Im Westen nichts Neues« Deutsche Herrschaft in der Ukraine Das

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ISSN 0940 -ÊÊ
4163
Heft 4/2008
Militärgeschichte im Bild: Schlacht bei Vionville und Mars-la-Tour am 16. August 1870
»Im Westen nichts Neues«
Deutsche Herrschaft in der Ukraine
Das Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg
Eisenbahnen und Festungen in Preußen
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Impressum
Editorial
Militärgeschichte
Zeitschrift für historische Bildung
Herausgegeben
vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt
durch Oberst Dr. Hans Ehlert und
Oberst i.G. Dr. Hans-Hubertus Mack (V.i.S.d.P.)
Produktionsredakteur
der aktuellen Ausgabe:
Hauptmann Magnus Pahl M.A.
Redaktion:
Hauptmann Matthias Nicklaus M.A. (mn)
Hauptmann Magnus Pahl M.A. (mp)
Oberstleutnant Dr. Harald Potempa (hp)
Hauptmann Klaus Storkmann M.A. (ks)
Mag. phil. Michael Thomae (mt)
Bildredaktion:
Dipl.-Phil. Marina Sandig
Redaktionsassistenz:
Thomas Bäuml (tb)
Lektorat:
Dr. Aleksandar-S. Vuletić
Layout/Grafik:
Maurice Woynoski / Medienwerkstatt D. Lang
Karten:
Dipl.-Ing. Bernd Nogli
Anschrift der Redaktion:
Redaktion »Militärgeschichte«
Militärgeschichtliches Forschungsamt
Postfach 60 11 22, 14411 Potsdam
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bundeswehr.org
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ISSN 0940-4163
Das vorliegende Heft der Militärgeschichte setzt
mit zwei Großbeiträgen den inhaltlichen Schlusspunkt unter unsere Reihe zum Kriegsende 1918
und seinen unmittelbaren Folgen.
Der 1929 erschienene Roman »Im Westen nichts
Neues« von Erich Maria Remarque schildert die
Schrecken des Ersten Weltkrieges an der Westfront
aus der Sicht eines jungen Soldaten, der 1918 kurz
vor Kriegsende tödlich getroffen wurde, »an einem Tag, der so ruhig und still
war, dass der Heeresbericht sich auf den Satz beschränkte, im Westen sei
nichts Neues zu melden«. Matthias Rogg stellt den einst umstrittenen ­Roman,
vor allem aber dessen Verfilmung und die zeitgenössischen Reaktionen auf
die Uraufführung der US-amerikanischen Produktion im Dezember 1930 in
Deutschland vor.
Die deutsche Herrschaft über weite Teile Osteuropas im Zweiten Weltkrieg
ist der Allgemeinheit weitgehend bekannt, weniger dagegen, dass das Deutsche Reich bereits im Ersten Weltkrieg große polnische und baltische Landesteile des zaristischen Russlands besetzt hielt. Im letzten Kriegsjahr 1918 gerie­
ten dann Weißrussland und die Ukraine, die »Kornkammer Europas«, unter
deutsche und teilweise österreichisch-ungarische Kontrolle. Peter Lieb richtet den Blick auf die deutsche Herrschaft und Partisanenbekämpfung in der
Ukraine von Februar 1918 bis März 1919. Er zieht auch einen Vergleich zwischen dem deutschen Vorgehen 1918/19 und 1941/44 und zeigt Gemeinsamkeiten wie Unterschiede der beiden deutschen Besatzungen auf.
Militärische Akten aus diesen Besatzungszeiten in der Ukraine finden sich
im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg i.Br., das Archivgut der preußischen und der deutschen Armeen von 1864 bis zur Gegenwart verwahrt.
Andreas Kunz verschafft anhand eines fiktiven Rundganges Einblicke in das
Innenleben dieser Institution. Ausgewählte Beispiele zeigen die Einzigartigkeit des in Freiburg gelagerten Archivguts, seine Vielgestaltigkeit wie auch
seinen Stellenwert für die Erforschung der deutschen Militärgeschichte.
Schließlich gibt der Autor noch praktische Hinweise für die Benutzung des
Archivs.
Ein Aufsatz aus der Feder von Klaus Jürgen Bremm über Eisenbahnen und
Festungen in den militärischen Planungen Preußens im 19. Jahrhundert rundet dieses Heft ab.
In eigener Sache: Die Redaktion der Militärgeschichte heißt den neuen Redaktionsassistenten, Herrn Thomas Bäuml, herzlich willkommen und bedankt sich bei Herrn Michael Schadow für die geleistete Arbeit.
Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünschen wir eine gewinnbringende
Lektüre der aktuellen Ausgabe und ein gutes Jahr 2009!
Magnus Pahl M.A.
Hauptmann
Inhalt
»Im Westen nichts Neues«. Ein
Film macht Geschichte
4
PD Dr. Matthias Rogg, geboren 1963
in Wittmund, Oberstleutnant i.G. und
­Referent im Planungsstab im Bundes­
ministerium der ­Verteidigung, Berlin
Deutsche Herrschaft in der
­Ukraine 1918/19: Wegweiser
zum Vernichtungskrieg?
10
22
Medien online/digital
24
Lesetipp
26
Ausstellungen
28
Geschichte kompakt
30
Schlacht bei Vionville und
Mars-la-Tour (Nähe Metz)
am 16. August 1870
31
14
Dr. Andreas Kunz, geboren 1970 in Lüneburg,
Referatsleiter im Bundesarchiv-Militärarchiv,
Freiburg i.Br.
Preußische Eisenbahnen und
Festungen im 19. Jahrhundert
Das historische Stichwort:
Napoleon im Orient.
Die »Ägyptische Expedition«
1798 bis 1801
Militärgeschichte
im Bild
Dr. Peter Lieb, geboren 1974 in GarmischPartenkirchen, Oberleutnant d.R., Senior
­Lecturer im Department of War Studies an
der Royal Military Academy Sandhurst
Das Bundesarchiv-Militärarchiv
in Freiburg. Quell(en) deutscher
Militärgeschichte von
1864 bis heute
Service
18
Zwei preußische Korps brachten in dieser
Schlacht des Deutsch-Französischen
Krieges der zahlenmäßig überlegenen
Französischen Rheinarmee eine bedeutende Niederlage bei und zwangen sie
zum Rückzug in die Festung Metz. Im
Verlauf der letzten großen Reiterschlacht
der Geschichte zeichnete sich auch das
Preußische Ulanen-Regiment Nr. 13
(1. Hannoversches) aus, dessen Tradition
vom Ausbildungszentrum der Heeresaufklärungstruppe in Munster fortgeführt
wird. Gemälde von H. Lang.
Foto: pa/akg-images
Dr. Klaus-Jürgen Bremm, geboren 1958
in Duisburg, Oberstleutnant d.R.,
Lehrbeauftragter für Neuere Geschichte an der
Universität Osnabrück
Weitere Mitarbeiter dieser Ausgabe:
Wissenschaftlicher Oberrat Dr. Bernhard
­Chiari, MGFA;
Hauptmann Dr. Thorsten Loch, Kompaniechef
9./Wachbataillon beim BMVg, Berlin;
Dr. Martin Rink, Historiker, Potsdam
ullstein bild
Ein Film macht Geschichte
5 »All Quiet on The Western Front«, Film nach dem Roman von Erich Maria Remarque, USA 1930. Regie: Lewis Milestone, Buch:
Del Andrews, Maxwell Anderson, George Abbott, Lewis Milestone. Filmszene mit John Wray als Feldwebel Himmelstoß (stehend).
D
ie Darstellung von Krieg und
Militär im Film ist fast so alt
wie das Medium Film selbst.
Für die Wahrnehmung, Diskussion
und Deutung von Krieg und Militär
spielt der Film seit über 100 Jahren eine
zentrale Rolle. Produktionen wie »Die
Brücke« (1959), »Apocalypse Now«
(1979) oder »Der Soldat James Ryan«
(1998) haben in den Köpfen der Zuschauer Bilder entstehen lassen, mit
denen die öffentliche Auseinandersetzung über den Sinn des Krieges nachhaltig beeinflusst wurde. Zu den herausragenden Filmen dieser Gattung
gehört ein Streifen, der Filmgeschichte
geschrieben hat und auch nach fast 80
Jahren immer noch unter die Haut
geht.
Die Vorlage für den Film
Am Anfang stand ein Roman, für den
sich zuerst kein Verleger finden wollte
und der dann in kürzester Frist zu
einem Weltbestseller wurde. Der Autor
war ein unbekannter ehemaliger Weltkriegssoldat, der nach dem Krieg be-
»Im Westen nichts Neues«
Ein Film macht Geschichte
ruflich nicht richtig Fuß fassen konnte,
anfangs als Lehrer und dann als Gelegenheitsjournalist arbeitete. Anfang
der 1920er Jahre änderte er seinen
­Namen und nannte sich fortan Erich
Maria Remarque (eigentlich Erich Paul
Remark, 1893–1970). Wie Millionen anderer Männer trieb ihn das Trauma der
Kriegserfahrung um. Er begann mit
Recherchen für einen Weltkriegsroman, die er Ende 1927 abschloss. Der
Roman schildert aus der Perspektive
des Kriegsfreiwilligen Paul Bäumer die
Erlebnisse einer Gruppe von Soldaten
an der Westfront. Wie in vielen Militärromanen verschmelzen dabei Autobiografie und Fiktion.
Mitte 1928 reichte Remarque die
Druckvorlage beim S. Fischer Verlag
ein. Doch da traute man dem unbekannten Romancier nicht viel zu. Auf
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
dem Büchermarkt der Weimarer Republik tummelte sich eine Vielzahl von
Werken, die den Weltkrieg in irgendeiner Form verarbeiteten. Das Spektrum
reichte von nationalkonservativen Arbeiten, in denen der Krieg zu einer prägenden Lebenserfahrung stilisiert
wurde (»In Stahlgewittern« von Ernst
Jünger, »Der Wanderer zwischen beiden Welten« von Walter Flex) bis zu
kritischen Auseinandersetzungen mit
dem Wesen von Krieg und Militär
(»Der Streit um den Sergeanten Grischa«
von Arnold Zweig). Die Ablehnung
des Remarque-Manuskripts durch den
Fischer Verlag sollte sich als eine der
größten Fehleinschätzungen der Literaturgeschichte erweisen.
Ende 1928 fand sich für den Roman
mit dem Propyläen Verlag in Berlin
doch noch ein Interessent. Dort über-
ullstein bild – Imagno
5Erich Maria Remarque, um 1930.
ullstein bild
zeugte die einfache, präzise, manchmal erschreckend nüchterne Sprache,
die auch heute anrührt, während Remarque auf jede Sinndeutung, jede
Auseinandersetzung mit Ursachen,
Zielen und Konsequenzen des Krieges
verzichtete. Mit diesem Stilmittel traf
er offensichtlich den Nerv der Zeit. Der
Krieg wurde als »Urkatastrophe« dargestellt, als ein unerhörtes Geschehen,
das sich des Menschen bemächtigt und
rationalen Erklärungsmustern entzieht. Der Titel griff auf die immerwährende, lakonische Formulierung im
deutschen Heeresbericht zurück und
gab der fatalistischen Sicht so einen
programmatischen Titel: »Im Westen
5Titelblatt der Originalausgabe des
­ omans, erschienen 1929 im
R
Propyläen Verlag.
nichts Neues«. Damit sprach Re­marque
einer ganzen Generation aus der Seele.
Schon vor der Veröffentlichung
machte der Roman Furore. Noch bevor
die Erstausgabe am 31. Januar 1929 in
den Handel kam, erschienen über vier
Wochen mehrere Vorabdrucke in der
liberalen »Vossischen Zeitung«. Die
Auflage des krisengeschüttelten Blattes
stieg daraufhin sprunghaft an. Bis
Ende 1929 verkaufte sich das Buch über
eine Million Mal in Deutschland. Es
folgten Übersetzungen in alle europäischen Sprachen. In den USA erschienen 1929 mehr als 300 000 Exemplare.
Remarques überwältigender Erfolg
polarisierte die Öffentlichkeit und natürlich auch die Kritiker. Am 31. Januar
1929 schrieb Carl Zuckmayer in der liberalen »Berliner Illustrierten Zeitung«: »Es gibt jetzt ein Buch, geschrieben von einem Mann namens Erich
Maria Remarque, gelebt von Millionen,
es wird auch von Millionen gelesen
werden [...] so geschrieben, so geschaffen, so gelebt, dass es mehr wird als
Wirklichkeit: Wahrheit, reine gültige
Wahrheit.«
Diese euphorische Sicht wollten viele
Deutsche nicht teilen. In nationalkonservativen und monarchistischen Kreisen sowie in der Reichswehr wurde
Remarque heftig attackiert (siehe Kas­
ten rechts). Dort warf man ihm vor, der
Vorreiter einer pazifistischen Propa­
gan­da zu sein, die das ehrenhafte Gedenken der deutschen Soldaten im
Weltkrieg in den Schmutz zog. Nicht
die Beschreibung der nackten Gewalt
und Erbarmungslosigkeit des Krieges
wurde als Affront begriffen, sondern
die fehlende Sinnstiftung. Um die gewaltigen Opfer, die politischen und
wirtschaftlichen Folgen des Krieges für
Deutschland begreifbar zu machen,
musste das Desaster nach dieser Lesart
einen tieferen Sinn erhalten – und sei
es durch das Produzieren heroischer
Vorbilder oder die individuelle Läuterung durch Kampf und Entbehrung.
Ein sinnloser Krieg hätte letztlich die
Fragen nach den politischen Ursachen
und der Verantwortlichkeit gestellt.
Remarques Roman wurde so von
einem nicht unbeträchtlichen Teil der
Bevölkerung in Deutschland nicht nur
als Provokation, sondern als öffentliche Gefahr eingeschätzt. Auch heute
ist das noch der Stoff, aus dem man
Filme macht.
Oberst a.D. Freiherr von der Goltz schrieb
1929 in »Deutsche Wehr. Zeitschrift für
Heer und Flotte« (Heft 14) über Remarques
Roman:
Es ist ein besonders betrübendes Zei­
chen für den Zeitgeist im heutigen
Deutschland, dass dieser Roman, der
nichts anderes darstellt als eine raffi­
nierte pazifistische Propaganda, es in
wenigen Wochen auf einen Absatz von
einer Million Exemplaren gebracht hat.
Sein Zweck ist es, der heranwachsenden
Jugend eine un­über­windliche Abscheu
vor dem Kriege, überhaupt vor allem Mi­
litärischen, ins Herz zu senken. Das ist
umso gefährlicher, als der Roman gut
geschrieben ist und daher einen gewis­
sen literarischen Wert besitzt. Die einzel­
nen Soldatenfiguren, die als Träger der
Handlung auftreten, sind gut beobach­
tet und richtig gezeichnet, die Kampf­
szenen mit dramatischer Wucht und pa­
ckender Realistik dargestellt.
Und doch ist das Ganze ein maßlos ver­
logener Schwindel! Es ist ja einfach nicht
wahr, dass der deutsche Soldat nur unter
dem Zwang des Drills seine Pflicht ge­
tan, sich bei jedem Kanonenschuss in To­
desangst an den Boden geklammert und
im Übrigen lediglich seinen anima­
lischen Instinkten gelebt habe. Wohl gab
es solche Typen in unseren Reihen
ebenso wie drüben beim Feinde. Die an­
deren aber, die in der großen Überzahl
waren, für die der Kampf ums Vaterland
noch eine heilige Sache war, und die sich
ihre Menschenwürde trotz aller verro­
henden Einflüsse des Krieges bis zum
Schluss zu bewahren wussten, sie alle
kommen in der Tendenzschrift Re­
marques (wer verbirgt sich hinter die­
sem Pseudonym?, sicherlich kein deut­
scher Mann) überhaupt nicht zu Worte!
Darin liegt eine grobe und bewusste Ir­
reführung. Es wird einfach ein minder­
wertiger Teil als gleichbedeutend mit
dem Ganzen hingestellt. Ebenso irrefüh­
rend ist es, wenn bis zum Überdruss
grausige Kampfszenen oder andere Be­
gebenheiten, in denen das Tier im Men­
schen sich austobt, aneinandergereiht,
alle erhebenden Momente des Kriegser­
lebens aber einfach fortgelassen wer­
den. [...]
›Im Westen nichts Neues‹ ist eine einzige
ungeheuerliche Beleidigung des deut­
schen Heeres im Weltkriege [...] eine Ver­
unglimpfung des Andenkens unserer
gefallenen Kameraden [...]
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
BArch, Plakat 14027/Nachlassverwaltung Klaus Dill
Ein Film macht Geschichte
5Filmplakat von Klaus Dill (1922–2000)
für die Wiederaufführung von
»Im Westen nichts Neues« in den
1950er Jahren.
Meilenstein der Filmgeschichte
Noch bevor der Roman auf den Bestsellerlisten stand, wurde die amerikanische »Universal Pictures Company«
auf ihn aufmerksam und erwarb im
Juli 1929 die Filmrechte. Die Universal
Pictures Company verfügte über die
notwendigen finanziellen Mittel und
mit der »Universal City« über die damals größte Filmstadt. Beim Regisseur
fiel die Wahl auf Lewis Milestone,
­einen noch völlig unbekannten Spielleiter, der allerdings das Geschäft von
der Pike auf gelernt und ein Gespür für
technische Neuerungen hatte.
Milestone war fest entschlossen, ein
möglichst realistisches Bild vom Krieg
zu vermitteln. Der materielle Aufwand
war gewaltig. Um den Kriegsbeginn
und die Ausbildung möglichst authentisch wirken zu lassen, wurden auf
dem Filmgelände eine deutsche Kleinstadt und komplette Kasernenanlagen
nachgebaut. Nach Fotovorlagen verwandelte man ein Gelände von
16 000 m² in eine Schützengrabenlandschaft, die noch Jahre später für Dokumentarsequenzen anderer Filme über
den Ersten Weltkrieg genutzt wurde.
