106 Die Fische wurden durch lebendes Futter so besonders schön

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Die Fische wurden durch lebendes Futter so besonders schön
groß und fett. Am Ende des kleinen Steges befand sich eine
kleine Plattform mit einem Stahlgitter. Auf dem Gitter lag
immer ein großes Stück verwesendes Fleisch, von dem sich
tausende Maden und Würmer ernährten. Diese fielen dann
irgendwann durch das Gitter in den Teich und wurden von den
Fischen gefressen. Auf diese Weise hatten die Fische ständig
Futter und gediehen prächtig.
Damit nicht Raubtiere, oder Vögel das Fleisch stehlen konnten,
war die Plattform mit einer kleinen Holzhütte überbaut, sodass
die Tiere nicht an das Fleisch heran kommen konnten. Zusätzlich wurde die letzte Planke vor dem Futterhaus immer eingezogen.
Kein Fuchs, keine Katze, oder etwa irgendwelche Nagetiere
konnten deshalb zu Fuß an das Aas gelangen. Auch wenn sie
dort hin schwammen, verhinderte das hoch hängende Gitter
eine vermeintliche Extramahlzeit.
Man muss es nicht noch einmal erwähnen, die Geschäfte
gingen gut und Karolina und Benjamin wurden in den kommenden Jahren recht wohlhabend.
Eine weitere Neuerung gab es noch im Tabakbereich des
Schnapsladens. Benjamins Verwandtschaft in Saratow hatte
begonnen, Papirosys herzustellen.
In den letzten Jahren war diese Form des Tabakrauchens
modern geworden. Die Papirosy bestand aus einer Hülle von
hauchdünnem Papier mit einer Füllung aus fein geschnittenem
Tabak. An einem Ende der Papierhülle war ein kleines Mundstück aus Pappe angeklebt, sodass der Raucher keine Tabakkrümel in den Mund bekommen konnte. Die Herstellung war
reine Handarbeit und deshalb sehr zeitaufwendig und recht
teuer.
Die Papirosy gab es einzeln zu kaufen oder auch in Schachteln
zu Dutzend oder zwei Dutzend. Die „Züges“ hatten zwei
Qualitäten zur Probe geschickt. Die etwas mildere Sorte hieß
Schwalbe, russisch: Lastotschka, die starke Sorte hieß Falke,
Sokol.
Obwohl diese Papirosy teuer waren, verkauften sie sich wie von
selbst, sodass Benjamin weitere Partien bestellte.
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In einem der französischen Journale, die Benjamin hin und
wieder von seinem Freund Henry als Auspolsterung für seine
Weinflaschen bekam, waren auch Frauen abgebildet, die so
genannte Cigarettes mit einem Mundstück aus Horn oder Elfenbein rauchten.
Das war der größte Chic für alle Französinnen, die was auf sich
hielten, so stand es jedenfalls in der Zeitung.
Karolina war neugierig und probierte auch so zu rauchen, mit
der „Lastotschka.“
Zunächst ging das natürlich sehr schlecht, mit viel Husten und
Unwohlsein. Erst rauchte Karolina wenig, nur so aus Neugier.
Später steigerte sich das und nach einigen Jahren hatte sich
Karolina zu einer starken Raucherin entwickelt, die ihre Ration
Papirosy brauchte wie das Essen und Trinken.
Es kam das Jahr 1870.
Das Nachrichtenblatt berichtete, das Frankreich am 19. Juli
Preußen den Krieg erklärt hatte.
Benjamin konnte das nicht verstehen.
Frankreich erklärt Preußen den Krieg!
Wieso, warum, weshalb ?
Niemand in Schepetowka und Umgebung verfügte über das
entsprechende Wissen, um diesen Schritt Frankreichs erklären
zu können und niemand wusste etwas über eine „Emser Depesche“ die diese Kriegserklärung provoziert hatte.
Wenn Benjamin etwas von Krieg hörte, musste er immer noch
an all die vielen Toten von Sewastopol denken und an die
Verstümmelten, an die Schreie der Sterbenden.
Er sah wieder das Bild seines Oberleutnants vor sich, wie der
verzweifelt versuchte, seine Gedärme wieder in seinen Bauch zu
schieben. All die Schreie, all das Leid und der Geruch von Blut
und des Todes und der vielen Leichen, die in den Massengräbern verscharrt wurden.
Vor allem die Frage nach dem „Wofür“ beschäftigte Benjamin
immer wieder.
Der Krimkrieg wurde durch einen Friedensvertrag beendet.
Die Kriegsmächte, beziehungsweise die regierenden Monarchen, einigten sich nach einiger Zeit des Sterbens ihrer Soldaten
auf einen Frieden. Keine der Krieg führenden Parteien hatte ihr
Ziel erreicht.
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Tausende Tote waren das Ergebnis. Und wofür?
