungen zum Trotz – weiterhin
dem Abgrund entgegen taumeln. Wie schon andernorts
schwillt als Sinnbild dieser Missverhältnisse die Kreditblase immer weiter an. Seit Beginn der Weltwirtschaftskrise
2007 sind die Kredite von 9000 auf 23 000 Milliarden
Dollar gestiegen. Die (private und öffentliche) Schuldenquote des Landes ist, nach Angaben von Fitch, von 75 auf
200 % des BIP gestiegen, wobei ein Teil dieser Kredite von
Schattenbanken gewährt wurde. Damit droht das chinesi-
Dossier China
sche Bankensystem an den Rand des Zusammenbruchs zu
geraten.
Wenn sich die Demokratie durchsetzen soll und damit
dieser zerstörerische Kapitalismus infrage gestellt wird,
dann wird dies von Seiten der Arbeiterbewegung erfolgen.
Kommt diese auf die Beine, dann würde sich zwangsläufig
für ganz China die Frage nach Freiheit, politischer Macht
und sozialem Fortschritt stellen. Aus diesem Grund liegt in
diesem Dossier der Schwerpunkt auf deren Erwachen und
den damit verbundenen Problemen und Hoffnungen.
Aus: TOUT est à nous! La Revue Nr. 45
Übersetzung MiWe
„„
Chinesische
Wandlungen
„Unsere rote Nation wird nie die Farbe wechseln“
(Xi Jinping, Generalsekretär der KPCh und
Staatspräsident der VRCh). Jean-François Cabral
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts trug China fast ein Viertel zur Weltwirtschaft bei. Heute liegt der Wert bei 10 %
nach gerade mal 3–4 % in den 50er Jahren des vorigen
Jahrhunderts.1 Wiedergewonnen wurde diese Dominanz
durch den von Mao so genannten „Kommunismus“
und nachfolgend den „roten Kapitalismus“.Bei dieser
einzigartigen Entwicklung spielte die Kommunistische
Partei eine erstaunliche Rolle, in der ihr die tiefgreifende
Revolutionierung der gesamten Gesellschaft gelang, um
am Ende einen Kapitalismus hervorzubringen, der so
erfolgreich zu sein scheint, dass China nunmehr zu den
„aufstrebenden“ Großmächten gehört.
1911 – 1949: drei Revolutionen
Anfang des vorigen Jahrhunderts war die Situation noch
ganz anders – China war nicht mehr das „Reich der
Mitte“ und der Nabel der Welt, der es glaubte zu sein.
Sondern vielmehr ein traumatisiertes Land, von fremden Invasoren unterworfen und erniedrigt. Die industrielle Revolution war an dem Land vorbei gegangen und
es litt unter all den Folgen der „ungleichen Verträge“,
die ihm die Westmächte nach 1839 auferlegt hatten.
Diese wiederum profitierten von der „zugestandenen“
regelrechten Exterritorialität und der erzwungenen
Öffnung einer ganzen Reihe von Städten gegenüber
dem Welthandel.
Im Jahr 1911 wurde der junge Kaiser Puyi durch eine
Revolution abgesetzt und 1912 die Republik ausgerufen.
Sun Yat-sen, Gründer der Guomindang – einer nationalistischen Partei, mit der China auf Betreiben der Bourgeoisie befreit und modernisiert werden sollte – wurde
von den Militärs gestürzt. Das Land geriet noch tiefer ins
Chaos und wurde von den „Warlords“ gepeinigt, die die
Beute unter der mehr oder weniger wohlwollenden Aufsicht der ausländischen Mächte unter sich aufteilten. Ein
Hoffnungsschimmer am Horizont kam aus Russland, wo
die Revolution von 1917 auf Betreiben der Bolschewiki
das „Recht der Völker auf Selbstbestimmung“ proklamierte.
Gleichzeitig entstand eine regelrechte kulturelle
Renaissancebewegung, die von dem herausragenden
Intellektuellen Chen Duxiu und Studenten der Pekinger Universität vorangetrieben wurde. Ihr Anliegen war
einerseits, China wieder zu Würde und Unabhängigkeit
zu verhelfen, andererseits schreckte sie nicht vor heftiger
Kritik an der traditionellen Kultur, dem Konfuzianismus,
den ganzen veralteten sozialen Verhältnissen und der Familie zurück. Ihre Forderungen schienen paradox: China
muss vom Westen lernen können, um sich zu emanzipieren, und die nationale Befreiung muss mit der sozialen
Hand in Hand gehen und die armen Gesellschaftsklassen
zum Motor der Revolution machen.
Aus dieser Bewegung heraus entstand der Aufstand
vom 4. Mai 1919, dessen Auslöser die Versailler Verträge
waren, nach denen Japan neue Territorien zugesprochen
bekam. Die Revolte breitete sich im ganzen Land aus.
Später sollten zwei Parteien sich darauf berufen: einerseits die Guomindang, die sich unter der Führung von
Chiang Kai-shek zu einer militärisch organisierten Partei
gewandelt hatte und für eine Revolution von oben unter
der Kontrolle der Bourgeoisie eintrat; andererseits die von
Chen Duxiu 1921 gegründete Kommunistische Partei
China, die damals noch in den Kinderschuhen steckte.
Auf die Ratschläge Moskaus hin löste sich die KPCh in
der Guomindang auf, die wiederum Waffen und Militärberater dafür erhielt. Ausschlaggebend dafür waren
nicht nur taktische Gründe, sondern auch die Theorie
einer „Zwei-Etappen- Revolution“ (zuerst bürgerlich,
Inprekorr 5/2013 17
Dossier China
dann proletarisch), die unter der Führung von Stalin und
Sinowjew gegen Trotzki durchgesetzt wurde.
Die Lage änderte sich rasch. Die KPCh erlangte einen
gewissen Einfluss auf den Wogen einer regelrechten Revolte, die die städtische Bevölkerung ab 1924/25 erreichte. Ihre Kader wurden von den Truppen der Guomindang, die die drohende Gefahr erkannte, massakriert. Das
Fehlen einer unabhängigen politischen Führung mündete
1927 in eine Katastrophe, für die Stalin unmittelbar
verantwortlich war. Somit endete die „zweite chinesische
Revolution“ und es begann eine neue Etappe.
Die Überlebenden flüchteten aufs Land und gründeten dann eine „Rote Armee“, an deren Spitze sich nach
und nach mit Mao Zedong ein neuer Führer durchsetzte,
der 1934 einen „langen Marsch“ unternahm, um einem
neuen Ausrottungsversuch zu entgehen. Chen Duxiu
schloss sich der trotzkistischen Opposition an.
Damals gab Mao der KPCh ein neues Gesicht, das
durch seine bürokratische und autoritäre Funktionsweise alle Züge einer stalinistischen Partei trug. Aber Mao
widersetzte sich immer offener der Fraktion von Wang
Ming, der Stalin unmittelbar ergeben war und später von
Mao ausgeschaltet wurde. Mao verteidigte sein „strategisches Hinterland“ und vertrat eine an die chinesischen
Verhältnisse „angepasste“ Version des Marxismus, in
deren Mittelpunkt die Erlangung der nationalen Unabhängigkeit stand. Deren zentraler Bestandteil waren die
über Jahre hinweg erarbeitete Strategie des „verlängerten
Volkskriegs“ und eine Armee, die sich auf die Bauernschaft stützte und von den wenigen Studenten aus den
Städten, die den Massakern entkommen waren, eingerahmt wurde. Die befreiten Gebiete hielten sich, so sie
konnten, wie etwa die „Räterepublik“ – allerdings ohne
Räte! – von Shaanxi im Norden des Landes, die Mao
jahrelang führte.
Die Lage kippte, als die zuvor schon durch Korruption geschwächte Guomindang mit einem neuen Rivalen
konfrontiert wurde: Japan, das 1931 in die Mandschurei
und 1937 in das übrige Land einmarschierte. Die Massaker in Nanking forderten über 150 000 Opfer. Infolge der
Zerstörungen und aller anderen begangenen Gräueltaten,
der Hungersnöte und der Umsiedlung der Bevölkerung
kostete der Krieg über 15 Millionen Menschenleben.
Im Jahr 1937 schlossen sich die Guomindang und die
KPCh gegen die japanischen Invasoren zusammen. Dies
war eine spezielle Form von Volksfront, wie sie Stalin
und seine Emissäre fortan überall propagierten. Das
Bündnis mit der Guomindang war freilich eher formal
18 Inprekorr 5/2013
als real und die Gegnerschaft zwischen den Parteien hielt
während des Krieges an. In der Auseinandersetzung
mit Japan verkörperte die zur „Volksbefreiungsarmee“
gewandelte Rote Armee mehr als die Guomindang den
Willen, für die Unabhängigkeit des Landes zu kämpfen,
was in ihrer Fahne und der „Einheit der vier Klassen“,
nach KP-Lesart aus den Arbeitern, der Bauernschaft,
den Intellektuellen und der „patriotischen Bourgeoisie“
bestehend, zum Ausdruck kam.
1949 – 1976: der Maoismus
Am 1. Oktober 1949 proklamierte Mao offiziell die Entstehung der „Volksrepublik China“. Für die Bourgeoisie und
den Imperialismus war sie eine explosive und völlig neue
Mischung.
Während des II. Weltkriegs hatten die USA Chiang
Kai-shek zum privilegierten Bündnispartner in der Region
erhoben und China hatte einen Platz im Ständigen UNSicherheitsrat erhalten. Diese Erwartungen zerstieben allerdings schnell: Gegen alle Erwartungen und die Position
Stalins, der den brüchigen Status quo der Verträge von Jalta
so lange als möglich aufrecht erhalten wollte, ergriff die
KPCh sehr schnell wieder die Offensive. Rasch gewann
sie die Oberhand, indem sie sich auf die Bauernaufstände
stützte, und errang den Sieg gegen das nationalistische
Regime, das sich nach Formosa, dem heutigen Taiwan,
flüchtete.
Nach 1946 hatten große Teile der chinesischen Bourgeoisie damit begonnen, ihr Kapital ins Ausland abzuziehen. Dies geschah jedoch –zunächst – weniger aus Furcht
vor einem möglichen Sieg von Mao, sondern weil Gewalt
und Korruption unter dem nationalistischen Regime Chiang Kai-sheks ein unerträgliches Ausmaß angenommen
hatten. Dadurch waren auch 1949 bestimmte Sektoren der
Bourgeoisie und ganze Armeeeinheiten der Guomindang
mit ganzer Ausrüstung zu Mao übergelaufen. Bis 1952 versuchte das neue Regime unverhüllt, das Bündnis mit dem
Privatsektor im vorgeblichen Interesse der ganzen Nation
zu festigen. Zur gleichen Zeit durchliefen die ländlichen
Regionen Chinas eine tiefgreifende soziale Umwälzung,
die in eine gewaltige Agrarreform einmündete, die sozialen Verhältnisse tiefgreifend veränderte und die Grundlagen für eine neue Gesellschaft legte. Dies stieß freilich auf
gewisse Grenzen: Auf Versammlungen legten Millionen
von Bauern ihre Verbitterung über die Großgrundbesitzer
dar und stellten deren Macht infrage – so wie auch Frauen gegenüber ihren gewalttätigen Ehemännern – ohne
allerdings in der Lage zu sein, eigenen Machtstrukturen
Dossier China
entgegen zu setzen, da weiterhin die Armee bestimmend
war. Die Städte wurden buchstäblich wie ein Fremdkörper besetzt: In Shanghai bestand die erste Maßnahme der
neuen Machthaber darin, die Arbeiter zu bitten, „normal
zu arbeiten“.
Agrarreform, nationale Unabhängigkeit, Vereinigung
Chinas und Errichtung einer Volkswirtschaft, die den
Bedürfnissen des Landes entspricht: Diese Zielsetzungen
entsprachen eher denen einer radikal geführten „bürgerlich-demokratischen Revolution“, um einen marxistischen
Terminus aufzugreifen. Die Annäherung an die UdSSR,
der beginnende Kalte Krieg und seine nachfolgende Zuspitzung mit dem Koreakrieg änderten die Gegebenheiten.
Ab 1953 verstaatlichte das maoistische Regime die gesamte
Volkswirtschaft, ohne dabei andere Unterstützung als die
der UdSSR zu haben.
China schien damals das sowjetische Entwicklungsmodell zu kopieren mit der Erstellung eines Fünf-JahresPlans, dem bevorzugten Ausbau der Schwerindustrie und
sogar dem Personenkult. Aber auch wenn sich beide auf
den „Kommunismus“ berufen, so hat doch jeder von ihnen
seine eigenen und mitunter auch entgegengesetzten nationalen Interessen. Die UdSSR wird von China beschuldigt, es in einem abhängigen Status halten zu wollen. Die
Spannungen entladen sich schließlich 1960 in einem Bruch
zwischen den beiden Staaten. Stalin war der „Erfinder“ des
„Sozialismus in einem einzelnen Land“ gewesen. Nunmehr sollte jedes Land seinen eigenen „Sozialismus“ haben.
Aber von welchem „Sozialismus“ sprechen wir eigentlich? Das zugrunde liegende Problem entsprach dem der
UdSSR unter Stalin: Abgeschnitten vom Rest der Welt
litt das Land unter seiner wirtschaftlichen Rückständigkeit
und konnte sich nur weiter entwickeln und industrialisieren, indem die ursprüngliche Kapitalakkumulation auf
dem Rücken der Bauern durchgeführt wurde. Der „Große
Sprung nach vorn“ ab 1958 hatte zur Besonderheit, dass
er sich nicht damit begnügte, den Druck auf die Bauern
im Rahmen der „Volkskommunen“, die zugleich Produktions- und Verwaltungseinheiten mit bis zu mehreren
Zehntausend Menschen waren, zu erhöhen. Sondern die
Bauern mussten zugleich auch noch den fehlenden Stahl
produzieren. Dies mündete in eine Katastrophe: Der Stahl
war kaum verwertbar, aber zwischen 20 und 30 Millionen
Menschen starben an Hunger aufgrund der Desorganisation der landwirtschaftlichen Produktion.
Als „Flucht nach vorn“ lancierte Mao 1966 die „große
Kulturrevolution“ – ein scheinbarer Aufruf an die Massen zur Mobilisierung gegen die Bürokratie, in Wahrheit
China
Peking
Einwohner: 1,35 Mrd.
BIP 2010:
4,5 Bio. €
BIP 2011:
5,5 Bio. €
BIP 2012:
6,2 Bio. €
Wirtschaftswachstum: Es lag fast 15 Jahre lang im zweistelligen
Bereich, weil die Investitionsrate sehr hoch
lag (meist bei 40%). Inzwischen gehen die
Wachstumraten deutlich zurück.
Armut:
Mehr als ein Drittel der Bevölkerung (nicht
nur auf dem Land) gilt als extrem arm. Laut
Menschenrechtsbericht der UN leben 34% der
ChinesInnen mit weniger als 2 US $ am Tag.
jedoch ein Machtkampf gegen Führungskonkurrenten, die
immer offenere Kritik äußerten. Damit begann erneut eine
Ära des Chaos, die auf eine Gleichschaltung der gesamten
Bevölkerung hinauslief. Eine wichtige Rolle kam dabei
der Armee zu.
Die Ära des Maoismus lässt sich jedoch nicht auf diese
Desaster reduzieren. Wenn auch um den Preis enormer
Opfer, wurden in dieser Zeit – viel besser als bspw. in
Indien – die Grundlagen für eine moderne Volkswirtschaft gelegt, ohne die die folgende Entwicklung gar nicht
möglich geworden wäre. Insofern wurde das Ziel – eine
unabhängige Volkswirtschaft – nach über 100 Jahren
Fremdherrschaft erreicht. Die Unterentwicklung konnte
damit allerdings nicht überwunden werden.
Die „sozialistische Marktwirtschaft“
Der Wendepunkt lag noch zu Lebzeiten von Mao. Die
USA litten damals unter dem verlorenen Vietnam-Krieg,
auch wenn sie weiterhin in der Region einen gewissen Einfluss ausübten. So entschieden sie, China aus der
Isolierung herauszuholen. Sinnbildlich für diesen ersten
entscheidenden Schritt war die Reise Nixons nach Peking
1972. Dieser Strategiewechsel brachte bspw. die WestInprekorr 5/2013 19
Dossier China
mächte dazu, das von der UdSSR unterstützte Vietnam
wegen seiner Invasion in Kambodscha 1979 zu verurteilen
und jahrelang die mit den Chinesen verbündeten Roten
Khmer zu unterstützen.
China ist seither offiziell wieder im Reigen der …
kapitalistischen Nationen vertreten. Offen blieb lediglich
noch der wirtschaftliche Wandel. Zwei Jahre nach Maos
Tod setzte sich 1978 Deng Xiaoping als neuer starker Mann
des Regimes durch. Nach der Ausschaltung der „Viererbande“ um Maos Witwe begann er mit Unterstützung der
Partei eine Reformpolitik – die „vier Modernisierungen“
– die die Funktionsweise der Volkswirtschaft grundlegend
änderte. Die Kollektivierung der Landwirtschaft wurde
rückgängig gemacht, die Preise freigegeben, die Planwirtschaft verlassen, Privatunternehmen gefördert und v. a.
Auslandskapital mit der Gründung der Sonderwirtschaftszonen zugelassen. Diese Öffnung galt ab 1992 für die
gesamte Küstenregion Chinas, nachdem Deng ein neues
Konzept propagiert hatte – den „Marktsozialismus“, der
Sozialismus und Kapitalismus angeblich versöhnen würde.
Das Ergebnis war spektakulär und das jährliche Wirtschaftswachstum lag bei über 10 %, wodurch China (am
BIP gemessen) zur zweitstärksten Weltwirtschaftsmacht
wurde. Zugleich blühte eine neue Bourgeoisie auf, in
der verschiedene Elemente der Elite zusammenfanden:
nämlich die Staatsbürokratie, die ins Ausland geflohenen
vormals herrschenden Familien, die erheblich für die
nach China fließenden Direktinvestitionen verantwortlich zeichne(te)n, und verschiedentlich auch ihre im Land
verbliebenen „Vettern“, zu denen der Kontakt selbst in den
härtesten Zeiten der Mao-Ära nie ganz abgerissen war.
Nach dem Beitritt zum IWF, zur Weltbank und zur
WTO zu Beginn des Jahrtausends ist China inzwischen
wieder in die Führungsinstanzen der kapitalistischen
Welt integriert. Manches bleibt freilich widersprüchlich,
etwa dass der Index für menschliche Entwicklung (HDI)
weiterhin auf dem Niveau eines Entwicklungslandes ist
und zugleich die Ungleichheiten in der Fläche und der
Gesellschaft erheblich zugenommen haben. Ein Teil der
Bauernschaft wurde von den Ortsgewaltigen buchstäblich
enteignet und mehrt seither das Heer der rechtlosen inneren Emigranten in den Großstädten der Küste. Während
der letzten 20 Jahre sind 30 bis 40 Millionen Arbeiter aus
den großen Staatsbetrieben entlassen worden. Zugleich
sind durch die rasante Entwicklung der Gesellschaft
neue Ansprüche entstanden, besonders unter den Mittelschichten. Im Frühjahr 1989 besetzten StudentInnen
wochenlang den Platz vor dem Tian’anmen in Peking, um
20 Inprekorr 5/2013
Demokratie zu fordern, bevor sie gewaltsam unterdrückt
wurden.
Seitdem bemüht sich das Regime um ein Gleichgewicht: Zuckerbrot und („moderate“) Peitschenhiebe für die
Armen; erkauftes Wohlwollen der Mittelschichten durch
Konsum; Moderation der schlimmsten Exzesse, die durch
die Habgier der reichsten Schichten entfacht werden. Bis
heute scheint dieser Übergang (bei ganz anderen geschichtlichen Voraussetzungen als in der UdSSR) zu gelingen. Allerdings lasten noch gewaltige Widersprüche auf dem Land.
Übersetzung MiWe
„„
1 Maddison, Angus: Weltwirtschaft: Eine Millenniumsperspektive, OCDE, 2003
China im
weltweiten
Kräfteringen
„Wir stehen auf hoffnungsvollen Feldern“ (Titel
eines Revolutionsliedes aus der Mao-Ära). Jean
Sanouk
China gilt gemeinhin als neue Großmacht, das die internationalen Verhältnisse mittlerweile nachhaltig beeinflusst. Problematisch ist allerdings, die tatsächliche Stärke des Landes
zu beziffern, da die undurchsichtigen politischen Verhältnisse und die nur bedingte Glaubwürdigkeit offizieller chinesischer Statistiken zur Zurückhaltung mahnen. Nichtsdestotrotz gibt es eine Reihe harter Fakten, die uns veranlassen,
unsere Einschätzung der Weltlage zu überdenken.
Ein beispielloses Wachstum …
China ist weltweit zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht
aufgestiegen, wenn man das BIP als Gradmesser der
wirtschaftlichen Aktivität zugrunde legt. Darin hat
Dossier China
China Japan 2010 überflügelt und 2012 fast die Hälfte
des US-amerikanischen BIP erreicht. Es ist zweieinhalb
Mal so stark wie die deutsche Wirtschaft und dreimal
so wie die französische. Das Wachstum der letzten 20
Jahre verlief so rasend schnell, wie es für ein Land dieser
Größenordnung noch nie gesehen wurde.
Auf der anderen Seite relativiert sich dieser Fortschritt, wenn man das BIP pro Kopf zugrunde legt, das
näherungsweise, aber zutreffend den Lebensstandard der
Bevölkerung widerspiegelt. Noch im Jahr 2000 wurde
damit argumentiert, dass das BIP pro Kopf in China halb
bis dreiviertel so hoch sei wie in Algerien, Marokko oder
Tunesien, um China damit als Dritte-Welt-Land abzutun und das Ausmaß seiner Entwicklung zu schmälern.
Inzwischen (2012) hat China Algerien darin eingeholt und Marokko und Tunesien um das zwei- bzw.
eineinhalbfache überflügelt und damit erneut durch seine
Dynamik die Auguren verblüfft. Zwar liegt der Lebensstandard noch immer nur bei 12 % des US-amerikanischen und bei 15 % des französischen Niveaus, aber diese
verallgemeinernde Sichtweise lässt einen wesentlichen
Umstand außer Acht, nämlich die zunehmende Ungleichheit bei der Einkommensverteilung. Ein Ergebnis
davon ist auch, dass eine – vereinfacht gesprochen – Mittelklasse mit etwa 370 Millionen Menschen entstanden
ist.1 Die Mehrheit von ihnen lebt in den Küstenprovinzen, wo das Wirtschaftswachstum schneller verläuft.
Die Entwicklung dieser „Mittelklasse“ erweist sich als
Trumpf in der Hand des bürokratischen Kapitalismus in
China, zumal die wachsende Ungleichheit Unzufriedenheit erzeugt, worauf wir weiter unten eingehen.2
China wird allgemein als „die Werkstatt der Welt“
angesehen, ist aber zugleich auch deren Handelszentrum.3 China ist zum Hauptabnehmer sehr vieler Rohstoffe, Zwischenprodukte, dauerhafter Konsumgüter und
v. a. Luxusgüter geworden. Die multinationalen Konzerne reißen sich darum, in China zu produzieren aber auch
zu verkaufen. Die chinesische Wachstumsdynamik hängt
teilweise von den Exporten, die diese Multis tätigen, ab.
Zugleich wächst aber auch der chinesische Binnenmarkt
und dies birgt, auch wenn der Binnenkonsum noch
relativ wenig zum BIP beiträgt, für China erhebliches
Potenzial.
…mit weltweitem Einfluss
Seit Ausbruch der internationalen Wirtschaftskrise 2007/08
hat China alle Prognosen durchkreuzt, indem das Wachstum dort auf hohem Niveau verblieben ist. Aus der ganzen
Welt wurden enorme Mengen an Rohstoffen und Vorprodukten importiert, was zu einem wahren Boom in diesen
Sektoren geführt und viele Länder in Lateinamerika, Afrika
und der Pazifikregion dazu veranlasst hat, sich noch stärker und mitunter mit all den Kehrseiten auf Rohstoffe zu
spezialisieren. Darüber hinaus ist China zum größten oder
einem der größten Abnehmer oder Lieferanten für sehr viele
Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika geworden.
Hiervon hat auch der chinesische Kapitalismus profitiert. Chinas Regierung hat auf dem Verhandlungsweg die
Märkte dieser Länder für den Export chinesischer Industriegüter erschlossen. Viele Kaftane, die in Afrika verkauft
werden, sind inzwischen „made in China“. Zugleich
wurden Verträge ausgehandelt, die den chinesischen Unternehmen Direktinvestitionen im großen Stil in den Ländern
des Südens ermöglichten, um Rohstoffe, aber auch Industriegüter zu erzeugen und gewaltige Infrastrukturprojekte
(Häfen, Straßen, Schienenwege, Elektrizitätsnetze, Öl- und
Gasleitungen) zu errichten. Diese Investitionen waren nicht
nur spektakulär, weil völlig ungewohnt, sondern auch weil
die chinesischen Unternehmen vorwiegend chinesische
statt einheimische ArbeiterInnen beschäftigten und damit
Unfrieden stifteten.
In den kapitalistischen Metropolen versuchen die chinesischen Unternehmen bei jeder Gelegenheit technologisch
hochentwickelte Unternehmen zu kaufen, um somit den
„Großen Sprung nach vorn“ zu machen, aber diesmal in
Wirklichkeit und auf der wissenschaftlichen und technischen Ebene. Damit wiederholen sie das, was die japanischen
Firmen in den 70er und 80er Jahren vorgemacht haben
und die koreanischen in den beiden Folgejahrzehnten. All
dies trägt dazu bei, chinesische multinationale Konzerne zu
schaffen, was den Aufschwung des bürokratischen Kapitalismus weiter befördert und die Grundlagen für einen chinesischen Imperialismus als Konkurrenten zu den bestehenden
legt.
Ein unaufhaltsamer Aufstieg?
Chinas Aufstieg in die Reihen der entwickelten kapitalistischen Länder scheint mittelfristig unaufhaltsam, zumindest
solange es immer mehr Fortschritte gibt. Insofern ist der
Ausbau der Armee und der Polizei nur folgerichtig. Dabei
trachtet China nicht danach, den USA als neuer Weltgendarm Konkurrenz machen zu wollen. Lieber soll der US-Imperialismus sich in teuren Kriegen fernab der Heimat verausgaben, während sich China auf seine strategischen Interessen
konzentriert: die militärische Kontrolle des Südchinesischen
Meers, das für die Versorgung auf dem Seeweg unerlässlich
Inprekorr 5/2013 21
Dossier China
ist; die Einflussnahme auf die Straße von Malakka als wichtigen Handelsweg und die Ausdehnung der Einflussnahme
im Indischen Ozean mit der Errichtung von Handels- und
Militärhäfen in Birma. Insofern muss China unter Beweis
stellen, dass es der Vormachtstellung der US-Kriegsflotte
trotzen kann. Dies erklärt die massiven Investitionen in die
immer ausgefeiltere Ausrüstung seiner Armeen.
Anscheinend hat die aktuelle US-Regierung diese
Gefahr erkannt und versucht, sich aus Afghanistan und
Irak zurückzuziehen, um sich wieder verstärkt im asiatischpazifischen Raum zu engagieren, was unter der Regierung
Bush in ihrem wahnhaften „Krieg gegen den Terrorismus“
vernachlässigt worden war. Dies erklärt den Ausbau der
US-amerikanischen Militärpräsenz und die Eile, einen
Transpazifischen Pakt abzuschließen, der als ausgedehnte
Freihandelszone der Länder im asiatisch-pazifischen Raum
China außen vor lassen würde. Eine solche Entwicklung
steckt voller Spannungen, wie die wiederholten Konflikte
um die Souveränität bestimmter Inselgruppen und der dort
vermuteten Vorkommen zeigen oder auch der Starrsinn
führender japanischer Politiker, ihre Kriegsverbrecher in
Ehren zu halten.
Aber eher als ein – wenig wahrscheinlicher – äußerer
Konflikt stehen dem weiteren Aufstieg Chinas v. a. interne
Widrigkeiten im Wege. Die kapitalistische Restauration in
China infolge der politischen Konterrevolution um Deng
Xiaoping nach 1978 mit ihrem Gipfelpunkt im Tian’anmenMassaker 1989 hat zu enormen wirtschaftlichen und sozialen
Umwälzungen geführt. Infolgedessen sind die Ungleichheiten massiv gewachsen und mit ihnen die mitunter sehr
heftigen sozialen Auseinandersetzungen: Aufstände der
Bauern und manchmal ganzer Dörfer und Städte gegen die
Landenteignung durch die lokalen Behörden und skrupellose Unternehmen sowie Arbeiterstreiks gegen die verschärfte Ausbeutung und für höhere Löhne. Diese Kämpfe
von unten zeigen, dass die chinesischen ArbeiterInnen nicht
bereit sind, die einseitig von den Bürokraten und Bossen
getroffenen Entscheidungen widerstandslos hinzunehmen.
Bisher allerdings sind die Kämpfe zu zersplittert und nicht
landesweit organisiert.
Dies liegt u. a. an dem enormen Polizeiapparat, der mitunter größere Mittel schluckt als der Militäretat und der die
chinesische Bevölkerung mundtot macht und oppositionelle
Regungen brutal unterdrückt. Darüber hinaus aber genießt
das bürokratische Regime tatsächliche Legitimität aufgrund
des soliden Wirtschaftswachstums, das wiederum den Nationalismus nährt, der nach der als Erniedrigung erlebten Kolonialbesatzung von der Wiederkehr Chinas auf der interna22 Inprekorr 5/2013
tionalen Bühne in einstiger Größe träumt. Die Regierung
versteht es, diesen Nationalismus zu unterhalten, um ihn so
besser zu steuern und für sich zu instrumentalisieren.
Auf ökonomischer und sozialer Ebene werden durch das
starke Wachstum die Gegensätze durch die zunehmende
Ungleichheit gemildert. Wenn eben die Einkommen der
großen Mehrheit durch die Konjunktur steigen, fällt es
weniger ins Gewicht, dass die einen mehr davon profitieren
als die anderen, als wenn sich eine Minderheit bereichert,
während die Mehrheit verarmt. Voraussetzung ist, dass auch
künftig die Wachstumsrate bei etwa 7 – 8 % liegt, ansonsten würden Ungleichheit und Korruption der Eliten kaum
mehr toleriert.
Aus diesem Grund auch hat die Regierung sofort ein
gewaltiges Konjunkturprogramm aufgelegt, mit dem 2008
und 2009 sowie (begrenzt) 2012 die Wirtschaft erfolgreich angekurbelt werden konnte. Seit dem Ausbruch der
internationalen Krise 2008 hat die Wachstumsquote des
BIP immer über 9 % gelegen, was zwar unter den Ausnahmewerten des ersten Jahrzehnts (10,3 %) lag, aber angesichts
der nachlassenden Nachfrage aus Europa und den USA
nach chinesischen Produkten noch immer beachtlich war.
Im Jahr 2012 hat sich das Wachstum mit 7,8 % ein wenig
abgeschwächt und dürfte 2013 dank Konjunkturmaßnahmen bei 8 % liegen. Diese Maßnahmen haben jedoch
auch ihre Kehrseite, die schwer in den Griff zu kriegen ist,
nämlich eine zunehmende Verschuldung der öffentlichen
Stellen und der Unternehmen, die sich in abenteuerliche
und kaum profitable Investitionsprojekte stürzen.