Bei den Dreharbeiten setzte das Filmteam teilweise sogar scharfe Munition
ein. Aus Deutschland warb Milestone
ehemalige deutsche Offiziere an, unter
deren Kommando die Schauspieler
und Komparsen bis an die Grenzen ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit
militärisch ausgebildet wurden. Beim
Hauptdarsteller griff man mit Lew
Ayres auf ein völlig unbekanntes und
damit unverbrauchtes Gesicht zurück:
Ein »universal soldier«, der stellvertretend für die namenlos Leidenden einer
ganzen Generation stehen sollte. Damit erhielt der Film schon vor Drehbeginn eine universale Aussage.
Eine zentrale Rolle spielte der Ton,
der 1929 noch in den Kinderschuhen
steckte. »Im Westen nichts Neues« (All
quiet on the Western Front) ist eine
Produktion an der Schwelle vom
Stumm- zum Tonfilm. Der Tonfilm begann sich damals nur langsam durchzusetzen, weil die Investitionen hierfür
sehr aufwendig waren. Manche Kinos
scheuten noch die relativ hohen Kosten
für die Umrüstung. Die Universal Pictures entschieden sich deshalb, parallel
zwei Versionen abzudrehen. Die mit
Untertiteln versehene Stummfilmversion dauerte eine halbe Stunde länger.
Die technischen Möglichkeiten für die
Tonaufnahmen waren – gemessen an
heutigen Standards – noch primitiv. So
stand zum Beispiel nur eine Tonspur
zur Verfügung. Während die Dialoge
parallel zum Spielgeschehen als Primärton aufgenommen wurden, mussten alle anderen Geräusche später im
Tonstudio produziert und abgemischt
werden. Das betraf vor allem die Gefechtsszenen.
Milestone fand im Kameramann
Arthur Edeson einen kongenialen Partner, der sich zum Beispiel hervorragend auf die Beleuchtung verstand
und so bei den Nachttaufnahmen besonders eindrückliche Effekte erzielte.
Da die Kameras sehr laute Aufnahmegeräusche verursachten, entwickelte
Edeson eine Lärmschutzhülle – ohne
diese Erfindung wären mobile Aufnahmen mit Primärton nicht möglich gewesen. Um die Dynamik der Aufnahmen zu steigern, entwickelte man für
die Produktion einen Kamerakran, der
eine bewegliche Draufsicht ermöglichte. Dadurch konnte die Kamera von
oben in die Schützengräben quasi eintauchen oder die stürmenden Soldaten
auf Augenhöhe begleiten. So etwas
hatte das Kinopublikum bis dahin noch
nicht gesehen.
Schnelle Schnitte und plötzliche Perspektivwechsel verstärkten beim Zu-
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
schauer das subjektive Gefühl einer beschleunigten und inhaltlich aufgeladenen Handlung. Diese Effekte wurden von Milestone zum ersten Mal in
der Filmgeschichte konsequent umgesetzt und zu einem filmästhetischen
Gesamtkunstwerk zusammengefügt.
Einige Szenen vermittelten durch die
Rasanz das Gefühl von Orientierungslosigkeit in einem chaotischen Umfeld.
Der Krieg im Film
Milestone setzte mit filmtechnischen
Mitteln ein Gefühl um, das charakteris­
tisch für die Wahrnehmung der Sol­
daten des Ersten Weltkriegs in den
Schützengräben war. Die Zeit war für
die Soldaten im Schützengraben im
wahrsten Sinne des Wortes aus dem
Takt geraten. Im Unterschied zum 18.
und 19. Jahrhundert wurde nun bei jeder Tages- und Nachtzeit und auch bei
jeder Witterung gekämpft. Schlechtes
Wetter und der Schutz der Dunkelheit
konnten manche Operationshandlungen sogar begünstigen. Bei Tag verkrochen sich die Soldaten oft in Gräben
und Unterständen; ihre Gefechtshandlungen führten sie im Schutz der Dunkelheit. Während die Einsätze der
Fronttruppen immer länger wurden
und die Schlachten nicht mehr Tage,
sondern Monate dauerten, hatte sich
das Gefecht rasant beschleunigt. Der
Deutsches Filminstitut
5Für die Produktion des Films wurde
­ igens ein Kamerakran entwickelt, der
e
eine bewegliche Draufsicht ermöglichte.
Süddeutsche Zeitung Photo/Scherl
5Angriff französischer Soldaten auf einen deutschen Schützengraben im Ersten Weltkrieg. Szene aus dem Spielfilm »All Quiet on
The Western Front«.
Sekundenzeiger entschied, wann Zünder detonierten oder Sperrfeuer verlegt wurden – nicht umsonst hat der
Erste Weltkrieg die bislang übliche Ta­
schen­uhr durch die handlichere Armbanduhr verdrängt. Neue Fernmeldemittel sorgten dafür, dass aufgeklärte
Ziele sofort unter Feuer genommen
wurden. Die Reaktionszeiten begannen auf ein Minimum zu schrumpfen.
Hinzu kam eine bruchstückhafte Wahrnehmung des Gefechtsfelds und der
Kampfhandlungen. Im Schützengraben konnte sich der Soldat kaum noch
räumlich orientieren, geschweige denn
den Feind identifizieren.
Diese zentralen Veränderungen in
der individuellen Wahrnehmung des
modernen Krieges wurden von Mile­
stone erkannt und filmkünstlerisch genial umgesetzt. Am deutlichsten wird
das in einer sechsminütigen Kampfszene, die Filmgeschichte geschrieben
hat. Die Sequenz zeigt einen Sturmangriff der Franzosen auf die deutschen
Stellungen, den Nahkampf der Soldaten, den Rückzug aus der vorderen
Grabenzone, den Gegenangriff der
Deutschen und die Rückeroberung der
alten Stellung. Am Ende hat keine Seite
einen Gewinn zu verbuchen, nur ungezählte Menschen haben ihr Leben
­verloren. Die feindlichen Franzosen
werden in dem Ausschnitt in starker
Un­­ter­sicht und mit verschatteten Gesichtern gezeigt. Selbst im Nahkampf
wird der Feind dadurch anonymisiert
– ein Strukturelement, dass man auch
heute bei Kriegsfilmen häufig antrifft.
Die Erbarmungslosigkeit der Handlung verdichtet sich in einer Szene, die
nur 30 Sekunden dauert und in deren
Mittelpunkt das Maschinengewehr
steht. Wie keine andere Waffe ist das
Maschinengewehr zu einem Synonym
für die Technisierung des Krieges geworden, die mit extrem geringem materiellen Aufwand ein Maximum an
Zerstörung erreichen sollte. Milestone
näherte nun durch einen Trick die Feuergeschwindigkeit des Maschinengewehrs dem Rhythmus der Filmaufnahmen an. Eine Filmkamera »schoss« in
einer Sekunde etwa 24 Einzelbilder, die
Felder genannt wurden. Der Regisseur
wählte für jede MG-Einstellung sechs
bis sieben Felder und für jeden getroffenen französischen Soldaten die glei-
che Zahl; er passte damit die Abfolge
der Einzelbilder der Feuergeschwindigkeit des MGs an. Durch die extrem
kurzen Einstellungen von einer Drittel
Sekunde gelang es ihm, den Handlungsablauf enorm zu verdichten und
zu beschleunigen. Die wechselnden
Einstellungen des Films und die Feuergeschwindigkeit des Maschinengewehrs scheinen ineinanderzugreifen
und das Tempo zu forcieren. Durch die
ständigen Wechsel aus statischen und
dynamischen Einstellungen entsteht
ein ähnlicher Effekt. Die enorme, mit
bloßem Auge kaum noch nachvollziehbare Geschwindigkeit, verbunden mit
dem Wechsel von Schuss und Treffer,
erweckt bis heute den Eindruck einer
authentischen Szene.
Filmzensur
Diese und andere Bilder von »Im Westen nichts Neues« bekamen viele Kinobesucher allerdings nicht zu sehen. In
jedem Land musste damals ein Film
vor der Veröffentlichung einer Zensurabteilung vorgelegt werden. Dort
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
Ein Film macht Geschichte
war ein ganz normales Verfahren, dem
sich jede neue Produktion unterziehen
musste. In Deutschland erfolgte die
Premiere am 4. Dezember 1930 in Berlin.
»Kinoterror« in Deutschland
Wie die Romanvorlage spaltete auch
der Film das Publikum. Der NSDAPGauleiter von Berlin, Joseph Goebbels,
witterte seine Chance und ließ am
5. Dezember Freikarten für den Film an
SA-Männer, Parteimitglieder und Sympathisanten verteilen. Die braunen
Banden warfen im Kino Stinkbomben,
ließen weiße Mäuse laufen, verstreuten
Niespulver und konnten mit diesen
primitiven, aber wirkungsvollen Metho­
den die Vorstellung erfolgreich sabotieren. Doch das war erst der Auftakt
eines Kinoterrors, der das Kampfgeschehen von der Leinwand auf die
Straßen vor den Lichtspielhäusern verlagerte. Weitere Aufführungen wurden
in den folgenden Tagen von SA-Gruppen sabotiert, Kinobesucher beschimpft
oder am Betreten von Lichtspielhäusern mit Gewalt gehindert. Während liberale Kräfte und Sozialdemokraten in
der Öffentlichkeit für den Film Partei
ergriffen, setzte sich der NS-Terror gegen Kinobesucher ungehindert fort.
Täglich fanden jetzt Demonstrationen
der bestens organisierten Nationalsozialisten und ihrer Gefolgsleute in Berlin
statt, mit Tausenden von Teilnehmern.
Aufführungen waren nur noch unter
massivem Polizeischutz möglich. BeSüddeutsche Zeitung Photo/Scherl
konnte nach politischen und teilweise
recht willkürlichen moralischen Vorstellungen gestrichen werden. In den
Akten der »Motion Pictures of Association of America« sind diese »Deletions«
akkurat aufgeführt worden. In Australien strich man Fäkalausdrücke, Schleiferszenen, Soldaten, die sich nackt auszogen, und schließlich die Tötung eines
französischen Soldaten. In der Tschechoslowakei durfte die Tonfassung
nicht aufgeführt werden. In Polen
mochte man den Zuschauern nicht das
Grauen des Lazaretts zumuten. Dort
schnitt die Zensur auch eine komplette
Schlüsselszene, worin Paul Bäumer als
Soldat in seiner alten Schulklasse jüngere Schüler vor dem Irrsinn des
Krieges warnt. Ähnliche Zensurmaßnahmen verhängten auch einzelne
Bundesstaaten in den USA. In Deutschland fiel eine andere Szene des Films
der Zensur zum Opfer, in der die deutschen Soldaten mit französischen Mädchen fraternisieren. Besonderen Anstoß nahm man in fast allen Ländern
an der Maschinengewehrszene. Vermutlich hatten die Zensurbehörden
Angst, eine öffentliche Debatte über
den Sinn des Krieges loszutreten. Die
meisten Kinobesucher bekamen um bis
zu 15 Minuten gekürzte Versionen zu
sehen, die sich von Milestones »Directors Cut« deutlich unterschieden.
Doch auch das durch Schnitte entschärfte Filmmaterial sorgte bei Publikum und Kritikern für leidenschaftliche Diskussionen. Am 21. April 1930
wurde die amerikanische Originalversion in Los Angeles uraufgeführt und
dort von Kritikern und Publikum gleichermaßen gefeiert. Das war alles andere als selbstverständlich, denn der
Film wählte ja nicht die Perspektive
der alliierten Truppen, sondern die des
ehemaligen Kriegsgegners Deutschland. Noch im selben Jahr erhielt der
Streifen zwei Oskars: für die beste Regie und den besten Film des Jahres.
Wie nicht anders zu erwarten, tat
man sich in Deutschland mit dem Film
besonders schwer. Noch vor der Fertigstellung der deutschen Fassung signalisierte die größte deutsche Filmfirma,
die Universum-Film AG (UfA), den
Universal Pictures, die Produktion nicht
in den Verleih aufnehmen zu wollen.
Am 21. November 1930 erhielt der Film
die Freigabe von der Filmober­prüf­
stelle; die Prüfung durch diese Instanz
5Polizisten vor dem Mozartsaal in Berlin anlässlich der Unruhen bei der deutschen
Uraufführung des Films »Im Westen nichts Neues«, Dezember 1930.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
günstigt wurde diese Gewalt der Straße
durch die Tatenlosigkeit der Staatsanwaltschaft und vieler Polizisten, die
dem rechtsstaatlichen System der Weimarer Republik reserviert gegenüberstanden.
Am 11. Dezember 1930 befasste sich
sogar der Reichstag mit dem Skandalfilm. Noch am selben Tag wurde für
Berlin ein allgemeines Demonstra­
tionsverbot verhängt. Die nationalsozialistische Presse schnaubte, allen voran
der »Völkische Beobachter«: Man
müsse nicht die Demonstrationen, sondern »den Film an sich« verbieten.
Schließlich wurde »Im Westen nichts
Neues« aufgrund der angespannten Sicherheitslage vorläufig abgesetzt und
der »Filmoberprüfstelle« in Berlin, dem
letztinstanzlichen Entscheidungsorgan, ein zweites Mal zur Prüfung vorgelegt. Dort erkannte man kurz darauf
eine »ungehemmte pazifistische Tendenz« und belegte den Film mit einem
dauerhaften Aufführungsverbot.
Die nationalkonservative »Neue Preu­
ßische Kreuzzeitung« sprach in einem
Artikel vom 13. Dezember vielen Kritikern aus der Seele. Danach sei das Verbot gerechtfertigt, weil die Art der Darstellung geeignet sei, »das Ansehen der
Kriegsteilnehmer auf das Empfindlichste zu schädigen. Es sei unbestreitbar, dass es nur deutsche Soldaten
seien, die jammerten und schrien, während die Franzosen, die gegen den Stacheldraht anrennen, schweigend stürben.« Im Ganzen werde der Film der
Gemütsverfassung der Teilnehmer am
Kriege nicht gerecht. Weiter hieß es,
man wolle »das Volk sehen, das sich
die Darstellung der eigenen Niederlage gefallen lasse«.
Der Film als Politikum
Die Argumentation der Filmoberprüfstelle, einer nachgeordneten Behörde
des Reichsinnenministeriums, unterstrich eindringlich, dass man den Film
nicht nach ästhetischen, juristischen
oder pädagogischen Gesichtspunkten
eingestuft hatte. Während die NSPresse die Entscheidung mit hämischer
Freude feierte, organisierte sich Widerstand. Da der Film nur im Reichsgebiet
verboten war, wurden Busfahrten ins
benachbarte Ausland organisiert, zum
Beispiel nach Österreich. Doch auch
hier verbot man »Im Westen nichts
Neues« Anfang 1931.
Im Preußischen Landtag kochte die
Stimmung so hoch, dass die Abgeordneten des rechten Parteienspektrums
einen Misstrauensantrag gegen Innenminister Carl Severing (SPD) einbrachten. Der Antrag scheiterte zwar
am 19. Dezember 1930. Doch nichts
zeigt deutlicher, dass die Diskussion
über »Im Westen nichts Neues« längst
zu einem Politikum geworden war. Es
ging nicht mehr um den Film, sondern
um eine Standortbestimmung über die
Deutung des Weltkrieges und damit
letztlich über die zukünftige Richtung
der deutschen Politik. Auch der Schriftsteller Kurt Tucholsky brachte seine
Empörung über den Filmskandal am
20. März 1931 in der Monatszeitschrift
»Menschenrechte« unmissverständlich
zum Ausdruck (siehe Kasten rechts).
Am 24. März 1931 entschied schließlich der Reichstag, dass der verbotene
Film nur noch für geschlossene Veranstaltungen freigegeben werden durfte.
Die Front der Kritiker hatte damit ihr
Ziel erreicht und eine differenzierte
Auseinandersetzung über die Sinndeutung des Weltkriegs unterbunden.
Es folgten nur noch wenige kriegskritische Produktionen, etwa Georg Wilhelm Pabsts »Westfront 1918« (1930).
Im deutschen Filmgeschäft der frühen
1930er Jahre setzten sich die nationalkonservativen und monarchistisch gesinnten Kräfte immer stärker durch.
Produzenten und Regisseure, die dieser Linie folgten, durften mit erheblich
besserer staatlicher Förderung rechnen. Mit Produktionen wie »Berge in
Flammen« (1931), »Tannenberg« (1932)
oder pseudohistorischen Preußenfilmen wurde die kritisch-pessimistische
Kriegsdeutung immer stärker von der
Leinwand verdrängt. Das Kino war damit zu einem »Kampfplatz« geworden,
der das Ende der Weimarer Republik
beschleunigte.