Aber auch er sah ein, dass, wenn ein Land angegriffen wird, es
sich dann verteidigen musste.
Die nationale Begeisterung in den deutschen Ländern schwappte
natürlich auch auf die in Wolhynien lebenden Deutschen über
und es gab keinen, der den Franzosen einen Sieg gönnte.
Der preußische Kanzler Otto von Bismarck hatte es durch
diese Kriegserklärung Frankreichs an Preußen geschafft, das alle
deutschen Länder ihre Truppen unter den Oberfehl des preußischen Königs stellten.
Mit einer Verspätung von einer Woche erfuhren die Wolhynier
aus ihrem Nachrichtenblatt, dass die Franzosen aus dem Elsass
heraus angegriffen hatten und dass die französischen Armeen
unter dem General MacMahon bei Weißenburg und Spichern
durch die Truppen des Kronprinzen Friedrich zurück geschlagen werden konnten.
Das alles spielte sich im Elsass ab, in dem Benjamin einmal eine
schöne Zeit hatte. Und er machte sich große Sorgen um seine
Freunde, die Clements.
Er schrieb ihnen einen Brief und hoffte auf Antwort. Dann
erfuhren sie im September, dass die deutschen Truppen den
wahrscheinlich entscheidenden Sieg bei Sedan erkämpft hatten,
bei dem auch der französische Kaiser Napoleon der III. gefangen genommen wurde.
Darauf hin rief jedoch die Pariser Bevölkerung die 3. Französische Republik und den allgemeinen Volkskrieg gegen Preußen
aus.
Am 27. Oktober kapitulierte die Festung Metz. In der Folge
wurde Orleans erobert, dann wieder zurück erobert und dann
wieder von den deutschen Truppen eingenommen.
Am 18. Januar 1871 wurde im Spiegelsaal zu Versailles bei Paris
das Deutsche Kaiserreich proklamiert und König Wilhelm der I.
von Preußen wurde zum Deutschen Kaiser ausgerufen.
Eine Woche später wurde das eingeschlossene Paris von der
schweren deutschen Artillerie drei Tage lang sturmreif geschossen.
Kein Mensch weiß genau, wie viele Pariser dabei ihr Leben
lassen mussten. Es waren viele Hunderte, vielleicht Tausende.
Dann erst kapitulierte die Stadt.
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Der Krieg war zu Ende.
Mit dem „Frankfurter Frieden“ musste Frankreich unter anderem auch Elsaß-Lothringen an das Deutsche Reich abtreten.
„Das ist doch einmal wieder eine gute Nachricht!“, rief Benjamin, als er das in der Zeitung las.
Elsaß-Lothringen, Selestad, die Clements, sie waren nun
deutsch, gehörten zum Deutschen Reich.
Gleich schrieb er ihnen wieder einen Brief und nach einigen
Wochen erhielt er auch eine Antwort.
Ernestine Clement hatte ihm geschrieben. Sie teilte Benjamin
mit, dass ihr Sohn Henry von den Bayern in dem Wirrwarr der
Kämpfe aus Versehen erschossen wurde. Er hatte nichts
Schlimmes getan. Er ist einfach nur zwischen die kämpfenden
Fronten geraten. Ihr Mann Sebastian war seit dem sehr schwer
krank. Niemand wisse, was genau er für eine Krankheit hatte
und ob er wieder genesen werde. Den Gasthof habe sie verpachtet und sie wohnt jetzt mit Sebastian bei ihren Eltern in
Lyon. Sie hat schon sehr viel Geld für die Ärzte ausgegeben und
wisse nicht, wie lange sie das noch durchhalten können.
„In Hoffnung und auf Gott Vertrauen! Deine Ernestine.“
So endete die schlechte Nachricht. Benjamin war geschockt.
Er wusste lange nicht, was er Ernestine zurück schreiben
konnte. Einige Tage später überwand er sich endlich und fing
an, eine Antwort zu formulieren. Dafür brauchte er einen
ganzen Tag.
Benjamin war ein gläubiger Mensch. Aber wieder einmal
zweifelte er an Gott.
Wie konnte Gott das zulassen? Er zog sich ein paar Tage so gut
es ging zurück und war nicht so lustig und froh gelaunt wie
sonst. Er grübelte lange nach über die wirklich wichtigen Dinge
des Lebens.
Dann siegte jedoch seine Frohnatur und er wurde fast wieder
der Alte, wenngleich er von nun an wieder etwas ernster durch
das Leben ging.
Immer neue Zuwanderer kamen in das wolhynische Gebiet.
Der Bau der Eisenbahnstrecken erforderte viele Arbeiter,
Vorarbeiter und Ingenieure. Schepetowka entwickelte sich zu
einer wichtigen Nachschubstation.