Eine Gratwanderung
Es ist schwierig, das tatsächliche Ausmaß dieses Verschuldungsproblems zu ermessen, auch wenn sich die Fälle
abenteuerlicher Finanzmanöver von Kommunen häufen
und die Presse von Fällen berichtet, wo Überinvestitionen
an den Rand des Ruins geführt haben, wie etwa in der
Eisenbahnindustrie. Nach den letzten offiziellen Statistiken
liegt die öffentliche Verschuldung weiterhin im Rahmen:
die der Zentralregierung bei 15 % des BIP (Ende 2012) und
die der Kommunen bei 23 % (Ende 2011), woraus sich eine
Gesamtverschuldung von 38 % ergibt. Damit liegt China
weit unterhalb der USA (103 %) oder Japans (213 %) und ist
weit von katastrophalen Zuständen entfernt, zumal weniger
als 1 % der öffentlichen Verschuldung vom Ausland getragen wird – gegenüber 9 % in Japan, 41,8 % in den USA und
63,8 % in Frankreich.
Problematischer hingegen sind die von der Niedrigzinspolitik der Zentralbank getragenen Spekulationsblasen, na-
Dossier China
mentlich im Immobiliensektor, wobei andererseits natürlich
ein immenser Wohnraumbedarf im Land besteht. Gerade
hierüber bereichern sich viele Mitglieder der Bürokratie,
weswegen sie naturgemäß wenig Interesse am Gegensteuern seitens der Regierung haben. Und auch die Haushalte,
die sich über beide Ohren beim Wohnungskauf verschuldet
haben, wären wenig begeistert, wenn der Wert ihrer jeweiligen Immobilie durch inflationshemmende Maßnahmen
einbräche. Auch die Inflation der Nahrungsmittelpreise ist
ein heikles Problem, zumal dadurch die Unzufriedenheit
der ärmsten Haushalte geschürt wird. Bis dato sind die
Gegenmaßnahmen der Regierung zur Eindämmung dieser
„Kollateraleffekte“ relativ erfolgreich. Aber in einem Land,
das an Korruption krankt und kein demokratisches Korrektiv kennt, ist die Macht der Zentralregierung begrenzt: die
Provinzfürsten sind mächtig und innerhalb der Bürokratie
gehen die politischen und materiellen Interessen auseinander. Wenn die internationale Krise andauert, wird jedoch
ein neues Konjunkturprogramm kaum zu umgehen sein.
Langfristig kann das Problem nur gelöst werden, indem
das Wirtschaftswachstum durch den Binnenmarkt induziert
wird, die Priorität also den sozialen Bedürfnissen und der
Umwelt eingeräumt wird. Damit würde zugleich die Abhängigkeit von den Exporten sinken. Gegenwärtig beträgt
der Verbrauch der chinesischen Haushalte trotz des maßlosen Verbrauchs der privilegierten Schichten nur 32 % des
BIP – zum Vergleich: 60 % und mehr in den OECD-Ländern. Die Konsequenz wäre, die Löhne kräftig zu erhöhen,
die Ungleichheit zu reduzieren und das mit der kapitalistischen Restauration abgeschaffte soziale Sicherungssystem
wieder herzustellen. Wie in den anderen kapitalistischen
Ländern kollidieren solche Maßnahmen mit den Interessen der herrschenden Klasse. Erschwerend kommt hier
hinzu, dass es keine demokratischen Freiheiten gibt und
keinen politischen Gestaltungsspielraum für graduelle
Reformen, wie ihn die europäische Sozialdemokratie vor
ihrer Hinwendung zum Neoliberalismus hatte.
Die Zukunft wird weisen, wie lange China seine Wachstumsraten beibehalten kann, ohne die Einkommen radikal
umzuverteilen und dadurch den Binnenmarkt zu stärken.
Und wie lange die polizeiliche Repression der Gesellschaft
verhindern kann, dass sich die Unzufriedenheit kollektiven
Ausdruck und Gegenwehr verschafft.
Übersetzung MiWe
„„
1 Der Begriff der Mittelklasse ist wegen seiner Definition, seiner Kriterien und der politischen Schlussfolgerungen umstrit-
ten. In dem Bericht der Asiatischen Entwicklungsbank von 2010
wird bei der Zählung einzig das absolute Einkommen zugrunde
gelegt. Nach den dortigen Angaben lagen 2005 die Einkommen
von 442,82 Millionen ArbeiterInnen zwischen 2 und 4 Dollar
pro Tag, für 328,18 Millionen zwischen 4 und 10 Dollar, für
46,16 Millionen zwischen 10 und 20 Dollar und für 8,86 Millionen darüber. Definiert man als Mittelklasse diejenigen, die zwischen 4 und 20 Dollar am Tag verdienen, so kommt man auf 374
Millionen und damit auf 6 % der erwerbstätigen Bevölkerung,
die damals 817,16 Millionen betrug.
2 Vergleiche hierzu Au Loong Yu: China‘s Rise: Strength and
Fragility Merlin Press 2012
3 Vgl. hierzu das Kapitel China: unavoidable rise or possible
decline? In Au Loong Yu, op. cit.
Arbeiterklasse
im Wandel
„Die Kommunistische Partei ist gut. Das Volk ist
glücklich.“ (Liedtitel aus vergangenen Tagen) Pierre
Rousset
Seit der Ära des Maoismus hat sich die Struktur des chinesischen Proletariats (Zusammensetzung, Sozialstatus, Lebensstandard, Bewusstsein etc.) so tiefgreifend gewandelt, dass wir
inzwischen sogar von einer komplett verschiedenen Arbeiterklasse sprechen können. China hat nach 1911 ein Jahrhundert
der Revolutionen und Konterrevolutionen mit sukzessiven
„Modernisierungen“ erlebt.1 Dabei wurde die Klassenstruktur des Landes zweimal umgewälzt, nämlich nach der
Machtergreifung der KPCh 1949 und später im Gefolge der
prokapitalistischen Reformen in den 1980er und 90er Jahren.
Sämtliche soziale Schichten waren davon betroffen. Die einen
haben sich zersetzt und andere sind emigriert – wie bspw.
der einstmals auf dem Lande allmächtige Landadel oder das
Handels- und Industriekapital in den Städten.
Dafür sind andere neu entstanden, etwa die Bürokratie
als „Kaste“, die von der ausschließlichen Kontrolle über den
Staat profitiert, oder aber in neuer Gestalt „wiederauferstanden“ wie die chinesische Bourgeoisie, die im Vergleich
zu früher völlig verändert erscheint und deren Verhältnis
zum Imperialismus nicht mehr subaltern, sondern geradezu
eroberungslustig ist. Sie trägt die typischen Merkmale einer
Inprekorr 5/2013 23
Dossier China
„bürokratischen Bourgeoisie“, wie Au Loong-Yu sie nennt.
Von diesen Umwälzungen wurden weder die Arbeiterklasse noch die Bauernschaft ausgenommen. Durch die
Revolutionen und Konterrevolutionen wurden Status,
Zusammensetzung und Selbstbewusstsein des Proletariats
radikal geändert (was übrigens für die Bauernschaft genau
so gilt, aber wovon hier nicht die Rede sein wird). Diese
Umwälzungen haben ganz besondere Charakteristika, die
auf die Besonderheiten des maoistischen Regimes zurückzuführen sind.
Vom beneidenswerten Status nach 1949 …
Vor etwa 100 Jahren erlebte China die ersten Industrialisierungswellen, wobei die industrielle Arbeiterklasse (mit
schätzungsweise 1,5 Millionen Anfang der 1920er Jahre)
weiterhin marginal im Vergleich zu den mindestens 250
Millionen Bauern blieb. Nur in einzelnen Regionen wie
den großen Küstenstädten des Südens, dem Gebiet um den
mittleren Jangtsekiang oder der nördlichen Mandschurei
war sie in richtig großen Fabriken konzentriert. In der
Textilbranche hingegen dominierte weiterhin die handwerkliche Produktion und das städtische Halbproletariat
bestand überwiegend aus prekär Beschäftigten, Plebejern
und Kulis (Handlanger, Tagelöhner, Lastenträger).
Die junge Arbeiterbewegung spielte während der
Revolution von 1925 eine bedeutende Rolle, wurde aber
von der Konterrevolution 1927 überrollt und dann bei der
japanischen Invasion unterjocht. Mit der Dezimierung in
den Städten verlor die Kommunistische Partei i. W. ihre
ursprüngliche Basis. Nach der Kapitulation Japans führte
die Arbeiterklasse eine Reihe großer Abwehrstreiks gegen
die Hyperinflation, verfügte aber nicht mehr über eigene
politische Organisationen und Traditionen.
Grob gesprochen ist gemeinsam mit der Volksrepublik
China eine neue Arbeiterklasse entstanden. Von vormals
3 Millionen 1949 wuchs sie auf 15 Millionen 1952 und auf
70 Millionen 1978. Die politisch gewollte Schaffung eines
Riesenheeres von Lohnabhängigen („Niedrige Löhne,
aber viele Arbeitsplätze“) schuf ein Arbeiterheer in den
neu entstandenen städtischen Staatsbetrieben, das einen
exklusiven und begehrten Status als „Arbeiter und Angestellter“ mit allerhand sozialen Vorzügen genoss, nämlich
Wohnraum, Lebensmittelgutscheine, kostenlose Bildung,
Gesundheitsversorgung, Einkaufsläden, lebenslang garantierter Arbeitsplatz, Rente etc. – den sog. „eisernen Reistopf “. Alle ArbeiterInnen waren jeweiligen Unternehmen
und Arbeitsstätten zugeordnet, so wie bspw. in Frankreich
die Beamten einem bestimmten Posten. Mit Erreichen
24 Inprekorr 5/2013
des Rentenalters konnten die ArbeiterInnen diesen Status
häufig auf ein anderes Familienmitglied übertragen.
Aufgrund ihrer vergleichsweise großen Privilegien
gegenüber – abgesehen von den Staats- und Parteifunktionären – dem Rest der Bevölkerung bildete die
Arbeiterklasse lange eine solide Basis für das maoistische
Regime und konnte bei Bedarf gegen Intellektuelle und
aufrührerische Studenten mobilisiert werden. Sie verfügte
über ein hohes soziales Selbstbewusstsein, aber über keine
politische Autonomie, sondern blieb der KPCh mangels
unabhängiger Gewerkschaften oder wegen des nicht existenten politischen Pluralismus untergeordnet.
…zur politischen Niederlage
Die Arbeiterklasse des staatlichen Sektors wurde als
letzte von der Krise des maoistischen Regimes getroffen, auch wenn sie den Unruhen der „Kulturrevolution“
(1966–1968) nicht entgehen konnte, wo die – noch immer
existenten – Vertragsarbeiter gegen die Festangestellten
vorgingen. Während der damaligen großen Krise wurden
auch grundlegende soziale und demokratische Forderungen erhoben, aber nur wenige der radikalen Bewegungen
verstanden es, sich dem inneren Machtkampf der Staatspartei zu entziehen. Mangels eigener Perspektiven versank
die soziale Revolte in den blutigen Fraktionskämpfen, bis
mit Hilfe der Armee eine besonders autoritäre bürokratische Diktatur dem Chaos ein Ende bereitete.
Deng Xiaopings Rückkehr an die Macht 1978 wurde
als Wiederkehr der politischen Vernunft empfunden: kulturelle Liberalisierung, expliziter Pragmatismus, teilweise
Entkollektivierung auf dem Land, Arbeiterkooperativen
etc. Ursprünglich erschienen die sozialen und ökonomischen Reformen gar nicht als prokapitalistisch, obwohl
mit ihnen die kapitalistische Restauration in China binnen 20 Jahren eingeläutet wurde. Zunächst wurden durch
die Lockerungen des Regimes die sozialen Spannungen
freigesetzt: Arbeiterstreiks (1976/77), Protestmärsche der
Bauern, Demokratiebewegung (1978/79) etc. Die Proteste
erreichten ihren Höhepunkt 1989 und stellten die äußerst
gespaltene KP-Führung vor eine entscheidende Wahl,
nämlich die Demokratisierung weiter voranzutreiben oder
sie brutal zu unterdrücken. Schließlich schlug die Armee
die Proteste auf dem Tian’anmen-Platz in Peking blutig
nieder und auf die Provinzen prasselte die Repression nieder. Der sozialen Protestbewegung wurde damit eine tiefe
Niederlage zugefügt.
Die kapitalistische Restauration in China führte
zwangsläufig zum Untergang der Arbeiterklasse, wie sie
Dossier China
unter dem maoistischen Regime entstanden war. Nicht
mehr der Arbeit, sondern der Bereicherung (Einzelner)
gebührte fortan die Ehre. Zahlreiche Staatsunternehmen
wurden auf die Privatisierung vorbereitet, der Arbeitsrhythmus in der Produktion verschärft und die sozialen
Sicherungen abgebaut.
Die Arbeiterklasse des staatlichen Sektors wehrte sich
massiv gegen dieses Reformprogramm, was punktuell zu
Erschütterungen führte. Viele Unternehmensführungen
handelten lieber Kompromisse mit den Beschäftigten aus,
statt zu ihnen auf Konfrontation zu gehen. Das chinesische
Proletariat war außerstande, dem Regime eine politische Alternative entgegen zu setzen, wie umgekehrt das
Regime außerstande war, den Lohnabhängigen gegenüber
seine Politik durchzusetzen. Daher entschloss es sich, diese
widerspenstige Arbeiterklasse en bloc aus der Produktion
zu entfernen und versetzte etwa 40 Millionen festangestellte Arbeiter in den Ruhestand, um somit tabula rasa zu
machen.
Die WanderarbeiterInnen als neues Proletariat
Auch in Frankreich werden Beamte durch „freie“ Lohnabhängige ersetzt, mit dem Unterschied, dass ein Privatsektor bereits vorhanden ist. In China wurde eine Schicht
qualifizierter Arbeiter, Techniker und Ingenieure aus dem
vormals staatlichen Sektor weiterbeschäftigt, aus dem Gros
der Lohnabhängigen hingegen wurde eine neue Arbeiterklasse geformt, wobei einmal mehr die Bauernschaft das
Personal dafür lieferte.
Dafür bediente sich das Regime derjenigen Arbeitskräfte, die der Willkür schutzlos ausgeliefert waren, der
Einheimischen ohne feste Aufenthaltsgenehmigung.
Denn die Bauern haben in der Tat nicht das Recht, sich
im eigenen Land frei zu bewegen, sondern brauchen eine
Genehmigung, wenn sie sich außerhalb ihres Geburtsorts
niederlassen wollen. Zwar gibt es diese Verwaltungsmaßnahme schon seit ewiger Zeit, aber unter der KPCh wurde
sie dazu genutzt, die Landflucht hin zu den Städten und
Küstenregionen zu begrenzen und die politische Kontrolle
zu stärken.
Trotzdem konnte die Landflucht nicht unterbunden
werden und schuf ein Heer von Illegalen, das umso leichter
auszubeuten ist, als es aus entwurzelten Landbewohnern
ohne kollektive Kampferfahrung und ohne Kenntnis der
sozialen Rechte besteht und die perspektivisch in ihr Heimatdorf zurückkehren wollen. Darin liegt der Nährboden
für einen ungezügelten Kapitalismus mit seinen rechtsfreien Zonen.
Der Gewerkschaftsverband Chinas als einzige legale
Gewerkschaftsorganisation hat nichts zum Schutze dieser
„WanderarbeiterInnen“ unternommen. Dafür entstanden
zahllose Bürgerinitiativen, die sich oftmals am Rande
der Legalität halten und den Rechtlosen Hilfe leisten. So
wurden Schulen gegründet, um ansonsten nicht einschulbare Kinder aufzunehmen. Oder „Barfußanwälte“ (in
Anlehnung an die „Barfußärzte“ zu Zeiten der Revolution) stellten ihre Dienste kostenlos zur Verfügung, um die
WanderarbeiterInnen über ihre Rechte zu belehren. Oder
es wurden Erhebungen und Kampagnen gestartet, um
gegen die schweren Gesundheitsgefährdungen (durch den
Umgang mit giftigen Substanzen etc.) dieser Menschen zu
protestieren. Dabei ist ein regelrechtes solidarisches Netzwerk entstanden.
Inzwischen drängt die zweite Generation von WanderarbeiterInnen auf den Arbeitsmarkt. Im Unterschied
zu ihren Vorgängern wollen sie nicht wieder auf das Land
zurückkehren und kennen ihre soziale Umgebung, in die
sie hineingeboren worden sind. Wie in Frankreich auch
erscheint mitunter der Selbstmord als einziger Ausweg aus
nicht hinnehmbaren Arbeitsbedingungen. Aber insgesamt
ist diese Generation besser für den Kampf gewappnet als
die vorhergehende, zumal sich ein Arbeitskräftemangel
bemerkbar macht. Daher sind die Behörden gezwungen,
die Aufenthaltsbeschränkungen für die (ehemaligen) Landbewohner zu lockern. Es kommt zu Kämpfen und auch zu
siegreichen. Von dieser Generation handelt das nachfolgende Interview mit Au Loong-Yu und Bai Ruixue.
Die Achillesferse auch dieser zweiten Generation bleibt
die Organisationsfrage. Die offiziellen Gewerkschaften
sind seit jeher bloße Transmissionsriemen der Behörden
oder der Unternehmer und kommen kaum als potentielle
Kampforgane des politischen oder sozialen Protests infrage.
Die Staatspartei erlaubt noch immer nicht die Gründung
unabhängiger Organisationen und setzt dieses Verbot auch
durch. Insofern besteht eine doppelte Hürde, von der man
nicht weiß, wie sie überwunden werden kann. Sicher ist nur,
dass sie überwunden werden wird.
Übersetzung: MiWe
„„
1 Vgl. auf ESSF die Artikel 11137 ff. Pierre Rousset, La Chine
du XX siècle en révolutions, www.europe-solidaire.org/spip.
php?article11137
Inprekorr 5/2013 25
Dossier China
Gewerkschaftsbewegung und
Arbeiterkämpfe
in China
Interview mit Au Loong-Yu und Bai Ruixue,
geführt von Pierre Rousset
Die taiwanesische Firma Foxconn beschäftigt in
China über 1,5 Millionen Lohnabhängige, die elektronische Bauteile für Firmen wie Apple herstellen.
Sie hat angekündigt, die Wahl von Gewerkschaftsvertretern im Juli 2013 zuzulassen. Sind Eurer Meinung nach demokratische Gewerkschaftsvertretungen auf Unternehmensebene in einem autoritären
Staat möglich?
Laut westlichen Medienberichten handelt es sich angeblich
um den ersten Versuch, eine gewerkschaftliche Organisierung bei Foxconn herzustellen. Dies ist so nicht richtig.
Bereits 2007 hat der Dachverband der Gewerkschaften
in China (ACFTU) öffentlich verkündet, eine betriebliche Gewerkschaftsgliederung in einem Foxconn-Werk
gegründet zu haben, wo kurz zuvor ein Betriebskampf
stattgefunden hatte. Die Tageszeitung Southern Metropolitan
Daily hat ein Interview mit Arbeitern dieses Unternehmens
geführt. Diese meinten, nicht zu wissen, was eine Gewerkschaft ist oder dass sie nur im äußersten Notfall Kontakt mit
der Gewerkschaftsgliederung aufnehmen würden. Insofern
gibt es zumindest in Shenzhen bereits eine Gewerkschaft
bei Foxconn, aber niemand weiß, ob diese irgendwas für
die Beschäftigten unternommen hat.
Vor nicht einmal zwei Wochen sind zwei Arbeiter von
Foxconn Zhengzhou in den Tod gesprungen, nachdem die
Unternehmensleitung unangekündigt ihren Beschäftigten
Redeverbot während des mehr als 10-stündigen Arbeitstages erteilt hat. Dies hat etliche zur Verzweiflung gebracht.
Foxconn ist bekannt dafür, seinen Beschäftigten eine militärische Disziplin aufzuerlegen. Allein 2010 haben sich 14
Arbeiter das Leben genommen. Da fragt man sich, was die
ACFTU jemals unternommen hat, Foxconn daran zu hindern, die Beschäftigten wie Sklaven zu behandeln. Wenn es
26 Inprekorr 5/2013
eine tatsächliche Gewerkschaftsvertretung in einem Betrieb
gibt, wie kann dann die Direktion ein Redeverbot ohne
vorherige Rücksprache erlassen?
Unseres Erachtens kann es keine demokratische
gewerkschaftliche Vertretung in den Betrieben geben,
solange es keine bürgerlichen Freiheiten im Land gibt.
Dies zeigt die Erfahrung bei den Neuwahlen zum Betriebsrat bei Honda Foshan. Die Beschäftigten dort haben
2010 einen heroischen und siegreichen Kampf geführt und
die Unternehmensleitung und den ACFTU-Ortsverband
nicht nur dazu gezwungen, einer Lohnerhöhung zuzustimmen, sondern auch eine Neuwahl des Betriebsrats zu
gewährleisten.
Eine NRO hat 2012 Nachforschungen über diese
Neuwahlen angestellt und herausgefunden, dass trotz der
Beteuerungen der KP- und der Gewerkschaftsführung von
Guangdong über die angebliche Beachtung des demokratischen Wahlrechts der Beschäftigten nur eine Teilwahl
stattgefunden hat, bei der nur ein Teil der Gewerkschaftsführung neu bestimmt wurde. Insbesondere hat der alte
Betriebsratsvorsitzende, gegen den sich die Streikenden
besonders gewandt haben, seinen Sitz behalten.
Im Jahr 2011 hat dann endlich eine vollständige Wahl
unter der Aufsicht des Ortsverbandes stattgefunden. Nach
den geltenden Statuten der ACFTU hat jedoch die scheidende Führung die Nominierung der Kandidaten für den
neuen Betriebsrat für sich alleine beansprucht. Dadurch
konnten leitende Angestellte nicht nur als Delegierte auf
dem Gewerkschaftskongress fungieren sondern genossen
auch ein überproportionales Vertretungsrecht im Vergleich
zu den einfachen Arbeitern.
Folglich wurden Angehörige des Managements in die
Gewerkschaftsführung gewählt, während die Aktivisten,
die 2010 den Streik geführt hatten, abgewählt wurden.
Nach den vollständigen Betriebsratswahlen wurden Wahlen auf Abteilungsebene und unter den Basisgliederungen
durchgeführt. Deren Ablauf wurde absichtlich so umständlich und langwierig organisiert, dass Manipulationen von
oben Tür und Tor geöffnet waren.
Kürzlich erst, am 18. März 2013 sind die Beschäftigten
bei Honda Foshan erneut in Streik getreten, um gegen
ein Lohnanpassungsprogramm zu protestieren, das vom
Management und dem Betriebsrat vorgelegt worden war.
Danach würden nach Ansicht der Beschäftigten nur die
höchsten Lohngruppen profitieren, während die untersten
benachteiligt wären. Die Streikenden erreichten, dass den
beiden untersten Lohngruppen die kräftigsten Lohnerhöhungen zugestanden wurden.
Dossier China
Dieser Streik zeigt, wie begrenzt die Fähigkeit der
Gewerkschaft ist, die Interessen der Beschäftigten zu vertreten, und wie gering die Rückkopplung mit der Basis ist,
wenn diese die Gewerkschaftsführung wiederholt umgehen und selbst einen Streik auf die Beine stellen muss, um
ihre Rechte zu verteidigen. Und in Wirklichkeit waren
die Beschäftigten der Ansicht, dass die Gewerkschaft und
die Unternehmensleitung identische Positionen vertreten
würden.
Zwei Wochen später wurde in einem anderen Betrieb,
der Elektronikfirma Ohms in Shenzhen der Betriebsratvorsitzende Zhao Shaobo von den Beschäftigten zum
Rücktritt aufgefordert. Zhao war im Vorjahr in diese
Position gewählt worden, nachdem die Beschäftigten für
das Recht in Streik getreten waren, ihre eigenen Vertreter
selbst wählen zu dürfen. Indessen beschuldigten nunmehr
einige Beschäftigte Zhao und die Gewerkschaft, nicht für
ihre Interessen eingetreten zu sein, was besonders daran
festgemacht wurde, dass 22 Arbeitern deren Vertrag Anfang des Jahres von der Unternehmensleitung nicht mehr
verlängert worden war. Und Zhao habe sogar versucht, für
die Position des Unternehmens Stimmung zu machen. Wie
ein Arbeiter meinte: „Wir wollen nicht, dass unser Gewerkschaftsvorsitzender auf Seiten des Managements steht. Wir
wollen jemanden wählen, der für uns spricht.“
Wie steht es um die Gewerkschaften im staatlichen
Sektor?
Darüber gibt es viel weniger Informationen, was die Gewerkschaften in den staatseigenen Unternehmen angeht.
Die Massenmedien beschäftigen sich viel lieber mit den
Streiks und Betriebsratswahlen im Privatsektor und ganz
besonders bei ausländischen Unternehmen, auf die sie dann
mit dem Finger zeigen können, weil diese nicht die Gesetze
beachten würden. Wenn das gleiche in einem Staatsbetrieb
passiert, dann sind zwangsläufig offizielle Vertreter des Staates direkt involviert. Das bedeutet, dass für die Presse ein
hohes Zensurrisiko besteht, zumindest solange die Proteste
nicht an Breite und Dauer gewinnen.
Generell gilt, dass im Privatsektor die Gewerkschaften hochwahrscheinlich zu einer leeren Hülle unter der
Kuratel der Unternehmer verkommen und die Staatspartei
nur geringe Eingriffsmöglichkeiten hat. Umgekehrt sind
im Staatssektor, auch wenn das Management der Staatsunternehmen mittlerweile unabhängiger ist als früher, die
traditionelle Rolle der Partei und ihre Einmischung am
Arbeitsplatz nicht vollständig vor der Macht der Unternehmensführung gewichen.
Natürlich können die Kräfteverhältnisse von einer
Region zur anderen und je nach Industriezweig variieren.
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die Arbeiter in einem
staatlichen Betrieb sich nicht nur mit der Unternehmensleitung messen müssen, sondern auch mit einem feindlich
gesonnenen Parteiapparat im Unternehmen selbst, wenn sie
eine gewerkschaftliche Vertretung am Arbeitsplatz unter
Kontrolle der Beschäftigten fordern.
Wie wenig die offiziellen Gewerkschaften unternehmen, um die Beschäftigten der Staatsbetriebe zu schützen
zeigt folgender Umstand. Nach dem Arbeitsrecht können
Staatsbetriebe nur zusätzlich zum regulären Arbeitsplatzkontingent auf Zeitarbeiter zurückgreifen, und dies auch
nur, wenn die regulär Beschäftigten eine bestimmte Aufgabe nicht erfüllen können. Trotzdem machen sie inzwischen
davon massiven Gebrauch, ohne dass die ACFTU gegen
diese gängig gewordene Praxis angeht.
Kurzum gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass
der offizielle Gewerkschaftsverband nicht auch in Zukunft
als Transmissionsriemen der herrschenden Partei und
ihrer kapitalistischen Ausrichtung fungieren wird. Mag sie
gelegentlich auch etwas Nützliches für die Lohnabhängigen leisten, würde dies nichts an ihren Prioritäten ändern.
Im Jahr 2010 wurde auf Druck der Unternehmerlobby der
Provinz Guangdong und der Investoren aus Hongkong eine
Klausel aus dem Entwurf für ein „Reglement über demokratische Unternehmensführung“ gestrichen, die zur Wahl
von Arbeitervertretern für „Tarifverhandlungen“ hätte
führen können. Diese Klausel barg keineswegs Revolutionäres, da die ACFTU weiterhin die Kandidatenaufstellung kontrolliert hätte und der als allzu „antagonistisch“
geltende Begriff „Verhandlung“ nicht auftauchte; durch die
nachfolgenden Änderungen hingegen geriet die schlussendliche Version dieses Gesetzesentwurfs vollends zur Farce
für die Lohnabhängigen.
Huang Qiaoyan, Juraprofessor an der Sun-Yat-SenUniversität in Guangzhou (chin. für Kanton), beschreibt
diese revidierte Fassung wie folgt: sie „gibt das Bestreben
der Verfasser wieder, vermittels der gewerkschaftlichen
Instanzen die zunehmenden Forderungen der Lohnabhängigen nach tariflich verhandelten Löhnen weiter in Zaum
zu halten. Damit wollen sie eine Situation vermeiden, in
der es zu spontanen Aktionen der Lohnabhängigen kommt,
die sich der Intervention und Kontrolle seitens der Gewerkschaften entziehen könnten.“
Nichtsdestotrotz wird die Zusammenarbeit der internationalen Arbeiterbewegung mit der ACFTU zunehmend
enger, was deren Legitimität wiederum stärkt. Bereits im
Inprekorr 5/2013 27
Dossier China
Juni 2011 wurde die ACFTU auf diese Weise aufgewertet,
indem ihr ein Sitz im Leitungsorgan der Internationalen
Arbeitsorganisation ILO zuerkannt wurde.
Wie seht Ihr den gegenwärtigen Stand der Mobilisierungen unter den Lohnabhängigen in China?
In den letzten gut zehn Jahren haben die Lohnabhängigen
in China fast nur für Lohnerhöhungen gekämpft. Der Widerstand gegen die Privatisierung der Staatsbetriebe hätte
die Proteste mehr auf eine politische Ebene heben können,
aber aufgrund der Kräfteverhältnisse ist dies ausgeblieben:
einerseits waren die Lohnabhängigen in diesen Betrieben
demoralisiert und hatten Niederlagen einstecken müssen,
andererseits hätte dies ihnen enorme Repressalien beschert.
Trotzdem können auch die auf wirtschaftliche Forderungen beschränkten Kämpfe im privaten und staatlichen
Sektor in begrenztem Umfang positive Veränderungen
bewirken. Dies ist insofern wichtig, als erstens bestimmte
Forderungen unmittelbar durchgesetzt werden können,
wie die Verhinderung von Privatisierungen, bessere Arbeitsbedingungen oder Umweltschutzmaßnahmen, und
zweitens – und dies ist wesentlicher – solche siegreichen
Auseinandersetzungen weitere Aktionen in der Zukunft
induzieren können. Und sie können dazu beitragen, die Erfolgschancen solcher Aktionen zu erhöhen, wie die Beispiele der Stahlarbeiter bei Tonghua und der Automobilarbeiter
bei Honda gezeigt haben.
Diese Beispiele zeigen auch, dass die neue Generation der Lohnabhängigen offensiver Widerstand leistet. In
diesem Zusammenhang ist auch das Beispiel der Beschäftigten bei Pepsi erwähnenswert, auch wenn dies vorerst nur
in bescheidenem Umfang erfolgt ist: die Aktionen wurden
über Internet in mehreren Provinzen koordiniert, was in
der Vergangenheit wohl theoretisch auch möglich gewesen
wäre, aber aus Angst vor den Konsequenzen unterlassen
wurde.
Dass die jungen ArbeiterInnen bei Honda erklärt haben,
im Interesse der gesamten chinesischen Arbeiterklasse zu
handeln, lässt darauf hoffen, dass diese neue Generation, frei
von den Lasten der schrecklichen Niederlage von 1989, in
der Lage sein könnte, über den Tellerrand hinaus zu blicken
und für Belange einzutreten, die nicht nur mit dem eigenen
Betrieb zu tun haben.
Dazu kommt, dass mittlerweile die Repression weniger
scharf ist als in den vergangenen Jahren. Dies nicht nur, weil
die Proteste entschlossener sind, sondern auch, weil sich die
Wahrnehmung sowohl unter der Bevölkerung als auch bei
28 Inprekorr 5/2013
der herrschenden Klasse grundlegend zu ändern beginnt.
Die Angst weicht und die Bürokratie spürt, dass ihre Legitimationsbasis schwindet.