 Matthias Rogg
Literaturtipps
Bärbel Schrader (Hrsg.) Der Fall Remarque. Im Westen
nichts Neues. Eine Dokumentation, Leipzig 1992
Thomas Klein, Marcus Stiglegger und Bodo Traber (Hrsg.),
Filmgenres. Kriegsfilm, Stuttgart 2006
Wolfhard Keiser, Erich M. Remarque: Im Westen nichts
Neues, Hollfeld 2005 (= Königs Erläuterungen und
­Materialien, 433)
In der Zeitschrift »Die Menschenrechte«
vom 20. März 1931 sprach sich Kurt
Tuchols­ky für die Ausstrahlung des Films
»Im Westen nichts Neues« aus:
Gegen das Remarque-Filmverbot (Eine
Umfrage der ›Deutschen Liga für Menschenrechte‹)
Der nordische Barde Goebbels hat in sei­
nen Kundgebungen wiederholt darauf
hingewiesen, dass der Remarque-Film
ein ›Geschäft‹ sei [...] Die Nationaille hat
aus unlauteren Beweggründen gegen
diesen Film protestiert. Es ist bedauer­
lich, dass ein Pazifist wie Friedrich Wil­
helm Foerster Verwirrung in die Reihen
des Pazifismus getragen hat, indem er
sagt: ›Das Szenario stellt eine tendenzi­
öse Auswahl seitens einer Art von senti­
mentalem, ja oft weinerlichem Pazifis­
mus dar, bei dem der Abscheu gegen
den Krieg nicht aus den Tiefen der mora­
lischen Menschennatur kommt, sondern
aus dem Nervensystem [...]‹ Aus dem
Nervensystem! Nur aus dem Nervensys­
tem? Wir haben oft zu Foerster gehalten.
In diesem Falle ist dem Vorsteher eines
kleineren katholischen Moralamtes nur
zu wünschen, dass er einmal in die Lage
kommt, nur aus dem Nervensystem ge­
gen den Krieg protestieren zu müssen –
also etwa nach achtundvierzigstün­
digem Trommelfeuer. Noch der nied­
rigste Pazifismus hat gegen den edelsten
Militarismus tausendmal recht! Es gibt
kein Mittel, das uns nicht recht wäre, den
Moloch des Kriegswahnsinns und des
Staatswahnsinns zu bekämpfen.
Der Tod der zehn Millionen ist sinnlos
gewesen – sie sind für nichts gefallen.
[...] Ehre der Trauer. Schmach dem Kriege!
Wir brauchen keine Kartenkunststücke,
die uns den angeblichen Sinn dieses
Wahnsinns vormachen sollen. Und da­
rum ist uns jeder, jeder Film recht, der
der Menschheit den Krieg auch in seinen
niederen Formen, gerade in seinen nied­
rigsten Formen vorführt. Mussolini zeigt
seinem Volk nur die Fahnen und nichts
als das – Remarque zeigt uns die Fahnen
und den Rest: die Zerfetzten und die Tau­
melnden, die Blutenden und die Zer­
schossenen – und wer sich daran begei­
stern will, der mag es tun. Wir andern ru­
fen gegen die Weltenschande: Nieder
mit dem Kriege!
Zit. nach: Kurt Tucholsky, Unser Militär!
Schriften gegen Krieg und Militarismus,
Frankfurt a.M. 1962, S. 447 f.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
pa-akg
Deutsche Herrschaft in der Ukraine
Deutsche Herrschaft in
der Ukraine 1918/19:
5Deutsche Truppen
besetzen Kiew,
1. März 1918.
N
Wegweiser zum
Vernichtungs­krieg?
icht erst im Zweiten Weltkrieg
gerieten große Gebiete Osteuro­
pas unter deutsche Herrschaft.
Bereits im Ersten Weltkrieg besetzte
das Deutsche Reich ab 1915 polnische
wie baltische Gebiete des zaristischen
Russlands. Im letzten Kriegsjahr 1918
kamen dann die Ukraine und Weißruss­
land unter deutsche (sowie österreichisch-ungarische) Kontrolle. Es ist erstaunlich, dass diese von Februar 1918
bis März 1919 dauernde Besatzungszeit bisher kaum erforscht ist. Dabei
liegen die Vergleichsmöglichkeiten zu
den Ereignissen in den Jahren 1941 bis
1944 – vor allem im Fall der Ukraine –
auf der Hand: Beide Male spielte ein
geostrategisches Kalkül eine wichtige
Rolle, beide Male ging es aus deutscher
Sicht gegen den »Bolschewismus« und
beide Male kam es zu Auseinandersetzungen mit irregulären Kräften, also
mit Partisanen. War bereits diese erste
deutsche Besatzung in der Ukraine von
10
entgrenzter Gewalt gegen Partisanen,
Partisanenverdächtige und Zivilbevölkerung begleitet? Welche Unterschiede
und Ähnlichkeiten gab es in der Partisa­
nenbekämpfung 1918/19 und 1941 bis
1944? Stellte die Besatzung 1918 ­einen
Wegweiser zum Vernichtungskrieg im
Zweiten Weltkrieg dar?
Schutzmacht Deutschland?
Seit 1917 war das ehemals zaristische
Vielvölkerreich Russland durch Revolutionswirren in seinen Grundfesten
erschüttert. Die einzelnen »Nationen«
strebten nach Unabhängigkeit, so auch
die Ukraine, wo sich Mitte 1917 eine
­eigene Regierung, die sogenannte
»Rada«, bildete. Am 20. November
1917 verkündete sie die »Ukrainische
Volksrepublik« und erklärte sie zunächst für autonom, wenig später
folgte die Unabhängigkeitserklärung.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
Die »Rada« war ein Sammelsurium
von Parteien unterschiedlichster Couleur: Bürgerliche, Sozialisten und Sozialrevolutionäre. Ihre Herrschaft stand
von Beginn an auf wackeligen Füßen,
denn von Moskau unterstützt, reklamierten auch die Bolschewiki die
Macht in Kiew für sich.
Wollte die »Rada« politisch überleben, brauchte sie unbedingt Unterstützung von außen. Sie setzte auf die Mittelmächte. Während das Deutsche
Reich und Österreich-Ungarn mit dem
bolschewistischen Russland in BrestLitowsk Friedensgespräche führten,
tauchte unerwartet eine Delegation der
Ukrainischen Volksrepublik am Verhandlungsort auf und besprach mit
den Bevollmächtigten des Deutschen
Reiches im Geheimen mögliche Hilfeleistungen. Als am 8. Februar 1918 die
Bolschewiki die »Rada« in Kiew
stürzten, sah sich die ukrainische Delegation zum Handeln gezwungen und
vor dem ehemaligen Gouvernementsgebäude in Brest-Litowsk während der
­Friedensverhandlungen im Februar 1918.
schloss spontan ein Bündnis mit dem
Deutschen Reich: Deutsche Truppen
sollten die Bolschewiki vertreiben und
die »Rada« wieder an die Macht bringen. Im Gegenzug versprach die ukrainische Seite umfangreiche Getreidelieferungen. Die deutsche Regierung
setzte darauf große Hoffnungen, hatte
doch die britische Seeblockade seit
1914 zu einer katastrophalen Versorgungslage in der Heimat geführt.
Ab dem 18. Februar 1918 marschier­
ten Truppen der Heeresgruppen (Alexander von) Linsingen und (Hermann
von) Eichhorn offiziell als Schutzmächte
der »Rada« in die Ukraine ein. Die
Deutschen drangen in diesem »Eisenbahnfeldzug« schnell in das Innere des
Landes vor und vertrieben die schlecht
organisierten regulären und irregulä­
ren Truppen der Bolschewiki. Auch
Österreich-Ungarn schloss sich einige
Tage später diesem »Eisenbahnfeldzug« an, wollte es sich doch auch einen
Teil der scheinbar leichten Beute sichern. Während die nördliche Ukraine
sowie die Krim unter deutsche Kontrolle fielen, wurde Österreich-Ungarn
ein breiter Besatzungsstreifen in der
Südukraine zugestanden. Die deutschen
Besatzungsverbände bestanden überwiegend aus zweit- und drittklassigen
Landwehrdivisionen oder gar dem
Landsturm, der zum Teil aus nicht ausgebildeten, älteren Männern bestand.
Darüber hinaus sah dieser Kriegsschauplatz einen der letzten großen
Einsätze der Kavallerie: Als schnelle
und mobile Eingreiftruppe sollte sie
sich hervorragend zur Aufstandsbekämpfung eignen.
Offiziell waren die Mittelmächte jedoch keine Besatzer. Vielmehr hob man
nach der Einnahme Kiews Anfang
März die »Rada« wieder in den Regierungssattel, doch war ihre Macht sehr
schwach: Ihre Politiker waren jung und
unerfahren, in der eigenen Bevölkerung fanden sie kaum Rückhalt, und
ein eigenes ukrainisches Nationalgefühl war nur schwach entwickelt. Als
schwerste Hypothek für das deutschukrainische Verhältnis erwiesen sich
die versprochenen umfangreichen Getreidelieferungen. Die Ukraine erfüllte
die Zusage bei Weitem nicht; Spannungen zwischen dem deutschen Militär und der ukrainischen Regierung
waren die Folge.
pa-akg
pa-akg
5Mitglieder der ukrainischen Delegation im Gespräch mit deutschen Offizieren
warnte die 9. Armee ihre Truppen vor
Verhältnissen, die an den Einmarsch in
Belgien im Sommer 1914 erinnern würden. Aufstandsbewegungen seien daher im Keime zu ersticken, bewaffnete
Aufständische sofort zu exekutieren.
In der Tat hatten bolschewistische
Revolten weite Teile des Landes erschüttert. Im ganzen Land lagerten
Waffen, die von ehemaligen zarischen
Soldaten bei ihrer Rückkehr in die Heimat einfach mitgenommen worden
waren. Diese Waffen konnten nun
leicht von roten Partisanen beschlagnahmt werden, um das Land zu beunruhigen. Folglich waren die drei Hauptaufgaben der deutschen Truppen zunächst: das Einbringen von Getreide,
das Einsammeln der Waffen und die
Bekämpfung der bolschewistischen
Aufständischen. Dabei kam es vergleichsweise häufig zu Exzessen. Unschuldige Zivilisten wurden getötet,
ganze Dörfer angezündet. Mit gefangenen Bolschewiki machte man zumeist kurzen Prozess, wenngleich man
hinzufügen muss, dass diese wohl nur
selten die Bedingungen der Haager
Landkriegsordnung von 1907 erfüllten,
um als Kombattanten anerkannt zu
Das Verhalten deutscher Truppen
Um sich das versprochene Getreide
dennoch zu sichern, zogen deutsche
Truppen durch das Land und beschlagnahmten Bestände ohne Rücksicht auf
die Belange der einheimischen Zivilbevölkerung. Dies verschlechterte natürlich das Verhältnis zwischen Schutzmacht und Schutzbefohlenen. Dabei
war beim Einmarsch im Februar 1918
noch in mehreren Befehlen betont worden, man sei von der ukrainischen Regierung als befreundete Schutzmacht
und Befreier vom Bolschewismus ins
Land gerufen worden. Bald erhoben
sich aber auch andere Stimmen. So
5Generalfeldmarschall Hermann von
Eichhorn, um 1917.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
11
Deutsche Herrschaft in der Ukraine
12
zungen in der ukrainischen Innenpolitik. Anfang Mai 1918 kam es zu einem
Staatsstreich des ehemaligen zarischen
Generals Pawlo Skoropadskij gegen
die »Rada«, woran die Deutschen vermutlich beteiligt waren. Skoropadskij
ließ sich zum »Hetman der Ukraine«
ausrufen. Er entsprach damit einem
»Reichsverweser« bzw. »Militärbefehls­
haber« und bildete ein deutschhöriges
autoritäres Regime. Wie die »Rada«
war auch diese neue Regierung bei der
Bevölkerung unbeliebt, aber zumindest hatten die Deutschen einen Partner gefunden, mit dem sie zusammenarbeiten konnten.
Deutsch-ukrainische
­Zusammenarbeit
Im Juli 1918 erließen die Hetman-Regie­
rung und die Heeresgruppe Eichhorn
Anordnungen zur Zusammenarbeit
von ukrainischen und deutschen Stellen. Bei der Unterdrückung von Unruhen wollten beide Seiten eng kooperieren. Listen mit Verdächtigen und Rä­
dels­führern sollten geführt werden,
damit Missverständnisse beseitigt würden, die bisher »oft zu Massenbestrafungen, wie z.B. Abbrennen von Dörfern« geführt hatten.
Zusätzlich wurden ein bewaffneter
Selbstschutz in den Dörfern aufgestellt,
sodass sich die Bevölkerung selbst gegen die umherziehenden bolsche­wis­ti­
schen Partisanen wehren konnte, ­sowie
ein Agentennetz installiert. Weiterhin
erfolgte die Aufstellung einer ukraini­
schen Miliz, die aber als un­zuverlässig
galt und bei der Bevölkerung wegen
ihrer mangelnden Disziplin eher für
Beunruhigung denn für Ruhe sorgte.
Dennoch war der Einsatz landeseigener Kräfte aufs Ganze gesehen ein Erfolg und trug nicht unwesentlich zur
Befriedung der Ukraine bei. Ab Septem­
ber/Oktober 1918 wurde eine »Ukraini­
sierung«, also die Besetzung von Schlüs­
selpositionen mit Ukrainern, offizielle
Besatzungspolitik.
Die deutsche Aufstandsbekämpfung
hatte sich somit gewandelt. Ignoranz
und Härte gegenüber der Regierung
und den Einheimischen wichen einer
Kooperation zwischen deutschen und
ukrainischen Stellen sowie einer maßvollen Behandlung der Zivilbevölkerung. Vergleichsweise schnell gelang
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
es nun, die bolschewistischen Partisanen erfolgreich zu bekämpfen und das
Land zumindest äußerlich zu befrieden.
So kam es im deutsch kontrollier­ten
Teil der Ukraine während des Sommers und Herbstes kaum mehr zu Aufständen – ganz im Gegensatz übrigens
zum österreichisch-ungarischen Sektor, wo eine Neuorientierung in der
Aufstandsbekämpfung nicht stattgefunden hatte. Eine spektakuläre Ausnahme bildete die Ermordung des Generalfeldmarschalls Hermann von
Eichhorn durch einen Sozialrevolutionär am 30. Juli 1918 in Kiew. Bezeichnenderweise folgten aber diesem
­Atten­tat auf den höchsten deutschen
Repräsentanten in der Ukraine keine
Repressalien.
Antisemitismus als Konstante
deutscher Besatzungspolitik
Eine Konstante in der Besatzungspolitik 1918/19 und 1941/44 bildete sicherlich der Antisemitismus des deutschen
Militärs. So lassen sich in den Militär­
akten aus dem Jahr 1918 immer wieder
antisemitische Äußerungen finden mit
dem bekannten Stereotyp der Gleichsetzung von Juden und Bolschewiki.
»Die Juden sind die natürlichen Feinde
der Ordnung und damit Anhänger des
pa-akg
werden. Lapidar berichtete eine Brigade der Bayerischen Kavallerie-Division beim Vormarsch auf die KrimHalbinsel im April, man habe prinzipiell keine Gefangenen gemacht. Dies
habe sich außerordentlich bewährt, da
so Angst und Schrecken beim Gegner
verbreitet worden seien.
Besonders drastisch war der Vorfall
am Mius-See im Südosten der Ukraine
Anfang Juni 1918. Bolschewistische
Truppen wollten dort in einem amphibischen Unternehmen den Deutschen
in den Rücken fallen, was aber bereits
nach zwei Tagen scheiterte. Anschließend ließ der deutsche Kommandeur
in diesem Gebiet, Oberst Arthur Bopp,
sämtliche Gefangene erschießen. Die
Zahl der Toten dürfte bei etwa 3000 gelegen haben und es bleibt bis heute
­unklar, wieviele Zivilisten aus den umliegenden Orten sich unter den Opfern
befanden. Dieser Vorfall wurde sogar
im deutschen Reichstag debattiert und
die Heeresgruppe Eichhorn verlangte
eine genaue Untersuchung der Ereignisse, die jedoch keine Ergebnisse zei­
tigte bzw. ohne Folgen blieb. Es ist aber
davon auszugehen, dass dieses Massaker am Mius-See in seiner Dimension
eine Ausnahme während der Besatzungszeit darstellte.
Allerdings setzte genau in diesen
Monaten Mai/Juni 1918 auf deutscher
Seite ein Umdenkprozess ein. Man erkannte, dass ein blindes Drauflosschlagen zwar eine kurzfristige Beruhigung,
keinesfalls aber eine dauerhafte Befriedung des Landes ermöglichte und
Ausschreitungen deutscher Truppen
die ländliche Bevölkerung nur in die
Arme der Bolschewiki trieben. Letztendlich, so die Heeresgruppe Eichhorn, würden nur gut zehn Prozent
der Landbevölkerung die Bolschewiki
unterstützen. Das Niederbrennen von
Häusern wurde daher ausdrücklich
verboten, mutmaßliche Täter sollten
den Feldgerichten überantwortet werden. Bei Verhaftungen von Verdächtigen mussten stets der genaue Sachverhalt angegeben und Zeugen genannt
werden, da man sonst kein rechtmäßiges Verfahren eröffnen konnte und
man die Verdächtigen wieder freilassen musste. Anordnungen einer reinen
Willkürherrschaft hätten sicherlich anders ausgesehen.
Begünstigt wurde diese Entwicklung
für die deutsche Seite durch Umwäl-
5Kaiser Wilhelm II. empfängt den Hetmann
der Ukraine, Pawlo Skoropadskij.
Deutsches Pressefoto, 1918.
Bolschewismus«, behauptete die Heeresgruppe Eichhorn-Kiew, so die Bezeichnung der Heeresgruppe vom 31.
März bis 30. April 1918, in einem zentralen Befehl vom April 1918. Besonders drastisch wurde der Kommandeur der Bayerischen Kavallerie-Division in einem Lagebericht vom Juni
1918: »Die Juden sind die Haupthetzer
im Lande. Solange wir ihnen nicht das
Handwerk legen, wird niemals Ruhe
im Lande eintreten.« Daher müssten
»schärfste Maßnahmen« angewandt
werden. Selbst der Kommandeur der
15. Bayerischen Reserve-Infanterie-Brigade stieß in das antisemitische Horn –
obwohl seine eigene Frau Jüdin war.