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Die Lücken in den Strecken nach St. Petersburg wurden nach
und nach geschlossen und man konnte schon nach Kiew fahren
oder nach Odessa am Schwarzen Meer.
Viele Dörfer wurden neu gegründet. Schulen und Kirchen
wurden gebaut.
Zu Karolinas großer Freude konnte sie Benjamin endlich dazu
überreden, im Kirchenchor mit zu singen oder auch mit anderen Männern kleine Musikstücke aufzuführen. Sie war richtig
stolz auf ihren „Ben“ denn er hatte wirklich eine sehr schöne
Bassstimme und Benjamin erhielt große Anerkennung vom
Pastor und war immer ein gern gesehener Gast zu allen möglichen Festen.
Die kirchlichen Musikstücke gingen ihm natürlich nicht so
leicht von der Hand, wie die lustigen Tanzpolkas, die er hauptsächlich von den vielen Zigeunergruppen gelernt hatte.
Jeder Zigeunerclan hatte seine eigene Musiktruppe, die nach
Benjamins Einschätzung absolut die besten Musikanten hatten,
die er je gehört hatte.
So verfloss die Zeit. Manchmal fragten sie sich, wo all die Jahre
geblieben waren, seit sie sich kennen gelernt hatten. Nur an
ihren Kindern konnten sie sehen, wofür sie die ganzen Jahre
gearbeitet hatten.
Ende April des Jahres 1877 erfuhren sie, dass auch Russland
wieder in den Krieg zog.
Die orthodoxen Bulgaren wagten einen Aufstand gegen die
Türken, die den Aufstand blutig niedergeschlagen hatten. Zar
Alexander II. erklärte dem Osmanischen Reich den Krieg und
zog selbst mit seinem Oberbefehlshaber Marschall Gortschakow, der auch schon im Krim-Krieg den Oberbefehl über die
Streitkräfte hatte, und einer großen Streitmacht durch Rumänien
hindurch, um den Bulgaren zur Hilfe zu kommen.
Nach dem Fall der Festung Plewen (Plovdiv) waren die Türken
besiegt, die sich bis nach Edirne zurückzogen. Kurz vor Weihnachten war der Zar wieder in St. Petersburg und wurde mit
riesigem Jubel im Triumphzug von der Bevölkerung empfangen.
Dann kam das Jahr 1881.
Dieses Jahr begann an sich ganz hervorragend. Benjamins und
Karolinas erster Sohn Alexander hatte seine Lehrzeit als Koch
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beendet und ging nach Kiew, um seine Kenntnisse in einem
großen Restaurant zu erweitern.
Ihr zweiter Sohn Ferdinand studierte bereits in Kiew Pädagogik
und er wurde später Gymnasiallehrer.
Zuerst erfuhren sie durch die Eisenbahner und dann durch das
Nachrichtenblatt, dass am 13. März der Zar einem Bombenattentat zum Opfer gefallen war.
Auf den Zaren wurden in den letzten Jahren schon mehrere
Attentate verübt, die er aber alle überlebte und so hatte der Zar
sich im einfachen Volk den Ruf der Unverwundbarkeit erworben. Umso größer war nun die Trauer um den Zaren, während
dessen Regierungszeit sich im Russischen Reich vieles zum
Guten gewendet hatte.
Auch die Beziehungen zum Deutschen Reich waren hervorragend, ja man konnte sie fast „freundschaftlich“ nennen. Von
diesen guten Verhältnissen profitierten natürlich auch die
deutschen Auswanderer, die in Russland lebten.
Die Staatstrauer dauerte mehrere Tage.
Der nächste Zar war der zweite Sohn des ermordeten Alexander
II. und dessen Gemahlin Maximiliane von Hessen-Darmstadt.
Die guten Zeiten für die Auswanderer sollten in den kommenden Jahren langsam, aber stetig zu Ende gehen.
Alexander III. machte nach einiger Zeit viele Reformen seines
Vaters wieder rückgängig und die Polizeimacht wurde massiv
verstärkt. Das verhinderte jedoch nicht, dass immer wieder
Aufstände aufflackerten. Es rumorte im russischen Reich.
Die Machtübernahme Alexander III. bedeutete für die vielen
deutschen Kolonisten in den folgenden Jahren auch die Abschaffung ihrer alten Privilegien, die ihnen seit der Zeit Katharinas zugesichert waren.
Zuerst verfügte die Regierung, dass die Kinder in den Schulen
nur noch in russischer Sprache unterrichtet werden dürfen.
Dann mussten die Kolonisten Steuern zahlen und später wurde
auch das Privileg der Befreiung vom Militärdienst abgeschafft
und alle deutschstämmigen jungen Männer mit russischer
Staatsbürgerschaft wurden in die russische Armee einberufen.
Die Abschaffung dieser Rechte der Deutschen in Russland
konnte natürlich nicht sofort durchgesetzt werden, aber die
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