Bei den Privatisierungen, die die herrschenden Bürokraten während der letzten mehr als 20 Jahre zu ihrem
Wohl vorgenommen haben, haben diese sich dermaßen
bereichert, dass sich der Zorn darüber inzwischen nicht
nur unter den Lohnabhängigen, sondern auch unter den
Privatkapitalisten und der oberen Mittelschicht angestaut
hat. Eine wichtige Rolle spielen dabei die „Netzbürger“,
die schon seit Jahren eine Offenlegung der Ausgaben fordern, die die Vertreter des Staates bei ihren Auslandsreisen
tätigen, z. B. für Autokäufe, Staatsempfänge oder Bankette.
Als die Zahlen letztlich veröffentlicht wurden, schäumte
„das Internet“ über die Maßlosigkeit dieser noch ständig
steigenden Ausgaben, die sich allein im vergangenen Jahr
auf umgerechnet 1,63 Milliarden Dollar beliefen. Auf
Druck der „Netzbürger“ musste die Regierung schließlich
eine Aufschlüsselung der Summe auf die Einzelministerien
herausgeben. Auch in Suchmaschinen wurden Nachforschungen über die Korruption hoher Funktionäre angestellt
und nachfolgend veröffentlicht.
Dieses Engagement wirkt über die sozialen Netzwerke
des Internet hinaus und beeinflusst das zunehmend negative Image der herrschenden Partei unter der Bevölkerung.
Die anhaltende Dekadenz der Bürokratie untergräbt deren
Legitimität, auch wenn sich die Lohnabhängigen angesichts
der offiziellen Repression noch schwer tun, über ihre bloß
ökonomischen Forderungen hinaus politisch initiativ zu
werden. Dies kann aber mittelfristig durchaus eintreten,
etwa wenn es zu einem großen Skandal kommt, Fraktionskämpfe innerhalb des Parteiapparats auftreten oder eine
Wirtschaftskrise auftritt – oder gar mehrere dieser Faktoren
auf einmal.
Wenn man das stete Anwachsen der Mindestlöhne oder
das expansive öffentliche Wohnungsbauprogramm
in den vergangenen Jahren betrachtet, lässt sich dann
sagen, dass die Staatspartei politisch gewillt und institutionell in der Lage ist, eine Politik zum Wohl der
Bevölkerung zu betreiben?
In den letzten zehn Jahren sind die Mindestlöhne zwar kontinuierlich gestiegen, aber dabei muss man auch die wachsende Inflation berücksichtigen. Den offiziellen – niedrigen
– Zahlen ist dabei nicht zu trauen. In den Interviews, die
wir mit Lohnabhängigen geführt haben, werden die steigenden Mieten und Lebensmittelpreise beklagt, die in den
offiziellen Statistiken heruntergespielt werden.
Dossier China
In den vergangenen Jahren hat die KPCh eine Arbeitsrechtsreform vorangetrieben und – nach eigener Lesart
– einen Sozialstaat errichtet. Man muss dies allerdings vor
dem entsprechenden politischen Hintergrund werten. Die
Bürokratie hat sich zu einer bürokratisch-kapitalistischen
Klasse gewandelt, was ihr nicht schwerfiel, da sie sich über
jedem Recht wähnt – ausgenommen ihr gottgegebenes
Recht auf die Diktatur einer Einheitspartei. Folglich besteht
ihr Ziel darin, reich zu werden, indem sie ihrer Funktion,
nämlich der Verwaltung der Gesellschaft, nachkommt.
Also wurden viele gemeinnützige Wohnungen nicht den
Bedürftigen zugeteilt sondern den Regierungsfunktionären
und ihren Schützlingen. Und wenn die Bürokratie gelegentlich dem Gesetz Geltung verschafft, wonach das Volk
von ökonomischen Vergünstigungen profitieren soll, dann
rangiert dies immer nachrangig zu ihrem obersten Ziel,
nämlich das Land auszuplündern. Und wenn sich das Volk
erhebt, um seine legitimen Rechte einzufordern, antwortet
die Staatspartei mit Repression.
Mögen die sozialen und wirtschaftlichen Reformen in
sich als gut erscheinen, solange sie weiterhin exklusiv von
den Parteiführern ausgelegt und umgesetzt werden, werden
sie früher oder später sauer aufstoßen. So sind ökonomische
Verbesserungen zwar dringend vonnöten – dies gilt für die
politischen Machthaber genau so wie für die Bevölkerung
–, aber die Staatspartei wird sie erst zugestehen, wenn der
Druck von unten sie dazu zwingt. Die wachsende Kluft
zwischen arm und reich sowie zwischen der Partei und
dem Volk ist bekanntlich in erster Linie der Existenz dieser
Staatspartei und ihres bürokratischen Kapitalismus’ geschuldet. Demnach kann die Lösung der tiefen Widersprüche
Chinas nicht vom Staat ausgehen, er ist vielmehr selbst das
Problem, da sich seine schleichende Korrumpierung als
immer unerträglichere Last über die Gesellschaft legt und
früher oder später einen Zusammenbruch hervorrufen
wird.
chen, aber bis dato ist das noch von den Erwartungen weit
entfernt.
In einem Land, in dem das Gesetz des Dschungels
herrscht, können die Kapitalisten mit Hilfe der Staatsgewalt
immer ein Mittel finden, die Knappheit der Arbeitskräfte
und den Anstieg der Lohnkosten zu umgehen. Beispielsweise können sie Berufsschüler, die noch minderjährig
sind, für „Praktika“ in Unternehmen rekrutieren, die dann
von den Schulen vor Ort und von als Exportunternehmer
tätigen Provinz- oder Stadtverwaltungen gemeinsam arrangiert werden. Solche Machenschaften zwischen Kapitalisten und lokalen Behörden sind durchaus gängig und
auf diesem Weg kann die Knappheit der Arbeitskräfte bei
Honda Foshan wie auch bei vielen anderen Unternehmen
überwunden werden.
Eine andere Methode ist die Kinderarbeit. Auch wenn
sie in den letzten Jahren rückläufig war, hat sich dieser
Trend wahrscheinlich wieder umgekehrt. Uns sind Fälle
aus Chaozhou in der Provinz Guangdong bekannt, wo
Textilunternehmen wieder illegal auf billige Kinderarbeit
zurückgreifen.
Allerdings sind niedrige Lohnkosten nicht der einzige
Vorteil, den China bietet. So waren vor zehn Jahren die
Löhne hierzulande keineswegs die niedrigsten innerhalb
Asiens. Aber die chinesischen ArbeiterInnen sind produktiver als diejenigen vergleichbarer Länder. Sie sind sehr diszipliniert und geschult, was daran liegt, dass der Staat zwar
sehr repressiv, aber auch das Resultat einer Revolution ist.
Dies trägt noch immer dazu bei, dass China die Werkbank
der Welt ist.
Daneben gibt es weitere Faktoren, die wir hier nicht alle
anführen können. Wichtig für die Beantwortung der Frage
ist, dass zwar Arbeitskräfte nicht mehr in Hülle und Fülle
in China zur Verfügung stehen, das Land aber seinen Status
als Werkbank der Welt trotzdem nicht so schnell verlieren
wird.
Nach jüngsten Presseberichten siedeln immer mehr
chinesische und ausländische Unternehmen von
China nach Bangladesch und Vietnam um, weil
hier die Arbeitskräfte knapp und teuer werden.
Inwieweit wird dies die Verhandlungsstärke der
Lohnabhängigen beeinflussen?
Wegen der Aufwertung des Yuan, der knappen Arbeitskräfte und der Nominallohnsteigerungen verlassen schon
seit geraumer Zeit immer mehr Firmen das Land. Dies
wird auch noch in den kommenden Jahren anhalten. Dies
müsste an sich den Lohnabhängigen zum Vorteil gerei-
Au Loong-Yu und Bai Ruixue sind
Mitglieder des Redaktionskomitees von China Labour Net
und seit langem in der Solidaritätsbewegung mit den Arbeiterkämpfen in China und in Hongkong aktiv. Als Gründungsmitglied von Globalization Monitor war Au Loong-Yu auch
Führungsmitglied der Volksallianz bei den Demonstrationen
gegen die IWF-Tagung in der ehemaligen britischen Kronkolonie 2006.
Übersetzung: MiWe
„„
Inprekorr 5/2013 29
4 . I n t e r n at i o n a l e
Internationale Lage
Einleitungsbericht zur Debatte über die
internationale Situation, der in der Sitzung des
Exekutivbüros der Vierten Internationale im Juni
2013 vorgestellt wurde.
François Sabado
„„
Wir wollen auf fünf Punkte eingehen; die Wirtschaftskonjunktur, die neuen Spannungen in Europa, die
Elemente der politischen Krise in Europa, die jüngsten
Informationen über die sozialen Bewegungen und die letzten Nachrichten über die Möglichkeit politischer Zusammenschlüsse.
1. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen
Die letzten Wochen waren durch enorme Umwälzungen
der türkischen und brasilianischen Jugend geprägt. Dazu
kommt auch die Bewegung in Bosnien, die um die Frage
der Verteidigung des Rechts von Babys auf eine Identität
entstand. Soziale und politische Bewegungen sind Teil
einer Bewegung des sozialen Widerstands und politischen
Angriffs gegen die Sparpolitik, gegen Ungleichheit und
gegen Angriffe auf demokratische Freiheiten. Ob Verteidigung eines Parks, Antwort auf steigende Fahrpreise oder
Verteidigung demokratischer Rechte – jede dieser Bewegungen hat ihre Einzigartigkeit. Das sind Bewegungen,
die – und das gilt auf jeden Fall für die Türkei und Brasilien – in Schwellenländern entstehen, die bisher nicht von
der Krise betroffen waren. Das verleiht diesen Bewegungen ein Erscheinungsbild vergleichbar dem „Mai 68“, mit
starker Mobilisierung der Jugend, die durch Mobilisierung
von Sektoren der Arbeiterbewegung weitergetragen wird.
In Brasilien könnten die Sparmaßnahmen Vorzeichen
einer Erschöpfung des „brasilianischen Modells“ sein.
Aber die Triebfeder dieser Bewegungen ist genau der
Widerspruch zwischen einem gewissen Wachstum – auch
wenn es sich in Brasilien verlangsamt – und eklatanten
Ungleichheiten. In Brasilien ist es die Spannung zwischen
den ausgegebenen Beträgen für die nächste „Mundial“
(WM) und den Budgetkürzungen, die Gesundheit, Bildung und Wohnungswesen treffen.
In der Türkei ist es der Gegensatz zwischen einem
sozio-ökonomischen Wachstum und dem bleiernen Mantel, den die Regierung Erdoğan der Gesellschaft überstreifen will. Es ist zu früh, um Lehren aus diesen Ereignissen
zu ziehen, aber neue politische Generationen setzen sich in
Bewegung und dies prägt die Situation in diesen Ländern.
30 Inprekorr 5/2013
a) Die Rezession oder Quasi-Rezession in Europa hat sich
bestätigt: –0.2 % im Durchschnitt, +0,1 % in Deutschland,
–0,2 % in Frankreich.
b) Dies ist das sechste Quartal in Folge mit einem Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität in Europa, die längste
rezessive Periode in der Geschichte der europäischen
Wirtschafts- und Währungsunion. Die industriellen
Überkapazitäten, insbesondere in Branchen wie der Automobilproduktion, erreichen alarmierende Ausmaße und
setzen neue Pläne für die Vernichtung von Fabriken und
Arbeitsplätzen auf die Tagesordnung.
c) Die Lockerung der Spannungen auf den Finanzmärkten
bedeutet nicht, dass die europäischen Volkswirtschaften
immun gegen neue Bankenkrisen wären. Einige internationale Großbanken haben sogar die Mechanismen wiederbelebt, die zu den „toxischen“ Finanzprodukten geführt
hatten, und die Zypern-Krise zeigt, dass Banken- und
Finanzkrisen immer wieder ausbrechen können.
d) Aus diesem Grund führt der doppelte Druck der zunehmenden Überproduktion in den wichtigsten Industriesektoren und auf den Finanzmärkten die herrschenden
Klassen und die Regierungen dazu, ihre Sparpolitik zu
verschärfen; Massenarbeitslosigkeit, Einfrieren oder Kürzen der Löhne, eine weitere Kürzung der Sozialhaushalte,
Angriffe auf die soziale Sicherheit und das Arbeitsgesetzbuch (siehe Vereinbarung in Italien zwischen dem Unternehmerverband „Confindustria“ und der CGIL gegen
Tarifverträge), die Verschiebung des Renteneintrittsalters
und längere Dauer der Beitragszahlungen. Immer stärker
4 . I n t e r n at i o n a l e
greifen Pläne zur Zerstörung der Rentensysteme um sich.
In den letzten Jahren und Monaten werden die Umrisse
einer Neugestaltung der sozialen Beziehungen in Europa
erkennbar: Das „soziale Modell“ ist wirklich dabei, liquidiert zu werden. Das ist Sparpolitik ohne Ende.
2. Neue Spannungen in Europa.
Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise zusammen mit
der Art und Weise der europäischen Integration haben
die innereuropäischen Beziehungen in den letzten fünf
Jahren stark verändert. Die verschiedenen Regionen
Europas – Deutschland mit seinen nördlichen Satellitenstaaten, Südeuropa (Griechenland, Spanien, Portugal) und
in einer Zwischenposition Frankreich und Italien – haben
sich noch deutlicher herauskristallisiert. Osteuropa und
der Balkan, darunter einige EU-Mitglieder – Polen, die
baltischen Staaten, Tschechien, Slowakei und Slowenien
-, bilden einen „zweiten Gürtel“ deutscher Satelliten (im
Sinne von Unterordnung/Integration und nicht, wie im
Falle Schwedens und Dänemarks, nur von Integration),
aber wahrscheinlich nicht Bulgarien, Rumänien, Kroatien, deren Wirtschaft eher um Frankreich und Italien kreist
und die daher dem „Süden“ oder einem „zweiten Gürtel“
des Südens näher sind. Trotz öffentlicher Bekenntnisse zur
Notwendigkeit von Einheit und Zusammenarbeit und einer europäischen Wirtschaftsregierung hat sich ein neues,
von der deutschen Bourgeoisie dominiertes Kräfteverhältnis herausgebildet. Durch hohe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, technologische Innovation, Forschung, Entwicklung und das dichte Netz von kleinen und mittleren
international erfolgreichen Unternehmen hat Deutschland
seinen Platz in diesem Wettbewerb gefestigt.
Aber es ist vor allem die neoliberale Umstrukturierung
seines Arbeitsmarktes und seiner Produktionsorganisation, die ihm einen Vorsprung verschafft hat. Die HartzSchröder-Reformen haben 20 % bis 25 % der aktiven
Bevölkerung verarmen lassen, und durch die Welle von
Standortverlagerungen nach Osten zusammen mit einer
Politik des Sozialdumpings haben sich die Unterschiede
zwischen Deutschland und den anderen Ländern verstärkt.
Dies hat Oskar Lafontaine, ehemaliger Vorsitzender der
SPD und Gründer der Partei DIE LINKE, ein Verfechter
des kapitalistischen Europas, dazu gebracht, am 30. April
2013 zu erklären, dass „die Deutschen noch nicht begriffen
haben, dass Südeuropa einschließlich Frankreichs durch
die Wirtschaftskrise früher oder später gezwungen sein
kann, gegen die deutsche Hegemonie zu revoltieren und
den ‚Ausstieg aus dem Euro‘ zu befürworten“.
Diese „Sparpolitik ohne Ende“ wird nicht nur vom
deutschen Kapitalismus verteidigt – unterstützt von
Angela Merkels CDU und der SPD – sie ist auch eine
grundsätzliche Antwort auf die Forderungen nach Rentabilität und Profitabilität des von der Finanzialisierung der
Weltwirtschaft dominierten Kapitals. Die verschiedenen
europäischen Kapitalismen, verschiedenen europäischen
herrschenden Klassen, verschiedenen europäischen Regierungen, die dem globalisierten System dienen, können nur der internen Logik des Systems entsprechen: die
höchstmögliche Profitrate erzielen. Auch François Hollande, „Chef der Republik“, hat sich völlig dieser Logik
verschrieben; sich davon zu lösen, würde eine umfassende
Konfrontation mit dem Kapital bedeuten, die den Genen
des Sozial-Neoliberalismus gänzlich fremd wäre.
Das Problem besteht dabei in den sozialen und politischen Risiken eines solchen historischen Rückschritts und
der inneren Spaltung der Europäischen Union, aber die
herrschenden Klassen halten an dem eingeschlagenen Weg
fest, solange sie Profite und Gewinne ansammeln und den
Zuwachs sozialer Spannungen meistern. Wie lange noch?
Diese Veränderungen der internen Verhältnisse in
Europa veranlassen uns dazu, unsere Haltung gegenüber
dem kapitalistischen Europa zu präzisieren, zusammen
mit einem Sofortprogramm gegen die Sparpolitik auf
nationaler Ebene und der Perspektive eines sozialen und
demokratischen Europas, des Bruchs mit der Europäischen
Union und dem Beginn des Auf baus neuer Beziehungen
in Europa zum Nutzen der Arbeitenden und der Völker.
Aber wenn eine Regierung sich für die ernsthafte Umsetzung eines solchen Programms engagieren würde, dann
würde sie mit den herrschenden Klassen zusammenstoßen
und sähe sich den Forderungen der Finanzmärkte und den
Diktaten der Europäischen Union gegenüber. Es gibt eine
Verbindung, aber die Rhythmen sind verschieden, die
Krisen und Kurswechsel sind nicht gleichzeitig, die Geschichte und die Ereignisse sind in den einzelnen Ländern
unterschiedlich. In diesem Fall muss jedes Volk und jede
Regierung, die sich vornimmt, mit der europäischen kapitalistischen Logik zu brechen, „ihre Erfahrung schützen“,
jeden revolutionären Prozess, jede Errungenschaft.
Mit dieser Methodik müssen wir die Frage des Ausstiegs aus dem Euro behandeln, die von einigen Parteien
der radikalen Linken aufgeworfen wird. Da die Krise sich
vertieft und der soziale Rückschritt mit der EU und dem
Euro identifiziert wird, verstehen wir das verbreitete Gefühl, den Euro und Europa abzulehnen. Doch das hieße,
das Problem auf den Kopf zu stellen, vor allem, wenn der
Inprekorr 5/2013 31
4 . I n t e r n at i o n a l e
Ausstieg aus dem Euro in einer Wirtschaft erfolgt, die
kapitalistisch bleibt, und daher gleichbedeutend mit einer
massiven Abwertung wäre, die eine andere Form von
Sparpolitik gegen die Menschen ist. Es ist kein Zufall, dass
die Front National in Frankreich (und andere reaktionäre
Formationen in Europa) gegen den Euro sind.
Statt zu einer nationalistischen Antwort zu greifen,
müssen antikapitalistische Kräfte den Kurs halten: Für ein
Europa im Dienst der Menschen und der Arbeiterinnen
und Arbeiter. Aber wir dürfen die Augen nicht davor verschließen, dass es einen unüberwindlichen Widerspruch
zwischen der Art des Auf baus der EU und dem Euro
einerseits und der Durchsetzung eines Programms gegen
die Sparpolitik andererseits gibt. Das ist der Grund, warum wir nie die Vorstellungen von einer „Reform“ oder
„Neuausrichtung“ der EU geteilt haben. Wenn die Troika
dem griechischen Volk ein Ultimatum stellt „Entweder
Sie akzeptieren die Memoranden (Sparpolitik) und bleiben
im Euro oder Sie lehnen die Memoranden ab und verlassen
den Euro“, muss man dieser Falle ausweichen, und wir
verstehen bestens die von Syriza in Griechenland ins Leben
gerufen Parole „Keine Opfer für den Euro!“ Das heißt,
sich auf den Konflikt, auf die Konfrontation vorzubereiten.
Es ist nicht Sache einer Anti-Sparpolitik-Regierung,
sich für den Austritt aus der Eurozone zu entscheiden; ihre
Aufgabe ist es, die Ablehnung der Sparpolitik konsequent
durchzuhalten und so die Bevölkerung auf den Bruch mit
der kapitalistischen Logik vorzubereiten. Es ist Sache der
Europäischen Union, das eine oder andere Land auszuschließen – was in rechtlicher Hinsicht nicht so einfach ist
und auch nicht zu ihren Plänen passt. Und wenn die EU so
weit geht, dann ist es die Verantwortung einer Arbeiterregierung, sich der Krise zu stellen und alle Konsequenzen
aus dem Bruchs zu ziehen (und natürlich darauf vorbereitet
zu sein).
geprägt. Die herrschenden Klassen zeigen, dass sie bereit
sind, die demokratischen Rechte und Freiheiten in Frage
zu stellen, um ihre „Spardiktate“ durchzusetzen.
3. Die Elemente der politischen Krise
d) In Frankreich ist die politische und moralische Krise
enorm. Die Politik der Sozialistischen Partei wird überwiegend abgelehnt. Wir dachten, dass das Schicksal der
griechischen PASOK – ein totaler Zusammenbruch – ein
griechischer Sonderfall war und dass die Sozialdemokratie
zwar zurückfallen könnte, aber nicht derart zusammenbrechen würde. Wenn wir die jüngsten Teilwahlen in
Frankreich analysieren, können wir diese Art von Zusammenbruch aber auch für die PS nicht mehr ausschließen.
Die PS verlor in diesen Wahlen Tausende von Stimmen.
Sie ist sogar schon zum zweiten Mal in Folge bei Wahlen
abgestraft worden. Wenn sich die derzeitigen Trends fort-
a) Die gegenwärtige Situation ist durch eine Kombination
verschiedener Krisen geprägt: einer wirtschaftlichen, einer
sozialen und einer politischen. Der neoliberale Kapitalismus stellt in der Krise tendenziell die Demokratie in Frage
und entwickelt im institutionellen Bereich autoritäre Maßnahmen. Die Schließung des griechischen öffentlichen
Fernsehens ist ein gutes Beispiel für solche Angriffe auf die
Demokratie: Es wurde sogar von einem „Staatsstreich“
gesprochen. Die Unterordnung der Regierungen in Südeuropa unter die Troika (EU, IWF, EZB) und die Macht
der Finanzmärkte und Banken haben bereits den Wandel
32 Inprekorr 5/2013
b) Die Krise verschärft sich auch durch die Krise der
politischen Repräsentation. Die gesellschaftliche, politische und stimmenmäßige Basis der traditionellen Parteien
wird destabilisiert und ausgehöhlt. Italien muss eine große
Koalition mit Bersani, Betta und Berlusconi zustande bekommen, um der durch die 8 Millionen Stimmen Beppe
Grillos und die Millionen von der Rechten, von MitteRechts und Mitte-Links verlorenen Stimmen verursachten
Instabilität zu begegnen. Die Inkonsistenz der Bewegung
Beppe Grillo nach nur wenigen Monaten im Parlament
zeigt deutlich die Tiefe der Krise. In Deutschland lassen
die Umfragen derzeit Wahlergebnisse erwarten, die zu
einer großen Koalition zwischen Christdemokraten und
Sozialdemokraten führen würden.
c) In dieser Krisensituation werden die Regierungsparteien regelmäßig abgestraft, aber dies in einer Verschiebung
zugunsten der rechten und rechtsextremen Parteien. So
gab es in Frankreich Demonstrationen von Hunderttausenden Menschen gegen die Ehe zwischen Personen des
gleichen Geschlechts. Diese Frage hat ein altes katholisches, reaktionäres, Dreyfus-feindliches Frankreich wieder
aufgeweckt, das seit Jahrzehnten im Land existiert, aber
zu diesem Thema wieder aufgetaucht ist, angeregt durch
ein allgemeines Klima, in dem die Linke durch die Politik
der Sozialistischen Partei demobilisiert und demoralisiert
ist. Im Zuge der Massenmobilisierungen einer radikalen
Rechten, die sich auch teilweise von Parteien der traditionellen Rechten abgespalten hat, sind auch die Aktivitäten rechtsextremer Gruppen zu beachten, die Linke und
Antifaschisten angreifen.
4 . I n t e r n at i o n a l e
setzen, kann die Situation für die PS bei den kommenden
Kommunal- und Europawahlen im Jahre 2014 katastrophal werden. Aber noch besorgniserregender in Bezug
auf die Berichte über die politischen und stimmenmäßigen Kräfteverhältnisse ist die Tatsache, dass der Zusammenbruch der PS der Rechten zugutekommt und ganz
besonders der Front National, die schon zum Schwerpunkt
des politischen Lebens Frankreichs geworden ist. Selbst
wenn zu diesem Zeitpunkt kein signifikanter Anteil der
herrschenden Klassen hinter der FN steht – sie sind für den
globalisierten Kapitalismus -, können wir nicht ausschließen, dass es rechts zu einer politischen Neuzusammensetzung mit einer gespaltenen Rechten kommt: Sektoren,
die mit der Front National paktieren, und andere, die sich
einer großen Neuzusammensetzung der Linken mit dem
Zentrum zuwenden. Die relative Autonomie der politischen Krisenfaktoren könnte das Land irgendwann in eine
kritische Situation führen.
Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor oder Kürzungen bei
den Sozialhaushalten zu verhindern.1 Kurz gesagt hat sich
die Sparpolitik immer weiter verschärft. Die koordinierten
Aktionstage auf europäischer Ebene haben soweit möglich
die Situation geprägt, aber sie bilden keinen Bezugspunkt
für die Arbeiterinnen und Arbeiter und jungen Menschen
in den einzelnen Ländern. Neue Angriffe werden vorbereitet, insbesondere eine neue Reform der sozialistischen
Regierung [Frankreichs], die die Politik der Rechten
aufnimmt und noch verschärft, sowie ein europäischer
Richtlinienentwurf, der den Wettbewerb im Dienstleistungssektor, darunter Gesundheit, Sozialversicherung,
Renten, Sozialleistungen verlangt … Wir müssen dies
beobachten und in Erwartung eines teilweisen Konjunkturabschwungs so aktiv wie möglich in diesen sozialen
Bewegungen eingreifen.
4. Neue Bewegungen in den Schwellenländern
und Grenzen sozialer Mobilisierungen in den
Krisenländern
Die politischen Kräfteverhältnisse bleiben ungünstig für
die revolutionäre Linke.
Syriza bleibt der Bezugspunkt für einen großen Teil
der radikalen Linken in Europa. Ihr Kongress im Juli wird
ein Test für ihre Fähigkeit sein, ein Programm gegen die
Sparpolitik wieder zu beleben und dem enormen Druck
der herrschenden Klassen und der Europäischen Union
standzuhalten.2
In Spanien stabilisiert die von der PCE dominierte
Izquierda Unida (Vereinigte Linke) ihre Ergebnisse bei
Meinungsumfragen und verbindet Reaktionen gegen die
Sparpolitik mit institutionellem Realismus wie in Andalusien, wo sie an ihrer Beteiligung an der Regierung mit der
PSOE festhält. Im spanischen Staat ist in Katalonien, dem
Baskenland und in Galizien der radikale Nationalismus
von CUP, Sortu oder ANOVA von zentraler Bedeutung
für den Aufbau einer politischen Alternative links von der
Linken. Die Genossen von Izquierda Anticapitalista (Antikapitalistische Linke) haben kürzlich an Versammlungen
teilgenommen, um eine „antikapitalistische Alternative
Man muss einen Unterschied machen zwischen den neuen
Mobilisierungen, die in den sogenannten Schwellenländern entstanden sind, und denen in den Krisenländern.
Wir müssen die Dynamik, die Formen und die Inhalte
der Mobilisierungen in der Türkei und in Brasilien genau
betrachten. Die Mobilisierungen, die von sozialen und
demokratischen Angriffen ausgehen, geben diesen Bewegungen ein Erscheinungsbild vergleichbar dem „Mai
68“. Die Schwellenländer sind auf ihre eigene Weise von
der Krise betroffen, aber in einer besonderen Weise und
mit einer materiellen Position (bezogen auf den Status
dieser Gesellschaften), die sich weniger verschlechtert hat
als in den Krisenländern. In Europa sind die Aktionstage
und Demonstrationen in Spanien oder Portugal bemerkenswert. Am 27. Juni gibt es in Portugal einen weiteren
Tag des Generalstreiks. Man sollte auch die sprunghafte
Zunahme sozialer und demokratischer Mobilisierungen
in Griechenland nach der Schließung des ERT beachten.
Trotz einer schwierigen Situation für die soziale Mobilisierung in Griechenland nach 29 landesweiten Streiktagen
ist die Volksbewegung in Griechenland immer noch in
der Lage, gegen neue Angriffe Widerstand zu leisten. Auf
Ebene des demokratischen Widerstands konnten Teilsiege
errungen werden, aber auf sozio-ökonomischer Ebene waren die Kämpfe nicht in der Lage, Entlassungen, Einfrieren
oder Kürzen der Löhne, den Verlust von Tausenden von
5. Neues von der radikalen und revolutionären
Linken
Tagung des Internationalen Komitees
Ein Bericht von Jan Malewski über weitere Themen und
Debatten, die auf der Sitzung des Exekutivbüros im Juni behandelt wurden, ist für die Online-Ausgabe der Inprekorr
(http://www.inprekorr.de) vorgesehen.
Inprekorr 5/2013 33
4 . I n t e r n at i o n a l e
von unten“ aufzubauen. An diesen Versammlungen nahmen radikale Teile der Izquierda Unida, Verantwortliche
von Gewerkschaften und Verbänden sowie AktivistInnen
aus der revolutionären Linken teil. Diese Treffen in Städten
im ganzen Land haben neuen Raum für Debatten zwischen
politisch Aktiven geöffnet. Man kommt zusammen, um
sich in einen dauerhaften Rahmen für eine antikapitalistische Alternative zur Politik der Izquierda Unida, die von
institutionellen Fragen dominiert bleibt, umzuwandeln.
In Frankreich hat bei den jüngsten Teilwahlen die
Linksfront3 nicht hinzugewonnen. Vielmehr war es die
FN, die vom Zusammenbruch der PS profitiert hat. Die
Linksfront hat zu einer Demonstration von Zehntausenden
von Menschen gegen die Sparpolitik aufgerufen, die auch
von der NPA unterstützt wird, aber die Mobilisierung
seitens der radikalen Linken ist noch nicht stark genug, um
das Kräfteverhältnis zu ändern. Man muss die nächsten
Kommunal- und Europawahlen abwarten um zu sehen, ob
die radikale Linke in dieser Situation des Aufstiegs der FN
ebenfalls punkten kann.
Schließlich sollte darauf hingewiesen werden, dass es
einige interessante Initiativen zur Sammlung von Revolutionärinnen und Revolutionären in Großbritannien gibt,
an der Mitglieder von Socialist Resistance, der AntiCapitalist Initiative und jene, die aus der Krise der SWP
hervorgegangen sind, beteiligt sind. Diese Aktivistinnen
und Aktivisten sind auch in Initiativen um den Aufruf von
Ken Loach für eine neue antikapitalistische Partei aktiv.
In Deutschland gab es ein Treffen zur antikapitalistischen Sammlung auf Initiative einer Reihe von Strömungen, einschließlich der Mitglieder der Vierten Internationale in diesem Land, mit Olivier Besancenot und Charles
André Udry.
Außerdem sollen die Initiativen in Belgien erwähnt
werden, genauer gesagt in Wallonien, zur Diskussion der
Möglichkeit des Zusammenschlusses aller gewerkschaftlichen Gegnerinnen und Gegner der Sparpolitik, um Möglichkeiten einer neuen, auf Gewerkschaftsarbeit gestützten
Partei zu erörtern.