Im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg unterschieden sich aber 1918
Rhetorik und Praxis. So kam es während der deutschen Besatzungszeit
1918 zu keinen antijüdischen Maßnahmen. Im Gegenteil: Mittels der Akten
lassen sich Fälle belegen, wo deutsche
Truppen Juden vor der Gewalt der aufgebrachten ukrainischen Bevölkerung
beschützten. Erst nach dem deutschen
Abzug kam es in Galizien 1918/19 zu
Massenpogromen der einheimischen
Bevölkerung gegen ihre jüdischen Mitbürger mit mehreren tausend Opfern.
Auch wenn es die Deutschen im Som­
mer 1918 geschafft hatten, der Ukraine
noch einmal eine Phase der relativen
Ruhe zu bescheren, stand die Regierung
des Hetman weiterhin auf fragilen Füßen. Der ukrainische Staat konn­te nur
durch die deutsche (und österreichischungarische) Truppenpräsenz bestehen.
Als Sozialisten am 20. November 1918
die Regierung des Hetman stürzten,
brach dessen Herrschaft im ganzen
Land wie ein Kartenhaus zusammen.
Die Deutschen griffen auf Anweisung
des neu gegründeten Soldatenrats der
Heeresgruppe Kiew, wie die Heeresgruppe nach der Ermordung Eichhorns genannt wurde, nicht ein. Die
Ukraine versank nun in einen chaotischen, unübersichtlichen und blutigen Bürgerkrieg.
Bereits am 4. November 1918 war die
sich in Auflösung befindliche österreichisch-ungarische Ostarmee überhas­
tet aus der Ukraine abgezogen. Die
deutschen Truppen verblieben nach
Absprachen mit der Entente noch mehrere Wochen in der Ukraine, um dort
die Ordnung einigermaßen aufrechtzuerhalten. Doch kam es nun auch im
deutschen Heer zu Zerfallserscheinungen. Schnell zerstoben die Pläne
der Heeresgruppe Kiew, FreiwilligenFormationen aufzustellen, um Teile der
Ukraine für deutsche Interessen noch
weiterhin besetzt zu halten. So zogen
sich trotz der teilweise feindlichen und
drohenden Haltung der Bürgerkriegsparteien die deutschen Einheiten bis
März 1919 ohne größere Zwischenfälle
aus der Ukraine zurück. Die erste deutsche Herrschaft im Osten im 20. Jahrhundert war damit zu Ende.
Welche Erkenntnisse lassen sich aus
der knapp einjährigen deutschen Besatzung der Ukraine 1918/19 ziehen?
Sicherlich setzte man in beiden Weltkriegen vor allem zu Beginn auf Härte.
Die Terminologie der Befehle von 1918
ähnelt teilweise sehr stark jenen des
Unternehmens »Barbarossa« ab 1941:
So wurde »rücksichtsloses« Vorgehen
verlangt, die Juden wurden als »Hetzer« bezeichnet. Außerdem verfuhr
man mit gefangenen Partisanen genauso wie später im Zweiten Weltkrieg: Sie wurden erschossen oder gehängt. Auch das Niederbrennen von
ganzen Dörfern als Repressalie lässt
sich in beiden Weltkriegen finden.
Von der befreundeten Macht
zu den Eroberern neuen
­»Lebensraumes«
Doch allgemein überwiegen die Unterschiede zwischen 1918/19 und 1941/44,
sodass man insgesamt, was die Besatzungsherrschaft in der Ukraine 1918/19
betrifft, nicht von einem Wegweiser
zum Vernichtungskrieg sprechen kann.
Allein die politischen Rahmenbedingungen der jeweiligen Besatzungen
standen unter gänzlich anderen Vorzeichen: 1918 kam man zumindest offiziell als befreundete Macht in die Ukraine, 1941 als Eroberer neuen, deutschen »Lebensraumes«. Das zeigte sich
auch in der Partisanenbekämpfung:
Während man im Zweiten Weltkrieg
erst 1943/44 offiziell von Terrorme­
thoden abrückte, geschah dies in der
Ukraine nur wenige Monate nach der
deutschen Besetzung im Februar 1918.
Die Fähigkeit, aus den eigenen militärischen Fehlern schnell zu lernen – übrigens eine der traditionellen Leis­tun­
gen des preußisch-deutschen Militärs –
war ein Charakteristikum der Partisa-
nenbekämpfung 1918. Den Deutschen
gelang es sogar schließlich, einen vergleichsweise modernen Ansatz zu finden: Sie versuchten, eng mit den ukrai­
nischen Stellen zusammenzuarbeiten,
bauten einen bewaffneten Selbstschutz
sowie ein Agentennetz auf und waren
bemüht, ein gewisses Vertrauen bei der
lokalen Bevölkerung zu gewinnen.
Miss­griffe bei der Wahl der Mittel soll­
ten in der Partisanenbekämpfung
­verhindert werden, auch wenn dies
nicht immer gelang. Hinzu kam der,
wenngleich auch erfolglose, Wille, den
ukrai­nischen Staat auf ein solides wirtschaftliches Fundament zu stellen. Die
Sympathie der Einheimischen hatten
die Deutschen jedoch durch ihr rabia­
tes Vorgehen bereits im Frühjahr 1918
größtenteils verspielt, und später galten sie als Beschützer der reaktionären
Hetman-Regierung. Insgesamt hätten
sich aber trotz aller Fehler aus der Besatzung der Ukraine 1918/19 viele Lehren für die Zukunft ziehen lassen. Doch
eine positive Rückbesinnung auf die
weitgehend erfolgreiche Partisanen­
bekämpfung 1918/19 fand in der Zwi­
schen­kriegszeit nicht statt. Hitler selbst
lehnte eine Besatzung nach dem Mus­ter
von 1918/19 ab. War die Armee im Ersten Weltkrieg noch traditionelles Werkzeug der Politik, so sollte sie im Zweiten
Weltkrieg Träger einer menschenverachtenden Ideologie sein, was im Übri­
gen auch für die Rote Armee galt. Das
alles sollte katastrophale Folgen für die
zweite deutsche Besatzung im Osten
gut zwei Jahrzehnte später haben.
 Peter Lieb
Literaturtipps
Winfried Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918. Von BrestLitowsk bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Wien,
München 1966.
Von Brest-Litovsk zur deutschen Novemberrevolution.
Aus den Tagebüchern, Briefen und Aufzeichnungen von
Alfons Paquet, Wilhelm Groener und Albert Hopman.
März bis November 1918. Mit einem Vorwort von Hans
Herzfeld, Göttingen 1971.
Frank Grelka, Die ukrainische Nationalbewegung unter
deutscher Besatzungsherrschaft 1918 und 1941/42,
Wiesbaden 2005.
Peter Lieb, Aufstandsbekämpfung im strategischen Dilemma. Deutsche Besatzung in der Ukraine 1918. In:
Wolfram Dornik und Stefan Karner (Hrsg.), Die Besatzung der Ukraine 1918. Historischer Kontext – Forschungsstand – wirtschaftliche und soziale Folgen, Graz 2008.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
13
Quell(en) deutscher
Militärgeschichte
Freikorps 1918–1920
Das Bundesarchiv-Militärarchiv
in Freiburg i.Br.
Quell(en) deutscher Militärgeschichte
von 1864 bis heute
I
n einem Außenbezirk der südbadischen Stadt Freiburg, inmitten
von Gewerbe- und Wohnanlagen,
liegt eine Einrichtung, deren weitläufiges Areal mit mehreren fußballfeldgroßen Lagerhallen an ein Speditionsgelände erinnert. Hier befindet sich
das Bundesarchiv-Militärarchiv. Die
hohen Hallenmauern schützen etwas
ganz Besonderes: die amtlichen Unterlagen deutscher Streitkräfte seit dem
Jahre 1864 bis hin zur Bundeswehr der
Gegenwart. Im Jahre 2008 beläuft sich
der Gesamtumfang des hier verwahrten Archivguts auf nahezu 55 Regalkilometer. Siebzig Mitarbeiter sorgen
dafür, dass das kulturelle Erbe deutscher Streitkräfte für die Zukunft erhalten und für die Benutzung durch
die Bundeswehr, Wissenschaftler sowie für die interessierte Öffentlichkeit
zugänglich gemacht wird.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die meisten militärischen Unterlagen deutscher Herkunft, soweit sie
Kriegseinwirkungen und systematische Vernichtung überstanden hatten,
von den Siegermächten ins Ausland
verbracht. Die Rückgaben erfolgten
langsam und wurden über die Bundeswehr abgewickelt. Zu diesem Zweck
wurde eine Dokumentensammelstelle
im Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) eingerichtet, das ab 1958
in Freiburg ansässig war. Mit dem
Ziel, die Überlieferung der deutschen
Streitkräfte an einem Ort zu vereinen,
verlegte das Bundesarchiv seine Abteilung Militärarchiv im Jahre 1968 von
Koblenz nach Freiburg; sie nimmt seither die Aufgabe eines zentralen Militärarchivs wahr.
Im Rahmen eines fiktiven Archivrundgangs sollen im Folgenden anhand
 Magazinhalle des BundesarchivMilitärarchivs, Freiburg i.Br.
14
Militärgeschichte ·· Zeitschrift
Zeitschrift für
für historische
historische Bildung
Bildung ·· Ausgabe
Ausgabe 3/2008
4/2008
Militärgeschichte
ausgewählter Beispiele die Einzigartigkeit des in Freiburg verwahrten Archivguts und seine Vielgestaltigkeit
vorgestellt sowie seine Bedeutung für
die Erforschung der deutschen Militärgeschichte gezeigt werden.
Der erste Eindruck von den großräumigen, doppelstöckigen Magazinhallen ist nüchtern. In den riesigen
Regalanlagen werden die Archivalien zum Schutz vor Schmutz, Staub,
Licht und vor Beschädigung in Tausenden grauer Archivkartons aufbewahrt. Doch der Blick zwischen die
Regalböden offenbart klangvolle Namen wie Moltke, Tirpitz, Fritsch, Halder, Ruge oder Heusinger. Hier liegen
die privat-dienstlichen Unterlagen bedeutsamer Persönlichkeiten der deutschen Militärgeschichte, die man als
Nachlässe bezeichnet. Doch auch aus
dem Besitz weniger bekannter Personen lagern hier Unterlagen mit großer
Aussagekraft. Ein Beispiel dafür bietet
der aus nur wenigen Archivalien bestehende Nachlass der Gebrüder Koethe (BArch, N 557).
 Archivbestände
Das Bundesarchiv-Militärarchiv verwahrt Akten und andere Quellen
der preußisch-deutschen Armee seit
den Einigungskriegen, des Deutschen
Heeres und der Kaiserlichen Marine
bis zum Ende des Ersten Weltkrieges
sowie der Reichswehr, Wehrmacht,
Waffen-SS wie auch der Nationalen
Volksarmee und der Bundeswehr. Hinzu kommen Tagebücher, Feldpostbriefe und Fotoalben mit militärgeschichtlichem Bezug aus über 800
privaten Nachlässen deutscher Militärangehöriger des 19. und 20. Jahrhunderts.
Ernst Koethe nahm als junger Offizier an den Schlachten in Frankreich in den Jahren 1914 bis 1916 sowie am Feldzug gegen Rumänien im
Jahre 1917 teil. Eine Akte enthält die
erhalten gebliebenen Personalunterlagen, mit deren Hilfe sich die Biografie des Ernst Koethe im Wesentlichen
rekonstruieren lässt. Eine aufwändig
gestaltete Hörsaalzeitung aus der Zeit
der Generalstabsausbildung Ernst
Koethes an der preußischen Kriegsakademie zu Berlin in den Jahren
1905/07 lässt die Vergangenheit in
ebenso alltagsnaher wie humoriger
Art präsent werden. Die Ernennungsurkunde Koethes zum Hauptmann im
Jahre 1911 wurde, wie damals üblich,
vom Monarchen persönlich unterzeichnet. Daneben liegen Briefwechsel und ein Konvolut mit Flugblättern, Frontzeitungen, Tagesbefehlen
und vielen anderen Erinnerungsstücken aus dem fast ein halbes Jahrhundert währenden Soldatenleben. Die
eigentliche Aufmerksamkeit zieht jedoch ein Stapel Fotoalben auf sich,
worin Ernst Koethe seine Erlebnisse
während des Ersten Weltkrieges festgehalten hat. Eindrucksvoll sind beispielsweise die vielen Aufnahmen des
Grabenkrieges vor Verdun im Jahre
1915/16. Nicht minder interessant sind
aber auch die charakteristischen Momentaufnahmen vom Soldatenalltag
im rückwärtigen Bereich: Befehlsausgaben, Kantinenbetrieb in einem
unterirdischen Stollen, Berge frischgebackenen Kommisbrotes oder die
zahnärztliche Versorgung im Felde.
Zusammen mit dem Nachlass Ernst
Koethes kamen auch Unterlagen seines Bruders Bernhard in das Archiv.
Von Bernhard Koethe wissen wir nur
sehr wenig. Er war Angehöriger des
Expeditionskorps, welches das Deutsche Reich im Jahre 1900/01 zur Nie-
derschlagung des sogenannten Boxeraufstandes nach China entsandte.
Bernhard Koethe hat uns aus dieser
Zeit ein ausführliches Tagebuch sowie
ein opulentes Fotoalbum hinterlassen,
die uns die Erlebnisse und Gedankenwelt des Zeitgenossen auch mehr
als einhundert Jahre danach nacherleben lassen. Die Fotoaufnahmen veranschaulichen Land und Kultur, sie
verstören aber auch durch die Dokumentation kriegerischer Gewalt, Zerstörung und menschlichen Elends.
 Auszug aus der »Übersichtskarte der
Operationen« (BArch, N 43/141 K) der
Großen Generalstabsreise West 1905
Alfred Graf von Schlieffens.
offiziere der Roten Armee zu liquidieren (der sogenannte Kommissarbefehl) oder die präventive Amnestie für
Übergriffe von Wehrmachtangehörigen
gegen die Zivilbevölkerung der besetzten Gebiete im Osten (»Kriegsgerichtsbarkeitserlass«). In großer Zahl dokumentieren die Kriegstagebücher der
 Einsatz mit Gasmasken im Frankreichfeldzug 1915. Foto aus dem Privatnachlass
der Brüder Koethe (BArch, N 557/24, unpag.).
In einem anderen Magazinbereich
zeugen endlos scheinende Aktenreihen von der Tätigkeit des Wehrmachtführungsstabes im Oberkommando
der Wehrmacht (OKW) und der Generalstäbe von Heer und Luftwaffe sowie
der Seekriegsleitung. Ein Aktenband
enthält Ausfertigungen von Hitlers
Weisungen für die Kriegführung aus
den Jahren 1939 bis 1945; zahlreich
sind verbrecherische Befehle, etwa die
Aufforderung, kriegsgefangene Polit-
Heeresgruppen, Armeen und Divisionen das Kampfgeschehen. Dramatisches offenbart der Blick in einen Anlagenband zum Kriegstagebuch der
Heeresgruppe Don aus dem Jahre
1943. Darin befindet sich ein Funkspruch von General Friedrich Paulus,
Oberbefehlshaber der 6. Armee, vom
22. Januar 1943. Unter Aufbietung aller Kräfte hatte die seit dem 23. November 1942 durch eine großangelegte Gegenoffensive der Roten Armee in
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
3/2008
15
Quell(en) deutscher
Militärgeschichte
Freikorps 1918–1920

Stalingrad eingeschlossene 6. Armee
den Zusammenhang ihrer Verbände
wahren und die Aufspaltung des Kessels verhindern können. Nun meldete
Paulus:
»Russe im Vorgehen in 6 km Breite beiderseits Woroponow, zum Teil mit entrollten
Fahnen nach Osten. Keine Möglichkeit
mehr, Lücke zu schließen. Zurücknahme
in Nachbarfronten, die auch ohne Munition, zwecklos und nicht durchführbar.
Ausgleich mit Munition von anderen
Fronten auch nicht mehr möglich. Verpflegung zu Ende. Über 12 000 unversorgte Verwundete im Kessel. Welche
Befehle soll ich den Truppen geben, die
keine Munition mehr haben und weiter
mit starker Artillerie, Panzern und Infanteriemassen angegriffen werden.«
(BArch, RH 19 VI/42, Bl. 60).
Das Studium dieses und anderer
im Regal liegender Aktenbände offenbart die Apokalypse, die Tausende
deutsche Soldaten bei bitterer Kälte in
der Trümmerwüste von Stalingrad erlebten, bis die Kämpfe am 2. Februar
1943 ihr Ende fanden und 110 000 von
ihnen erschöpft und halb verhungert
den Gang in die sowjetische Kriegsgefangenschaft antraten. Und das Archivgut belegt: Stalingrad war kein
heroischer Opfergang; das Desaster
war aufgrund falscher Lagebeurteilungen und einer katastrophalen Versorgungslage bereits vor der Einschließung der 6. Armee absehbar!
Andere Akten aus der Zeit der
Wehrmacht zeigen, wie Regime und
Wehrmachtführung versuchten, die
Soldaten im Sinne der NS-Ideologie zu
beeinflussen. Erhalten gebliebene Prüfberichte der Feldpostzensur aus den
Jahren 1944/45 belegen, dass sich die
besiegte Wehrmacht zunehmend auflöste. Vom Schicksal derer, die wegen
jugendlicher Unbekümmertheit, Zweifel, Opposition oder Verweigerung in
die Mühlen einer mit fortschreitendem
Krieg immer hemmungslos-brutaler
agierenden Wehrmachtjustiz gerieten,
künden Tausende von Gerichtsakten.
In einer anderen Magazinhalle signalisiert die an einem Magazinregal angebrachte Bestandsbezeichnung DVW 1,
dass hier die Unterlagen des Ministeriums für Nationale Verteidigung
der DDR gelagert werden. Nach der
Wiedervereinigung Deutschlands wur-
16
In der Nacht vom
23. Februar 1940 war
gegen 0.32 Uhr ein
Flugzeug von der Marineflak
vor der Insel Borkum für
ein gegnerisches gehalten
und abgeschossen worden.
Daraufhin erfolgte am
26. Februar 1940 eine
Führerweisung (BArch,
RM 7/962, Bl.105;
vgl. Kriegstagebuch der
Seekriegsleitung 1939–1945,
Teil A, Bd 6: Februar 1946,
Herford, Bonn 1988, Bl. 94,
S.179-A).
de der gesamte Bestand des Militärarchivs der DDR in den Bestand des
Bundesarchiv-Militärarchivs überführt.
Daneben fanden weitere Unterlagen
zur Militärgeschichte der DDR Eingang in das Freiburger Militärarchiv.
In den mit den Signaturen DVW 1/
39458-39539 beschrifteten Archivkartons befinden sich die ehemals streng
geheim gehaltenen Protokolle des Nationalen Verteidigungsrates (NVR),
die auf Initiative eines Berliner Bürgerkomitees im Jahre 1990 vor der
bereits laufenden Aktenvernichtung
gesichert wurden. Der NVR wurde
per Gesetz im Jahre 1960 zur Lenkung der Landesverteidigung eingesetzt. Der NVR nahm in der Organisation der Landesverteidigung der
DDR eine Spitzenfunktion ein. Formal
war das Politbüro der Sozialistischen
Einheitspartei Deutschlands (SED) das
höchste Führungsgremium der DDR,
das Regierung und Staatsapparat als
ausführenden Organen Beschlüsse
und Weisungen vorgab. Das bedeutete jedoch nicht, dass hier alle wichtigen Staats- und Regierungsfragen entschieden wurden. Gerade für die zur
Stützung des Regimes unverzichtbare
Sicherheitspolitik schuf der SED-Vorsitzende Walter Ulbricht 1960 mit
dem Nationalen Verteidigungsrat ein
sicherheitspolitisches Führungszentrum. Beim NVR handelte es sich auch
um ein zusätzliches Machtinstrument,
das Ulbricht und später Erich Honecker dazu dienen sollte, ihren persönlichen Einfluss und die Vorrangstellung
der SED zu sichern.
4/2008
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 3/2008
Schlägt der Leser das Protokoll
der 16. Sitzung des NVR vom 20.
September 1963 auf (BArch, DVW
1/39473), so stößt er auf Erörterungen der SED-Spitze unter anderem zu
folgenden Themen: Zweifel an der
politisch-moralischen Zuverlässigkeit
der Grenztruppen; Abriss von Wohngebäuden, Produktionsstätten sowie
Umsiedlung von Bürgern entlang des
Grenzstreifens zu West-Berlin; Aufstellung sogenannter Arbeitsbataillone für
Kriegsdienstverweigerer. Die Sitzungsprotokolle des NVR der DDR von 1960
bis 1989 wurden in einem gemeinsamen Projekt des Militärgeschichtlichen
Forschungsamtes, des Bundesarchivs
und des Instituts für Zeitgeschichte,
gefördert durch die Bundesstiftung
Aufarbeitung, ins Internet eingestellt
und sind dort für jedermann abrufbar
(www.nationaler-verteidigungsrat.de).
Den umfangreichsten Teil des im
Bundesarchiv-Militärarchiv verwahrten Archivguts machen inzwischen
Unterlagen verschiedener Art aus
(Aktenbände, Anlagekarten, Konstruktionszeichnungen, Fotos, Datenträger,
Vorschriften), die vom Bundesministerium der Verteidigung und von Heer,
Luftwaffe, Marine, der Streitkräftebasis, von den Wehrverwaltungen, aus
dem Rüstungsbereich oder seitens der
Rechtspflege (z.B. Truppendienstgerichte) abgegeben werden. Jedes Jahr
kommen etwa vier Aktenkilometer neu
hinzu. Das Archivgut zur Bundeswehrgeschichte ist jung, und vielfach
unterliegen die Unterlagen der Geheimhaltung. Dies schränkt die Benutzung des Archivguts im Vergleich zu
anderen Überlieferungen noch stark
ein. Zu Fragen der Strategie, Organisation, der Führung und Ausbildung
 Archivbenutzung
Das im Bundesarchiv-Militärarchiv
lagernde Archivgut kann von jedermann genutzt werden. Voraussetzung dafür ist, dass die Unterlagen keiner Geheimhaltung mehr
unterliegen (gilt nur für Bundeswehrakten), älter als 30 Jahre sind
und keine personenbezogenen Daten enthalten (z.B. Gerichts- oder
Personalakten). In diesen Fällen bedarf die Benutzung der gesonderten
rechtlichen Prüfung der Zugangs-,
d.h. Benutzungsmöglichkeiten.
Auf der Homepage des Bundesarchivs können sich Interessierte mit
den Möglichkeiten der Archivrecherche vertraut machen. Sogenannte
Findbücher bieten wichtige Hintergrundinformationen zu den einzelnen Beständen und unterstützen die
systematische Recherche. Auch sonst
bietet die Homepage des Bundesarchivs in Form von Dokumenten des
Monats oder Internet-Gallerien ein
attraktives Onlineangebot zu einer
breiten Palette militärgeschichtlicher
Themen.
Bundesarchiv-Militärarchiv
Wiesentalstraße 10, 79115 Freiburg
Tel.: 0761/47817-0
Fax: 0761/47817-900
E-Mail: [email protected]
Homepage: www.bundesarchiv.de
sowie der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr unter den Bedingungen von
Ost-West-Konfrontation und nuklearem Wettrüsten gibt das Archivgut
Bedrückendes preis, wie die folgenden Beispiele zeigen: Unterrichtsmaterialien des »Atomlehroffiziers« an der
Führungsakademie der Bundeswehr,
die sich im Nachlass eines Lehrgangsteilnehmers erhalten haben, veranschaulichen, wie in den späten 1950er
Jahren der Einsatz atomarer Gefechtsfeldwaffen theoretisch geübt wurde.
Der taktisch-operative Einsatz von
Atomwaffen war damals ein fester Bestandteil von Operationsplänen, mit
deren Hilfe man die konventionelle
Überlegenheit der Angriffskräfte der
Warschauer-Pakt-Armeen zu kompensieren versuchte. Die atomare Feuerunterstützung der Kampftruppe war
bei Planungen und Übungen notgedrungen zu einer solchen Selbstver-
 Übungsmaterial zum Atomlehrgang an der Führungsakademie der Bundeswehr,
5. bis 9. Mai 1958, Nachlass Freytag von Loringhoven (BArch, N 525/1, unpag.).
ständlichkeit geworden, dass im Falle
eines Krieges unvorstellbare Verwüstungen Deutschlands die sichere Folge
gewesen wären. Eine in den Akten enthaltene Richtlinie für den Atomwaffeneinsatz vom damaligen Generalinspekteur Ulrich de Maizière aus dem
Jahre 1966 mahnte an:
»Bei dem Einsatz von Atomwaffen sind
die Auswirkungen auf die eigene Bevölkerung und im Hinblick auf Erhaltung
des eigenen Landes besonders zu beachten […] Durch die richtige Wahl des Ortes, der Art und Zeit des Einsatzes kann
oft sowohl den militärischen Erfordernissen als auch der gebotenen Rücksichtnahme entsprochen werden.«
(BArch, BH 2/160, S. 9; zit. nach:
Die Bundeswehr 1955 bis 2005. Rückblenden, Einsichten, Perspektiven,
München 2007, S. 312).
Dass das Dilemma militärischer Verteidigungsplanung vor dem Hintergrund des atomaren Wettrüstens dem
Militär bewusst war, belegt schon eine
Ausarbeitung des Führungsstabes der
Bundeswehr von Anfang 1959, worin
man die grundlegende Frage aufwarf,
ob im Falle eines Krieges die »Wiedereroberung eines ›Atomschlachtfeldes‹ nach Verlust der Substanz unseres Volkes« überhaupt noch sinnvoll
sei (BArch, BW 17/42, Bl. 49; zit. nach
Bruno Thoß, NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung, München 2006, S. 727).
Am Ende des »Rundgangs« soll noch
etwas Besonderes vorgestellt werden:
die Kartensammlung des Militärarchivs. Tausende besonders großformartiger Lagekarten des Generalstabes des Heeres zum Kampfgeschehen
an der Ostfront 1941–1945 hängen von
der Hallendecke. Wenige Meter entfernt werden nicht nur die Kartenwerke des Amtes für Geoinformationswesen der Bundeswehr, wie etwa
Truppenübungsplatzkarten, verwahrt.
In den Kartenschränken lagern auch
die zahlreichen Kartenwerke des militärischen Geowesens der DDR. Deren
geodätische und topgrafische Arbeiten
unterlagen bis 1990 einer strikten
Geheimhaltung; viele Kartenwerke
existieren nur noch im BundesarchivMilitärarchiv. Dazu zählen beispielsweise die Karten der Grenzsicherung (1:10 000) und der Aufklärung
(1:25 000), beides Spezialkarten der
Grenztruppen der DDR. Beide Kartenwerke beziehen sich auf das Territorium des früheren West-Berlins.
Eingetragen sind darin sämtliche militärisch relevanten Objekte wie öffentliche Gebäude, Lager, Kraftwerke, mögliche Einschränkungen der Passierbarkeit von Geländeabschnitten und vorbereitete Sprengschächte an wichtigen Brücken. Dargestellt werden auch
die DDR-Grenzsicherungsanlagen.
Die vorgestellten Beispiele und weiteres Archivgut zu den unterschiedlichsten Themen der deutschen Militärgeschichte können im Benutzersaal
des Bundesarchiv-Militärarchivs eingesehen werden.
Andreas Kunz
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
3/2008
17
Süddeutsche Zeitung/Scherl
Preußische Eisenbahnen und Festungen im 19. Jahrhundert
5Mit der Eröffnung der ersten deutschen Eisenbahnlinie zwischen Nürnberg und Fürth 1835 begann auch das Militär, sich für die
neue Technik zu interessieren.
Preußische Eisenbahnen und
Festungen im 19. Jahrhundert
M
it Staunen notierte der preußische Kronprinz und spätere deutsche Kaiser Friedrich III. (1831–1888) Anfang August
1870 in sein Tagebuch, dass er nie geglaubt hatte, einmal mit einer so großen
Streitmacht noch vor den Franzosen
am Rhein zu sein. Tatsächlich war es
den deutschen Eisenbahnen gelungen,
in nur drei Wochen rund 460 000 Mann
an den Rhein zu transportieren. So
konnten die preußisch-deutschen Armeen schon am 4. August 1870 mit
doppelter Übermacht ihre Offensive
gegen Frankreich eröffnen.
18
Der militärische Nutzen der
­Eisenbahnen
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war
mit dem raschen Ausbau der ersten
vereinzelten Eisenbahnen zu einem
ganz Deutschland verbindenden Streckennetz auch das Verständnis der
Strategen für den militärischen Nutzen
des neuen Transportmittels gewachsen. Schon 1842 hatte Preußen beschlossen, seine anfängliche Politik der
ausschließlich privat finanzierten Eisenbahnen aufzugeben. Mit Zinsgarantien beteiligte sich Preußen am Auf-
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
bau eines nationalen Eisenbahnnetzes,
das im Kern aus fünf strategischen
Bahnlinien bestehen sollte. Von nun an
zogen die Militärs die Eisenbahnen
vermehrt in ihre militärischen Planun­
gen ein. Der erste Militärtransport auf
der Eisenbahn fand im Oktober 1839
auf der neuen Berlin-Potsdamer Eisenbahn statt. Drei Jahre später wurden
auf derselben Strecke die ersten Truppenversuche mit dem Transport von
Artillerie und Kavallerie durchgeführt
und im Frühjahr 1846 erfolgte die Beförderung eines Observationskorps in
Brigadestärke an die oberschlesische
ullstein bild
5Preußische Beamte der Berlin-Potsdamer Eisenbahn, ca. 1863.
Grenze. Als im Frühjahr 1848 in Euro­pa
die Revolution ausbrach, war der strategische Nutzen der Eisenbahnen in
militärischen Kreisen längst unbestritten. Tatsächlich gelang es den Regierun­
gen in Berlin und Wien, ihre politische
Lage in den anschließenden Revolu­
tions­kämpfen mit Hilfe umfangreicher
Eisenbahntransporte mit oft mehr als
10 000 Soldaten zu stabilisieren.
Die bestandene militärische Bewährungsprobe der Eisenbahnen warf jedoch die Frage auf, wie sie sich mit den
Festungen, neben dem Landheer der
zweite Pfeiler der damaligen Kriegführung, zu einem neuen System der Landesverteidigung verbinden ließen.
1836 vertrat der Publizist und Eisenbahnpionier Friedrich List in einem
Aufsatz in der Darmstädter »Allgemeinen Militärzeitung« die These, dass
Deutschland durch ein Netz von Eisenbahnen in Zukunft zu einer einzigen
großen Festung werde, da nun Truppen mit beliebiger Schnelligkeit von
einem Ende des Landes zum anderen
befördert werden könn­ten. Auf keinen
Fall mochten sich jedoch die preußischen Offiziere der von List gezogenen Schlussfolgerung anschließen,
dass durch die neuen Eisenbahnen
bald alle Festungen überflüssig sein
würden.
Eisenbahnen contra Festungen
Der Konflikt zwischen den Befürwortern der neuen Eisenbahnen und den
Vertretern der traditionellen, sich auf
die Festungen stützenden Landesverteidigung beschäftigte die preußische
Armee bis in die 1850er Jahre. Anfangs
behielten dabei die Vertreter des preußischen Ingenieur- und Pionierkorps
als Befürworter des Festungswesens
die Oberhand. Sie befürchteten vor allem
eine Minderung des Verteidigungswer­
tes ihrer Festungen, sobald Eisenbah­
nen in deren Nähe geführt würden.
Als in den 1830er Jahren die ersten
Eisenbahnlinien im preußischen Rheinland projektiert wurden, galt für sie
wie bisher für die Chausseen, dass sie
Flüsse oder Landesgrenzen nur im
Schutze von Festungen passieren durften, um einem Angreifer keine ungesicherte Umgehungsmöglichkeit zu bieten. Keinesfalls, so hieß es im preußischen »Rayonregulativ von 1828,
dürften durch Dämme oder ähnliche
bauliche Veränderungen »unbestrichene Räume« (Räume vor einer Festung, die von den Festungsgeschützen
nicht getroffen werden konnten) entstehen und damit dem Feind Möglichkeiten geboten werden, sich der Festung in Deckung zu nähern.
Als die 1837 geplante Taunusbahn
von Frankfurt nach Mainz auch den
Bereich der dortigen Bundesfestung
berühren sollte, einigten sich daher die
zuständigen Offiziere der Bundesmilitärkommission schnell auf einen umfangreichen Forderungskatalog, den
sie an die Eisenbahngesellschaft richteten. Vor allem müsse, so das Militär,
die Bahn direkt in den Festungsbereich
geführt werden: Einerseits habe der Festungskommandant damit im Kriegsfalle die Kontrolle über sämtliches Betriebsmaterial der Gesellschaft. Andererseits entstünde, sofern die Bahn
über den Rhein geführt würde, kein
ungesicherter Flussübergang.
Aus der Sicht der Strategen war es
wiederum wichtig, dass die neuen
Eisen­bahnen, ebenso wie bisher die
Chausseen, möglichst viele Festungen
miteinander verbanden. Erst so konnte
ihrer Meinung nach ein preußisches
Festungssystem entstehen, das den militärischen Wert der Festungswerke beträchtlich erhöhen würde. Eine preußische Denkschrift aus dem Jahre 1837
forderte daher auch, wichtige Orte, in
denen Waffen und Kriegsbedürfnisse
gelagert oder hergestellt wurden, sowohl untereinander als auch auf den
kürzesten Wegen mit der Hauptstadt
Berlin zu verbinden.
Vermutlich war es der preußische Ingenieuroffizier und spätere General
Friedrich From (1787–1857), der 1846
in einem Aufsatz im »Archiv für Offiziere des Königlich-Preußischen Artillerie- und Ingenieurkorps« forderte,
dass an den Landesgrenzen Eisenbahnstrecken nur in Festungen enden und
Eisenbahnüberquerungen wichtiger
Flüsse nur in Festungen erfolgen
sollten. Den Festungen wurde somit
eine Sperrfunktion gegenüber Eisenbahnlinien zugewiesen. Ebenso wichtig war den Festungsspezialisten in der
preußischen Armee, die Bahnhöfe im
Vorgriff auf den Kriegsfall nach Möglichkeit nur in Festungen anzulegen.
Dazu mussten wiederum die Festungen so angelegt oder erweitert werden,
dass die Eisenbahnen in sie hinein oder
in ihrem Schussbereich aus- und einmünden konnten. »Das Débouchée der
Eisenbahnen«, also das Einführen der
Bahntrasse in die Festung, sollte an der
dem erwarteten feindlichen Angriff abgelegenen Seite der Festung erfolgen.
Die Bahnstrecken sollten von der er-
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
19
Fotos: ullstein bild/Granher Collection
Preußische Eisenbahnen und Festungen im 19. Jahrhundert
5Georg Friedrich List (1789–1846), Publizist und Eisenbahnpionier.
warteten feindlichen Seite erst einen
Bogen in angemessener Entfernung
um die Festung machen, ehe sie dort
einmündeten.