François Sabado ist Mitglied des
Exekutivkomitees der Neue Antikapitalistischen Partei (NPA,
Frankreich) und des Exekutivbüros der Vierten Internationale.
Übersetzung: Björn Mertens
„„
1 Seit der Erstellung dieses Berichts war ein Streik bei der
EPSM (öffentliche psychiatrische Einrichtung) in Caen erfolgreich ... mit Bezahlung der Streiktage! Der brutale Sparkurs
und die Umstrukturierung der EPSM (Streichung oder Um34 Inprekorr 5/2013
strukturierung von Dienste, Streichung von RTT-Tagen [im
Zuge der Arbeitszeitverkürzung gewährte freie Tage] und ½
Stunde Essenszeit, Dequalifizierung der Arbeitsplätze ...), die
plötzlich unerwartet durch Presse und Rundschreiben angekündigt wurde, hat eine beispiellose Mobilisierung unter allen
Kategorien von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausgelöst,
die für mehrere Tage die Zugänge zum Krankenhaus blockiert
haben und ihre Wut und Ablehnung für die angeblichen Defizite des Krankenhauses zu zahlen ausdrückten, zusammengefasst in der Parole „Wir sagen Nein! Das Personal wird nicht
für das Defizit bezahlen!“.
2 Ein Bericht zum Ergebnis dieses Kongresses, der inzwischen
stattgefunden hat, befindet sich auf S. xxff. in dieser Ausgabe
der Inprekorr. [Anm. d. Red.]
3 Von der Parti de gauche (Linkspartei) und der Parti communiste français (PCF) für die Europa-Wahlen 2009 gegründete
Wahlplattform. Sie trat zu den Regionalwahlen 2010 sowie zu
den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2012 erneut an.
[Anm. d. Üb.]
D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“
Breite Parteien
Das Ziel bleibt: Am Ende wollen alle die sozialistische Massenpartei der
Arbeiterklasse. Aber der Weg dahin ist heiß umstritten. Drei Zwischenbilanzen der
unterschiedlichen Erfahrungen mit den Aufbauprojekten von breiten Parteien
Ein Dossier mit 3 Beiträgen
Für die Fortsetzung
einer notwendigen
Debatte
Die Debatte über
„breite Parteien“
Gegenposition 1
Beitrag zur Debatte
über breite Parteien
Gegenposition 2
Seite 36
Seite 40
Seite 43
Inprekorr 5/2013 35
D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“
Für die Fortsetzung einer
notwendigen
Debatte
Dieser Text hat zum Ziel, die Diskussion nach
dem Debattentag des Internationalen Komitees
2012 mit den Berichten zu Brasilien, Italien und
den Niederlanden neu anzuschieben. Laurent
Carasso
Die erste Debatte betrifft die irischen GenossInnen und
die US-amerikanischen von Socialist Action, die systematisch jegliche Politik des Auf baus breiter Parteien ablehnen
und vorschlagen, weiterhin einfach nur Organisationen
auf Grundlage des Programms der Vierten Internationale
aufzubauen.
Die zweite Debatte, die seit den 1990er Jahren (und
damit seit den Kongressen von 1995, 2003 und 2010)
geführt wird, findet unter den GenossInnen statt, die die
Linie vertreten, breite Parteien aufzubauen.
Die zentrale Frage lautet: „Was wollen wir auf bauen?“
Dabei geht es darum, wie der Begriff der „breiten Parteien“ zu definieren und einzugrenzen ist. Auf dem letzten,
dem 16. Kongress der IV. Internationale, wurde diese Frage im Zusammenhang mit der Resolution zu „Rolle und
Aufgaben“ so gestellt: „Orientieren wir uns darauf, breite
Parteien aufzubauen, die alle Strömungen sammeln, die
links von der neoliberalen Sozialdemokratie stehen, darunter sowohl reformistische ,antineoliberale‘ Strömungen,
die aus sozialdemokratischen oder stalinistischen Parteien
entstanden sind, als auch revolutionäre Strömungen?“
Diese Definition trifft auf solche Parteien oder Umgruppierungen zu wie DIE LINKE (Deutschland), Synaspismos/Syriza (Griechenland), ÖDP (Türkei), Respect
(Großbritannien), Rifondazione comunista (Italien) und
Partido dos Trabalhadores (Brasilien, in den ersten Jahren
nach ihrer Gründung).
Auf dem letzten Weltkongress (2010) wurde beschlossen, auf den Auf bau breiter antikapitalistischer Parteien
zu orientieren, die von vornherein den Sturz des kapi36 Inprekorr 5/2013
talistischen Systems anstreben und somit eine dezidiert
revolutionäre, wenn auch nicht notwendigerweise strategisch ausgereifte Perspektive verfolgen, auch wenn darin
Strömungen unterschiedlicher Tradition und Herkunft
vertreten sind. Auch Strömungen und AktivistInnen aus
radikalen sozialen Bewegungen können in solchen Parteien vertreten sein.
Organisationen, die auf dieser Grundlage entstanden
sind, sind die PSOL in Brasilien, die NPA in Frankreich,
der Bloco de Esquerda in Portugal und Enhedslisten (Red
Green Alliance) in Dänemark. Desgleichen Sinistra Critica
in Italien und Izquierda Anticapitalista im Spanischen Staat.
Natürlich gibt es zwischen den beiden Projekten keine
undurchlässige Grenze und auf den vorhergehenden Kongressen der IV. Internationale (1995 u. 2003) wurden beide
Perspektiven als denkbar erachtet. Hintergrund dieser
Debatte war die kapitalistische Restauration in der UdSSR
und in den Ländern Ost- und Mitteleuropas („der Fall der
Berliner Mauer“) und das Einschwenken der sozialdemokratischen Parteien auf eine offen neoliberale Politik in
den 1980er und 1990er Jahren. Infolgedessen hatte sich der
Zusammenhalt der stalinistischen Parteien aufgelöst und
es wurden zentrifugale Tendenzen (nach rechts wie nach
links) von Zerfallsprodukten dieser Parteien begünstigt,
neue Räume links von der Sozialdemokratie geschaffen.
Letztlich waren damit auch die früheren Spaltungslinien zwischen revolutionären Strömungen, die oft aus den
unterschiedlichen Bezugnahmen auf die UdSSR hervorgegangen warenresultiert waren, überholt.
Die britischen GenossInnen distanzierten sich bei dieser
Diskussion von der Orientierung auf „breite antikapitalistische Parteien“, da solche Projekte in vielen Ländern,
angefangen mit England, nicht anstünden.
Neue Erfahrungen
In den 1990er Jahren machten die RevolutionärInnen in
den verschiedensten Ecken der Welt neuen Erfahrungen:
„„ Es entstanden breite Parteien aus Strömungen links von
der Sozialdemokratie, deren Mitglieder reformistische und
antikapitalistische Positionen vertreten und lediglich in der
Ablehnung der neoliberalen Verwaltung des Kapitalismus
übereinstimmen. Wohl typisch dafür war DIE LINKE,
in der antikapitalistische und sozialistische Strömungen
vertreten sind, die in den sozialen, gewerkschaftlichen und
globalisierungskritischen Bewegungen verankert sind, und
daneben dezidiert reformistischen Strömungen, die auf
Bündnisse mit der Sozialdemokratie auf nicht-liberalistischer Grundlage setzen,.
D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“
„„ Die Entwicklung, die Rifondazione comunista und
die brasilianische Arbeiterpartei (PT) nahmen, war im
Wesentlichen vergleichbar, wenn auch in der jeweiligen
Dynamik verschieden: Unsere italienischen und brasilianischen GenossInnen hatten in den 1990er Jahren die
Hoffnung, dass hieraus sozialistische Parteien entstehen
könnten, die strategisch einen revolutionären Bruch mit
dem kapitalistischen System anstrebten. Die Frage, wie sie
sich zu den Institutionen und zum Staat verhalten sollen,
hat in beiden Fällen entweder zu einer Krise der Partei
oder zu ihrer vollständigen Integration in die Verwaltung
des kapitalistischen Systems geführt. Dies lehrt, dass sich
neue Parteien nur dann stabil (in unserem Sinn) entwickeln
können, wenn sie ihr Verhältnis zu den staatlichen Institutionen klären und ihre tagtägliche politische Aktivität mit
der Perspektive des Umsturzes und nicht mit der Verwaltung des Systems verbinden, selbst wenn sie nicht über eine
ausgereifte revolutionäre Strategie verfügen.
Insofern war unsere Zielsetzung, wie wir sie auf den
früheren Weltkongressen entwickelt und – mit der Bilanzierung der brasilianischen und italienischen Erfahrungen – auf dem letzten explizit präzisiert haben, nicht nur
breite, sondern antikapitalistische Parteien aufzubauen.
Dabei sollen alle Strömungen einbezogen werden, die die
bloße Verwaltung des kapitalistischen Systems politisch
ablehnen und stattdessen explizit auf einen sozialistischen
Bruch, gestützt auf die Aktivität der sozialen Bewegungen,
hinarbeiten.
Vier Fragen
Dieses Konzept (der breiten Parteien) wirft vier miteinander verknüpfte Fragen auf:
1. Wie können Parteien aufgebaut werden, die in der
Epoche der Krise des Stalinismus und der Sozialdemokratie schlagkräftig sind und mehr sind als kleine propagandistische Gruppen? Parteien, die dazu imstande sind, den
Klassenkampf zu organisieren, und die die Veränderung
der Periode der 1990er Jahre aufgenommen haben. Parteien, die als Akteure und Organisatoren fungieren und nicht
bloß als Strömungen, die der Sozialdemokratie und dem
Stalinismus kritisch gegenüber stehen. Damit einher geht
die Frage, wie die Aktivitäten, die Organisierung und die
Verankerung dieser Parteien beschaffen sein müssen und
auf welche soziale Basis sie sich stützen, was nicht nur der
Wählerbasis betrifft, sondern die sozialen Schichten, die sie
zu organisieren imstande sind.
2. Welches Programm müssen diese Parteien vertreten?
Natürlich ein antikapitalistisches Programm, das auf
Gesellschaftsveränderung, auf Sturz des Systems abzielt!
Doch entscheidend dabei ist die konkrete politische Umsetzung dieses Programms und nicht der Kongresstext, auf
den sich verweisen lässt: Welche Losungen und Kampagnen der Partei ergeben sich daraus; wie werden ihre
AnhängerInnen und aktiven Mitglieder geschult; welche
politischen Orientierung wird real verfolgt. Dies trifft
umso mehr zu, wenn diese breiten Parteien neue politische Generationen organisieren, die über gesellschaftliche
Mobilisierungen zu bestimmten Fragen politisiert werden.
Am Beispiel von Schottland (Scottish Socialist Party, SSP)
und England haben wir vor nicht allzu langer Zeit erlebt,
welche bedauerlichen Folgen die praktische Vernachlässigung feministischer Fragestellungen haben kann. Doch
können auch andere Fragen – etwa Antiimperialismus,
Islamophobie, Rassismus, Ökologie – explosiven Charakter annehmen, denn auch sie bergen Spannungspotenzial,
das durch eine demokratische interne Diskussion über die
politische Ausrichtung dieser Parteien gemeistert werden
müssen.
3. Wie ist das Verhältnis zu den Institutionen? Natürlich
ergibt sich allein aus dem Umstand, dass diese Organisationen in Abgrenzung zur Sozialdemokratie entstehen, ein
anderes Selbstverständnis. Aber bedeutet dies auch eine
konkrete Unabhängigkeit gegenüber der Sozialdemokratie und keine Zusammenarbeit mit ihr bei der Verwaltung
der bürgerlichen politischen Institutionen?
Diese Frage ist offenkundig mit dem Programm
verbunden, doch konkreter mit dem Verhältnis zum Staat
und mit dem Verständnis, das eine Partei von ihrer Rolle
in der Gesellschaft hat und davon, wie sich politisches
Handeln umsetzen lässt.
Die traditionellen Parteien der Arbeiterbewegung
(die sozialdemokratischen und ex-stalinistischen) sind im
Wesentlichen reformistische, aber auch parlamentarische
Parteien, für die die Funktion, das Wesen einer politischen Partei die Präsenz im Parlament ist, wobei also der
Schwerpunkt der Partei in der institutionellen Aktivität
liegt. Doch gilt diese Definition der politischen Partei
nur für unsere gegenwärtigen Gesellschaften, denn das
parlamentarisch-demokratische System ist der Auffassung, dass die Rolle der politischen Parteien darin besteht,
die WählerInnen in den Verwaltungsinstitutionen des
Systems zu repräsentieren und nicht die Ausgebeuteten
und Unterdrückten zu dessen Sturz zu organisieren! Diese
Inprekorr 5/2013 37
D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“
Frage des Verhältnisses zu den Institutionen hat zahlreiche
Debatten in Parteien wie Rifondazione Comunista oder
der PT bestimmt und hat zu einem bestimmten Zeitpunkt
auch zum „Überschreiten des Rubikon“ geführt, ab dem sie
sich ausdrücklich der institutionellen Verwaltung des Staats
auf höchstem Niveau oder der Unterstützung neoliberaler
Regierungen verschrieben haben.
Doch hat es diese Debatten in den letzten Jahren auch
in breiten Parteien gegeben, die in den Institutionen eine
gewisse Repräsentanz haben, beispielsweise in Portugal, in
Dänemark oder in der letzten Zeit in Frankreich in der NPA.
4. Wie ist das Verhältnis zu den sozialen Bewegungen und
zu den neuen Formen der Radikalisierung? In den letzten
Jahren der Krise des Kapitalismus ist die Nützlichkeit von
politischen Parteien für die Unterdrückten in Frage gestellt
worden. Die abwechselnde Verwaltung des Systems und der
Angriffe auf die Arbeitenden durch die konservativen und
die sozialdemokratischen Parteien hat die Diskreditierung
der Institutionen und des bürgerlich-demokratischen Spiels
sowie eine tiefe Skepsis in Bezug auf emanzipatorische politische Projekte, die von politischen Parteien getragen werden, beträchtlich gesteigert. Diese Diskreditierung erstreckt
sich natürlich auch auf die Parteien der radikalen Linken.
Das Aufkommen der Indignad@s (Empörten) in mehreren Ländern in den letzten Jahren hat diesen Widerspruch
nach zahlreichen Debatten in der globalisierungskritischen Bewegung ebenfalls ins Rampenlicht gerückt. Neue
Schichten, neue Generationen lehnen sich auf, revoltieren
gegen dieses System, bringen aber alle parteilichen politischen Formen mit dem System in Verbindung, da faktisch
alle in das System, das zu bekämpfen sie vorgeben, integriert
zu sein scheinen. Zugleich sind diese neuen politischen Räume Quellen für eine Politisierung bzw. eine rasche antikapitalistische Radikalisierung.
Doch parallel hierzu öffnet die kapitalistische Krise, eben
weil das System innerhalb der Jugend und der Arbeiterklasse auf Ablehnung und Widerwillen stößt, auch Raum für
ultrareaktionäre, faschistische Strömungen.
Ein Bündel von Widersprüchen
Insofern stehen die breiten Parteien vor einem Bündel von
Widersprüchen:
„„ Sie wollen ein Partei sein, die mit der sozialdemokratischen Politik bricht und ein antikapitalistisches Programm
entwickelt.
„„ Es gilt Schichten von Arbeitenden und Jugendlichen zu
organisieren, die sich aufgrund der Krise radikalisieren.
38 Inprekorr 5/2013
„„ Sie wollen eine politische Aktivität entfalten, die für die
Unterdrückten nützlich ist, indem sie an der Organisierung
der sozialen Kämpfe teilhaben und zugleich jedwede institutionelle Zusammenarbeit mit den sozial- bzw. neoliberalen Verwaltern ablehnen;
„„ Es geht um ein internes politisches Leben, das demokratisch und gestaltungsfähig ist, um sie zu wirklichen Parteien
und nicht bloß zu politischen Wahlfronten zu machen und
sie zugleich gegenüber jedweder Art von Druck im Sinne
von „Realismus“ und „politischer Seriosität“ zu festigen,
der sich um so stärker entwickelt, je mehr diese Parteien ein
gewisses Gewicht im nationalen politischen Leben einnehmen.
Im Laufe der Diskussion haben sich verschiedene Aspekte
herausgeschält:
„„ Zunächst einmal stellt sich natürlich die Frage, ob es ein
glaubhaftes Projekt ist, solche breiten Parteien auf stabile Weise aufbauen zu wollen. Ob diese Zielsetzung Sinn
macht und wie sie umgesetzt wird, hängt offenkundig von
den jeweiligen nationalen Besonderheiten ab, nämlich der
Situation der radikalen Linken und unseren eigenen Fähigkeiten, Initiativen zu ergreifen. Dafür gibt es kein Modell,
sondern es können sogar Situationen auftreten, in denen
politische Fronten von Organisationen oder Wahlfronten
dauerhaft die einzige konkrete Option darstellen.
Das ist zum Beispiel in England mit Respect der Fall
gewesen. Doch selbst hier stand Respect ab einem gewissen Zeitpunkt klar vor der Aufgabe, über diesen Rahmen
hinaus zu gehen und eine neue Partei aufzubauen, die über
die ursprünglichen Bestandteile dieses Projekts hinausgeht.
Das hätte nicht zwangsläufig zu revolutionären Positionen
geführt, aber die Situation qualitativ verändert. Damals hat
die SWP solch eine Entwicklung ausdrücklich abgelehnt,
und dies war dann der erste Schritt zur Krise von Respect
und der SWP.
„„ Die wichtigste Frage der letzten Jahre war jedoch,
welchen Nutzen antikapitalistische Parteien oder breite
Parteien in Anbetracht der Krise haben.
Insbesondere in Europa hat es in den 1990er und den
2000er Jahren eine sehr dynamische Welle gegeben, die
von der globalisierungskritischen Bewegung getragen
wurde und der radikalen Linken zugute kam. Das Ausmaß der kapitalistischen Krise seit 2008 hat die Aktualität
antikapitalistischer Positionen bestätigt, aber nicht dazu
geführt, dass die europäische antikapitalistische Linke
sichtbarer und wirkungsvoller geworden wäre – ganz im
Gegenteil. Zunächst sind Rifondazione, Respect und SSP
D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“
in eine Krise geraten und später DIE LINKE und jüngst
die NPA. Dafür gab es jeweils spezifische Ursachen, aber
im Endergebnis sind alle Parteien, die als Zugpferde der
europäischen radikalen Linken angetreten sind, von der
Krise erfasst worden.
Seit einigen Jahren geht es für die Bevölkerung – vor
allem in Europa – vornehmlich darum, gegen die mit der
Staatsverschuldung verknüpften Strukturanpassungsprogramme anzugehen. Auf der einen Seite offenbart die Krise,
wie das ungezügelte kapitalistische System funktioniert, auf
der anderen Seite werden dadurch unmittelbar wirksame
Maßnahmen gegen die sozialen Verheerungen der neoliberalen Politik noch dringlicher.
Diese Situation erklärt die Schlüsselstellung, die Syriza
bei den letzten Ausschlägen der Krise in Griechenland und
die Front de Gauche in Frankreich im vergangenen Jahr
eingenommen haben.
Wenn soziale Mobilisierungen ausbleiben, die dazu
imstande wären, die kapitalistischen Übel an den Wurzeln
anzupacken und zu einer gesellschaftlichen Konfrontation
mit dem System zu führen, suchen die Krisenopfer nach
unmittelbaren Antworten auf die von der Krise und den
Sparplänen hervorgerufenen Leiden.
Wir müssen aus diesen Rahmenbedingungen Konsequenzen ziehen und uns vorrangig darauf konzentrieren,
politische Organisationen aufzubauen, die dazu imstande
sind, zu kämpfen und konkrete Lösungsvorschläge gegen
die Angriffe der Regierungen und Kapitalisten im Rahmen
der gegenwärtigen Krise anzubieten. Unser zentrales Anliegen muss der Aufbau von Anti-Austeritäts-Fronten sein,
das heißt der Zusammenschluss der politischen und sozialen
Kräfte im Rahmen einer Einheitsfrontpolitik, die gegen
diese Austeritätsmaßnahmen eintreten. Unser Anknüpfungspunkt muss sein, die auf dieser Grundlage aktiven
politischen Kräften zu einem gemeinsamen Vorgehen zu
veranlassen. Das heißt in erster Linie, dass wir Sofortmaßnahmen gegen die Austerität vorschlagen, die die wesentlichen Forderungen gegen die Krise enthalten und die als
Grundlage für derartige Fronten dienen können.
Die Probleme im Auge behalten
Parallel hierzu machen es die Erfahrungen der letzten
zehn Jahre notwendig, die Problemstellung des letzten
Weltkongresses bezüglich des Auf baus breiter antikapitalistischer Parteien weiter zu erörtern.
1. Die Fortdauer der ökonomischen, ökologischen
und kapitalistischen Krisen und deren wahrscheinliche
Verschärfung in den kommenden Jahren machen das
entschiedene politische Handeln der RevolutionärInnen
und der AntikapitalistInnen für die frontale und globale
Bekämpfung dieses Systems, der Ausbeutung und sämtlicher Formen von Unterdrückung, die es hervorbringt und
die es befördert, immer dringlicher.
2. Wir halten daran fest, politische Parteien auf bauen zu
wollen, die über den Rahmen unserer Sektionen hinausreichen. Dabei wollen wir die sozialen Kämpfe der Ausgebeuteten und Unterdrückten organisieren und versuchen,
die kämpferischen Strömungen zusammenzubringen,
die in sozialen und politischen Zusammenhängen gegen
den Kapitalismus kämpfen, und ihre Aktivitäten politisch
kohärent und wirksam zu gestalten.
3. Die Möglichkeiten, das politische Profil und die Formen solcher Parteien hängen weitgehend von der jeweiligen nationalen Situation und der realen Situation unserer
Sektionen ab. In allen Fällen müssen wir uns offen gegenüber den anderen antikapitalistischen Organisationen
verhalten, aber auch und vor allem gegenüber den neuen
aktiven Generationen, die bei sozialen Bewegungen in
Erscheinung treten.
Aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahre sind wir
umso mehr davon überzeugt, dass sich solche Parteien auf
die sozialen Bewegungen und nicht auf parlamentarische
Positionen stützen müssen, um Bestand zu haben. Gleichzeitig müssen wir uns darum bemühen, diesen Parteien
unsere Analyse des Staats und der bürgerlichen Institutionen nahezubringen.
4. Wir müssen uns weiterhin die internationalen Verbindungen und Aktivitäten der antikapitalistischen Organisationen fördern. Zwar waren die letzten Jahre auf diesem
Gebiet von Blockaden und Rückschlägen geprägt, doch
müssen wir umso mehr daran festhalten, als die internationalen Entwicklungen der Krise solch koordiniertes
Handeln immer dringlicher machen. Zwar hat der letzte
Weltkongress gezeigt, dass unsere Internationale in der
Lage ist, solche Zusammenschlüsse und gemeinsame
Aktionen zu fördern, aber die regionalen Ansätze treten
eindeutig auf der Stelle.
Laurent Carasso ist Mitglied der
NPA und des Exekutivbüros der IV. Internationale. Dieser
Bericht ist zusammen mit Berichten zur Bilanz über den
Aufbau von breiten Parteien in Pakistan, im Spanischen
Staat und in Frankreich vorgetragen worden, mit dem Ziel,
Inprekorr 5/2013 39
D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“
die Debatte zu verallgemeinern; sie wird zur Vorbereitung
des 17. Weltkongresses auf der Tagung des Internationalen
Komitees 2014 fortgesetzt werden.
Übersetzung aus dem Französischen: Friedrich Dorn und
„„
MiWe
1 Sinistra Critica wird in Kürze in zwei getrennten Organisationen auf der politischen Bühne erscheinen. Wir werden
zu gegebener Zeit in einer der folgenden Inprekorr-Ausgaben
darauf zurückkommen. [Anm. d. Red.]
Die Debatte
über „breite
Parteien“
Gegenbericht zum Text „Für eine Fortsetzung
der Debatte über die breiten Parteien“ des Büros
der Vierten Internationale. Jeff Mackler
Die schlimmste Art eine wichtige und umstrittene Frage
in unserer Bewegung zu debattieren, ist die gegnerische
Position zu karikieren und dann die Karikatur lächerlich
zu machen. Unglücklicher Weise ist das die Methode, die
das Büro in den Anfangsabsätzen seines Textes „ Zur Fortsetzung der Debatte um breite Parteien“ gewählt hat.
Im Text steht: „Die erste Debatte betrifft die irischen
GenossInnen und die US-amerikanischen von Socialist
Action, die systematisch jegliche Politik des Auf baus breiter Parteien ablehnen und vorschlagen, weiterhin einfach
nur Organisationen auf Grundlage des Programms der
Vierten Internationale aufzubauen.“
GenossInnen, die mit der Debatte vertraut sind, wissen, dass diese Behauptung keine Substanz hat. Weder SA
noch die irischen GenossInnen haben jemals in irgendeinem Text oder irgendeiner Stellungnahme den Auf bau
von Organisationen oder Sektionen der Vierten Internationale basierend auf dem Programm der Vierten Internationale in Gegensatz gesetzt zum Auf bau von breiten oder
breiten anti-kapitalistischen Parteien bzw. jeglicher Form
40 Inprekorr 5/2013
von Arbeiterparteien, die für die Interessen der Arbeiterklasse zu kämpfen beabsichtigen.
Was wir wiederholt betont haben ist, dass der Auf bau
von revolutionären sozialistischen Massenparteien auf
Grundlage des Programms der Vierten Internationale in
jedem Land der Welt der nicht aufzugebende und Hauptgrund für die Existenz der Vierten Internationale ist – die
Sache der sozialistischen Weltrevolution voranzubringen.
Leninistische Massenparteien sind die notwendigen Instrumente für die Eroberung der Macht, die Abschaffung
des Kapitalismus und die Errichtung von Arbeiter- und
Bauernregierungen zur Schaffung der zukünftigen sozialistischen Ordnung. Das ist ein fundamentales Prinzip
revolutionärer sozialistischer Politik. Heutzutage scheint
es in unserer Weltbewegung ernsthaft in Frage gestellt zu
werden.
Die Frage, ob RevolutionärInnen in breite anti-kapitalistische Parteien, Arbeiterparteien auf Basis von Gewerkschaften oder eine andere politische Formation auf Basis
der Arbeiterklasse eintreten oder sie auf bauen sollten, ist
eine taktische Frage, die auf Grundlage der Situation in
jedem Land entschieden werden muss. Abhängig von den
Umständen können diese Formationen der Arbeiterklasse
sowohl die Erziehung und Mobilisierung der Arbeiterklasse begünstigen als auch ein Hindernis dafür sein. Das
Hauptkriterium, um zu entscheiden, ob revolutionäre
SozialistInnen sich an solchen Parteien beteiligen, sie
auf bauen oder sie gründen, ist, ob dadurch der Auf bau
revolutionärer sozialistischer Massenparteien des leninistischen Typs vorangebracht wird oder nicht.
Eine Unterscheidung ohne Unterschied
Der heutige neue Büro-Text versucht, zwischen zwei
Arten von Parteien zu unterscheiden, einer offen reformistischen und einer anderen, die vage als breit antikapitalistisch definiert wird. Bei letzteren handelt es sich
gemäß dem Büro um Parteien, „„die von vornherein den
Sturz des kapitalistischen Systems anstreben und somit eine
dezidiert revolutionäre, wenn auch nicht notwendigerweise strategisch ausgereifte Perspektive verfolgen, auch
wenn darin Strömungen unterschiedlicher Tradition und
Herkunft vertreten sind ...“
„Natürlich gibt es zwischen den beiden Projekten keine undurchlässige Grenze ...“, wie uns das Büro bei dieser
Unterscheidung in Erinnerung ruft. In der Tat fördern
die Geschichte der Vierten Internationale in den letzten
Jahrzehnten und die Entscheidungen der letzten Weltkongresse die Beteiligung in und den Auf bau beider Sorten
D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“
von Parteien. Heute ist der Fokus des Büros nur auf eine
gerichtet. Socialist Action hat nie irgendeine Gegnerschaft
dazu angedeutet, dass Sektionen der Vierten Internationale sich an einer der „beiden“ beteiligen oder sie auf bauen –
qualifiziert von uns nur durch eine klare Antwort auf die
Frage: „Hilft oder behindert unsere Beteiligung die Sache
des Auf baus der revolutionären sozialistischen Partei der
Vierten Internationale?“
Anzumerken ist, dass die „revolutionäre Horizont“Partei des Büros zu oft die offen reformistische Partei
geworden ist. So wurde Rifondazione Comunista, die
aus einer „linken“ Abspaltung der italienischen KP
entstand, Teil einer kapitalistischen Koalitionsregierung;
die brasilianische PT kam durch eine Wahlallianz mit
einer katholischen Partei der kapitalistischen Reaktion an
die Macht. Unsere Genossen der Vierten Internationale
beschrieben RC und PT von Beginn an und für Jahre als
„ihre Parteien“ und betonten in Theorie und Praxis, dass
der Auf bau von Parteien der Vierten Internationale dem
Auf bau dieser jetzt diskreditierten reformistischen oder
aufgelösten Parteien untergeordnet war.
Bei dieser Debatte geht es nicht darum, ob unsere
Sektionen ermutigt werden, in diese oder jene anti-kapitalistische (wie auch immer definiert) oder reformistische
(wie auch immer definiert) Partei einzutreten und sie
aufzubauen. Die Diskussion geht darüber, ob diese neuen
Formationen ein Ersatz für die revolutionäre Partei sind
– ob nach „dem Fall der Berliner Mauer“, wie es im Text
steht, etwas Neues in der Welt aufgetaucht ist, das heute
in fundamentaler Weise unsere historische Perspektive des
„Auf baus der Weltpartei der sozialistischen Revolution“
ändert, die wir seit einem dreiviertel Jahrhundert verteidigten und für die wir kämpften.
Der Bericht „Rolle und Aufgaben der Vierten Internationale“ des letzten Weltkongresses legte den Schwerpunkt darauf, dass es die Aufgabe der Vierten Internationale sei, eine neue Internationale gestützt auf Parteien
vom Typ der NPA aufzubauen. Wir waren und bleiben in
entschiedener Opposition zu dieser Perspektive. Wenn das
zur Norm für alle oder die meisten Sektionen der Vierten
Internationale wird, gehen wir dem Untergang der Vierten Internationale entgegen.
Als diese klar dargestellte Orientierung bei der
Weltkongress-Debatte von einer bedeutenden Anzahl
von Sektionen in Frage gestellt wurde, fühlte sich der
Berichterstatter für das Büro in seiner Schlussbemerkung
gezwungen, diese kategorische Behauptung zu modifizieren, in dem er sagte, dass die NPA etwas für Frankreich
sei und dass die anderen Sektionen auf Grundlage der
Situation in ihren Ländern tun könnten, was sie wollten.
Diese Schlussbemerkung war ein wichtiger, aber noch
ungenügender Rückzug, der sich in der Folge als vergänglich erwiesen hat.
Aber die sprichwörtliche Katze war aus dem Sack und
besonders, als die französische LCR sich auflöste – und
damit im Ergebnis unsere stärkste Partei liquidiert wurde.
Heute werden wir im Folgenden die Weisheit dieser Auflösung überprüfen.