Der langjährige Chef des preußischen
Ingenieurkorps, General Ernst Ludwig
von Aster (1778–1855), stand den neuen
Eisenbahnen zeitlebens kritisch gegenüber. In einer Denkschrift aus dem
Jahre 1844 forderte er, dass die Eisenbahnen nur bis zum dritten, äußeren
Rayon an eine Festung herangeführt
werden dürften, denn dort könnten sie
durch die Festungsartillerie noch hinreichend »beherrscht« werden. Nur
auf diese Weise ließen sich nach seiner
Ansicht die zu hohen Kosten für die
notwendigen Änderungen im Fes­tungs­
bereich einsparen, die bei einer Führung der Bahn durch die Umwallung
anfallen würden. Asters Lösung lag jedoch nicht im kommerziellen Interesse
der Eisenbahngesellschaften, die ihren
Kunden lange Wege zu Bahnhöfen
außer­halb der Städte nicht zumuten
wollten. Aber auch der preußische
Kriegsminister Hermann von Boyen
(1771–1848) mochte sich Asters Ansich­
ten nicht anschließen und trat für eine
besondere Prüfung in jedem einzelnen
Fall ein.
Magdeburg, Minden, Stettin,
Koblenz
Schon 1840 war in der Festung Magdeburg, einer der größten Festungen
Preußens, die Einführung der Magdeburg-Leipziger Bahn in die Stadt ohne
wesentliche bauliche Veränderungen
der Festungsanlagen gelungen. Eine
20
5Hermann von Boyen (1771–1848),
preußischer Kriegsminister.
Musterlösung für das Problem von Eisenbahnen und Festungen war damit
jedoch nicht gefunden worden. So
wurde in Wesel am Rhein der Bahnhof
der Oberhausen-Arnheimer Eisenbahn
in den Rayonbereich der Festung gelegt. Im Falle der Festung Minden beschloss das Kriegsministerium eine
­besondere Befestigung des auf dem
rechten Weserufer anzulegenden
großen Bahnhofes. Man errichtete dazu
bis 1852 drei selbstständige Forts, die
durch eine Walllinie miteinander verbunden wurden, wodurch ein geräumiger, befestigter Bahnhofsbereich entstand. Dieser diente zugleich als rechter Weserbrückenkopf der Haupt­fes­
tung.
In Stettin wiederum sollte der Bahnhof unmittelbar vor den alten Befestigungen angelegt werden. Aufgrund
eines längst als notwendig erkannten
Erweiterungsbaus in den Jahren 1847
bis 1851 wurde er aber in die neue Befestigung einbezogen. Besondere Bedenken hatten die Militärs hier auch
aus maritimer Sicht, da der Hafen von
Swinemünde gänzlich unbefestigt und
somit dem Zugriff jeder feindlichen
Flotte ausgesetzt sei. Die Anlage der
strategisch wichtigen Ostbahn von
Stettin entlang der pommerschen Küs­te
nach Danzig kam für die Armee auch
aus diesem Grunde nicht in Frage.
Entgegen der vorwiegend »fortifikatorischen« Sichtweise der Ingenieure
legten die Offiziere des preußischen
Generalstabes besonderen Wert auf
eine Erleichterung des Transportes von
Nachschub und Truppen mit der Eisen­
bahn. In den Festungen sahen sie vor
allem die zukünftigen geschützten Um­
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
schlagpunkte in einem großen Eisenbahnnetz. Grundsätzlich bestand ein
hohes militärisches Interesse daran, die
Bahnhöfe wichtiger Linien innerhalb
der Festungen anzulegen, um auch im
drohenden Kriegsfall den Eisenbahnbetrieb so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. So entfiele nach Meinung
der Generalstabsoffiziere auch die
weitreichende Entscheidung zur rechtzeitigen Zerstörung des vor einer Festung angelegten Bahnhofes. Diese
Maßnahme hätte schon lange vor dem
Auftreten des ersten Feindes den Nachschub von Kriegsmaterial und Verpflegung erheblich beeinträchtigt und
­zudem unweigerlich zu Entschädigungsforderungen der zivilen Eisenbahngesellschaften geführt. Aus diesem
Grunde forderte 1857 der Kommandeur der 3. Ingenieurinspektion, Generalmajor Friedrich Leopold Fischer
(1798–1857), beim Bau der Eisenbahnstrecke von Köln nach Koblenz beiderseits des Rheins, den Bahnhof Koblenz
innerhalb der westlichen Umwallung
der bedeutendsten preußischen Fes­
tungs­stadt anzulegen. Die Stadt musste
sogar hinnehmen, dass eine Eisenbahn
innerhalb der Wallanlage durch Wohngebiete zum Rhein führte. Dort stellte
seit 1864 die heutige »Pfaffendorfer
Brü­cke« als Eisenbahnbrücke im Schutz
der Festung und ihrer Artillerie eine
Verbindung zur strategisch wichtigen
Lahntalstrecke und zur Festung Ehrenbreitstein am anderen Rheinufer her.
Erst nachdem die Doppelfestung Koblenz durch die neuen Grenzziehungen
zu Frankreich ihre militärische Bedeutung verloren hatte, konnte 1879 mit
­einer neuen Eisenbahnbrücke bei Horch­
heim der Rhein endlich an einer verkehrstechnisch günstigeren Stelle überquert werden.
Die Berlin-Hamburger Bahn und
die Ostbahn
Weit blickende Militärs hatten schon
früh die Ansicht vertreten, dass Eisenbahnen durch ihre Möglichkeit der
schnellen Truppenkonzentration an
bedrohten Frontabschnitten Lücken im
eigenen Festungssystem schließen
würden. Dies könne den Bau neuer
Festungen überhaupt überflüssig machen. So äußerte sich in einer Denkschrift der Berlin-Hamburger-Eisen-
ullstein bild/histopics
5Strategisch wichtige Eisenbahnbrücke: Die Pfaffendorfer Brücke in Koblenz, Aufnahme zwischen 1890 und 1900.
bahngesellschaft vom November 1842
der Major Helmuth von Moltke, damals noch Vorstandsmitglied der Gesellschaft, über den militärischen Nutzen einer Bahnlinie entlang des Elb­
ufers. Auf dem rechten Ufer der Elbe
waren von Magdeburg flussabwärts
keine Festungen vorhanden. Eine Eisen­
bahnstrecke von Berlin nach Hamburg
auf dem östlichen Ufer ermöglichte es,
so Moltke, zu jedem bedrohten Punkt
in kurzer Zeit Truppen zu dirigieren,
ohne dass sie sich jedoch dem Fluss näherten und dem feindlichen Feuer vom
jenseitigen Ufer aussetzten.
Dass im preußischen Kriegsministerium bald auch darüber nachgedacht
wurde, Eisenbahnen und Festungen
gemeinsam für eine offensive Kriegführung zu nutzen, zeigte sich spätestens bei den ministeriellen Beratungen
über den Verlauf der Ostbahngleise
von Berlin nach Danzig 1844/45. Hierbei hatte sich Kriegsminister von ­Boyen
im Staatsministerium mit Erfolg dafür
eingesetzt, die Eisenbahn auf einer
mittleren Linie über Küstrin und, geschützt von Warthe und Netze, in die
Nähe der Weichselfestung Thorn zu
führen. Thorn besitze als Waffenplatz
den Vorteil einer offensiven Lage gegen die vermuteten wichtigen russi­
schen Operationslinien Richtung Posen und Breslau. Eine Eisenbahn könne
Preußen in den Stand versetzen, schnell
Truppen und Kriegsmaterial heranzuführen, und zugleich die Möglichkeit
bieten, den feindlichen Truppen »von
dort aus auf den Hals zu fallen, ihre
Kommunikationen und Flanken zu bedrohen, und auf diese Weise Breslau
und Posen am wirksamsten zu verteidigen«. Eisenbahn und Festung sollten
sich hier also in der Vorstellung der Armeeführung ergänzen und eine offensive Kriegführung, zumindest auf operativer Ebene, ermöglichen.
Vorfahrt für die Eisenbahn
Mit der stetigen Zunahme der Eisenbahnkapazitäten und der wachsenden
Fähigkeit der Eisenbahnen, immer größere Truppenmassen in kürzester Zeit
an bedrohte Frontabschnitte zu transportieren, sank die bisherige Bedeutung der Festungen innerhalb des
preußischen Verteidigungssystems.
Deren Aufgabe hatte vor allem darin
bestanden, den Vormarsch des Feindes
so lange zu hemmen oder aufzuhalten,
bis aus dem Landesinneren weitere
Kräfte zur Verstärkung herangeführt
wurden. Auch in ihrer logistischen
Rolle als Lagerplatz verloren die Festungen an Bedeutung, da Güter aller
Art nun ebenfalls schnell aus dem Landesinnern herbei befördert werden
konnten. Dagegen wuchs die Bedeutung der Festungen als Umschlagplatz
für Truppen sowie als Bergungsort für
das Betriebsmaterial der Eisenbahnen,
das ansonsten im Kriegsfall in die
Hände des Feindes zu fallen drohte.
Das strategische Ziel möglichst durchgehender Eisenbahnlinien setzte sich
schließlich gegen die »fortifikato-
rischen« Interessen durch. »Sämtliche
Eisenbahnlinien müssen ununterbrochen, Schiene in Schiene, miteinander
zusammen hängen«, lautete schon im
Jahre 1846 die Forderung eines unbekannten Ingenieuroffiziers im »Archiv
für das Königlich-Preußische Artillerie- und Ingenieurkorps«. Die Fes­tungs­
anlagen dürften diesem Prinzip nirgends entgegenstehen. Auch müsse
der Verlauf der Eisenbahnenlinien zukünftig die Lage neuer Festungen be­
stim­men. Veraltete Plätze, deren Lage
diese Bedingung nicht mehr erfüllten,
sollten geschleift oder wenigstens nicht
mehr mit besonderen Besatzungen und
Verteidigungsmitteln versehen werden.
Damit wird bereits ein beachtlicher
Sinneswandel in der Armeeführung
deutlich, der kaum mehr als anderthalb
Dekaden beansprucht hatte. Nunmehr
sah der Generalstab in der Fähigkeit
der Eisenbahnen, schnell bedeutende
Truppenmassen an einem bedrohten
Ort zu konzentrieren, einen vollwertigen Ersatz für die traditionelle Rolle
der Festungen. Die ursprüngliche Wert­
hierarchie von Festungen und Eisenbahnen hatte sich praktisch umgekehrt,
so wie es frühe Eisenbahnprotagonis­
ten wie Friedrich List prophezeit hatten. Nicht vorausgesehen hatten diese
jedoch, dass die Eisenbahn viel eher
eine offensivere, beweglichere Kriegführung begünstigen und somit den
Charakter der Kriege gänzlich verändern sollte.
 Klaus-Jürgen Bremm
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
21
Das historische Stichwort
Die »Ägyptische Expedition«
1798 bis 1801
»Soldaten! Ihr seid in diese ­Gegend
gezogen, um sie der ­Barbarei zu
­entreißen, um die Zivilisa­tion in
den Orient zu ­tragen und um diesen
­schönen Teil der Erde dem Joch
Englands zu entziehen. Wir werden
­kämpfen. Denkt daran, dass Euch
von der Spitze dieser Denkmäler
vierzig Jahrhunderte betrachten.«
N
icht nur wegen dieser Ansprache bleibt die Schlacht Napoleon Bona­partes bei den Pyrami­
den am 21. Juli 1798, ja der französi­sche
Orientfeldzug als Ganzes legendär.
Analog zu den Kampagnen des revolutionären Frankreich am Rhein und in
Italien ab 1792 sollten auch in Ägypten
die alten Autoritäten gestürzt werden,
um das Land von der »Despotie«, der
unumschränkten Herrschaft, zu »befreien«. Seit 1517 gehörte Ägypten zum
Osmanischen Reich, wurde aber de
facto von der Militärkaste der Mamluken beherrscht. Die beiden Mächtigs­
ten unter ihnen, Murad Bey und Ibrahim Bey, besaßen ihr Machtzentrum in
Kairo bzw. Gizeh. Berichte über interne
Rivalitäten im Land hatten den frisch
22
pa-akg
Service
5Schlacht bei Abukir zwischen den ­Osmanen unter Mustafa Pascha und den Franzosen unter Napoleon Bonaparte am 25. Juli 1799. Gemälde (Ausschnitt) von LouisFrançois Lejeune (1775–1848), Öl auf Leinwand. Inv.-Nr. MV 6856, ­Versailles, Musee
du Château.
Napoleon im Orient
zum französischen Außen­minister
avancierten Charles de Talleyrand im
Juli 1797 zur Idee einer Ägyptenexpedition motiviert; begeistert griff der Befehlshaber der Italienarmee, Napoleon
Bonaparte, die Idee auf. Dieser hatte
die französische Direktorialregierung,
die letzte Regierungsform der Französischen Revolution, durch seine Bajonette im Innern gestärkt und versorgte
sie reich mit italienischer Beute. Mit
seinem ohne Regie­rungsvollmacht geschlossenen Vertrag mit Österreich
hatte der junge Revolutionsgeneral
nicht nur den Frieden gebracht, sondern Norditalien unterworfen. In der
Folge suchte der ehrgeizige Korse nach
einer Gelegenheit, um der politisch unklaren Situation in Paris aus dem Wege
zu gehen. Die unpopuläre Direktorialregierung stimmte den Plänen für das
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
ägyptische Unternehmen zu; nicht zuletzt, um den charismatischen Aufsteiger einstweilen von Paris fernzuhalten.
Ägypten war in Mitteleuropa mythisch verklärt, doch kaum bekannt. So
erhielt der Feldzug einen kulturellen
Nebenauftrag. Napoleon rief persönlich 167 Gelehrte aller Disziplinen zusammen, um die Expedition zu begleiten: Mathematiker und Astronomen,
Geologen und Geografen, Pulver- und
Salpeterexperten (also »Chemiker«),
Architekten, Ingenieure, Künstler,
Zeichner, Zoologen, Botaniker, Orientalisten und andere Philologen. Dazu
kamen Übersetzer, Drucker mit allen
verfügbaren Zeichensätzen und zahlreiche Hilfskräfte. Das »englische Joch«,
das es angeblich abzuschütteln galt,
war eine andere, geopolitische Motivation für den gewagten Feldzug: Zwi-
schenzeitlich zum Oberbefehlshaber
der England-Armee ernannt, verwarf
Napoleon die Pläne zur direkten Invasion der britischen Inseln bald als Illusion. Demgegenüber versprach die Invasion Ägyptens die Möglichkeit, die
französische Herrschaft Richtung Indien auszudehnen, wo im Süden Tipu
Sultan, der Herrscher von Mysore, gegen britische Truppen kämpfte.
In kurzer Zeit wurde nun im südfranzösischen Toulon und in Häfen Italiens eine Flotte von rund 300 Schiffen
zusammengezogen. An die 35 000 Mann
und etwa 1000 heimlich von ihren Män­
nern und Freunden an Bord geschmuggelte Frauen brachen am 19. Mai 1798
auf. Unterwegs nahm Bonaparte am
11. Juni 1798 Malta fast kampflos in Besitz. Am 30. Juni landeten die Franzosen in Alexandria. Just am Tag zuvor
war das Geschwader des britischen
Admirals Horatio Nelson unverrichteter Dinge von dort abgezogen. Bei seiner Verfolgung der französischen
Flotte hatte Nelson diese mehrfach verpasst und sie dann – ohne es zu wissen
– überholt.
Die Hauptkräfte der französischen
Truppen setzten sich unterdessen nach
Kairo in Marsch. Nach ersten Gefechten schwand die Kampfkraft infolge
von Hitze, Wassermangel, Augenleiden, Durchfall und strapaziöser Märsche durch Wüste und Schwemmland.
Ein Teil der Armee, die meisten Wissenschaftler und das Gepäck fuhren
parallel dazu in Booten nilaufwärts.
Frühmorgens am 21. Juli brach Napoleons Armee zur letzten Etappe nach
Kairo auf. Gegen zwei Uhr nachmittags erreichten die in fünf Divisionen
eingeteilten rund 25 000 französischen
Soldaten den Ort Embaba nördlich von
Gizeh. Zehn Kilometer südlich waren
die Pyramiden zu sehen; im Ort selbst
und in der Ebene westlich davon sowie
am anderen Nilufer stand eine doppelte Übermacht: etwa 20 000 Janitscharen (und andere Infanterie), 40 Geschütze, rund 12 000 mamlukische und
ägyptische Reiter, eine kaum überschaubare Zahl an bewaffneten Fußknechten und Milizen sowie 8 000 Beduinen. Sonst, in Europa, lag die Stärke
der französischen Revolutionstruppen
im vorwärtsstürmenden Angriff. Doch
hier siegten geschlossene Ordnung
und Feuerkraft. Die Franzosen formier­
ten sich zu rund 2 000 Mann umfas-
senden Infanterie-Karrees. An deren
Flanken befanden sich die Geschütze,
in deren Mitte Tragtiere und mitmarschierende Wissenschaftler (und so riefen die Soldaten »Esel in die Mitte!«).
Die wiederholten ungestümen Reiterattacken der Mamluken brachen sich
an den langsam vorrückenden Karrees.
Danach wurde Embaba im Sturm genommen, die dort eingegrabenen
Ägypter wichen. Ein Entsatzversuch
der ägyptischen Truppen vom anderen
Ufer blieb bald im Strom der Flüchtenden sowie im aufkommenden stürmischen Gegenwind stecken. Nach gut
zwei Stunden war die Schlacht bei den
Pyramiden entschieden. Von nun an
beherrschte Napoleon Unterägypten.
Nur eine Woche nach dem Triumph
wurde die französische Armee vom
Mutterland abgeschnitten: In der Nacht
auf den 2. August vernichtete das Geschwader Nelsons die bei Abukir vor
Anker liegende französische Flotte. Indessen wurde General Louis-CharlesAntoine Desaix nach Oberägypten ausgesandt, der sich dort als der »gerechte
Sultan« Vertrauen erwarb (genauso
wie einen Harem, über den er stolz
­einer Brieffreundin berichtete). Ende
Oktober 1798 erschütterte ein Aufstand
Kairo, der blutig niedergeschlagen
wurde. Die französische Herrschaft
konnte anschließend wieder etabliert
werden.