Um die Frage klarer zu stellen, müssen wir fragen,
warum die GenossInnen glaubten, dass die Bildung der
NPA die komplette Auflösung der LCR mit ihren Publikationen und Parteieinrichtungen nötig machte. Es ist
klar, dass es sich nicht um eine taktische, sondern um eine
strategische Entscheidung handelte. Sie basierte auf der
grundsätzlich falschen Prämisse, dass die Weltpolitik sich
mit dem Untergang der UdSSR und der anderen stalinistischen Staaten zusammen mit der „sozial-liberalen“
Transformation der Sozialdemokratie, in fundamentaler
Weise geändert hat. Daraus wurde geschlossen, dass der
Bedarf für die Vierte Internationale und ihre leninistischen Sektionen in Frage gestellt war. Eine Vierte Internationale bestehend aus NPAs war das neue Projekt – eine
Orientierung, deren negative Konsequenzen jetzt schnell
durch die Bank sichtbar werden.
Am ungeheuerlichsten war die Tatsache, dass es nicht
das Ziel der Vierten Internationale war, in diesen Parteien
„das Programm der Vierten Internationale“ vorzustellen
und dafür AnhängerInnen zu gewinnen. Wäre das der
Fall gewesen, dann hätten unsere GenossInnen ernsthafte
Formationen für diesen Zweck organisiert – egal ob Strömungen, Tendenzen, Plattformen oder wie auch immer
bezeichnet. Aber im Allgemeinen wurde das nicht getan,
noch weniger als Priorität gesehen. In Frankreich gibt es
keine Sektion oder Strömung der Vierten Internationale
innerhalb der NPA. Was von der NPA übrig geblieben
ist, erscheint als stetig wachsende Anzahl von „Plattformen“, die jede ihre eigene und gegeneinander gerichtete
Perspektive vorbringen und von denen die meisten von
GenossInnen der Vierten Internationale geführt werden.
Das Büro befindet sich auf unsicherem Grund, wenn
es über die Perspektive eines „revolutionären Bruchs mit
dem Kapitalismus“ spricht und die Parteien, die von ihm
als dem entsprechend bezeichnet werden, kapitalistischen
Austeritäts-Rettungspaketen (wie in Portugal) oder
kapitalistischen Koalitionsbudgets (wie die dänische RotGrüne Allianz) zugestimmt haben (s. IV, SAP national
Inprekorr 5/2013 41
D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“
conference statement, „Budget 2013: A major mistake by
the Red-Green Alliance).
Heute scheint das Büro eine weitere Wendung vorzuschlagen. „Aufgrund der brasilianischen und italienischen
Erfahrungen“ wiederholt das Büro, beabsichtigen wir
nun etwas anderes – keine breiten Parteien, sondern breite
anti-kapitalistische Parteien, „die alle Strömungen zusammenfassen, die die Logik der Verwaltung des kapitalistischen Systems zurückweisen und ausdrücklich für einen
sozialistischen Bruch, einen revolutionären Bruch basierend auf der Aktivität sozialer Bewegungen handeln. „
Hier stellen wir fest, dass zu dem Mix dessen, was diese
neuen anti-kapitalistischen Parteien, wenn sie denn das
Licht der Welt erblicken, sein sollen, die „Sprache“ der
Revolution kommt: ausdrücklich „sozialistisch“ und für
einen „revolutionären Bruch“ mit dem kapitalistischen
Staat. Wir schätzen, dass das Büro nach den Erfahrungen
mit der klassenkollaborationistischen Politik von „antikapitalistischen“ Parteien in Vergangenheit und Gegenwart, das Bedürfnis fühlt, von den Parteien, die es früher
gepriesen hat, etwas Abstand zu nehmen.
Lasst uns annehmen, dass solche „Strömungen“
zusammen kommen könnten, um das zu bilden, was das
Büro „nützliche Parteien“, Parteien, die „den Klassenkampf organisieren“ können, anstelle von dem, was das
Büro als „kleine Propagandagruppen“ beschreibt, nämlich
die Sektionen der Vierten Internationale. In diesem Fall
wären wir die ersten, die aus vollem Herzen mitmachen
würden, aber niemals als Ersatz für den Auf bau und
die Umwandlung der kleinen, im Wesentlichen propagandistischen Gruppen, die die Sektionen der Vierten
Internationale heute sind, in revolutionär-sozialistische
Massenparteien, die in der Lage sind, die revolutionäre
Umgestaltung der Gesellschaft zu organisieren. Vage definierter Anti-Kapitalismus und Sozialismus, einschließlich
eines vagen Hinweises auf einen zukünftigen Bruch mit
der Staatsmacht, sind kein Ersatz für disziplinierte revolutionäre sozialistische Parteien mit einem Programm für
die sozialistische Revolution.
Die Sektionen der Vierten Internationale sind nicht aus
freien Stücken kleine Propagandagruppen. Die Geschichte hat uns in eine Situation gebracht, die wir nicht mit magischen Formeln, wie sie das Büro vorschlägt, umkehren
können. Unsere zugegebenen Schwierigkeiten sind nicht
auf inhärente programmatische Mängel und die leninistischen demokratisch-zentralistischen Normen zurückzuführen, sondern auf die vielleicht längste Periode relativer kapitalistischer Stabilität, die es jemals gegeben hat.
42 Inprekorr 5/2013
Wie auch bei Lenins Partei sind die Aussichten, „kleine
Propaganda-Parteien“ in Perioden solcher Stabilität und/
oder nach Niederlagen und Rückzügen der Arbeiterklasse
in revolutionäre Massenparteien umzuwandeln, schwierig
wenn nicht gar unmöglich. Das ist ein qualitativer Unterschied zu reformistischen Parteien, die im kapitalistischen
System verwurzelt sind und oft aufgerufen werden, es
„verwalten“ zu helfen.
Keine ernsthafte revolutionäre Partei genießt es, durch
Umstände außerhalb ihrer Kontrolle auf eine kleine
Propaganda-Gruppe reduziert zu werden, ohne breiten
Einfluss in der Arbeiterklasse und bei den Unterdrückten.
Aber jedeR RevolutionärIn stand vor diesem Dilemma,
von Marx und Engels zu Lenin und Trotzki und all den
anderen, überall. Wie man weiter existieren, kämpfen,
wachsen, bedeutenden Einfluss gewinnen, sich auf die
Zukunft vorbereiten kann, wenn die Massenkräfte für
Veränderung in der breiten Arbeiterklasse relativ passiv
bleiben, ist die Frage aller Fragen.
Aber wir sind nicht ohne Instruktionen. Die Methode
der Einheitsfront hat sich für bedeutende Sektionen der
Vierten Internationale als unschätzbar erwiesen, um bedeutende Strömungen auf der Linken und oft der breiteren
Arbeiterbewegung für gemeinsamen Kampf zu vereinen.
Sie ist eine wesentliche Taktik, im transformierenden Prozess den Klassenkampf voranzubringen und zuerst kleine
Mengen von engagierten Kadern und dann breite Kräfte
für die revolutionäre Partei zu gewinnen – und das wird
im Text des Büros auch angemessen betont.
Im Wesentlichen soll die Taktik der Einheitsfront zwei
Ziele erreichen – 1) die Mobilisierung unserer Klasse,
um für ihre eigenen Interessen zu kämpfen und dabei ihr
Selbstvertrauen, ihre Kraft und ihre Fähigkeit zu gewinnen zu steigern, und 2) uns in dem Prozess von den
Strömungen abzugrenzen, die sich wegen reformistischer
oder sektiererischer Gründe aus solchen Kämpfen heraushalten. Natürlich, in dem Maß, wie andere Strömungen
der sozialistischen Linken sich mit uns zu gemeinsamen
Aktionen und demokratischer Planung zusammentun,
treten wichtige Differenzen in den Hintergrund, während
Vertrauen und Zuversicht sich vergrößern und die Basis
für künftige Zusammenarbeit und eventuell prinzipienfeste Fusionen legen können.
Wir müssen betonen, dass der zentrale Zweck der
Taktik der Einheitsfront der Auf bau der revolutionären
sozialistischen Partei ist. Die Geschichte hat verschiedentlich und in tragischer Weise demonstriert, dass das
Fehlen einer solchen Partei und einer Führung, die im
D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“
Kampf gebildet wurde, Niederlagen bedeutenden Ausmaßes garantiert. Wir müssen hier nicht auf die Konsequenzen im Arabischen Frühling, in Syrien, Libyen,
Ägypten und tatsächlich der ganzen modernen Ära
eingehen. Die Taktik der Einheitsfront hat, wie alle anderen, ihre Grenzen. Sie ist keine magische Formel, besonders heute, wo sich das kapitalistische System in einer
Krise historischen Ausmaßes befindet und die wichtigen,
aber noch begrenzten Kämpfe, mit einigen Ausnahmen, noch bedeutende Siege erringen müssen. Wir sind
zuversichtlich, dass solche Siege aus der gegenwärtigen
Krise und dem Kampf dagegen resultieren und die Basis
für tiefergehende und Einheitsfront Aktionen legen,
die das Tor zur revolutionären Umwandlung des Staates
weiter öffnen werden. Müssen wir wiederholen, dass das
ohne eine tief verankerte revolutionäre Massenpartei, die
durch nichts von diesem Ziel abgebracht werden kann,
sehr unwahrscheinlich ist?
Das Büro hat die „Problematik“ erkannt, dass die
sogenannten anti-kapitalistischen Parteien zu oft Einheitsfront-Mobilisierungen der Wahlpolitik untergeordnet
haben, und ist daher gezwungen, uns daran zu erinnern,
dass das Engagement der Massen in direkter Aktion auf
der Straße essentiell bleibt. Nichtsdestotrotz bestätigt das
Büro unmittelbar nach diesem Abschnitt sein zentrales
„strategisches“ Ziel: „Gleichzeitig machen es die Erfahrungen der letzten zehn Jahre nötig, die Thematik des
Auf baus breiter anti-kapitalistischer Parteien, wie sie der
letzte Weltkongress aufgeworfen hat, weiter zu verfolgen.“
Diese „nützlichen“ Parteien waren ihrer Natur gemäß öfter als nicht, mehr auf Wahl-/Parlamentspolitik fixiert, als
Parteien, die auf Massenmobilisierungen setzten, um die
Macht der Arbeiterklasse auf den Straßen zu gebrauchen.
Daher die Notwendigkeit für das Büro, die GenossInnen
vor einer Politik des Elektoralismus zu warnen.
In den letzten Jahren hat sich die Mehrheit der Leitung der Vierten Internationale kopfüber in den Auf bau
vage definierter Parteien mit elektoralistischen Illusionen
– darunter befinden sich einige, die unsere Prinzipien der
Klassenunabhängigkeit verletzen – gestürzt und diesem
Auf bau den Auf bau leninistischer Parteien untergeordnet
bzw. ihn gar dadurch ersetzt. Wenn dieses Projekt noch
weiter verfolgt wird, bedeutet das die Aufgabe unseres
historischen Programms. Tragisch, wenn wir eine Bilanz
unserer Erfahrungen mit solchen Formationen nicht nur
in den letzten „10 Jahren“ , wie das Büro es tut, sondern
auch in den Jahrzehnte davor ziehen würden, dann wären
wir gezwungen, im Wesentlichen negative Schlussfolge-
rungen zu ziehen. Viele dieser Gruppen stehen bereits vor
der Auflösung oder befinden sich in rapidem Niedergang.
Ginge es bei der Diskussion nur um eine Taktik über
eine Kombination von Wahlpolitik und Einheitsfrontmobilisierungen zum Vorantreiben des Klassenkampfes;
um eine Taktik, die sich konzentriert auf den Auf bau von
disziplinierten Sektionen der Vierten Internationale basierend auf unserem historischen Programm und mit einem
organisatorischen Ausdruck innerhalb wie außerhalb jeder
Formation, die wir entscheiden aufzubauen oder der wir
beitreten wollen, wären wir auf solidem Grund. Aber die
Ereignisse im Laufe der Zeit und der mangelnde Erfolg
dieser Projekte warnen uns, dass das nicht der Fall ist.
Jeff Mackler ist ein führendes Mitglied von Socialist Action, USA
Übersetzung: W. W.
„„
Beitrag zur
Debatte über
breite Parteien
Dies ist ein Gegenbericht sowohl zu dem Text
des Büros „Die Debatte über breite Parteien
fortsetzen“ als auch zu dem Text „Die Debatte
über breite Parteien“ von Socialist Action für die
Tagung des Internationalen Komitees (IK) im
März 2013. Alan Davies
Seit dem letzten Weltkongress ist der Auf bau von breiten
Parteien zur Füllung des Raums links von der Sozialdemokratie – besonders in Europa – wieder dringender geworden. Der Antrieb dazu geht von der Wirtschaftskrise,
der nicht gelösten Krise der Repräsentation der Arbeiterklasse und dem Bedarf an politischer Führung im Kampf
gegen die Austerität aus.
Wir haben einen dramatischen Anstieg des Niveaus
des Klassenkampfes in Spanien, Portugal und natürlich
Inprekorr 5/2013 43
D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“
in Griechenland, dem Epizentrum, gesehen. Wir haben
den bemerkenswerten Aufstieg von Syriza bei den JuniWahlen in Griechenland gesehen, bei denen sie 27 % der
Stimmen gewonnen hat und nahe daran war, den ProAusteritäts-Parteien eine Niederlage beizubringen und
eine linke Anti-Austeritäts-Regierung zu bilden. Die
französische Front de Gauche mit Mélenchon lag im vergangenen Jahr in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl mit 3 984 822 Stimmen – 11,1 % der Gesamtzahl
– an vierter Stelle.
Insbesondere die Rolle von Syriza – sowohl die
Wahlergebnisse als auch ihre Rolle bei den Massenmobilisierungen und in den sozialen Bewegungen – hat
gezeigt, welch riesige Möglichkeiten solch eine Partei in
dieser Situation bietet. Syriza stellte für die Linke einen
politischen Raum zur Organisierung bereit. Sie eröffnete
nach 19 Generalstreiks und Hunderten von Mobilisierungen bezüglich der Regierungsfrage eine entscheidende
Dimension für die Kämpfe in Griechenland. Sie hat zum
ersten Mal seit vielen Jahrzehnten die Möglichkeit auf die
Tagesordnung gebracht, dass in Europa eine Regierung
der radikalen Linken gewählt wird. Das hat wiederum
die Frage des Auf baus von weiteren Parteien dieser Art
aufgeworfen, sowohl um eine politische Führung zu
bieten, die der Austerität ein Ende bereiten kann, als auch
um Solidarität aufzubauen, falls eine von Syriza geführte
Regierung gewählt wird.
Doch was ist der politische Charakter von Syriza? Sie
ist natürlich keine revolutionäre Partei. Und die meisten
GenossInnen des IK würden dem zustimmen, dass sie
trotz eines sehr radikalen Programms keine antikapitalistische Partei ist. Das Büro verdient Anerkennung dafür,
dass es vor den Juni-Wahlen eine Erklärung herausgegeben hat, mit der der Aufruf von Syriza zur Einheit der
griechischen Linken und für eine Regierung der AntiAusteritäts-Parteien unterstützt wird. Und eben nach
Syrizas Aufruf für eine Regierung der Linken (d. h. einem
glaubwürdigen Regierungsvorschlag) ist die Unterstützung für sie drastisch hochgeschossen.
Trotz all dem zieht der Text des Büros bei diesem IK
die Schlussfolgerung, dass das vom Weltkongress verabschiedete Herangehen (wie es in dem Dokument „Rolle
und Aufgaben der Vierten Internationale“ niedergelegt
ist), mit dem zum Auf bau von antikapitalistischen Parteien
auf der Grundlage des Beispiels der französischen NPA
aufgerufen wird, richtig war und richtig bleibt. Es heißt
da: „Die Erfahrungen der letzten zehn Jahre machen es
notwendig, die Problemstellung des letzten Kongresses
44 Inprekorr 5/2013
in Bezug auf den Auf bau von breiten antikapitalistischen
Parteien beizubehalten“. Dazu wird Folgendes näher
ausgeführt: „Wir halten die Perspektive des Ausbaus von
politischen Parteien aufrecht, die über den Rahmen unserer Sektionen hinausreichen, um die sozialen Kämpfe der
Ausgebeuteten und Unterdrückten zu organisieren und
zu versuchen, die kämpferischen Strömungen zusammenzubringen, die sozial und politisch auf dem Terrain des
Antikapitalismus agieren, und ihre Aktivitäten politisch
kohärent und wirksam zu machen versuchen.“
Im Text des Büros wird der Text des Weltkongresses in
einem der Absätze im Anhang in hervorgehobener Form
zitiert. Dieser Text geht sogar noch weiter, wobei Antikapitalismus mit revolutionärer Organisation vermengt
wird, was meiner Ansicht nach extrem problematisch ist.
Da heißt es folgendermaßen:
„Revolutionär-marxistische AktivistInnen, Kerne,
Strömungen und Organisationen müssen das Problem
des Auf baus von antikapitalistischen, revolutionären
politischen Formationen mit der Perspektive der Bildung
einer neuen unabhängigen politischen Repräsentation der
Arbeiterklasse stellen“.
Darin ist schwerlich etwas anderes als die Beschreibung
einer revolutionären Partei, nicht einer breiten linken
Formation zu erblicken. Während wir voll und ganz für
revolutionäre Umgruppierung und Zusammenschlüsse
sein sollten, sollten wir dies nicht mit dem Auf bau einer
breiten linken Partei entweder in der Art von Syriza oder
von Enhedslisten in Dänemark vermengen.
Ich war mit diesem Herangehen an den Auf bau breiter
Parteien nicht einverstanden, als es auf dem Weltkongress beschlossen wurde, und ich bin auch jetzt nicht
damit einverstanden. Ich stimme auch nicht mit der
Schlussfolgerung des Büros in Bezug auf die Bilanz von
all dem überein. Ich denke in der Tat, dass die Bilanz das
Gegenteil zeigt: nämlich dass die starke Betonung auf
dem antikapitalistischen Charakter solcher Parteien (und
mit unzureichender Berücksichtigung linker Parteien
von anderem Charakter) ein Fehler gewesen ist und zu
Zweideutigkeiten in Bezug auf breite Parteien mit anderen
politischen Merkmalen geführt hat.
Auf dem Weltkongress habe ich eine Reihe von Abänderungen von „Socialist Resistance“ zu dem Text „Rolle
und Aufgaben der Vierten Internationale“ vorgestellt, deren Aussage war, wir sollten breite Parteien links von der
Sozialdemokratie auf bauen, deren politischer Charakter
der jeweiligen politischen Realität angemessen sein müsse.
Das kann eine antikapitalistische Partei sein, es könnte
D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“
aber auch nicht der Fall sein. Es könnte den Auf bau einer
linksreformistischen Partei oder einer Partei bedeuten, die
fast einen antikapitalistischen Charakter hat.
Bei der Debatte hierüber auf dem Weltkongress gab es
drei Stränge:
„„ Der erste bestand in der erwähnten Mehrheitsposition, die nicht nur für antikapitalistischen Parteien aufrief,
sondern den Unterschied zwischen breiten Parteien und
der IV. Internationale und ihren Sektionen verwischte; das
bedeutet, dass sie in der Frage zweideutig war, ob solche
Parteien als Modell für eine neue „breitere“ Internationale
zu betrachten sind.
„„ Die zweite Position war die von Socialist Resistance,
die zum Auf bau von Parteien links von der Sozialdemokratie aufrief, wobei ihr politischer Charakter von der
nationalen politischen Situation bestimmt wird – wenn
möglich eine antikapitalistische Partei, ansonsten radikal
linke, linksreformistische oder auf die Gewerkschaften
gestützte Parteien. Bei diesem Ansatz wurde das Entstehen solcher Linksparteien als wichtig betrachtet, wie auch
immer ihr genauer politischer Charakter aussieht, unter
der Voraussetzung, dass es offene und demokratische sowie für die Arbeiterbewegung und den Kampf gegen die
Austerität nutzbringende Organisationen sind.
„„ Die dritte Position (wie sie sich jetzt in dem Text von
Socialist Action USA widerspiegelt) bezogen diejenigen,
die zwar sagen, sie seien nicht grundsätzlich gegen die
Beteiligung an breiten Parteien, doch jedes praktische
Beispiel verurteilen und jedes Problem in der Vergangenheit gegen ein weiteres Engagement in solchen Parteien
ausnutzen.
Ich habe hauptsächlich wegen der unangebrachten
Betonung, die der Text „Rolle und Aufgaben der Vierten
Internationale“ auf den Auf bau von antikapitalistischen
Parteien gelegt hat, dagegen gestimmt. Daraus war zu
schließen, dass linke Parteien jeden anderen Charakters,
ob beispielsweise linksreformistisch oder radikal links,
entweder problematisch waren oder wenig bewirkten.
DIE LINKE, die wichtigste Partei links von der Sozialdemokratie, die in der Zeit vor dem Kongress entstand,
wurde nicht einmal erwähnt, vermutlich weil sie nicht ins
Drehbuch passt.
Dies schien sich in der Diskussion über den Text des
Büros in einem gewissen Ausmaß zu ändern, als gesagt
worden ist: „Natürlich sind wir für den Eintritt in DIE
LINKE, das ist aber nicht die Art von Partei, die wir
auf bauen wollen.“ Aber warum sollten wir sie nicht
auf bauen wollen, wenn das den Kampf der Arbeiterklasse
in Deutschland voranbringen würde? Das würde keinen
Sinn machen. Es stimmt, dass es nicht die Art von Partei
ist, die wir am Ende haben wollen, aber das ist eine ganz
andere Angelegenheit. Das wirft vielmehr die Frage auf,
wie wir darin arbeiten sollten und wie wir sie zu gestalten
suchen.
Das ganze Herangehen (die Betonung von antikapitalistischen Parteien) ist nach wie vor viel zu restriktiv. Es
stellt die politischen Realitäten in den meisten europäischen Ländern nicht in Rechnung, in denen der Auf bau
einer antikapitalistischen Partei derzeit nicht auf der
Tagesordnung steht. Breite Parteien entstehen als Antwort
auf eine politische Realität, anderenfalls werden sie sich
nicht sehr lange halten. Der Charakter solcher Parteien
wird durch den Stand des Klassenkampfs, die politischen
Bedingungen auf nationaler Ebene und die Geschichte
und die Gestalt der Arbeiterbewegung und der Linken
in dem jeweiligen Land bestimmt. Wir können nicht im
Vorhinein bestimmen, welchen Charakter solche Parteien
haben werden – obschon wir (hoffentlich) einen gewissen
Einfluss darauf nehmen können.
Ob wir (als Sektionen der IV. Internationale) solch
einer Partei beitreten und in ihr arbeiten, sollte sich nach
zwei Hauptfaktoren richten. Der erste und wichtigste ist,
ob dies den Kampf der ArbeiterInnen und Unterdrückten
voranbringen würde. Der zweite ist ihre interne Demokratie, was entscheidend ist, wenn es eine Partei sein
soll, die breiten Einfluss in der Arbeiterbewegung haben
kann – einen breiteren Einfluss als derjenige, den wir als
revolutionäre Strömung direkt haben können. Wenn es in
solch einer Partei keine Demokratie oder keine Struktur
gibt, um sie zu befördern, oder wenn es nicht möglich ist,
eine Plattform oder eine Tendenz zu bilden, um die herum man sich organisieren kann, dann mag es wenig Sinn
haben beizutreten – was z. B. bei der Front de Gauche der
Fall zu sein scheint.
Syriza dagegen ist eine offene und demokratische
Partei. Andere Strömungen, die beitreten, erhalten eine
Repräsentation in den Leitungsgremien. Bei der letzten Syriza-Konferenz hat die radikale antikapitalistische
Plattform, zu der Kokkino gehört, 25 % der Stimmen
bekommen. Das soll nicht heißen, dass Syriza nicht unter
dem Druck, der auf sie ausgeübt wird, der Rechten nicht
Zugeständnisse machen wird, vor allem wenn sie die
nächste Wahl gewinnen und unter massiven Druck von
rechts geraten wird. Es soll aber heißen, dass die Art und
Weise, sich vor solchem Zurückweichen zu hüten, nicht
darin besteht, es von außen anzuprangern, sondern Teil
Inprekorr 5/2013 45
D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“
einer organisierten Linken in ihr zu sein, um gegen solches Zurückweichen aufzutreten.
In Griechenland heißt jede andere Politik als das Aufrufen für Einheit um Syriza und Mitarbeit in Syriza, um
sie auf die effektivste Weise aufzubauen, eine historische
Chance verpassen – was bei der KKE und Antarsya der
Fall war, die draußen gestanden haben und in den Wahlen
gegen sie angetreten sind. Syriza dagegen bleibt in dem
Kampf gegen Austerität in Europa in der Avantgarde und
ist die Partei der radikalen Linken, die am wahrscheinlichsten einen Regierungsdurchbruch erreichen kann.
Es gibt ein weiteres Problem mit dem Beharren darauf,
solche Parteien müssten antikapitalistisch sein. Es besteht
darin, dass „antikapitalistisch“ ein sehr schwer genauer zu
bestimmender Begriff ist. Es gibt viele Ansichten darüber,
was darunter zu verstehen ist, was zu vielen Zweideutigkeiten führt. Einige auf der Linken betrachten Syriza als
antikapitalistisch und andere nicht (ich nicht, nebenbei).
Aber es gibt keine einfache Definition. Syrizas Programm
(z. B. ihr Wahlmanifest) ist mindestens so radikal wie
manche breite Parteien, die sich selbst als entschieden
antikapitalistisch betrachten – obwohl Syriza eine größere Unterschiedlichkeit aufweist. Ihr Programm scheint
beispielsweise dem der Linken im Linksblock sehr ähnlich
zu sein.
Syriza hat, daran sei erinnert, jede Art von Koalitionsarrangement mit der PASOK und den Pro-AusteritätsParteien abgelehnt. Ihr wurde die Gelegenheit zu einem
Versuch zur Regierungsbildung gegeben, nachdem die
Nea Dimokratia damit gescheitert war. Sie war aber nur
dazu bereit, mit den linken Anti-Austeritäts-Parteien zu
sprechen und infolgedessen nicht dazu imstande, eine
Regierung zu bilden. Das ist sehr anders als die Front de
Gauche z. B., und weit links davon.
Es wird angeführt, linksreformistische und radikal
linke Parteien seien tendenziell instabile Formationen, die
mit einiger Wahrscheinlichkeit unter Druck einknicken
würden. Ihre GegnerInnen spekulieren viel darüber, ob
Syriza unter Druck zusammenklappen und nach rechts rücken wird, insbesondere wenn sie eine Regierung bildet.
Manche argumentieren, sie bereite sich bereits darauf vor.
Dagegen gibt es natürlich keine Garantie, und an diesen Befürchtungen mag einiges dran sein. Doch kann keine Partei sicher sein, dass sie die Probe bestehen wird, bis
von ihr gefordert wird, sich der Probe zu stellen. Sich als
antikapitalistisch zu definieren, ist keine Garantie gegen
Einknicken unter Druck, wie die dänischen GenossInnen
bezeugen können. Selbst sich als revolutionär zu definie46 Inprekorr 5/2013
ren, ist keine Garantie gegen solch eine Entwicklung, wie
den brasilianischen GenossInnen bekannt ist.
Keine dieser Gefahren ist jedoch ein Grund, sich von
solchen Parteien fern zu halten. Solche Parteien können
eine wichtige (sogar entscheidende) Rolle spielen, selbst
wenn sie letztlich scheitern – wie die Rifondazione comunista in Italien. Rifondazione ging als breite, pluralistische
Partei aus der PCI hervor, die das Beste an der kommunistischen Partei zusammenbrachte, die in den Kämpfen
der Arbeiterklasse verwurzelt war und die sich in großem
Umfang an den neuen sozialen Bewegungen beteiligte–
insbesondere der globalisierungskritischen Bewegung und
der Bewegung gegen den Irak-Krieg 2002/03. Die Partei
war für eine Reihe von Massenmobilisierungen zentral.
Nach der desaströsen Entscheidung, sich 2006 bis 2008 als
Juniorpartner an der Mitte-Links-Regierung von Romano Prodi zu beteiligen, verlor sie ihre parlamentarische
Vertretung vollständig und spaltete sich auf die erbittertste
Weise. Die Fragmente rückten nach rechts.
War es also ein Fehler, Rifondazione beizutreten und
an ihrem Auf bau mitzuarbeiten? Absolut nicht. Was sollen
wir tun, wenn Kräfte aus einer stalinistischen Vergangenheit heraustreten und eine größere Rolle im Klassenkampf
spielen? Oder auch aus der Sozialdemokratie? Sollen wir
sagen, sie seien nicht links genug und ihnen den Rücken
kehren? Sollten wir sagen, auch wenn sie sich im Moment
nach links bewegten, würden wir uns enthalten, weil sie
sich in der Zukunft nach rechts bewegen oder weil sie in
eine Koalitionsregierung gehen könnten? Nichts von dem
würde irgendeinen Sinn machen. Wir sollten in ihnen
kämpfen, um die Rolle, die sie spielen, zu einem Maximum zu bringen und zu versuchen, sie auf linkem Kurs
zu halten – und genau das haben die italienischen GenossInnen in Rifondazione getan (meiner Ansicht nach mit
großer Wirkung).
Rifondazione und vor allem ihr Jugendverband (in
dem unsere GenossInnen sehr einflussreich waren) haben
Ende der 1990er und zu Beginn der 2000er Jahre in Massenbewegungen in Italien eine bedeutende Rolle gespielt.
Sie waren die Avantgarde einer europaweiten Bewegung,
mit Genua als Höhepunkt. Sollten wir sagen, es war eine
negative Erfahrung, weil Fausto Bertinotti (der Rifondazione geführt und populär gemacht hat) am Ende heftig
nach rechts gerückt ist? Nein, sollten wir nicht. Das Erbe
dieser Kämpfe ist geblieben. Es stellt sich also die Frage,
was an die Stelle treten kann und wie das, was gewonnen
wurde, verteidigt werden kann.
Keine dieser Erfahrungen ist meiner Ansicht nach ein
D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“
Grund, sich von solchen Organisationen fernzuhalten.
Wenn es Raum gibt, auf der Grundlage unserer eigenen
Politik in ihnen zu intervenieren, sollten wir das tun.
Es gibt jedoch sehr gute Gründe, dass unsere Sektionen
eigenständig organisiert bleiben (entweder als Strömung
oder als Plattform), wenn sie in solchen Parteien sind und
sie auf bauen. Unsere Sektionen sollten innerhalb von solchen Parteien organisiert bleiben. Dies macht es möglich,
dass wir sowohl unseren Einfluss auf die Ausrichtung der
Partei maximieren als auch kollektiv handeln, wenn sich
die breite Organisation in die falsche Richtung bewegt,
unter Druck einknickt oder sich in eine Koalition mit
kapitalistischen Parteien begibt.
Das jüngste Beispiel, wie man es machen sollte, ist das
der dänischen GenossInnen in Enhedslisten. Als Enheds­
listen im Parlament gegen Opposition, die von ihnen
ausgegangen war, für den Haushalt stimmte, waren unsere
GenossInnen dazu in der Lage, sich in dieser Frage sehr
effektiv politisch abzusetzen und einen unabhängigen
Standpunkt zu beziehen.
DIE LINKE (wo wir die isl drinnen und den RSB
draußen haben) ist ein weiteres Beispiel für eine wichtige
linke Partei, die eine demokratische Struktur hat, bei der
es möglich ist, einzutreten und in ihr zu arbeiten. Es können Plattformen gebildet werden, die innerhalb der Partei
und bei ihren Konferenzen auftreten. Man kann sich
schwerlich Umstände vorstellen, unter denen es richtig
wäre, außerhalb solch einer Organisation zu sein.
Es war ebenso richtig, in der früheren Periode innerhalb der brasilianischen PT zu sein. Sind die GenossInnen
in ihr adäquat organisiert geblieben? Eindeutig nicht, und
es wurde ein hoher Preis gezahlt, sie haben jetzt aber eine
gute und kritische Bilanz dieser Periode gezogen, aus der
wir Lehren ziehen sollten.
Zu dem Text von Socialist Action
Wie schon erwähnt, unterstütze ich den Text von Socialist Action nicht. Er stellt die gegenwärtigen politischen
Realitäten besonders in Europa nicht in Rechnung und
geht z. B. nicht auf Syriza ein. Der Text liegt meiner Ansicht nach falsch in Bezug auf das Kriterium, das er für den
Beitritt zu breiten Parteien angibt. Es wird argumentiert,
wir sollten das nur tun, wenn es den Auf bau einer revolutionären Massenpartei (nicht weniger als das) voranbringt.
Er drückt es so aus: „Das Hauptkriterium, nach dem sich
richtet, ob revolutionäre SozialistInnen sich an solchen
Parteien beteiligen, sie auf bauen oder mitgründen sollten,
ist, ob sie den Auf bau der revolutionär-sozialistischen
Massenpartei leninistischen Typs voranbringen oder
nicht.“
Das ist meiner Ansicht nach grundlegend falsch.
Hauptkriterium ist, ob der Beitritt zu solch einer Organisation und unser Mitwirken in ihr den Kampf der Arbeiterklasse und der Unterdrückten voranbringen kann oder
nicht. Ob sie beginnen kann, die Krise der Repräsentation
der Arbeiterklasse anzugehen. Wenn sie dazu imstande
ist, so etwas zu tun und wir daran mitwirken, werden wir
auch unsere eigenen Kräfte auf bauen, aber das ist nicht die
primäre Überlegung.
Der Text erhebt den Anspruch, für den Auf bau von
breiten Parteien zu sein, doch spricht er in völlig negativen
Ausdrücken von ihnen, und er stellt solche Parteien und
revolutionäre Organisationen gegeneinander. Es heißt da:
„Vage definierter Antikapitalismus und Sozialismus einschließlich eines vagen Bezugs auf einen künftigen Bruch
mit der Staatsmacht sind kein Ersatz für disziplinierte
revolutionär-sozialistische Parteien, die mit einem Programm für die sozialistische Revolution bewaffnet sind.“
Natürlich sind sie kein Ersatz für ein Programm der
sozialistischen Revolution, aber wenn sie die Rolle spielen
können, die Kämpfe der Arbeiterklasse weiterzubringen,
können sie uns in eine bessere Lage versetzen, um für
solch ein Programm zu argumentieren und darauf hinzuarbeiten.
Der Text warnt uns vor Elektoralismus. Es heißt z. B.:
„Diese ,nützlichen‘ Parteien hatten öfter einen wahlorientierten/parlamentarischen Charakter und waren nicht
Parteien, die auf Massenmobilisierungen, um die Macht
der Arbeiterklasse auf der Straße auszuüben, ausgerichtet
sind“.
Natürlich gibt es immer die Gefahr des Elektoralismus,
aber worauf bezieht sich der Text? War Syriza elektoralistisch, als es in den vergangenen Jahren in die Wahlen
gegangen ist? Absolut nicht. Syrizas Wahlintervention war
ein entscheidender Teil des Massenkampfs, der zu dieser
Zeit in Griechenland stattfand. Sie verlieh dem Kampf zu
einer Zeit, in der vielfache Generalstreiks und Tausende
von Demonstrationen und Besetzungen von Betrieben
und Regierungsgebäuden etwas wie eine Sackgasse erreicht hatten, eine politische Dimension und eine Regierungsperspektive.
Alan Davies ist Mitglied des Exekutivbüros der IV. Internationale und der Leitung von Socialist
Resistance, der britischen Sektion der IV. Internationale.
Übersetzung aus dem Englischen: Friedrich Dorn
„„
Inprekorr 5/2013 47
Griechenl and
9+1 Bemerkungen zu
Syriza nach ihrem
Gründungskongress
Eine breite Partei sollte es werden, eine
Einheitspartei besonderen Typs scheint dabei
herausgekommen zu sein. Was das unter
anderem für die linke Plattform, zu der auch
der Autor gehört, bedeutet, bleibt die spannende
Frage der allernächsten Zukunft.
Stathis Kouvelakis
„„
1. Der Syriza-Kongress hat in einem Kontext wachsender politischer Instabilität stattgefunden nach der Krise im
Gefolge der Schließung des öffentlichen Rundfunks (ERT)
durch die Regierung von Antonis Samaras und dem Verlassen der Regierungskoalition durch die der Partei der Demokratischen Linken (DIMAR). Die neue Regierung aus
den beiden Parteien der Neuen Demokratie und der PASOK
kann von nun an nur noch auf eine sehr knappe parlamentarische Mehrheit zählen (hinter ihr stehen nur noch 153
von 300 Mandaten), wie sich das bei der Abstimmung im
Parlament zum neuen Sparprogramm mit weiterem Abbau
des öffentlichen Dienstes am 17. Juli gezeigt hat. Mehr noch:
die Stärke der Proteste gegen die Schließung von ERT hat
das Ende einer relativen Apathie der Massen nach Verabschiedung der letzten Memorandumsbeschlüsse im November letzten Jahres eingeläutet. Der herrschende Block geht
aus diesem Kräftemessen sichtlich geschwächt hervor. Der
Sturz der Regierung unter dem Druck der Mobilisierungen
von unten erscheint heute eine realistischere Möglichkeit zu
sein als noch vor einigen Monaten. Gleichwohl mangelt es
schmerzlich an einer Strategie und Taktik, die diese Frage
grundlegend angehen würden.
Die Position von Syriza bleibt in dieser Hinsicht beschwörend im Ton und geprägt von der Kluft zwischen
einer Konfliktbereitschaft andeutenden, aber vagen Rhetorik und der konkreten Linie bei Schlüsselereignissen der
48 Inprekorr 5/2013
gesellschaftlichen Konfliktsituationen in der letzten Periode
(abgebrochene oder niedergeschlagene Streiks bei der UBahn, den Hafenarbeitern und GymnasiallehrerInnen mit
den harten Antistreikmaßnahmen der Regierung). Bei allen
diesen Gelegenheiten hat die Syriza-Führung eine extreme
Vorsicht an den Tag gelegt und jedes Streben nach einem
machtvollen Anwachsen der Protestbewegung vermieden,
was im Rückzug von der Unterstützung der Streikbewegung
der Lehrerinnen und Lehrer kulminierte, die doch von den
darüber beratenden Vollversammlungen mit 90 % der Stimmen beschlossen worden war.
2. Als die Führung im Mai die Abhaltung des Kongresses
verkündet hatte, hatte sie nur ein Ziel: die Konstituierung
von Syriza als Gelegenheit zu nutzen, „die Dinge wieder in
die Hand zu nehmen“, um zugleich die interne Opposition
an den Rand zu drängen und eine Parteiform zu stabilisieren,
die in wesentlichen Punkten mit der politischen und organisatorischen Kultur der radikalen Linken bricht. Anders gesagt,
ging es der Führung darum, sehr schnell eine „Parteiform“
zu schaffen, die maßgeschneidert ist, um in deren organisatorischer Realität die Reorientierung zu verankern, die die
Führung seit Herbst 2012 geharnischt verfolgt – eine Linie,
die sich in der zunehmenden Vernebelung der Positionen von
Syriza (sowie von deren Wahrnehmung durch die gesellschaftlichen Schichten, die ihr vertrauen) zu Schlüsselfragen
(wie der Außerkraftsetzung der Memorandumsbeschlüsse, der
Position zur Schuldenfrage, der Ablehnung der Privatisierungen) ausgedrückt hat.1
Zu diesem Zweck hat die Führung der Partei einen Gewaltmarsch (mit einer Zeitspanne von weniger als einem Monat zwischen der Veröffentlichung der Texte zur Beschlussfassung und der Abstimmung in den Kreisverbänden) und eine
Tagesordnung durchgesetzt, die vollständig um die internen
Fragen kreist, weit entfernt von den Fragen der Strategie und
der programmatischen Weiterentwicklung, die doch in einer
so schnell sich ändernden Lage gefordert sind.
Griechenl and
Diese „introvertierte“ Tagesordnung war um drei
Schlüsselfragen gruppiert:
„„ die Frage der Bestandteile, mit einem Ultimatum von
zwei oder maximal drei Monaten bis zur Auflösung der Organisationen des bisherigen Syriza-Bündnisses zum Zweck
der Herstellung der „Einheit“ von Syriza als Partei;2
„„ ein weitgehend ausgehöhltes Tendenzrecht mit Abschaffung der „getrennten“ Listen für die parteiinternen Wahlen,
eine Ausdrucksweise, die davon ablenken soll, dass damit
die proportionale Repräsentanz von Minderheiten in den
Führungsorganen in Frage gestellt wird;
„„ die Art und Weise, wie der Vorsitzende der Partei gewählt
wird, nämlich vom Kongress und nicht vom Führungsorgan
(vom Zentralkomitee).
3. Der Sinn dieser auf die internen Probleme fokussierten
Tagesordnung kann nur verstanden werden im umfassenderen Kontext der Wahrnehmung von Syriza durch die
VertreterInnen des herrschenden Blocks und der inneren
Entwicklung dieser Partei seit einem Jahr.
Für die Medien und die dem herrschenden System verpflichteten politischen Kräfte sind die „Komponenten“ und
„Strömungen“ von Syriza, ihre berühmte Kakophonie die
verschlüsselte Art und Weise, den Radikalismus von Syriza
zu bezeichnen, den diese „Strömungen“ gegenüber einer
(von Tsipras repräsentierten) Führung verkörpern, die für
„Realismus“ und für eine entsprechende Reorientierung
steht. Die Führung und insbesondere Tsipras sind insofern
einem anhaltenden, vom herrschenden System ausgehenden
Druck ausgesetzt, „im eigenen Haus Ordnung zu schaffen“
(„Tsipras, lass’ Köpfe rollen“, ist eine der beliebtesten Forderungen der führenden etablierten Kommentatoren in den
Medien …) und sich von den oppositionellen Stimmen zu
befreien. Im Fadenkreuz sind dabei insbesondere die kritischen Stimmen links der Führung, die als ebenso viele Hindernisse dafür dargestellt werden, das „Image“ von Syriza zu
dem einer „verantwortlichen Regierungspartei“ zu machen.
Innerhalb von Syriza selbst hatten sich die spektakulären
Wahlerfolge des Frühjahrs 2012 in einer widersprüchlichen
Dynamik ausgedrückt. Einerseits eine bedeutende Eintrittswelle (die Mitgliederzahl hat sich in wenigen Monaten in
etwa verdoppelt bis auf heute ungefähr 35 000 Mitglieder)
und Erfolge in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen, vor
allem in der Gewerkschaftsbewegung, einem traditionellen
Schwachpunkt von Syriza – aber doch relative Erfolge, weil
die Präsenz in den Gewerkschaften doch deutlich unterhalb
des Niveaus der griechischen KP (der KKE) bleibt, die bei
den Wahlen aber weniger als 5 % der Stimmen bekommen
hat, nur ungefähr ein Sechstel so viel wie Syriza. Doch diese
Welle beinhaltet auch einen anderen, sehr viel zweischneidigeren Gesichtspunkt. In einer von der ökonomischen
Depression traumatisierten Gesellschaft, die von Jahrzehnten
der „Parteienherrschaft“ (vom „System“, das seit dem Sturz
des Obristenregimes 1974 abwechselnd regierenden Neuen Demokratie und der PASOK geschmiedet worden war)
geprägt worden ist, kann der Eintritt in eine Partei auch die
Bedeutung des Wiederaufbaus klientelistischer Beziehungen annehmen, wozu eine Beziehung der Gefolgschaft zum
charismatischen Führer passt. Dieses Phänomen trifft sicher
noch lange nicht auf die Mehrzahl der Mitglieder zu, doch
verändert es bereits in charakteristischer Weise die Zusammensetzung der Parteimitgliedschaft und nährt wesentlich
das Gewicht „passiver Mitglieder“, die nur zum Tag der Abstimmung auf dem Kongress kommen, und deren Beziehung
zur Organisation im Wesentlichen auf ihren Bindungen mit
ihnen persönlich bekannten führenden Parteimitgliedern
(einem oder mehreren) vor Ort beruht.
4. Dieses teils spontan auftretende und für diejenigen, die
mit dem Klima der griechischen politischen Realitäten
vertraut sind, absolut vorhersehbare Phänomen ist seit Herbst
2012 von der Parteiführung im Namen der notwendigen
„Verbreiterung“ eindeutig gefördert worden. Die von diesem
Zeitpunkt an getroffenen Entscheidungen – Verzicht auf jegliche Strategie aktivistischen Eingreifens und des Parteiaufbaus, die Organisierung von Konferenzen und Kongressen
in aller Eile, mit einer möglichst großen Zahl an Delegierten,
ähnlich wie für die landesweiten oder regionalen Führungsebenen, Aufbau einflussreicher informeller Netzwerke rund
um bestimmte führende Mitglieder (die im Allgemeinen
zugleich Mandatsträger sind) – führen unvermeidlich zu
einer Partei, „die alle einfängt“, eine catch-all-Partei, wie
die Politologen im Gefolge Kirchheimers sagen. In anderen
Worten, eine Wahlpartei mit schwindendem internen Leben,
die sich wesentlich um ihren Führer und um einen Diskurs
schart, der von oben kommt, die sich wesentlich – vermittelt
über die Medien – an ein „nationales Publikum“ wendet und
immer darauf bedacht ist, den verschiedenen Teilen des „Publikums“ zu gefallen („radikaler“ und „lyrischer“, wenn man
sich an die Mitglieder wendet, „nüchterner“ und „pragmatischer“, wenn man Schäuble oder dem IWF begegnet).
5. Die problematischsten Aspekte des Gründungskongresses dieser „neuen Syriza“, dieser nunmehr vereinheitlichten
Partei kommen von diesen schwerwiegenden Tendenzen, die
zu ihrer Transformation in eine „regierungsfähige Partei“
Inprekorr 5/2013 49
Griechenl and
führen, die zur Verwaltung der Regierungsgeschäfte im
Rahmen des Systems in der Lage ist: disproportional viele
Mitglieder mit Stimmrecht im Vergleich zur Zahl derjenigen, die an den internen Debatten teilnehmen, ein amorpher
Haufen von 3500 Delegierten, die Abwesenheit jeglicher
organisierter Diskussion während der ersten beiden Tage (wo
Delegierte überhaupt das Wort ergreifen konnten), Fehlen
von Rechenschaftsberichten der Führungsorgane, einleitende Rede von Tsipras im Stil der Rede auf einer Wahlkampfveranstaltung und nicht im Stil einer Einleitung zu einer
Beratung und Mitgliedern der Partei.
Dazu kam die außerordentlich aggressive Stimmungsmache gegen die parteiinterne Opposition (die als Linke
Plattform gemeinsam aufgetreten ist3), die am Abend der
letzten Sitzung des Kongresses bei den Abstimmungen zu
drei Schlüsselfragen des organisatorischen Funktionierens
der Partei kulminierten, auf die die Auseinandersetzungen
fokussiert waren (Auflösung der Gruppierungen, Repräsentierung der Strömungen und Art und Weise der Wahl des
Vorsitzenden). Da gab es für einen Kongress der radikalen
Linken schockierende Szenen (ausgebuhte SprecherInnen der
Linken Plattform, Stinkefinger und Beschimpfungen und
Beifall für Tsipras, wann immer er ans Rednerpult trat, schon
bevor er überhaupt den Mund aufgemacht hatte), die zum
Auszug der Delegierten der Linken Plattform und eines nicht
unbeträchtlichen Teils auch von Delegierten der Mehrheit
aus dem Saal geführt haben.
6. Wie ist dieser Kongress zu bilanzieren? Vom Gesichtspunkt des programmatischen Gehalts und der strategischen
Ausarbeitung her ist das Ergebnis mager bis inexistent. Die
verabschiedeten Dokumente wiederholen mehr oder weniger wörtlich (und dann noch in einer eher verwässernden
Weise) die Formulierungen der nationalen Konferenz vom
November letzten Jahres. Diese Texte voller zweideutiger
und verschieden interpretierbarer Kompromissformulierungen sind ohnehin von der Mehrheitsfraktion der Führung nie
öffentlich verbreitet oder vertreten worden – sie hat vielmehr
immer „Interpretationen“ dieser Texte in Übereinstimmung
mit der „Reorientierung“ und dem „Realismus“ geliefert. So
haben im letzten Dezember, wenige Tage nach der Konferenz von Syriza, die die Position bekräftigt hatte, im Falle
eines Wahlsiegs die Memorandumsbeschlüsse unverzüglich
per mehrheitlichem Parlamentsbeschluss zu kippen, die
Verantwortlichen für Wirtschaftspolitik und die wichtigsten Führungspersönlichkeiten nach Tsipras in den Medien
Erklärungen verbreitet, um klarzustellen, dass Syriza „nicht
einseitig handeln würde“, und dabei haben sie systematisch
50 Inprekorr 5/2013
vermieden, Ausdrücke wie „Annullierung“ oder „Rücknahme“ zu verwenden und stattdessen sehr viel gemäßigter
von „Verhandlungen“ mit „unseren europäischen Partnern“
gesprochen. Tsipras selbst hat sich immer wieder in dieser
„versöhnlerischen“ Weise geäußert, vor allem bei seinen
Auslandsreisen, insbesondere in Deutschland, wo er sich mit
Schäuble getroffen hat, und in den USA, wo er mit VertreterInnen des State Department und des IWF gesprochen hat.
7. Die Linke Plattform hat versucht, der fast gar nicht
stattfindenden programmatischen Debatte einen politischen
Gehalt zu geben, und vier Änderungsanträge eingebracht,
die auf die empfindlichsten strategischen Gesichtspunkte
abzielten: die Schuldenfrage (Infragestellung der Legitimität
der Schulden überhaupt, Denunzierung der formell gültigen
Verträge und, wenn notwendig, Aussetzung der Ableistung des Schuldendienstes mit dem Ziel der Streichung der
Schulden); mögliches Ausscheiden aus der Eurozone (denkbare Option, auf die man sich ernsthaft vorbereiten muss,
wenn eine Syriza-Regierung in ähnlicher Weise wie Zypern
von der EU und der EZB erpresst wird); Verstaatlichung
des Bankensektors insgesamt, klare Zusage, die laufenden
Privatisierungen zurückzunehmen und die Schlüsselbereiche
der Ökonomie (Telekommunikation, Energie, Infrastruktur der Straßen und der Flughäfen) unter demokratischer
Kontrolle wieder zu vergesellschaften; eine Bündnisstrategie,
die den Willen zu einer Linksregierung gegen die Sparpolitik
bekräftigt und eine Öffnung zum „Zentrum“ oder zur souveränistischen Rechten des Parteienspektrums ausschließt.
Alle diese Änderungsanträge sind zurückgewiesen worden,
konnten aber zwischen einem Drittel und 40 % der Delegiertenstimmen auf sich ziehen, wobei die Änderungsanträge
zu den Schulden und zum Euro am meisten Unterstützung
gefunden haben. In diesem Sinne kann man sagen, dass die
Führung zur Frage der politischen Linie ihren Standpunkt
durchsetzen konnte.
8. Und doch stellt dieser Kongress gemessen an den Zielen,
die sich diese Führung gesetzt hatte, einen bedeutenden
Rückschlag dar. Die drei weiter oben erwähnten Punkte,
die in der Partei „Ordnung schaffen“ sollten, sind doch aus
diesem Moment der Gründung der „neuen Syriza“ ziemlich
zerfleddert herausgekommen.
Zur Frage der Auflösung der Komponenten und dem
entsprechenden Ultimatum an die Adresse der Organisationen, aus denen das bisherige Bündnis Syriza zusammengesetzt war, musste sich die Führung auf einen Kompromiss
einlassen (die verabschiedete Formulierung spricht von einer
Griechenl and
„Auflösung in einem vernünftigen zeitlichen Rahmen und
nach Beratungen“), und zwar wegen der sehr aufrechten
Haltung von Manolis Glezos. Als emblematische Figur des
Widerstands, mit seinem immensen Prestige und seiner
Statur als der nationale Held, der er ist, hat er sich nicht darauf
beschränkt, das Recht der Organisationen des Syriza-Bündnisses zu verteidigen, ihre Autonomie zu behalten. Er hat
Tsipras direkt und persönlich angegriffen und das Modell der
„Präsidentenpartei“ entschieden zurückgewiesen, was die
moralische und symbolische Autorität der Führung und ihrer
führenden Hauptperson ordentlich untergraben hat.
Zur Frage der Repräsentierung von Minderheiten hat
diese Führung allerdings alles in die Waagschale geworfen
und ein Vorgehen gewählt, das durchaus als Handstreich
gekennzeichnet werden kann, den Tsipras persönlich ausgeführt hat: Nachdem er ein System vorgeschlagen hatte, das
mit einer „technischen“ Regelung automatisch die Mehrheitsliste begünstigt, hat der Mehrheitsblock den (minderheitlichen) Strömungen, die gerne als solche repräsentiert sein
wollen, aufgezwungen, getrennte Listen zu konstituieren,
die auf einem eigenen Wahlzettel stehen.
Die bis dahin bestehende Möglichkeit, auf demselben
Wahlzettel eine Liste auszuwählen und dann bis zu einem
gewissen Grad KandidatInnen, die auf verschiedenen Listen
kandidieren, zu panaschieren, ist somit eliminiert worden.
Was die Liste der Mehrheit betrifft, so präsentiert sie sich
nicht als Strömungsliste oder als Liste eines Blocks von Strömungen (was sie aber faktisch ist), sondern als „Einheitsliste“,
als einfache Addition von kandidierenden Mitgliedern der
Partei, die „die Vielfalt der Partei“ als solche repräsentieren.
Es handelte sich offensichtlich darum, die Minderheiten als
bloß tolerierte „Fremdkörper“ erscheinen zu lassen und der
Mehrheitsliste einen symbolischen Status als einzigen Gralshüter der legitimen Parteiidentität zu verschaffen.
Und doch hat sich diese Operation gegen ihre Urheber
gedreht. Anstatt schwächer zu werden, ist die Linke Plattform deutlich stärker geworden (siehe weiter unten) und
konnte mit Hilfe der Präsenz kleiner „unabhängiger“ Listen
die Liste der Mehrheit auf 67,5 % zurückführen, und das sind
sieben Prozentpunkte weniger als auf der nationalen Konferenz im November letzten Jahres.
Und schließlich, zur Frage der Wahl des Vorsitzenden
durch den Kongress, konnte sich die Führung durchsetzen,
aber um den Preis der Annahme einer „flexiblen“ Regelung
in den Statuten, die jedem Kongress erlaubt, die Art und
Weise der Wahl des Vorsitzenden souverän festzulegen. Nicht
überraschend hat sich dieser Kongress danach für die Direktwahl des Vorsitzenden ausgesprochen. Doch bei der geheimen
Wahl hat Tsipras dann ein wenig überzeugendes Ergebnis
von 72 % erreicht (74 % der gültigen Stimmen, wobei fast alle
ungültigen Stimmzettel entweder Ausdruck der Ablehnung
des Verfahrens oder der Person von Tsipras waren).
9. Man kann gleichwohl davon ausgehen, dass der wichtigste
Rückschlag für die Führung die Stärkung der Linken Plattform ist, die die symbolische Schwelle der 30 % überschritten
hat, was gemessen an der nationalen Konferenz im November
des letzten Jahres einem Zuwachs um fast fünf Prozentpunkte
entspricht (30,16 % gegenüber 25,6 %), und das in einem stark
konfliktgeprägten Rahmen, wo die Regie vollständig darauf
abgestellt war, die Marginalisierung der Opposition zu erreichen. Ohne Zweifel hat das Klima der Einschüchterung bei
einem Teil der Delegierten einen starken Widerstand hervorgerufen, über den Kreis derer hinaus, die von vornherein die
Positionen der Plattform unterstützt hatten.
Das Ergebnis hat die Führung regelrecht schockiert;
sie hat jeden offiziellen Kommentar vermieden (ihre RepräsentantInnen wurden mit der Verkündung der ersten
Ergebnisse regelrecht unsichtbar). Die Presse und die Medien
registrieren die manifeste Verlegenheit in den Reihen der
MehrheitlerInnen, wenn sie auch, im Allgemeinen, Tsipras
zu schonen versuchten. Die Fragen nach der Linie, die er in
der nun beginnenden Periode verfolgen will, werden immer
drängender: Anstreben von Kompromissen oder Weiterführen der innerparteilichen Konfrontation, womit er dieses
Mal riskieren würde, eine lang andauernde interne Krise zu
provozieren.
Die Linke Plattform hat ihrerseits zum ersten Mal eine eigene Erklärung öffentlich gemacht und mit ihr ihre Meinung
deutlich zum Ausdruck gebracht, dass ihre Bemühungen
um eine „Radikalisierung und Verankerung von Syriza auf
linken Positionen und für die Einheit der radikalen Linken
insgesamt unter verbesserten Bedingungen fortgesetzt werden.“ Das ist ein Zeichen dafür, dass ihr Erfolg als Ermutigung dafür verstanden wird, ihre Intervention in der Partei
und sogar über die Partei hinaus sichtbarer zu machen.
9+1 Schlussfolgernd kann man sagen, dass der Gründungskongress mehr Probleme geschaffen als gelöst hat oder versucht hat zu lösen. Nunmehr konstituiert als vereinheitlichte
Partei mit ihren Statuten und programmatischen Dokumenten und ihrer gewählten Führung, erscheint Syriza nichtsdestoweniger als eine Partei, die zu wesentlichen strategischen
Fragen, die im Mittelpunkt der landesweiten und der europaweiten Debatte stehen, tief gespalten ist. Offensichtlich führt
die Konfrontation zwischen den AnhängerInnen eines „reInprekorr 5/2013 51
Griechenl and
alistischen“ Herangehens, das bestrebt ist, auf „kalte“ Weise
an die Regierung zu kommen und nicht mit dem von der
EU gesetzten Rahmen zu brechen und strategische Sektoren
der herrschenden Kräfte zu schonen, und denjenigen, die die
offene Konfrontation und den Bruch mit dem gegenwärtigen
Rahmen der EU wollen, ins Herz der Fragen, die sich der
radikalen Linken in Europa stellen.
Der entscheidende Beitrag von Syriza und die Dynamik,
die sie im Frühjahr des vergangenen Jahres in Gang zu setzen
in der Lage war, ist, dass sie in der radikalen Linken die Frage
einer Machtalternative in konkreter Weise stellen konnte.
Bleibt zu erfahren, ob dieses Unternehmen auf Kosten der
Radikalität fortgeführt wird und ob es sich in die lange Liste
der Erfahrungen mit Linksregierungen einreiht, die im
Morast der loyalen Verwaltung des Systems stecken geblieben sind. Der Kongress von Syriza ist wohl nützlich dafür
gewesen, dass er zumindest die Konturen des Problems für
die im Sinne eines emanzipatorischen Projekts engagierten
gesellschaftlichen und politischen Kräfte klarer und einfacher
verständlich zu formulieren erlaubt hat.
Athen, 18. Juli 2013
Quelle: http://www.contretemps.eu/interventions/91-remarques-sur-syriza-après-son-congrès-fondateur
http://alencontre.org/europe/grece/grece-91-remarques-sursyriza-apres-son-congres-fondateur.html#more-17140
Stathis Kouvelakis, Universitätsprofessor und Mitglied des Zentralkomitees von Syriza und
führendes Mitglied der linken Strömung4, deren bekannteste
Persönlichkeit Panagiotis Lafazanis ist. Stathis Kouvelakis hat
unter anderem das Buch Philosophie et révolution: de Kant à
Marx (Presses Universitaires de France, 2003 [englischsprachige Ausgabe: Philosophy and Revolution. From Kant to Marx,
2003] veröffentlicht. Er unterrichtet am Londoner King’s
College. (Redaktion der Webseite A l’Encontre)
Übersetzung: Manuell Kellner
„„
1 Zur Entwicklung von Syriza siehe den Artikel von Baptiste Dericquebourg „Prendre le pouvoir sans perdre son
âme“ (Die Macht übernehmen, ohne die Seele zu verlieren)
in der Ausgabe von Juni 2013 von Le Monde diplomatique
[auf Englisch: „Where Syriza stands“, http://mondediplo.
com/2013/07/07syriza] sowie Philippe Marlières Text „Alexis
Tsipras entre radicalisme et réalisme“ (Alexis Tsipras zwischen
Radikalismus und Realismus) in http://blogs.mediapart.fr/
blog/philippe-marliere/220313/alexis-tsipras-entre-radicalisme-et-realisme.
2 Von 2004, dem Datum der Gründung, bis zu der nationalen
Konferenz von November 2012, existierte Syriza als Bündnis
eines Dutzends unterschiedlicher Komponenten, die quasi das
gesamte Spektrum der radikalen Linken abdeckten. Wichtigste
52 Inprekorr 5/2013
Komponente war Synaspismos, die Partei von Alexis Tsipras, wobei diese Partei selber aus unterschiedlichen Strömungen bestand,
die von der gemäßigten Sozialdemokratie (daraus ist die gegenwärtige Demokratische Linke, DIMAR, hervorgegangen, doch ist
ein beträchtlicher Teil dieser Strömung in Synaspismos geblieben)
bis zum Neokommunismus der Linken Strömung (siehe nächste
Anmerkung) reicht.
3 Die linke Plattform hat sich in ihrer gegenwärtigen Form zu der
nationalen Konferenz von November 2012 gebildet, und zwar
durch das Zusammengehen der zwei Hauptkomponenten, die in
verschiedenen Konfigurationen seit über einem Jahrzehnt existieren: 1. der linken Strömung in Synaspismos, die im wesentlichen
von AktivistInnen gebildet worden ist, die bei der Spaltung 1991
aus der griechischen kommunistischen Partei (KKE) ausgetreten
sind; sie kontrolliert die Mehrzahl der Betriebsgruppen und den
Gewerkschaftssektor und verfügt in bestimmten Kreis- und Regionalverbänden, im Wesentlichen im Norden von Griechenland,
über eine starke Präsenz; 2. den drei Syriza- Komponenten trotzkistischer Herkunft (Kokkino, DEA und APO), die sich inzwischen unter dem Schirm von Rproject/Rotes Netzwerk zusammengetan haben. Auf dem Kongress haben sich eine Komponente,
die aus der PASOK stammt, DIKKI, sowie eine Organisation aus
Gewerkschaftskadern, die 1995 die KKE verlassen haben, KEDA,
der Plattform angeschlossen. Etwa ein Dutzend der insgesamt 70
ParlamentarierInnen von Syriza zählen sich zur linken Plattform,
darunter einer der drei SprecherInnen der Parlamentsfraktion,
nämlich Panagiotis Lafazanis, ehemaliges Leitungsmitglied der
KKE und langjähriger Abgeordneter für den Wahlkreis Piräus,
dem am stärksten von IndustriearbeiterInnen geprägten im Land,
zugleich die bekannteste öffentliche Persönlichkeit dieses Orts.