Infolge der Besatzung kam es zu fundamentalen kulturellen Missverständnissen, u.a. wegen des Alkoholkonsums
der ausländischen Soldaten und des
Auftretens der französischen Frauen –
und dem der ägyptischen Freundinnen
der Franzosen. Die Übernahme ägyptischer und muslimischer kultureller
Werte durch die Franzosen blieb die
Ausnahme. Gleichwohl heiratete der
Stadtkommandant von Alexandria,
General Jacques-François Menou, eine
Ägypterin und trat zum Islam über.
Als Misserfolg erwies sich Napoleons Expedition nach »Syrien« auf dem
Gebiet des heutigen Israel in der ersten
Jahreshälfte 1799. Das Ziel des ehrgeizigen Generals war es, entweder über
Konstantinopel den Heimweg nach
Frankreich zu erkämpfen oder nach Indien zu ziehen. Entlang der Küste zog
das französische Heer nach Jaffa, wo
Napoleon infolge der Versorgungsschwierigkeiten den Entschluss traf,
die beim Sturm auf die Stadt einge-
brachten ca. 4 000 osmanischen Kriegsgefangenen ermorden zu lassen. Ende
März begann die Belagerung des osma­
nischen Verwaltungssitzes Akko nördlich von Haifa. Sie blieb infolge der britischen Unterstützung der Belagerten
erfolglos. Währenddessen wurde ein
zahlenmäßig weit überlegenes osmani­
sches Entsatzheer am 16. April am Berg
Tabor in Galiläa zerschlagen. Trotzdem
musste der Feldzug Ende Juni erfolglos abgebrochen werden. Zurück in
Ägypten, siegte Napoleon am 25. Juli
bei Abukir gegen angelande­te britischosmanische Truppen. Ende August 1799
verließ Bonaparte seine Armee, ohne
seinen Nachfolger im Kommando, General Jean-Baptiste ­Kléber, vorher auch
nur gesprochen zu haben. Ebenso
fehlte eine entsprechen­de Regierungsweisung. Im Mutterland war unterdessen das Verlangen nach einem starken
Mann gewachsen. Die Armee blieb
noch zwei Jahre im Land. Kléber, der
gegen die Osmanen eine weitere Schlacht
für sich entschied, fiel am 14. Juni 1800
einem Attentat zum Opfer; am selben
Tag errang Napoleon seinen Triumph
in der Schlacht von Marengo in Italien.
Menou führte nun die Franzosen in
Ägypten, wurde von britischen Truppen wiederholt geschlagen und kapitu­
lierte gegen freien Abzug. Am 31. August 1801 verließen die letzten Franzosen Ägypten.
Wissenschaftlich und propagandistisch blieb der Orientfeldzug ein großer Erfolg. Die Mission, die »Zivilisation« nach Ägypten zu bringen, verlief
letztlich in die Gegenrichtung: In
­Europa folgte eine wahre Ägyptomanie, und von den hier erschlossenen
Kunstschätzen, Ausgrabungen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen
zehrte die Wissenschaft noch lange.
Auch ein militärisches Erbe des Ägyptenfeldzugs blieb. Bis zum Ende des
französischen Empire blieben Mam­
luken im Dienst der kaiserlichen Garde,
darunter auch der berühmte Leibwächter Napoleons, Rustan. Trotz seines Desasters in Palästina erwarb sich Napoleon daheim den »Mythos des Retters«.
Seit seinem Putsch vom 9. November
1799 war er als Erster Konsul nun faktisch Alleinherrscher der Französischen
Republik und wurde vier Jahre später
Kaiser aller Franzosen.
Martin Rink
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
23
Service
Medien online/digital
Digitales Archiv Marburg
Hess. Staatsarchiv Marburg (STA MR) WHK 15
Das »Digitale Archiv Marburg« ist ein
Projekt der Arbeitsstelle Archivpädagogik des Hessischen Staatsarchivs
Marburg. 59 virtuelle Ausstellungen
aus sieben Epochen mit insgesamt ca.
7000 online abrufbaren Dokumenten
werden darin präsentiert. Jeder Epoche
ist ein Einführungstext vorangestellt,
der dem Nutzer den Quellenzugang
erleichtert.
Der Schwerpunkt liegt auf Bild- und
Schriftquellen zur hessischen Landesund Regionalgeschichte. Darüber hinaus können Arbeitsgruppen in der
Rubrik »Werkstattausstellungen« ihre
http://www.digam.net/
eigenen Ausstellungen präsentieren.
Zusätzlich finden sich auf den Seiten
des Digitalen Archivs Marburg Informationen zum archivpädagogischen
Bildungsangebot sowie Links zu anderen Einrichtungen und Archivportalen.
Ton- und Filmquellen werden (noch)
nicht angeboten.
Von militärhistorischem Interesse sind
u.a. die Ausstellungen zum 20. Juli
1944 im Bereich »Weimar & Nationalsozialismus«. Eine davon ist dem Gene­
ral der Nachrichtentruppe und Mitglied des Widerstandes Erich Fellgiebel
gewidmet, der am 4. September 1944 in
Berlin-Plötzensee ermordet wurde. In
der Rubrik »Kaiserreich & 1. Weltkrieg« finden sich u.a. Feldpostbriefe
von Friedrich Ludwig aus Niederkleen
aus dem Preußisch-Österreichischen
24
Krieg von 1866 und dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71.
Besondere Aufmerksamkeit jedoch
verdient die Wilhelmshöher Kriegskartensammlung, die dank des Digitalen
Archivs Marburg nun einem breiten
Publikum zugänglich gemacht worden
ist. Bei diesem Bestand handelt es sich
um 44 großformatige Bände mit 3000
Plänen, Karten und sonstigen Darstellungen. Die Sammlung war um 1700
von dem Landgrafen Karl von HessenKassel begonnen worden und befand
sich ab 1790 im Schloss Wilhelmshöhe
bei Kassel. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war der Bestand noch um
einzelne Stücke ergänzt worden, bevor
sie 1878 in das Staatsarchiv Marburg
gelangte.
Die Wilhelmshöher Kriegskarten dokumentieren Kriegsschauplätze und
Kriegsereignisse in Europa und Amerika vom frühen 16. Jahrhundert bis
zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Bei den
Dokumenten handelt es sich um Handzeichnungen, Kupferstiche, Holzschnitte und Lithographien. Neben
den Land- und Schlachtkarten finden
sich Geschützzeichnungen, Manöverkarten, Lagepläne, Uniformblätter sowie
Truppengliederungen und Schlacht­ord­
nungen.
Die Kriegskartensammlung bietet
u.a. Karten zum Ungarisch-Türkischen
Krieg 1683–1699 (Bd. 6), Nordischen
Krieg 1700–1719 (Bd. 10), Spani­schen
Erbfolgekrieg 1701–1714 (Bd. 11–16)
und zum Siebenjährigen Krieg 1756–
1763 (Bd. 24–26). Karten zum Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg 1775–
1783 (Bd. 28–29) und zu den Koalitionskriegen 1792–1815 (Bd. 31–33) werden ebenso präsentiert wie Kartenwerke
zur Festung Wilhelm­stein im Stein­
huder Meer (Bd. 37) und zu verschiedenen Manövern (Bd. 38–42, 44).
Die einzelnen Dokumente sind als
JPEG-Grafik oder PDF-Datei aufrufbar
und mit editorischen Bemerkungen sowie knappen Angaben zum Inhalt versehen. Mit Hilfe der Suchfunktion kann
daher auch in den 44 virtuellen Räumen der Kriegskartensammlung nach
beliebigen Begriffen recherchiert werden.
Die Wilhelmshöher Kriegskarten
sind ein militärhistorischer Quellenschatz, der nun online entdeckt werden kann.
mn
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
Tage des Ruhms (frz. Titel: Indigènes). Regie: Rachid
Bouchareb, 119 Minuten, Belgien/Frankreich/Marokko
2006. ISBN 4048317357512; 14,99 Euro
Der Spielfilm »Tage des Ruhms« wäre
dem hiesigen Publikum besser bekannt, wenn seiner Oskar-Nominierung von 2007 auch die Trophäe selbst
gefolgt wäre. So kam die deutsche Produktion »Das Leben der Anderen« mit
dem überragenden Ulrich Mühe zum
Zuge. Hier wie dort geht es um die Verarbeitung eines heiklen historischen
Erbes. »Indigènes«: »Einheimische«, so
lautet der 2006 von Regisseur Rachid
Bouchareb unter dem Originaltitel gedrehte Film aus französisch-belgischmarokkanisch-algerischer Produktion.
Nordafrikanische Soldaten hatten
zwischen 1943 und 1945 erheblichen
Anteil an der Befreiung Frankreichs.
Bereits der Titel ist provokant, denn
genau wie im Deutschen der Begriff
»Eingeborene« spiegelt auch die Bezeichnung »Indigènes« europäische
Vorurteile wider. »Herr Hauptmann,
nennen Sie sie nicht Einheimische!«,
sagt der Nordafrika-Franzose Sergeant
Martinez in einer Schlüsselszene des
digital
Films, nachdem die ungleichen Verpflegungsrationen fast zur Meuterei
geführt hätten. Der Dialog geht weiter
und zeigt das Problem der französi­
schen Kolonialherrschaft in verdichteter Form: »Muselmanen!« – »So auch
nicht!« – »Wie wollen Sie, dass wir sie
nennen?« – »Männer, Herr Hauptmann,
(leise:) Freunde«.
Freilich entpuppt sich auch Martinez
(Bernard Blancan) als Vertreter der alten Ordnung. Und dieser sind die vier
nordafrikanisch-muslimischen Protagonisten ausgesetzt, zwischen Anpassung und Konflikt: Saïd (Jamel Debbouze) lehnt sich eng an seinen Zugfüh­
rer an, bis zur bitteren Enttäuschung;
Messaoud (Roschdy Zem) verliebt sich
in eine Französin, doch Liebesbriefe
werden Opfer der Zensur; Yassir (Samy
Naceri) versucht sich in kriegsnahen
Gelegenheitsgeschäften. Die eigentliche Hauptperson Abdelkader (Sami
Bouajila) versucht den sozialen Aufstieg über den Weg von Bildung und
Militärkarriere. Als düpierter Korporal
überlebt er als einziger seiner Kameraden den Krieg.
Die »Indigènes« kämpfen zunächst
in Italien und befreien 1944 in Frankreich ein »Mutterland«, das sie nicht
kennen. Ihr Kampf in den blutigen
Schlachten um den italienischen Monte
Cassino und in den französischen Voge­
sen findet keine Entsprechung in mili­
tärischer Gleichbehandlung, geschweige
denn werden den »Indigènes« die gleichen Bürgerrechte wie den Franzosen
zugestanden. 1959 schließlich setzte
der französische Staat die Rentenzahlungen für seine nordafrikanischen
Kämpfer aus. So ist der Film auch ein
politischer Appell, der zu anhaltenden
Diskussionen in Frankreich – und mittlerweile auch zur Rentenzahlung – geführt hat.
Der Film erzählt die Geschichte der
muslimischen nordafrikanischen Soldaten Frankreichs aus ihrer Perspektive. Das führt aber auch dazu, dass andere heikle Aspekte der Geschichte nur
leise angedeutet bleiben: So fielen in
Italien Tausende von Frauen der Gewalt der »Marokkaner« zum Opfer.
(Hiervon erzählte 1960 der italienische
Film »La Ciociara«/»Und dennoch
lebten sie«, der größte kommerzielle
Erfolg des italienischen Weltstars Sofia
Loren.) Der handwerklich gut gemachte Film Boucharebs ist dennoch
sehenswert: Das liegt nicht zuletzt an
den eindrucksvollen Darstellern, bereichert um die Musik von Arman
Amar und Cheb Khaled (weltweit bekannt durch »Aïcha«). Der Film zeigt
dem europäischen Publikum einen Teil
seiner Geschichte – aus der Sicht der
»Anderen«. Die nordafrikanischen
»Einheimischen« erhalten hier ihr eigenes Gesicht.
Martin Rink
Zwischen Oktober 1940 und Mai 1945
hielt Thomas Mann insgesamt 58 meist
kurze Reden im »Deutschsprachigen
Dienst« der BBC (British Broadcasting
Corporation) im Rahmen seiner monatlich ausgestrahlten Sendung »Deutsche Hörer!«. Mit emotional geprägten
und nachhaltigen Worten rief Mann
seine Radiohörer im nationalsozialistischen Deutschland zum Widerstand
gegen die politische Führung auf. Er
unterschied dabei zwischen der verbrecherischen politischen Elite und der
Masse der deutschen Bevölkerung, die
er für Demokratie und Menschlichkeit
zurückgewinnen wollte. Schon 1941
warnte Mann vor systematischer Ju-
denverfolgung, Kriegsverbrechen und
Vergasung. Durch die Reden wurde
der Literaturnobelpreisträger von 1929
zu einem der prominentesten Gegner
des »Dritten Reiches«. Das Abhören
solcher »Feindsendungen« war unter
Hitler strengstens verboten und wurde
mit aller Härte bestraft. Für die Briten
waren Thomas Manns Reden Teil ihrer
allgemeinen Demoralisierungstaktik
gegenüber dem »Dritten Reich«, somit
also auch Teil ihrer Anti-Nazi-Propaganda.
Es ist Oliver Boeck, Redakteur des
Bayerischen Rundfunks, zu verdanken, dass die berühmten BBC-Reden
Thomas Manns nun wieder in einem
neuen Zusammenhang zur Verfügung
stehen. Elf ausgesuchten Ansprachen
Thomas Manns werden auf der im hörverlag erschienenen CD kurze Ausschnitte aus Reden von Heinrich
Himmler, Joseph Goebbels, Gauleiter
Arthur Karl Greiser und anderen Größen des NS-Regimes gegenübergestellt. Durch diese Zusammenstellung
wird auch deutlich, dass Propaganda
auf beiden Seiten der Front ein gebräuchliches Mittel war.
tb
Thomas Mann, Deutsche Hörer! BBC-Reden 1941 bis
1945 (CD). Hrsg. von Oliver Boeck, Der Hörverlag, 73 Minuten, München 2004. ISBN 3899403983; 14,95 EUR
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
25
Service
Lesetipp
Lettow-Vorbeck
D
er »Löwe von Afrika« wurde er
genannt. Bereits zu Lebzeiten war
Paul von Lettow-Vorbeck Legende,
Mythos und, für nicht wenige, soldatisches Vorbild. Im Ersten Weltkrieg
versuchte er als Kommandeur der kaiserlichen Schutztruppe die Kolonie
Deutsch-Ostafrika (heute Teil Tansanias) gegen britische Angriffe zu verteidigen. Seine Truppen bestanden vor
allem aus einheimischen Söldnern, den
sogenannten Askari. Deutsche bildeten
das Offizierkorps. Trotz zahlenmäßiger
Unterlegenheit hielt die Schutztruppe
dem Gegner bis Kriegsende stand. Lettow-Vorbeck ergab sich erst knapp
zwei Wochen nach dem Waffenstillstand in Europa im November 1918.
Teilnehmer von Demonstrationen zusammenschießen. Dafür wurde er vor
dem Reichsgericht des Hochverrats angeklagt, aber kurze Zeit später per Gesetz amnestiert. Schulte-Varendorff
zeichnet auch das weitere politische
Wirken des Generals nach: »als Kolo­
nial­revisionist« vor und nach 1933 sowie als »Ewiggestriger« in der Bundesrepublik bis zu seinem Tod 1964.
Deserteure
D
Eckard Michels, »Der Held von Deutsch-Ostafrika«.
Paul von Lettow-Vorbeck. Ein preußischer Kolonialoffizier, Paderborn 2008. ISBN 978-3-506-76370-9; 360 S.,
39,90 Euro
E
Uwe Schulte-Varendorff, Kolonialheld für Kaiser und
Führer. General Lettow-Vorbeck. Mythos und Wirklichkeit, Berlin 2006 (= Schlaglichter der Kolonialgeschichte,
5). ISBN 978-3-86153-412-6; 224 S., 24,90 Euro
Der General tat nach dem Krieg alles,
um die Legendenbildung um seine
Person zu fördern. Nicht zuletzt seine
Bücher (am bekanntesten »Heia Safari!«, 1920) prägten und prägen bis
heute das Bild von Lettow-Vorbeck.
Uwe Schulte-Varendorff durchleuchtet das Leben des Generals und spart
dabei bewusst die weniger strahlenden
Seiten nicht aus. Insbesondere LettowVorbecks Beteiligung am Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920 wird bisweilen gern
übersehen: Als Kommandeur in Schwe­
rin ließ er die Landesregierung von
Mecklenburg-Schwerin verhaften und
26
tobte laut Michels kein »ritterlicher
Kampf«, sondern ein »rücksichts­loser
Kleinkrieg« mit katastrophalen Folgen
für die dortige Bevölkerung. Michels
geht auch mit den Heldenlegenden der
Zwischen- und Nachkriegs­zeit ins
­Gericht und hinterfragt, wie der Mythos des »Löwen von Afrika« entstehen konnte.
ks
ckard Michels blickt in seiner 2008
erschienenen preisgekrönten umfangreichen Arbeit ebenfalls kritisch
hinter die Kulissen der Legende. Er
fragt nach den Denk- und Handlungsmustern Lettow-Vorbecks und sieht in
ihm einen »typischen Repräsentanten
adeliger preußischer Militärdynas­
tien«. Trotz Einsätzen in den Kolonialkriegen in China, in Deutsch-Südwestafrika und als Kommandeur in
Deutsch-Ostafrika blieb sein Denken
stets ganz mitteleuropäisch geprägt.