4 Stathis Kouvelakis hat auf dem Gründungskongress gesprochen
und während des Kongresses an der gemeinsamen Versammlung
der linken Plattform teilgenommen, zu der ein großer Teil der
Delegierten der linken Strömung und von Rproject, also DEA,
Kokkino und APO, zusammenkamen. Zu dieser Versammlung,
die am Freitag, den 12. Juli, sehr kurzfristig für 22 Uhr einberufen
wurde, kamen rund 1000 Personen, also auch Nichtmitglieder der
beiden erwähnten „Strömungen“, d. h. Delegierte, die erfasst hatten, worauf es für die Tsipras-Führung auf dem Kongress wirklich
ankam: nämlich den „Staatsstreich“, wie die von Stathis Kouvelakis
auf dieser Versammlung verwendete Formulierung lautete, von
Tsipras, um die 14 Organisationen zu zerbrechen, aus denen Syriza
besteht und daraus eine, wie es heißt, vereinigte Partei zu machen,
mit Auflösung der Organisationen im Namen einer aus einer Summe von Individuen bestehenden „Demokratie“. Danach verbleibt
als einzige „organisierte Fraktion“ der Kern von und um Tsipras.
Dies verleiht der Charakterisierung des Gewaltstreichs, den die
Tsipras-Führung versucht hat und der weitgehend fehlgeschlagen
ist, durch Stathis Kouvelakis Gültigkeit.
Doch wird mit Sicherheit ein Krieg niedrigerer Intensität gegen
die Syriza-Linke fortgesetzt werden. Diese kann jedoch im Rahmen der sozialen Mobilisierungen stärker werden und ein paar
Steinchen in die Schuhe der, wie Antonis Ntavanellos sie genannt
hat, „neuen golden boys von Syriza“ praktizieren, die glauben,
ihren Realismus den griechischen herrschenden Eliten verkaufen
zu können, ganz zu schweigen von der Troika oder Wolfgang
Schäuble. Dieser hat in enger Zusammenarbeit mit der Regierung Samaras bei seinem Besuch vom 18. Juli eine gigantische
Abriegelung des Athener Stadtzentrums und ein Verbot jedweder
Demonstration durchgesetzt
Br a silien
„ICH WILL KEINEN BALL,
ICH WILL EINE SCHULE“
Mit „Brot und Spielen“ lässt sich die brasilianische Bevölkerung, besonders
die Jugend, nicht mehr über die sozialen Schwierigkeiten im Land
hinwegtäuschen. Über den Charakter der Protestbewegung und ihr Verhältnis
zu den Parteien, auch und besonders der regierenden PT, spricht Juan Tortosa
mit João Machado.
Aktuell befindet sich Brasilien in einer Periode der
ökonomischen und sozialen Fortentwicklung. In
Europa kann man nicht verstehen, was die Gründe
für den Protest sind, der weit über die Frage der
Tariferhöhung beim öffentlichen Transport hinausgeht. Was ist Deine Meinung? Handelt es sich
um einen Aufstand der Mittelklasse, die sich nicht
repräsentiert fühlt?
Die Wahrheit ist, dass der Eindruck, dass es in Brasilien eine Situation des umfassenden ökonomischen und
sozialen Fortschritts gäbe, falsch ist. Die Zentralregierung
möchte gerne diesen Eindruck erwecken und die internationale Bourgeoisie (und ihre Medien) ebenfalls, aber das
ist es nicht, was wirklich stattfindet.
Es ist wahr, dass es unter der Regierung Lula ein
höheres Wachstum der Ökonomie gegeben hat als in
der vorangegangenen Regierung von Fernando Henrique Cardoso. Aber wenn wir es unter historischen
Gesichtspunkten betrachten, oder wenn wir einen
Vergleich mit der restlichen Welt vornehmen, ist das
Wachstum Brasiliens mittelmäßig und in den letzten
10 Jahren war es eines der geringsten in Lateinamerika, es ist auf jeden Fall geringer als das Wachstum der
anderen so genannten Schwellenländer.
Wenn wir außerdem die letzten zwei Jahre der
Regierung Dilma Rousseff betrachten, über die bereits
die Daten vorliegen, so ist das Wachstum noch weiter
gesunken: 2011 hatten wir ein Wachstum des Bruttosozialprodukts von 2,7 %, und 2012 von 0,9 %. 2013
deuten die Daten bereits darauf hin, dass trotz der von
der Regierung genährten Hoffnungen in eine große
Erholung das Wachstum erneut mittelmäßig sein wird.
Wahrscheinlich ist eine Erklärung dafür, dass das zu
einem guten Teil auf die schlechte Situation der Weltwirtschaft zurückzuführen ist (wie in gleicher Weise
die weniger schlechten Ergebnisse der Regierung Lula
zu einem guten Teil durch den internationalen Boom
der Warenproduktion, vor allem ausgelöst durch
China, zurückzuführen war), aber Tatsache ist, dass es
keinen signifikanten Wachstumsprozess der Ökonomie in Brasilien gibt.
Wenn wir das Ganze unter einem etwas breiteren
Blickwinkel betrachten, also mehr im Zusammenhang
mit der Hypothese der „Entwicklung“, ist die Bilanz
eher noch schlechter. In den letzten 10 Jahren ist Brasilien unter dem Gesichtspunkt der industriellen Entwicklung zurückgefallen – es gibt einen Prozess der
Deindustrialisierung – und zwar vor allem unter dem
Gesichtspunkt seiner ökonomischen Beziehungen mit
dem Ausland. Die Exportsituation hat sich gewandelt,
Brasilien exportiert weniger industrielle Produkte als
vor 20 Jahren. Dem entsprechend ist seine Abhängigkeit vom Ausland größer geworden.
Aber die ökonomischen Probleme sind noch
Inprekorr 5/2013 53
Br a silien
größer. In den letzten Monaten ist eine Wiederkehr
der Inflation zu beobachten, die zwar begrenzt, aber
nichtsdestoweniger deutlich ist (derzeit ist ein Anstieg
auf 6 % in diesem Jahr zu erwarten). Gleichzeitig gibt
es eine Verschlechterung der Handelsbilanz (zum Teil
erklärt durch die Überbewertung der brasilianischen
Währung, des Real, die eine Methode der Kontrolle der Inflation darstellt). Schwaches Wachstum,
gekoppelt mit Inflation und Verschlechterung der
Außenhandelsbilanz, das ist eine Kombination, die den
Handlungsspielraum der Regierung stark einschränkt.
Und da es sich um eine unter ökonomischen Gesichtspunkten sehr konservative Regierung handelt, die ihr
Schwergewicht darauf legt, die öffentlichen Ausgaben
zu kontrollieren und Anreize für das Kapital zu geben,
sind die entsprechenden Resultate ärmlich.
Es gibt einen Aspekt Deiner Frage, mit dem ich
sehr einverstanden bin. Es ist klar, dass die Mobilisierungen nicht ausschließlich, und vielleicht auch nicht
grundsätzlich, durch die relativ schlechte ökonomische Situation erklärt werden können (obwohl die
Transportpreise im öffentlichen Verkehr im Vergleich
zur Kauf kraft der Bevölkerung tatsächlich erhöht
wurden). Die Empörung über die Unterdrückung der
Demonstrationen auf der einen und die Verteidigung
des Rechtes auf Demonstration andererseits … hatten
dabei auch ein starkes Gewicht.
Und ein starkes Gewicht hatte auch das, was die
Frage unterstellt, und was ich nicht bezeichnen würde
als „die Mittelklasse, die sich nicht repräsentiert fühlt“,
sondern mehr als den generellen Verlust der Legitimität des politischen Systems. Ein großer Teil der Bevölkerung fühlt, dass die Mehrheitsparteien überall mehr
oder weniger die gleiche Politik machen (was sich
beispielsweise deutlich gezeigt hat durch die sehr ähnliche und generell gemeinsame Vorgehensweise der
Amtsträger, die direkt für den öffentlichen Transport
verantwortlich sind (wie in São Paulo der Bürgermeister Fernando Haddad von der PT, und der Gouverneur
Geraldo Alckmin von der PSDB).
Es ist richtig, dass die Zentralregierung in den letzten Jahren eine mehrheitliche Unterstützung genoss,
besonders bei den Wahlen. Aber es gab öffentliche
Umfragen unmittelbar vor den jetzigen Mobilisierungen, die einen deutlichen Rückgang dieser Unterstützung anzeigten. Und der Bereich, der die Regierung
weniger unterstützt, ist gerade der mittlere Bereich
der Arbeitslosen (ein Teil des Proletariats also) und
54 Inprekorr 5/2013
die Mittelklasse. Die Regierung genießt eine größere
Unterstützung bei den Arbeitslosen, die am unteren
Rande der Gesellschaft stehen, bei den Ärmsten also,
dem Sektor, den einige Analysten „Subproletariat“
nennen. Aber bis zu einem Teil dieses Sektors hin
dehnte sich die Rebellion aus – genauer gesagt, die
Initiativen für Aktionen gegen den Handel und die
Banken, das Anzünden von Autos … das kommt von
dort – und es zeigt, dass man sich dort ausgebeutet und
unterdrückt fühlt.
Welche sozialen Sektoren dominieren die
Ökonomie? Hat von dem ökonomischen
Wachstum Brasiliens die ganze Gesellschaft
profitiert?
Die brasilianische Ökonomie wird von einer Allianz
zwischen dem Finanzkapital, dem großen industriellen Kapital und dem Agrobusiness (der großen
Landbourgeoisie) dominiert, sowohl auf nationaler
wie internationaler Ebene, wobei es einige Widersprüche zwischen diesen gibt. Für das industrielle Kapital
beispielsweise bereitet die Politik der Überbewertung
des Real Probleme, weil es den Wettbewerb gegenüber
den Importen erschwert. Aber da dieses Kapital die
generelle neoliberale Ausrichtung der ökonomischen
Politik der Regierung akzeptiert, hat sie nicht viel Anlass, auf eine Änderung dieser Politik zu drängen.
Das ökonomische Wachstum Brasiliens in den
letzten Jahren – das tatsächlich stattfand, auch wenn es
deutlich geringer ist, als das, was die Propaganda der
Regierung und die Elogen seitens der internationalen
Bourgeoisie suggerieren – hat vor allen Dingen dem
Finanzkapital und dem Agrobusiness geholfen. Aber
es wurde auch etwas an die Armen in der Gesellschaft
verteilt, in erster Linie über eine Ausdehnung der Sozialhilfe (das bedeutendste unter diesen Programmen
ist das, was als „bolsa familia“ [etwa: Familienpaket;
Anm.d.Ü.] bekannt ist) und durch die Anhebung des
Mindestlohns, die tatsächlich deutlich war (und das hat
auch Folgen für diejenigen, die Renten erhalten, weil
diese an das Mindestgehalt gekoppelt sind). Dieses sind
die wesentlichen Gründe für die größere Unterstützung, die die Zentralregierung in den ärmsten Schichten der Bevölkerung hat. Hinzu kommt, dass, obwohl
insgesamt die Situation der öffentlichen Leistungen
nicht gut ist, die Regierung die Ausgaben für die staatlichen Universitäten angehoben hat und eine Politik
der Stipendien verfolgt, die den Zugang der ärmeren
Br a silien
Schichten auch zu den Privatuniversitäten erleichtert
hat.
Verloren haben die Menschen mit mittlerem
Einkommen und die mit den etwas höheren, besonders die Angestellten im öffentlichen Dienst. Das ist
einer der Gründe, aus denen die, die als „Mittelklasse“
charakterisiert werden können (was einen Teil des Proletariats einschließt, einschließlich der Arbeiter), eine
deutlich schlechtere Meinung von der Regierung haben. Es haben auch andere Sektoren verloren, wie die
Bauern und die indigene Bevölkerung (die in Brasilien
sehr zahlreich ist), weil die Regierung die Großagrarier fördert und nicht die bäuerliche Landwirtschaft. Die
Zentralregierung lässt einen tatsächlichen Genozid an
der indigenen Bevölkerung zu – es gibt zahllose Morde an Ureinwohnern durch die großen Grundeigentümer, und die Regierung toleriert das -, weil die großen
Landeigentümer (das Agrobusiness) ein wichtiger Teil
der Allianz sind, die die so genannte „Regierungsfähigkeit“ garantieren soll.
die Abhängigkeit vom Imperialismus noch die kapitalistischen Widersprüche aufgelöst. Und die Kontrolle
über „die da unten“ von Seiten der PT einschließlich
ihrer Alliierten und der von ihr geführten Organisationen währt nicht ewig. Diese gesamte Strategie
hat die Arbeiterbewegung und die Volksbewegung
geschwächt und diese Situation wird für einige Jahre
anhalten, bis sie sich reorganisiert haben. Bisher war
das für die PT sekundär, weil sie mit einer erheblichen
Wahlunterstützung rechnen konnte, die sie mittels der
breiten Allianz ausbauen konnte, die sie mit der Rechten eingegangen ist.
Es gibt noch andere Aspekte der Regierungsstrategie, die sehr negativ sind. Das eine, was erwähnt
werden muss, ist die Missachtung von Umweltfragen,
verschärft durch die Allianz mit Sektoren der Agroindustrie. Das andere ist die Öffnung eines Raumes für
die fundamentalistische religiöse Rechte, was durch
die Bedeutung hervorgerufen wurde, die sie in den
Allianzen der PT hat.
Was ist deine Bilanz betreffend die PT an der
Macht?
Ich glaube, es ist möglich, die Linie der PT-Regierungen folgendermaßen zusammenzufassen: Man
macht Konzessionen an „die da unten“, unter der
Bedingung, dabei nicht in eine Konfrontation mit
den herrschenden Klassen einzutreten, was bedeutet,
dass man keinen grundsätzlichen Wandel der neoliberalen Orientierung der Politik vornimmt, die
von eben diesen Klassen favorisiert wird. Das ist eine
grundsätzlich konservative Orientierung. Solange die
wirtschaftliche Situation, das ökonomische Wachstum,
das zulässt und solange der Einfluss von Lula, der PT
und der Organisationen, die von ihr gesteuert werden,
auf das Bewusstsein der Arbeiter und der unterdrückten Schichten der Gesellschaft bestehen bleibt, ist es
möglich, etwas an „die da unten“ abzugeben, ohne
„denen da oben“ etwas wegzunehmen. Lula scheint
zu glauben, und er scheint die PT davon überzeugt zu
haben, dass es mehr oder weniger möglich ist, für alle
zu regieren, indem man den Klassenkampf durch Verhandlung (vor allem mit denen da oben) und Kontrolle
(für die da unten, wenn es mit Verhandlungen nicht
geht) ersetzt. Zu einem gewissen Zeitpunkt – und der
scheint gekommen zu sein – ist diese Linie ausgereizt.
Schließlich haben die PT-Regierungen weder die tiefen Widersprüche der brasilianischen Gesellschaft noch
Wann und wie sind die Proteste entstanden?
Was sind ihre Ziele?
Es gibt viele verschiedene Zielvorstellungen, und teilweise widersprüchliche, die zu verschiedenen Zeitpunkten auftauchten. Aber wir können feststellen, dass
das Zentrum der Bewegung die Stadt São Paulo war,
und dass die Forderung, die den Ausgangspunkt der
Mobilisierungen bildete, diejenige nach der Rücknahme der Preiserhöhung für den städtischen Transport
war, einer Erhöhung von 3 auf 3,20 Reales (ein Euro
entspricht etwa 2,95 Reales). Die erste Demonstration
fand am 6. Juni statt. Auf der Grundlage dieser Forderung gab es zwei weitere Demonstrationen, die größer
waren, aber noch ohne ein außergewöhnliches Ausmaß anzunehmen. Es handelte sich um einige 1000
Teilnehmer. An 13 die gab es dann eine sehr große
Demonstration (mindestens 15 000 Teilnehmer) und
darauf hin setzte eine erheblich stärkere polizeiliche
Repression ein, als bei den vorherigen Demonstrationen. Es gab mehr als 250 Verhaftungen und einige Dutzend Verletzte durch Gummigeschosse oder
Gummiknüppel. Auch einige Journalisten wurden
verhaftet oder verletzt. Die Fotografie eines Journalisten, der durch ein Gummigeschoss am Auge verletzt
wurde, fand weite Verbreitung. Ab diesem Zeitpunkt
entwickelte sich das rasante Wachstum der Mobilisierung in São Paulo und die Ausdehnung der Bewegung.
Inprekorr 5/2013 55
Br a silien
Auf der folgenden Demonstration in São Paulo, am 17.
Juni, war neben der Forderung nach Rücknahme der
Preiserhöhung eine zentrale Achse der Protest gegen
die Gewalttätigkeit der Polizei. Zwischen dem 13. und
dem 17. Juni gab es eine große Welle der Sympathie
mit den Protesten, und es zeigte sich eine starke soziale
Unterstützung gegen die Gewalttätigkeit der Polizei
und für das Recht auf Demonstration. In diesen Tagen
gab es auch einen Wandel in der Darstellung der großen Kommunikationsmedien, die von einer offenen
Feindseligkeit gegen die „irreale“ Forderung zu einer
gewissen Sympathie (obwohl sie immer noch behaupteten, dass die Preiserhöhung ja „gering“ sei) umschwenkten und die vor allem die Verantwortung für
die gewalttätigen Akte der Demonstranten der Polizei
und ihren „Exzessen“ zuschrieben.
Das war dann der Punkt, an dem die Regierung des
Bundesstaates beschloss, ihre Linie zu ändern und die
Repression (teilweise) auszusetzen. Die entstandene
Solidarität mit den Demonstrationen, die Empörung
über die Gewalttätigkeit der Polizei, die geänderte
Haltung der Kommunikationsmedien – all das begünstigte die Ausweitung der Proteste auch auf die
nationale Ebene (die Presse zählte Demonstrationen in
mehr als 400 Städten), und auch die Ausweitung der
Forderungen. Wie ich schon gesagt habe, rückte die
Frage der Repression ins Zentrum, gleichberechtigt
mit der Forderung betreffend den öffentlichen Transport, die beliebteste Parole war: „qué coincidencia, sin
policía no hay violencia“ (“was für ein Zufall – ohne
Polizei keine Gewalttätigkeit”). Denn diese Demonstration, war über fast ihre gesamte Dauer ausgesprochen friedlich. Bei der Demonstration am Montag,
den 17. Juni war dann ein anderes bedeutendes Thema
der Protest gegen die exorbitanten Ausgaben für die
Fußballweltmeisterschaft und den Confederation Cup.
Es gab viele Parolen von dem Typ: „ich will keinen
Ball, ich will eine Schule“. (Portugiesisch: não quero
bola, quero escola). Auch gab es Parolen, die hervorhoben, dass Gesundheit und Erziehung wichtiger als
Fußball seien. Daneben hatten dann auch noch andere
Parolen ein Gewicht, die sich gegen die Homophobie
richteten, ein Thema, das in den Monaten zuvor viel
Protest als Reaktion auf die Haltung der fundamentalistischen religiösen Rechten hervorgerufen hatte. (Es
gibt derzeit eine große Mobilisierung der öffentlichen
Meinung gegen das Projekt eines Gesetzes, das es erlaubt, die Homosexualität als Krankheit zu behandeln,
56 Inprekorr 5/2013
das von der fundamentalistischen religiösen Rechten
verteidigt wird.). Gleichzeitig tauchten dann immer
stärker Parolen gegen die Korruption auf. Vermutlich
ist dies nicht allein auf die allgemeine Volksmeinung
zurückzuführen, sondern auch auf eine gewisse Linie
der Rechtspresse. Die Wochenendausgabe der größten und am weitesten rechts stehenden Zeitung des
Landes, „Veja”, vom 15./16 Juni titelte auf der ersten
Seite: „Die Jugendrevolte – nach den Transportpreisen
geht es jetzt gegen Korruption und Kriminalität „.
Andere Presseorgane gingen nicht so weit, der Jugend
vorzuschlagen, gegen die Kriminalität zu kämpfen
(das heißt, für mehr Polizei), aber sie griffen auch die
Frage der Korruption auf. Bei den Demonstrationen
von 17. Juni tauchten dann auch Gruppen auf, die
klar aus der extremen Rechten stammen und die mit
Provokateuren der Polizei zusammenarbeiteten, wenn
auch wenig offensichtlich. All das hat letztendlich das
allgemeine Gefühl „gegen die Parteien“ verstärkt und
auch prinzipiell gegen das Auftauchen ihrer Fahnen.
Ab dem Donnerstag den 20. Juni verstärkte sich die
Präsenz der rechten Gruppen. In dem Maße, in dem
sich die Demonstrationen massiv ausweiteten und sich
aufs ganze Land ausbreiteten (schon am Montag, den
17. Juni fanden laut Presse Demonstrationen in vielen
Hauptstädten des Landes und anderen Städten statt mit
sicher mehr als 100 000 Teilnehmern in São Paulo und
mehr als 100 000 in Rio de Janeiro), begannen sie sich
auch zu diversifizieren und es begannen sich deutliche
Widersprüche zu entwickeln.
Gibt es Ähnlichkeiten mit den Demonstrationen der so genannten Indignad@s in anderen
Ländern?
Sicher gibt es Ähnlichkeiten zwischen den Protesten in
Brasilien und den Bewegungen der Indignados anderer
Länder. Es handelt sich vor allem um Jugendbewegungen (obwohl es vielleicht in Brasilien seit dem 17. Juni
eine stärkere Präsenz von Gruppen höheren Alters
gibt); alle haben sich durch die neuen Medien wie
Facebook und andere vernetzt. Es gibt ein Gefühl der
Entwürdigung gegenüber der Ungerechtigkeit und das
ist eine starke Komponente für die Motivation der Bewegung. Aber es gibt natürlich viele Besonderheiten in
Brasilien, zum Beispiel glaube ich nicht, dass in einem
anderen Land die Bewegung der Indignados sich gegen
eine Regierung einer Partei mit der Geschichte der PT
richtet. Außerdem ist es möglicherweise in Brasilien
Br a silien
so, dass wir es mit einem Netz von „nicht-traditionellen“ sozialen und Volksorganisationen verschiedener
Herkunft zu tun haben, das stärker ist als in anderen
Ländern.
Was sind die sozialen Sektoren, die die ursprüngliche Basis der Mobilisierungen bilden, was sind Ihre Kampfformen und was ist
ihre Organisationsform?
Der Ausgangspunkt der Bewegung gegen die Erhöhung der Transportpreise in São Paulo war das Movimento Passe Livre (MPR, das heißt, eine Bewegung
für kostenlosen öffentlichen Transport). Diese Initiative existiert seit 2005 und hat bereits mehrmals öffentliche Mobilisierungen angestoßen, aber niemals von der
Breite wie jetzt. Es handelt sich um eine Bewegung,
die sich als parteilos und nicht- hierarchisch definiert,
aber nicht als parteienfeindlich. Im Allgemeinen hatte
sie immer gute Beziehungen zu den mehr links stehenden Parteien, wie der PSOL und der PSTU. De facto
haben PSOL und PSTU die Mobilisierungen vom 6.
Juni unterstützt und dabei mit dem MPL zusammengearbeitet, auch einige Sektoren der PT haben sich
angeschlossen. Jugendorganisationen, die der PSOL
nahe stehen (in denen also jugendliche Mitglieder der
PSOL mitarbeiten), waren ein wichtiger Teil dabei.
Von Anfang an haben auch Sektoren der Anarchisten mitgearbeitet. Die soziale Basis des MPL ist vor
allem die Jugend der so genannten Mittelklasse (daraus
besteht auch die Mitgliedschaft des MPL). Es handelt
sich zweifellos um eine linke Bewegung und um eine,
die generell links von der PT steht. Nach dem 13. Juni
schlossen sich zahlreiche andere Bewegungen und
Organisationen den Mobilisierungen an und haben
an den entsprechenden Versammlungen teilgenommen. In São Paulo war das das MTST (Bewegung
der wohnungslosen Arbeiter) und die Bewegung
Periferia Activa, die Menschen aus der Peripherie der
Stadt organisieren, die keinen Zugang zu Wohnungen haben. Außerdem haben zu den Mobilisierungen
Teile der Frauenbewegung und der LGTB-Bewegung
aufgerufen, und auch verschiedene Jugendinitiativen.
Auch die Regierungslinke hat das getan (Sektoren der
PT und der PCdoB). Die Beteiligung der Anarchisten
wurde größer. Andererseits haben, wie bereits gesagt,
bestimmte Gruppen der extremen Rechten angefangen, sich mit dem Ziel zu beteiligen, die Zielrichtung
der Bewegung zu ändern.
In anderen Städten ist das Spektrum, das zu den
Kundgebungen aufrief, ähnlich: Kollektive, die für
kostenlosen Nahverkehr oder gegen die Preiserhöhungen beim öffentlichen Transport kämpfen (das
MPL existiert nicht im ganzen Land, in den unterschiedlichen Städten gibt es ähnliche Initiativen), in
Zusammenarbeit mit den Parteien der Linken. In
vielen Städten gibt es Volkskomitees zum Weltcup,
die seit mehr als zwei Jahren eine kritische Mobilisierung nicht nur gegen die exorbitanten Ausgaben für
die Fußballweltmeisterschaft, sondern auch gegen die
Verletzungen der Rechte der Bevölkerung, die für
die entsprechenden Bauarbeiten umgesiedelt werden,
und gegen die Ausnahmegesetzgebung für die Weltmeisterschaft (auf Forderung der FIFA) und anderes
durchführen. In vielen Städten haben diese Komitees
(und sie tun es noch) sich in bedeutendem Maße an
den Aufrufen zu den Kundgebungen beteiligt. In der
Tat wurden auf Druck der FIFA Demonstrationen am
brutalsten von der Polizei unterdrückt, die in der Nähe
der Stadien stattfanden, in denen der Confederation
Cup ausgetragen wurde, generell kann man sagen, dass
in der vergangenen Woche mehr Menschen außerhalb
der Stadien protestiert haben, als die Spiele gesehen
haben.
Welche Beziehungen hat die aktuelle Bewegung zu den sozialen Bewegungen: zu den
Landlosen, den Wohnungslosen etc.? Gibt es
eine Verbindung zwischen dieser Bewegung
und anderen sozialen Sektoren?
Wie ich es bereits in der Antwort auf die vorherige Frage
erklärt habe, gibt es eine bedeutende Beteiligung der
Bewegungen der Wohnungslosen, der Jugendlichen, der
Einwohner der Peripherie und der Volkskomitees zur
Weltmeisterschaft. In einigen Städten hat die Bewegung
der Landlosen die Demonstrationen unterstützt, allerdings wird sie in erster Linie von der städtischen Bevölkerung getragen. Andererseits gibt es keine oder zumindest keine gute Beziehung der aktuellen Bewegung zur
organisierten Arbeiterbewegung. Man kann sagen, dass
man eine Beteiligung der Arbeiterklasse als Klasse nicht
feststellen kann, obwohl die CUT (und ich glaube, dass
auch andere Gewerkschaftszentralen) begonnen haben,
formal die Demonstrationen zu unterstützen. Ich glaube
dass die größte Schwierigkeit – und das betrifft auch in
gewisser Weise die Beziehungen zwischen der Bewegung, die sich in den Demonstrationen ausdrückt, und
Inprekorr 5/2013 57
Br a silien
dem MST – die Kontrolle der CUT durch die Zentralregierung und die enge Beziehung des MST zu eben dieser
Regierung sind. Natürlich ist der Ton der Bewegung
sehr gegen die Zentralregierung gerichtet (und gegen die
Bundesstaatsregierungen und die Bürgermeister sowieso).
In Europa ist man perplex, dass ausgerechnet
im Land des Fußballs Menschen zum Zeitpunkt der Weltmeisterschaft mobilisieren und
weniger Fußball und mehr Investitionen in
andere Sektoren (Erziehung, Gesundheit etc.)
fordern. Wie erklärst du Dir das?
In der Tat war das Ausmaß der Demonstrationen auch
für uns selbst eine Überraschung. Aber es ist nicht
schwer, das zu erklären. Dieser Confederation Cup
(und noch deutlicher wird das bei der Weltmeisterschaft
sein) findet nicht statt, damit das Volk daran teilnehmen
kann. Die Eintrittspreise sind sehr teuer. Hinzukommt,
und das ist noch wichtiger, dass der ganze Prozess der
Organisierung der so genannten Megaevents (Fußballweltmeisterschaft, Olympiade, Confederation Cup) ein
riesiger Skandal ist und das Gerechtigkeitsgefühl der
Bevölkerung verletzt. Die Ausgaben sind riesig, die Profite der Unternehmen ebenso, die Forderungen der FIFA
betreffend die Sicherheitsvorkehrungen – praktisch ein
Ausnahmezustand – sind absurd. Ein Teil der Bevölkerung leidet unter Umsiedlungen als Folge der Bauarbeiten. Ich glaube, dass der Confederation Cup, anstatt als
Dämpfer für die Mobilisierungen zu wirken, sie noch
erheblich verstärkt hat. Das Gerechtigkeitsgefühl, die
Empörung gegen die Ungerechtigkeiten waren unter
den Leuten sehr viel größer als die Lust auf Fußball.
Was ist die Antwort der Regierungen auf die
Forderungen der Bewegung? Gibt es Widersprüche im Staatsapparat?
Die Regierung, oder besser, die verschiedenen Regierungen der verschiedenen Parteien im ganzen Land, sind
in der Frage der Nahverkehrspreise zurückgewichen.
Was dieses Ausgangsthema betrifft, hat die Bewegung
einen klaren und schnellen Sieg errungen. Darüber hinaus hat am 21. Juni die Präsidentin der Republik versprochen, „die Stimme der Straße zu hören …“ allerdings hat
sie auch gesagt, dass sie „keinen Aufruhr dulden“ werde
und darüber hinaus die Sicherheit der Spiele des Confederation Cups garantiere, und sie hat einen „nationalen
Pakt für die öffentlichen Dienstleistungen“ vorge58 Inprekorr 5/2013
schlagen. Das heißt nichts anderes, als dass sie keinerlei
Änderung der politischen Orientierung vorhat, sondern
lediglich sagt, dass sie vorhat, die Dinge effizienter zu
gestalten und besser zu koordinieren, also nichts anderes
als das, was sie bereits mit den Gouverneuren der Bundesstaaten und den Bürgermeistern tut. Es ist zu früh, um zu
sagen, ob das irgendeine Konsequenz hat. Die Demonstrationen gehen weiter und es sind noch mehr für die
nächsten Tage angekündigt (am 24. Juni hat die Präsidentin versprochen, ein Referendum zu organisieren, das den
Weg für eine Verfassungsreform öffnen soll).
In den Reaktionen der unterschiedlichen Regionalregierungen unterschiedlicher Parteien (die PT und ihre
Alliierten, sowie die rechte Opposition) gibt es erheblich
mehr Übereinstimmungen als Unterschiede. Ich glaube
nicht, dass man da von wirklichen Widersprüchen im
Staatsapparat sprechen kann.
Welche Beziehungen gibt es zwischen der
Bewegung und der Linken? Glaubst du, dass
die Bewegung von der Rechten vereinnahmt
werden kann?
Ich habe vorhin bereits zu dieser Frage Stellung genommen. Die Bewegung hat eine klare parteiunabhängige
Richtung (in dem Sinne, dass sie ein starkes Misstrauen
gegenüber einer Beziehung zu Parteien hat), obwohl
man sie in keiner Weise als unpolitisch bezeichnen kann.
Die ursprüngliche Grundtendenz der Bewegung war
ganz klar links: Die Parole des kostenlosen öffentlichen
Nahverkehrs (oder die Rücknahme der Preiserhöhung)
ist ganz klar eine linke Forderung. Andere Themen der
Bewegung, wie die Kritik der exorbitanten Ausgaben
für die Weltmeisterschaft, die Forderung nach besserer
Gesundheitsversorgung und Erziehung, sind ebenfalls
linke Forderungen, ebenso wie die Parolen gegen die
Homophobie beispielsweise. Andererseits begann die
Rechte, einschließlich der extremen Rechten, ab dem
Zeitpunkt der Demonstration vom 13. Juni in São Paulo,
als klar wurde, dass die Bewegung einen großen Zulauf
bekam, ebenfalls zu mobilisieren, mit dem Ziel, sie zu
kontrollieren, indem sie sie über die Kommunikationsmedien unterstützte und direkt an den Demonstrationen
teilnahm. Am 20. Juni führte die aggressive Präsenz von
Gruppen der extremen Rechten, mit der Kollaboration
von Polizeiprovokateuren, in vielen Städten, vor allem
in São Paulo und Rio de Janeiro, wo die größten Demonstrationen stattfanden, zu einem teilweisen Erfolg,
insofern, als Teilnehmer mit Fahnen von Parteien oder
Br a silien
Bewegungen aus der Demonstration ausgeschlossen
wurden. In São Paulo fing das mit den Fahnen der PT
an, aber danach wurde es auf die Fahnen anderer Parteien
und Bewegungen ausgeweitet. Und es kam bis zu dem
Punkt, dass selbst Leute, die schlicht rot gekleidet waren,
angemacht wurden.
Diese Aggressionen entwickelten sich auf der
Grundlage eines spontanen Gefühls des Misstrauens
gegenüber den Parteien, das mindestens zwei verschiedene Gründe hat: Da ist zum einen der Prestigeverlust
der institutionalisierten Parteien (bis hin zu Leuten,
die die Regierung unterstützen, gibt es eine generell
negative Sicht der Parteien, die sie bilden) und zum
anderen das, was man, aus gutem Grund, als Opportunismus der mehr links stehenden Parteien ansieht,
die, indem sie mit großen Fahnen auftauchen und sich
an die Spitze der Demonstration stellen, den Eindruck
vermitteln wollen, dass ein großer Teil der Leute, die
demonstrieren, sie unterstützt. Und hinzukommt, dass
dieses Gefühl durch die großen bürgerlichen Kommunikationsmedien verstärkt wurde, die versuchen, die
Stimmung zu erzeugen, dass sich „alle unter der brasilianischen Flagge versammeln müssen“.
Ich glaube nicht, dass die Bewegung von der Rechten
okkupiert wurde, jedenfalls ist das derzeit nicht der Fall.
Was stattfindet, ist eine große Auseinandersetzung um
Orientierungen und Forderungen. Es ist wichtig, darauf
hinzuweisen, dass das, was bis jetzt konkret erreicht
worden ist, Siege der Linken sind, beispielsweise die
Rücknahme der Fahrpreiserhöhungen im ganzen Land.
Es ist interessant, dass die Ankündigung der Rücknahme
in São Paulo und Rio de Janeiro und in anderen verschiedenen Städten bereits am 19. Juni bekannt gegeben wurde
(andere Städte hatten dies bereits vorher getan). Trotzdem
wurde in diesen Städten die für den 20. geplante Demonstration „zur Erinnerung“ durchgeführt. Das Gefühl
des Sieges führte zu einer noch höheren Teilnahme an der
Demonstration (die Presse sprach von mehr als 300 000
Personen in Rio de Janeiro beispielsweise), aber gleichzeitig führte das dazu, dass es keine klare, vereinheitlichende
Forderung gab.
Ein zentraler Punkt ist, dass wichtige Teile der Bevölkerung die Erfahrung gemacht haben, an Massenmobilisierungen teilzunehmen, die zu Siegen geführt haben
– und das hat Ihnen gefallen. Das kann zwar mittelfristig
zu einer Erschöpfung führen, aber ich glaube nicht, dass
das von der Rechten vereinnahmt werden kann.
Welche Probleme hat die PT mit dieser Bewegung?
Die Situation der PT ist sehr schwierig, zumindest derzeit, es gibt keinen Zweifel, dass sie die Partei ist, die am
meisten durch diese Mobilisierungen verloren hat. Vor
allem hat sie einen guten Teil ihrer Argumentation der
letzten Jahre verloren: Sie kann nicht weiter behaupten,
dass es einen Prozess des Fortschritts in Brasilien gebe
und dass die Bevölkerung zufrieden sei. Und eine ihrer
zentralen Orientierungen, nämlich die Politik der „Megaevents“, ist komplett gescheitert. Der Confederation
Cup, gedacht als eine Gelegenheit, ihr Prestige zu erhöhen, hat stattdessen zu erheblichem Unwillen geführt.
Es ist das erste Mal in ihrer Geschichte, dass die PT
sich großen Massenmobilisierungen gegenübersieht,
die ihr gegenüber feindlich sind. Seit dem Beginn der
Regierung Lula – und schon bei der sehr konservativen Rentensreform – war die PT es gewöhnt, Front
gegen Streiks und Mobilisierungen zu machen, die sich
gegen ihre verschiedenen Regierungen richteten. Viele
Male, mit Unterstützung des größten Teiles der Gewerkschaftsführungen, hat sie verhandelt, zu anderen
Gelegenheiten hat sie zur Repression gegriffen. Aber
eingeschlossen die große Mobilisierung gegen eine ihre
Regierungen – gegen die konservative Rentensreform –
kann man das Ausmaß der derzeitigen Mobilisierungen
mit nichts zuvor vergleichen.
Offensichtlich hat das eine tiefe Verunsicherung in
der PT ausgelöst. Vor dem 20. Juni lancierte der Präsident der Partei, Rui Falcão, einen Aufruf an die Mitgliedschaft der PT, dass sie an den Demonstrationen mit
ihren Fahnen teilnehmen solle. Das Resultat war ein
Desaster: ein großer Teil der Teilnehmer sah das als eine
Provokation an und das war einer der Gründe, die es den
Gruppen der extremen Rechten erleichterten, den Ausschluss der Teilnehmer durchzusetzen, die Parteifahnen
(und Fahnen von Bewegungen) trugen.
Derzeit ist die vorherrschende Tendenz in der PT und
vor allem in den Sektoren, die sie von einer mehr links
stehenden Position unterstützen, wie es der MST in den
letzten Jahren getan hat, zur Einheit der Linken aufzurufen (was heißt, Einheit mit der Linksopposition gegen die
PT Regierungen) um eine gemeinsame Front „gegen
die Rechte“ zu bilden. Aber das ist sehr widersprüchlich angesichts der Tatsache, dass die PT-Regierungen
keinerlei Zeichen einer Änderung ihrer Orientierung
erkennen lassen. Sie behalten die gleiche Linie bei, die
die Demonstrationen hervorgerufen hat (und immer
Inprekorr 5/2013 59
Br a silien
noch hervorruft). Es ist offensichtlich, dass die Linksopposition gegen die Regierung der PT eine Allianz auf
einer solchen Basis nicht akzeptieren kann.
Welche Probleme stellen sich nun der radikalen Linken in dieser Bewegung? Was sind die Herausforderungen, denen sich die Mobilisierung gegenübersieht, damit
es nicht bei einem einmaligen Ereignis ohne Zukunft
bleibt? Eine erste Frage ist, zu einem wirklichen Verständnis dessen zu kommen, was sich abspielt. Auch die
radikale Linke war überrascht von der Breite der Mobilisierung und der Komplexität des Kampfes, der sich
derzeit zwischen Sektoren der Linken und der Rechten
bei den Demonstrationen abspielt. Aber wir kommen,
glaube ich, voran beim Verständnis der Situation.
Eine zweite Frage ist das Verhältnis zur PT und
ihren Satellitenparteien, wie der PCdoB. betreffend die
Frage: welche Einheit der Linken? Es gibt einen gewissen Druck der Sektoren, die eine „Einheit der Linken“
anstreben. Derzeit gibt es eine Debatte in verschiedenen
Teilen der radikalen Linken, aber ich glaube, die dominierende Position ist klar und korrekt: Wir können
kein Allianz mit Sektoren eingehen, die, auch in kritischer Form, die Regierungen der PT unterstützen. Die
Einheit der Linken, die wir anstreben müssen, ist die
mit Sektoren, die sich in Opposition zu den Regierungen der PT befinden (und natürlich auch in Opposition
zu den Regierungen der Rechten, die in Opposition
zur Zentralregierung stehen). Das schließt die anarchistischen Strömungen ein, die Parteilosen und die
Bewegungsorientierten wie den MPL von São Paulo.
In diesem Rahmen darf man auf keinen Fall in die Falle
laufen, in eine Diskussion um Parteienfahnen zu geraten. Zwar haben die Parteien das Recht, ihre Fahnen zu
tragen, aber zum jetzigen Zeitpunkt gilt es, die beste Art
und Weise zu finden, auf der einen Seite die Legitimität
der Teilnahme von Parteimitgliedern bei den Mobilisierungen zu sichern, ohne den Eindruck zu erwecken
(und in vielen Fällen handelt es sich nicht nur um einen
Eindruck), als Anführer der Bewegung auftreten zu
wollen und auf wenig ehrliche Weise den Eindruck
zu verbreiten, das alle Teilnehmer die oder jene Partei
unterstützen würden. Es gibt andere Parteisymbole, die
mehr akzeptiert sind, wie z.B. T-Shirts. Das Zentrum
des Kampfes ist nicht die Frage der „Parteiabzeichen“,
sondern die politische Orientierung der Bewegung, ihre
Überzeugungen und Forderungen.
Damit sind wir bei einer anderen Herausforderung,
nämlich der, herauszuarbeiten (zusammen mit allen
60 Inprekorr 5/2013
Sektoren, die die Bewegung vorwärts treiben), was die
besten Grundlagen und Forderungen sind, um weiter
voran zu kommen. Es gibt einige mehr oder minder
klare Ideen. Die Frage des öffentlichen Verkehrs – die
komplette Kostenfreiheit zu fordern, oder vielleicht
Kostenfreiheit für junge Leute oder etwas in dieser
Richtung, die Frage der Transportqualität – all das
bleibt eine wichtige Achse.
Diese Woche stehen zwei oder drei prioritäre Fragen
auf der Tagesordnung: die Proteste gegen den Confederation Cup (und generell die Ausgaben für so genannte
Megaevents) und der Kampf gegen die Gesetzesvorlage,
die es erlaubt, Homosexualität wie eine Krankheit zu
behandeln, die von der fundamentalistischen religiösen
Rechten verteidigt wird. Es gab schon eine sehr große
Demonstration in São Paulo explizit zu diesem Thema
(am 21. Juni) mit mehr als 10 000 Personen, und das ist
ein Thema, das in vielen der Demonstrationen präsent
war. Das Thema stand auf der Tagesordnung der Abgeordnetenkammer, und viele Abgeordnete beginnen
bereits, Erklärungen abzugeben, dass man sich dagegen
aussprechen muss. Ein kurzfristiger Sieg scheint hier
durchaus wahrscheinlich.
Und schließlich ist die härteste Herausforderung der
Kampf gegen die Rechte (speziell gegen die Kommunikationsmedien) und gegen die Gruppen der extremen
Rechten. Ein Weg, das hinzubekommen, ist, zu Demonstrationen mit klaren Grundlagen und Forderungen
aufzurufen, in denen sich die Teilnehmer wiederfinden,
die nach links neigen, und bei denen die Gruppen der
rechten und extremen Rechten, wenn sie teilnehmen,
isoliert sind.
Die Einheit der Linken außerhalb des Regierungslagers ist ein anderer Weg, Front gegen die Rechte zu
machen. Außerdem ist es nötig, mehr auf die organisatorischen Aspekte zu achten, wie den Schutz der Demonstranten gegen Provokationen.
Wie würdest du die heutige politische Situation in
Brasilien definieren?
Es gibt Anzeichen, dass die Politik der PT an der Macht
– so wie ich sie vorhin zusammenfasste: ein bisschen was
an „die da unten“ abzugeben, unter der Bedingung, dass
man dabei nicht in einen Konflikt mit der herrschenden
Klasse kommt – sich erschöpft hat: Die PT wurde zweifellos am meisten von allen Parteien durch die Demonstrationen beeinträchtigt, obwohl andere Parteien in der
Regierung, die mit der PT zusammenarbeiten (wie die
Br a silien
PMDB des Gouverneurs von São Paulo) ebenfalls betroffen wurden.
Ich glaube nicht, dass es derzeit die Möglichkeit eines
„Rechtsputsches“ gibt, wie es einige Sektoren der PT
behaupten. Die Rechte hat keinerlei Grund, einen Putsch
anzustreben: Die Regierung der PT mag zwar nicht die
Regierung ihrer Träume sein, aber sie ist im Großen und
Ganzen nicht schlecht für sie. In der derzeitigen Krise
haben sich die Parteien der Rechten sehr ähnlich verhalten wie die PT. Was die Rechte interessiert, ist, die Krise
auszunützen, um die PT zu diskreditieren (in der Presse wird sehr viel von Korruption geschrieben, was den
Eindruck erwecken soll, dass das Problem der Korruption
einer Frage mehr auf der Ebene der Zentralregierung, als
auf der der Bundesstaaten sei) und sich damit eine bessere
Ausgangsposition für die nächsten Wahlen zu verschaffen.
Es ist nicht klar, wohin die Bewegung gehen wird,
und auch nicht, in welcher Weise sie eine Veränderung
der Kräfteverhältnisse darstellen kann. Es gibt Anzeichen,
dass die Bewegung die Kraft hat, weiter vorwärts zu gehen, dass sie noch weitere Siege einfahren kann, aber es ist
nicht wahrscheinlich, dass sie allein einen grundsätzlichen
Wandel in Gang setzen kann. Der wesentliche limitierende Faktor ist, dass, obwohl der Verlust an Legitimität
des politischen Systems sehr ausgeprägt ist, die Bewegung
sich nicht das Ziel setzt, das politische Regime oder die
Regierung zu verändern, und dass wir weit entfernt von
der Forderung sind: „Sie sollen alle abhauen“.
Andererseits ist es sicher, dass es einen Wandel in den
Kräfteverhältnissen geben wird als Folge der Mobilisierung. Die PT und ihre Satelliten haben viel verloren, die
rechte Opposition hat auch verloren, obwohl weniger.
Die Organisationen der sozialen Bewegungen, die der PT
und ihren Alliierten näher stehen, wie die CUT, und die
bereits sehr bürokratisiert sind, werden wahrscheinlich
auch etwas verlieren. Organisationen, die unabhängiger
sind, wie die verschiedenen Organisationen, die die Mobilisierungen angestoßen haben, werden wahrscheinlich
gestärkt daraus hervorgehen.
Was die politischen Parteien außerhalb der Regierung betrifft (die sehr viel schwächer sind als die PT
oder die Parteien der Rechtsopposition) so können wir
feststellen, dass derzeit eine Partei, die gestärkt worden
ist, das „Rede Sustentabilidade“ (etwa: Netz für Nachhaltigkeit, Anm.d.Ü.) von Marina Silva ist, eine Partei,
die gerade dabei ist, ihre Wahlzulassung zu erlangen.
Das ist eine Partei, die, wie ihr Name schon sagt, beabsichtigt, keine klassische Partei zu sein. Sie hat ein sau-
beres Image und sitzt in keiner Regierung. Die PSOL
wurde wahrscheinlich durch die Bewegung ebenfalls
gestärkt und könnte mehr gestärkt werden, auch wenn
sie in gewisser Art und Weise den Demonstranten ähnlich wie die PT erscheint, da sie eine Partei der Linken
ist, und die PT in der Bevölkerung immer noch als der
größte Repräsentant der Linken gesehen wird, wobei
man nicht vergessen darf, dass das Gefühl des Misstrauens gegenüber Parteien generell sehr stark ist. Die
PSOL ist die Partei, die die stärksten Übereinstimmungen mit den Überzeugungen hat, die die Bewegung
in Gang gebracht haben und die in ihr dominieren.
Hinzukommt, dass ihre Mitglieder, eingeschlossen ihre
Parlamentarier, von Anfang an bei den Mobilisierungen
dabei waren, speziell die Jugendlichen. Es ist sicher, dass
die Jugendorganisationen, die der PSOL nahe stehen,
bereits jetzt mehr Autorität genießen und auch weiter
gestärkt werden. In jedem Falle werden die Kämpfe der
nächsten Tage und Wochen für all dies entscheidend
sein.
Gibt es eine glaubwürdige Alternative links der PT?
Was sind die in wesentlichen Herausforderungen,
vor denen die antikapitalistische Linke steht?
Derzeit gibt es keine glaubwürdige Alternative auf der
Linken zur PT auf nationaler Ebene. Wir stehen immer
noch am Beginn der Rekonstruktion der antikapitalistischen Linken in Brasilien nach dem schweren Schlag,
den der Weg der PT in die institutionelle Bürgerlichkeit
bedeutete. Die PSOL, die bei weitem die erste politische
Alternative auf der Linken zur PT ist, ist nichtsdestotrotz
schwach, und leidet dazu unter inneren Widersprüchen.
Sie kann eine glaubwürdige Alternative in einigen Städten darstellen, wie sich das in den Wahlen vom Oktober
2012 gezeigt hat, aber nicht auf nationaler Ebene. Die
Hauptherausforderung, vor der die antikapitalistische
Linke in diesem Moment steht, ist, zum Aufbau der Bewegung beizutragen, in dem Sinne, in dem ich es vorhin
dargestellt habe. Wenn sie das erreicht, wird sie gleichzeitig in den Prozess ihrer Rekonstruktion und beim Aufbau
einer glaubwürdige Alternative links von der PT vorankommen.
Was hältst du von dem Vorschlag der brasilianischen Präsidentin, ein Referendum anzusetzen und hundert Prozent der Öleinnahmen für
Bildung und Gesundheitswesen zur Verfügung
zu stellen?
Inprekorr 5/2013 61
Br a silien
Der erste Vorschlag lautete: „Durchführung einer
Volksabstimmung über die Form eines speziellen verfassungsgebenden Prozesses zur Umsetzung der politischen
Reform“. Dieser Vorschlag wurde ursprünglich als ein
Plebiszit präsentiert, um eine verfassungsgebende Versammlung einberufen zu können, die sich ausschließlich
der politischen Reform widmet; am nächsten Tag wurde
dieser Vorschlag zurückgezogen und durch den Vorschlag eines Plebiszits zu Fragen der politischen Reform
ersetzt.
Dieser Vorschlag ist selbstverständlich ein Versuch,
um auf den klaren Legitimitätsverlust des politischen
Systems zu reagieren, der in den Demonstrationen zum
Ausdruck kam. In seiner ersten Version hätte der Vorschlag zu einer Chance für einen wirklichen Wandel
werden können (was unter anderem von den Regelungen zur Wahl der Volksvertreter abhängig gewesen
wäre). Die zweite Version ist viel schlechter. Das Volk
würde nach einer Wahlkampagne, in der die großen
Medien viel Einfluss haben, auf einige Fragen antworten – so wie dies üblicherweise bei bürgerlichen Wahlen
der Fall ist – und die sehr schlechte aktuelle Nationalversammlung (der Kongress) würde der „politischen
Reform“ die endgültige Fassung verleihen. Die Wahrscheinlichkeit einer nennenswerten Verbesserung ist gering: Alles wird vom Fortgang der Mobilisierung abhängen, um zu verhindern, dass die Fragen zur Abstimmung
stehen, die der Kongress gerne stellen würde …
Der zweite Vorschlag, den Dilma am Montag unterbreitet hat, besteht darin, hundert Prozent der Lizenzgebühren für die Ölförderung und 50 % der Öleinnahmen
aus den Tiefseebohrungen (camada pre-sal)1, die von
den Kommunen, den Einzelstaaten und dem Bundesstaat
eingenommen werden, dem Erziehungswesen zuzuteilen.
Dieser Vorschlag wurde schon am nächsten Tag vom Abgeordnetenhaus kassiert, das dann ein Vorhaben billigte, nach
dem 75 % der Lizenzgebühren dem Erziehungswesen und
25 % dem Gesundheitswesen zugeteilt werden sollen. Dieser
Entwurf wird dann im Senat erörtert werden.
Ich weiß nicht, was schließlich dabei rauskommen wird,
aber es ist darauf hinzuweisen, dass dieses Projekt (ganz
gleich in welcher Variante) sehr schlechte Punkte enthält.
Die bedeutendsten Öllizenzgebühren werden aus der
Nutzung der camada pre-sal erwartet, deren Ausbeutung
aber noch nicht mal begonnen hat. In den kommenden
Jahren werden diese Mittel sehr beschränkt sein und werden die aktuell im Bildungssektor bereitstehenden Mittel
kaum erhöhen. Deshalb der Vorschlag der Linken, die im
62 Inprekorr 5/2013
Bildungssektor aktiv sind, zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts dem staatlichen Bildungswesen zuzuweisen, ein
machbarer Vorschlag, der aber nur umsetzbar ist, wenn der
Haushalt substanziell umgeschichtet wird, z. B. über die
Reduzierung der öffentlichen Schulden auf der Grundlage
eines Schuldenaudits.
Zum anderen ist die öko-sozialistische Bewegung
aufgrund der damit verbundenen großen Umweltprobleme
eh gegen die Ölförderung in den camada pre-sal. Allein das
ist schon Grund genug, gegen diese Ölförderung zu sein.
Außerdem würde in dem vorgesehenen Ölfördermodell der
größte Teil der Ölrente an private Unternehmen gehen. Um
zu schließen: Die Losung „100 Prozent der Lizenzgebühren
für die Ölförderung in der camada pre-sal für den Bildungssektor“ ist in den Teilen der Linken, die die Regierung
unterstützen, sehr populär, hat aber viele negative Seiten.
Ein weiterer Punkt: Seit dem 24. Juni wetteifern
Regierung, Abgeordnetenhaus und Senat darum, wer die
schönsten Dinge ankündigen kann, die sich als Antwort auf
„die Stimme der Straße“ präsentieren lassen. Die wirksamste
Ankündigung – oder in manchen Fällen die wirksamste
Entscheidung – ist die Preissenkung im Öffentlichen Nahverkehr (was sehr unterschiedlich ausfällt, je nach Regierungsebene in den verschiedenen Staaten oder Städten),
wobei in manchen Fällen auch der kostenlose Transport für
Studierende angekündigt wurde. Ein weiterer sehr positiver Punkt ist die (für die kommenden Tage angekündigte)
Rücknahme eines Gesetzentwurfs, nach dem es ermöglicht
werden sollte, Homosexualität als Krankheit zu behandeln
– das sogenannte Gesetz „zur Behandlung Schwuler“. Wir
werden abwarten müssen, um eindeutiger bewerten zu
können, was durchgesetzt wurde – auch weil die Mobilisierungen weitergehen, weniger massiv zwar, aber zahlreicher
und vielfältiger als in der vergangenen Woche.
Was ist in den letzten Tagen passiert? Gibt es was
Neues?
Neben den anhaltenden Mobilisierungen gibt es einen sehr
breiten Prozess der Ausweitung politischer Diskussionen, der
Versammlungen verschiedener Sektoren (Junge, BewohnerInnen der Vorstädte, Bewegungen für den Öffentlichen
Nahverkehr, Bewegungen für den Bildungssektor usw.)
und mit mehr Menschen als vorher. Sie diskutieren darüber,
was zu machen ist und welche konkreten Forderungen sie
aufstellen sollen. Die Gewerkschaftsvorstände, die sich bisher
überhaupt nicht engagiert hatten, kündigen (einschließlich
der rechtesten Vorstände) für den 11. Juli einen Generalstreik und einen Protesttag an und vertreten dabei eine recht
Br a silien
fortschrittliche Linie. Die Mehrheit der sozialen Bewegungen, einschließlich derjenigen, die ansonsten eher mit
der Regierung verbunden sind, hat sich diesem Aufruf der
Gewerkschaftsvorstände angeschlossen, und zwar mit ihren
eigenen Forderungen, die ebenfalls sehr fortschrittlich sind.
Ex-Präsident Lula hat sich mit einigen sozialen Bewegungen, die ihm nahe stehen, getroffen und er führte dann aus,
dass der Moment gekommen sei, „auf die Straße zu gehen“,
um der Rechten entgegenzutreten und die Regierung nach
links zu drücken. Natürlich weist diese Position Lulas sehr
komische Züge auf, aber es ist ein deutlicher Reflex dessen,
was sich zurzeit im Land abspielt.
Auf der anderen Seite sind die Drohungen der Rechten
– die Ende letzter Woche gewichtig erschienen – doch sehr
begrenzt geblieben. Es gab ein paar Mobilisierungen, zu
denen unter eindeutig rechten Losungen aufgerufen worden
war, die aber völlig gescheitert sind.
Wir wissen nicht, ob alle angekündigten Mobilisierungen der Bewegungen und der Gewerkschaften stattfinden werden und wie stark sie sein werden. Nach den letzten zehn Jahren ist es sehr schwer, sich vorzustellen, dass
die sehr bürokratisierte CUT [der große Gewerkschaftsdachverband, Anm. d. Übers.] in einem solchen Prozess
wirklich seine Kraft in die Waagschale werfen wird, ganz
zu schweigen von den rechteren Gewerkschaftsverbänden.
Das Gleiche lässt sich von der genauso bürokratisierten
UNE (dem nationalen Studierendenverband) sagen, einer
der Organisationen, die sich mit Lula getroffen haben. Die
sozialistische Linke in den verschiedenen Bewegungen
gewinnt in dem aktuellen Prozess an Stärke, ist allerdings
noch sehr minoritär.
Mit großer Gewissheit jedoch können wir sagen: Die
politische Teilhabe des Volkes hat einen bedeutenden, qualitativen Schritt nach vorne gemacht. Hoffen wir, dass es mit
dem Bewusstsein ebenso verlaufen wird. Brasilien ist heute
nicht mehr dasselbe, das ist sicher.
23. und 27. Juni 2013
João Machado ist Mitglied der nationalen Leitung der Partei für Sozialismus und Freiheit (PSoL.)
und der Strömung ENLACE. Er ist Mitglied des Internationalen
Komitees der Vierten Internationale.
Übersetzung: Klaus Engert und Jakob Schäfer
„„
1 Bei den camada pre-sal (engl. pre-salt layers) handelt es sich
um Ölfelder mehrere Tausend Meter (!) unter dem Meeresgrund, unter Fels und salzführenden Schichten vor der
brasilianischen und der afrikanischen Küste, die nur sehr
aufwändig auszubeuten sind.
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Inprekorr 5/2013 63
L at e i n a m e r i k a
Lateinamerika – vor einem neuen Erwachen?
Nach den blutigen Militärdiktaturen in den 70er und den neoliberalen Regimes in den 80er und 90er Jahren,
die mit ihren Strukturmaßnahmen die Lebensbedingungen der einfachen Bevölkerung drastisch verschlechtert
hatten, sind seit Beginn dieses Jahrhunderts linke und „fortschrittliche“ Regierungen ins Amt gewählt worden.
Franck Gaudichaud und Pedro Huarcaya
„„
Dieser politische Umschwung resultiert zum einen aus
der Krise der neoliberalen Eliten und der traditionellen
Parteien und zum anderen aus dem Wiederaufschwung
aufständischer Bewegungen (wie dem Caracazo1 in Venezuela und dem Kampf gegen die Privatisierung der Wasser- und
Gasversorgung in Bolivien) sowie Mobilisierungen der Gewerkschaften, Bauern und/oder Indigenen (der bolivianischen
Kokaarbeiter, der Zapatisten und der Arbeiter in Mexiko oder
der Bewegung der Landlosen in Brasilien). Zugleich wurden
etliche korrupte Staatschefs aus dem Amt gejagt, etwa in Ecuador, Bolivien oder Argentinien. Damit stehen soziale Fragen
und ebenso die Selbstbestimmung der Völker wieder auf der
Tagesordnung, während der Washington Consensus der Vergangenheit angehört.
Vom Widerstand …
Allerdings sind diese „fortschrittlichen“ und nationalistischen
Regierungen keineswegs durch Klassenkämpfe ins Amt gelangt und hinter ihrem linken Image stehen ganz unterschiedliche Auffassungen von Politik, sei es auf internationaler Ebene
oder in Bezug auf soziale Konflikte. Einige arrangieren sich mit
den internationalen Finanzinstitutionen und dem transnationalen Kapital (Brasilien, Chile), andere setzen auf Populismus
(Argentinien) und manche wiederum verstaatlichen ganze
Teile der Volkswirtschaft und gehen mitunter auf Konfrontation zum Imperialismus und den einheimischen Oligarchien
und setzen dabei auf die Mobilisierung der unteren Schichten
(Venezuela, Bolivien).
Auch wenn in den 14 Jahren unter Chávez reale demokratische Fortschritte erzielt wurden, so sind die wirtschaftlichen
Strukturen vor Ort im Wesentlichen unverändert geblieben:
Der Schwerpunkt liegt weiterhin auf der Ausbeutung der Rohstoffe und die herrschenden Klassen sind weiter an der Macht
– im Unterschied zu den Revolutionen in Kuba und Nicaragua
in den 60er beziehungsweise 80er Jahren. Ihre Popularität
schöpfen die gegenwärtigen Regierungen weitgehend aus
sozialstaatlichen Programmen, mit denen die Auswirkungen
des Neoliberalismus abgefedert werden. Zudem profitieren
sie vom anhaltenden Wirtschaftswachstum (dank steigender
Rohstoffpreise) und einer gewissen außenpolitischen Distanz
64 Inprekorr 5/2013
gegenüber Washington, gefördert durch die regionale Großmacht Brasilien.
… zum Angriff übergehen!
Projekte für den Aufbau einer alternativen Gesellschaft bleiben
aber sehr vage. Auch wenn Hugo Chávez zweifellos das Verdienst zukommt, seit 2005 für eine sozialistische Perspektive
geworben zu haben, so ist dessen Inhalt doch sehr unbestimmt
geblieben. Umgekehrt droht in Kuba immer mehr eine kapitalistische Restauration. In diesem Zusammenhang zeigt der
Aufschwung der sozialen Bewegungen, dass die Bevölkerung
von ihren Rechtsregierungen genug hat (Studentenbewegung
in Chile, Gewerkschaftskämpfe in Mexiko), aber auch dass die
sozialliberalen Regierungen sich verbraucht haben (Demonstrationen in Brasilien, Widerstand der betroffenen Bevölkerung
gegen Rohstoffausbeutung in Peru) und dass die populistisch/
nationalistischen Regierungen in der Zwickmühle sind (zweiwöchiger Generalstreik in Bolivien, knapper Wahlsieg von
Maduro in Venezuela).
Tatsächlich erleben wir einen Aufschwung der Kampfbereitschaft und damit stellt sich auch die Frage nach einer
unabhängigen politischen Organisierung. Zwar sind in den
letzten Jahren radikale oder antikapitalistische Organisationen
entstanden, aber unabhängig davon, ob sie in der Opposition
sind (PSOL in Brasilien, UPI in Ecuador, FIT und MST in
Argentinien), oder ob sie als linker Flügel in der Regierungskoalition (Marea Socialista in Venezuela) sind, haben sie es nicht
geschafft, zum politischen Ausdruck der sozialen Bewegungen
zu werden. Nichtsdestotrotz sind diese aufkommenden Mobilisierungen in Lateinamerika wirklich hoffnungsvoll, vor allem
weil sie die Idee des Ökosozialismus und des „besseren Lebens“
fördern. Für uns als europäische Internationalisten geht es
darum, uns gemeinsam mit ihnen dem Imperialismus und der
drohenden Repression entgegenzustellen.
Aus Tout est à nous (Nr. 206), Wochenzeitung der NPA (Frankr­eich)
Übersetzung: MiWe
„„
1 Aufstand der Bevölkerung Venezuelas 1989, der von der
sozialdemokratischen Regierung blutig niedergeschlagen
wurde.
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