Michels beleuchtet ähnlich wie SchulteVarendorff sehr kritisch die gegen die
Republik gerichtete Beteiligung am
Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920. Der Autor
lässt Lettow-Vorbecks spätere Rechtfertigung, er habe nur Befehle befolgt,
nicht gelten. Sein Schwerpunkt liegt
aber auf dem Kriegsgeschehen in Ost­
afrika 1914 bis 1918. Er zeichnet eine
quellengestützte wissenschaftli­che Geschichte des Krieges in Ostafrika. Dort
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
ie deutsche Wehrmacht umfasste
im Zweiten Weltkrieg insgesamt
etwa 18,2 Millionen Soldaten, die entweder eingezogen wurden oder sich
freiwillig gemeldet hatten. Die Zahl
derer, die sich zwischen 1939 und 1945
nach damals geltender Rechtsauffassung »unerlaubt« von der Truppe entfernten, ist nicht präzise zu ermitteln.
Wissenschaftliche Schätzungen gehen
von bis zu 300 000 fahnenflüchtigen
Wehrmachtsoldaten aus. Viele von
denjenigen, die nach ihrer Desertion
wieder aufgegriffen wurden, erwartete
der Tod: Über 15 000 ließ die Wehrmachtjustiz im Verlauf des Krieges hinrichten. Andere überlebten den Krieg
in der Haft. Einigen Deserteuren gelang es, sich nach ihrer Fahnenflucht
dauerhaft dem Kriegsdienst in der
Wehrmacht zu entziehen, indem sie in
den Untergrund gingen oder ins neutrale Ausland flüchteten.
Magnus Koch, Fahnenfluchten. Deserteure der Wehr­
macht im Zweiten Weltkrieg – Lebenswege und Ent­schei­
dungen, Paderborn 2008 (= Krieg in der Ge­schichte,
42). ISBN 978-3-506-76457-7; 426 S., 39,90 Euro
Sechs in die Schweiz geflüchtete
Männer stellt Magnus Koch in seinem
Buch in einzelnen Fallstudien vor. Ihre
Lebenswege und Beweggründe für die
Desertion zeichnet der Autor vorwiegend anhand von schweizerischen und
deutschen Quellenfunden wie Vernehmungsprotokollen und Selbstzeugnissen nach. Die heute gängigen Vorstellungen von Deserteuren als per se regimekritischen Kriegsgegnern werden
dabei von Koch widerlegt. Kochs Untersuchung zeigt zum einen die unterschiedlichen Motive auf, welche die
sechs Soldaten zur Desertion veranlasste, zum andern lässt seine Analyse
im Umkehrschluss aber auch Aussagen darüber zu, was die Wehrmacht
zusammenhielt. Koch richtet seinen
Blick des Weiteren auf die kontrovers
geführte Nachkriegsdebatte in der
Bundesrepublik Deutschland, die auch
die Selbstsichten der Deserteure stark
beeinflusste.
In rechtlicher Hinsicht ist der Themenkomplex in der Bundesrepublik
Deutschland inzwischen geklärt: Im
Mai 1999 beschloss der Bundestag ein
Gesetz zur Rehabilitierung der Wehrmacht-Deserteure und eine symbolische Entschädigung der Überlebenden und ihrer Angehörigen. In Österreich warten die ehemaligen Fahnenflüchtigen der Wehrmacht dagegen bis
heute auf ihre Rehabilitierung.
mp
Herrschaft der Wehrmacht
D
er Beginn des Zweiten Weltkriegs
jährt sich 2009 zum 70. Mal. Unzählige Bücher und Beiträge, welche
die großen Entwicklungslinien nachzeichnen, aber auch Detailfragen beantworten, füllen mittlerweile ganze
Bibliotheken. Und doch gibt es immer
noch Themenfelder, über die wir nur
wenig wissen, obwohl sie von großem
wissenschaftlichen und öffentlichem
Interesse sind. Dieter Pohl untersucht
mit seiner Arbeit über die Besatzungsherrschaft der Wehrmacht in der Sowjetunion ein solches Feld. Unser Wissen über die Vorgänge in den besetzten
Gebieten ist wesentlich geprägt von
der sowjetischen Geschichtsschreibung
einerseits sowie andererseits von der
zeitgenössischen deutschen Berichterstattung und der Erinnerungsliteratur
hoher deutscher Offiziere nach Ende
des Zweiten Weltkriegs. Zudem beeinträchtigt der Schleier des Verdrängens
während des Ost-West-Konflikts bis
heute unser Wissen über die damaligen Ereignisse.
Der Autor nimmt den Leser kenntnisreich und spannend formuliert in
jene Steppen, Wälder und Sumpfgebiete der Sowjetunion mit, in denen
nicht nur die Hauptkampflinien der
Dieter Pohl, Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung
in der Sowjetunion 1941-1944, München 2008
­(=Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 71).
ISBN 978-3-486-58065-5; 399 S., 39,80 Euro
kriegführenden Parteien verliefen, sondern der Alltag »hinter« der Front einen Spannungsbogen zwischen Militärverwaltung, Wirtschaftsorganisation und Fronttruppe bildete, der Aufschluss über die »brutalste militärische
Besatzungsherrschaft, die die Geschichte bis dahin gekannt hatte«, bietet. Detailreich vermittelt das Buch sowohl organisationsgeschichtliches Wissen als auch unterschiedliche Aspekte
im alltäglichen Zusammenleben von
Zivilbevölkerung und Wehrmacht. Dabei werden Fragen zur Ernährungspolitik, Zwangsarbeit, zu Massenmorden
und zum Partisanenkrieg thematisiert,
und dem Leser wird eindringlich vermittelt, dass die Wehrmacht vor allem
als militärischer Besatzungsapparat
teilhatte an den Massenverbrechen in
der Sowjetunion.
Thorsten Loch
Krieg gegen die Zivilbevölkerung
D
ie Ausstellung »Vernichtungskrieg.
Verbrechen der Wehrmacht 1941
bis 1944« machte auch der breiten Öffentlichkeit klar, dass im Zweiten Weltkrieg »Partisanenbekämpfung« untrennbar mit der Tötung von Zivilisten
verbunden war.
Dem Wiener Fotohistoriker Anton
Holzer gelingt der Nachweis, dass dies
kein ausgesprochenes Phänomen des
Zweiten Weltkrieges gewesen ist. Der
Kampf gegen vermeintliche oder tatsäch­
liche Spione, Verräter, Saboteure oder
Aufwiegler wurde bereits im Ersten
Weltkrieg brutal und systematisch gegen die Zivilbevölkerung des Hinterlan­
des geführt. Zehntausende fielen ihm
zum Opfer. Holzer führt dazu überwie­
gend österreichisch-ungari­sche Kriegsschauplätze an, die in Deutsch­land für
die Jahre 1914–1918 eher vergessen sind:
Galizien (Ostfront) und Serbien (Balkan).
Ausgangspunkt von Holzers Überlegungen sind beklemmende Fotos von
Hinrichtungen, die sich mehr oder weniger öffentlich abspielten. Ein Teil der
Fotos wurde bereits während des Ersten Weltkrieges veröffentlicht. Holzer
stellt dabei Grundsatzfragen zum öffentlichen Umgang mit Kriegsfotos,
mit der Gewalt gegen Zivilsten sowie
zur Pose der Henker. Er verbindet diese
Fotogeschichte gekonnt mit literarischen Zeugnissen bekannter Autoren
zu diesem Krieg gegen die Zivilbevölkerung: Karl Kraus, Egon Erwin Kisch
und Joseph Roth. hp
Anton Holzer, Das Lächeln der Henker. Der unbekannte
Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914–1918, Darmstadt 2008. ISBN 978-3-89678-375-2; 208 S., 39,90 Euro
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
27
Service
Ausstellungen
 Bad Karlshafen
Geschichte der Hugenotten
Deutsches HugenottenMuseum
Hafenplatz 9 a
34385 Bad Karlshafen
Telefon: 0 56 72 / 14 10
Telefax: 0 56 72 / 92 50 72
www.hugenottenmuseum.de
[email protected]
Dauerausstellung
Samstag und Sonntag
14.00 bis 17.00 Uhr
Eintritt: 3,00 Euro
ermäßigt: 2,00 Euro
Verkehrsanbindung:
Anfahrtsskizze unter
www.hugenottenmuseum.de/
museum/museumspfad.php.
 Bad Mergentheim
800 Jahre Deutscher Orden
Deutschordensmuseum
Schloß 16
97980 Bad Mergentheim
Telefon: 0 79 31 / 5 22 12
Telefax: 0 79 31 / 5 26 69
www.deutschordensmuseum.de
[email protected]
Dauerausstellung
April bis Oktober
täglich 10.30 bis 17.00 Uhr
November bis März
14.00 bis 17.00 Uhr
(montags geschlossen)
Eintritt: 4,20 Euro
ermäßigt: 3,20 Euro
Verkehrsanbindung:
Anfahrtbeschreibung unter
www.deutschordensmuseum.
de/Lageplan.htm.
 Berlin
The Making of ... Die Männer und Frauen der Berliner Luftbrücke 1948/49
Alliierten-Museum
Clayallee 135
14195 Berlin
Telefon: 0 30 / 81 81 99-0
Telefax: 0 30 / 81 81 99-91
www.alliiertenmuseum.de
[email protected]
27. Juni 2008 bis
27. September 2009
28
täglich außer Mittwoch
10.00 bis 18.00 Uhr
Eintritt frei
Verkehrsanbindung:
S-Bahn: S 1 bis Station
»Zehlen­dorf«, weiter mit Buslinie 115 bis Haltestelle
­»Alliierten-Museum«;
U-Bahn: U 3 bis Haltestelle
»Oskar-Helene-Heim«;
Bus: Linie 115 oder X 83 bis
Haltestelle »Alliierten
­Museum«.
Kassandra. Visionen des
Unheils 1914–1945
Deutsches Historisches
­Museum, Pei-Bau
Hinter dem Gießhaus 3
10117 Berlin
Telefon: 0 30 / 20 30-40
Telefax: 03 0 / 8 20 30 45 43
www.dhm.de
[email protected]
(Führungen)
19. November 2008 bis
22. Februar 2009
täglich 10.00 bis 18.00 Uhr
Eintritt: 5,00 Euro
(unter 18 Jahren frei,
Tageskarte für alle
Ausstellungen)
Verkehrsanbindung:
S-Bahn: Stationen »Hackescher Markt« und »Friedrichstraße«; U-Bahn: Stationen
»Französische Straße«,
»Hausvogteiplatz« und
»Friedrichstraße«; Bus: Linien
100, 157, 200 und 348 bis
Haltestellen »Staatsoper« oder
»Lustgarten«.
Russischer Soldatenalltag
in Deutschland
Bilder des Militärfotografen
Wladimir Borissow
1990–1994
Deutsch-Russisches
­Museum Berlin-Karlshorst
Zwieseler Straße 4/
Ecke Rheinsteinstraße
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
10318 Berlin
Telefon: 0 30 / 50 15 08 10
Telefax: 0 30 / 50 15 08 40
www.museum-karlshorst.de
[email protected]
14. November 2008 bis
1. März 2009
10.00 bis 18.00 Uhr
(montags geschlossen)
Eintritt frei
Verkehrsanbindung:
S-Bahn: S 3 bis Station
»Karlshorst«: Ausgang
­Treskowallee, dann zu Fuß die
Rheinsteinstraße entlang
(ca. 15 min. Fußweg);
Bus: Linie 396.
Haus der Wannsee­Konfernz
Gedenk- und Bildungsstätte
Haus der Wannsee­Konferenz
Am Großen Wannsee 56–58
14109 Berlin
Telefon: 030 / 80 50 01-0
Telefax: 030 / 80 50 01-27
www.ghwk.de
[email protected]
Dauerausstellung
10.00 bis 18.00 Uhr
(außer an gesetzlichen Feier­
tagen)
Eintritt frei
Verkehrsanbindung:
S-Bahn/Bus: S 1 oder S 7 bis
Station »Wannsee«, dann
Buslinie 114 bis Haltestelle
»Haus der Wannsee­Konferenz«.
 Bonn
Auf die Bilder kommt es
an! Wahlkampf und politischer Alltag in Deutschland nach 1945
in der U-Bahn-Galerie der
Station »Heussallee«
Stiftung Haus der
­Geschichte der Bundes­
republik Deutschland
Museumsmeile
Willy-Brandt-Allee 14
53113 Bonn
Telefon: 02 28 / 91 65-0
Telefax: 02 28 / 91 65-302
www.hdg.de
[email protected]
13. Juni 2008 bis
Ende Mai 2009
Tag und Nacht geöffnet
Eintritt frei
Verkehrsanbindung:
U-Bahn: Linien 16, 63 und 66
bis Station »Heussallee/
Museums­meile«; Bus: Linien
610 und 630 (Museums­linie)
bis Haltestelle »Bundeskanzlerplatz/Heuss­allee«.
Flagge zeigen? Die Deutschen und ihre Nationalsymbole
Stiftung Haus der
­Geschichte der Bundes­
republik Deutschland
(siehe oben)
4. Dezember 2008 bis
13. April 2009
 Dresden
Hinterlassenschaften aus
fünf Jahrhunderten
(Schaumagazin mit kostbaren und seltenen Exponaten aus allen Sachgebieten
des Museums)
Militärhistorisches Museum
der Bundeswehr
Olbrichtplatz 2
01099 Dresden
Telefon: 03 51 / 8 23 28 03
Telefax: 03 51 / 8 23 28 05
www.militaerhistorischesmuseum.bundeswehr.de
Dauerausstellung bis 2010
9.00 bis 17.00 Uhr
(montags geschlossen)
Eintritt und Führungen frei
Verkehrsanbindung:
Straßenbahn: Linien 7 und 8
bis Haltestelle »Olbrichtplatz/
Militärhistorisches Museum«;
Bus: Linie 91 bis Haltestelle
»Stauffenbergallee/Militär­
historisches Museum«.
Dresden und das Militär
(800 Jahre Stadtgeschichte 800 Jahre Militärgeschichte)
Militärhistorisches Museum
der Bundeswehr (siehe oben)
Dauerausstellung bis 2010
 Frankfurt (Oder)
Frankfurt im Dreißig­
jährigen Krieg
Städtische Museen Junge
Kunst und Viadrina
Carl-Philipp-EmanuelBach-Straße 11
15230 Frankfurt (Oder)
Telefon 03 35 / 4 01 56-0
Telefax 03 35 / 4 01 56-11
www.museum-viadrina.de
[email protected]
Dauerausstellung
11.00 bis 17.00 Uhr
(montags geschlossen)
Eintritt: 3,00 Euro
ermäßigt: 2,00 Euro.
Gedenk- und Dokumen­
tationsstätte »Opfer politischer Gewaltherrschaft«
1930–1945 und 1945–1989
Städtische Museen Junge
Kunst und Viadrina
Collegienstraße 10
15230 Frankfurt (Oder)
Telefon: 03 35 / 68 02-712
Telefax: 03 35 / 4 01 56-11
www.museum-viadrina.de
­unter »Ständige Ausstellungen
außerhalb des Junkerhauses«
[email protected]
Dauerausstellung
Montag bis Freitag
9.00 bis 16.00 Uhr
Eintritt frei
 Ingolstadt
Herbert Agricola
(1912–1998). Graphiken aus
dem Zweiten Weltkrieg
Bayerisches Armeemuseum
Ingolstadt
Neues Schloss, Paradeplatz 4
85049 Ingolstadt
Telefon: 08 41 / 93 77-0
Telefax: 08 41 / 93 77-200
www.bayerisches­armeemuseum.de
sekretariat@bayerisches­armeemuseum.de
9. Juli 2008 bis 13. April 2009
08.45 bis 17.00 Uhr
(montags geschlossen)
Eintritt: 3,50 Euro
ermäßigt: 3,00 Euro
Verkehrsanbindung:
Anfahrtsbeschreibung auf der
Website unter »Kontakt/­
Anschrift«.
 Ludwigsburg
Die 260-jährige Geschichte
der Garnison Ludwigsburg
Garnisonmuseum Ludwigsburg im Asperger Torhaus
Asperger Straße 52
71634 Ludwigsburg
Telefon: 0 71 41 / 9 10-2412
www.garnisonmuseum­ludwigsburg.de
info@garnisonmuseum­ludwigsburg.de
Dauerausstellung
Mittwoch 15.00 bis 18.00 Uhr
Sonntag 13.00 bis 17.00 Uhr
Eintritt: 2,00 Euro
ermäßigt: 1,00 Euro
Verkehrsanbindung:
S-Bahn: S 4 und S 5 (von
Stuttgart bzw. Bietigheim) bis
Station »Ludwigsburg«,
­weiter zu Fuß über Bahnhofund Uhlandstraße zum Asperger Torhaus (10 Minuten).
 Nordholz
Willy Messerschmitt
(1898–1978). Ein Konstrukteur und seine Flugzeuge
AERONAUTICUM
Deutsches Luftschiff- und
Marinefliegermuseum
Peter-Strasser-Platz 3
27637 Nordholz
Telefon: 0 47 41 / 18 19-0
Telefax: 0 47 41 / 18 19-15
www.aeronauticum.de
[email protected]
2. November 2008 bis
29. März 2009
Februar bis November
täglich 10.00 bis 18.00 Uhr
Dezember bis Januar
täglich 10.00 bis16.00 Uhr
Eintritt: 6,50 Euro
ermäßigt: 2,50 Euro
Verkehrsanbindung:
Anfahrtsskizze unter
www.aeronauticum.de/
deutsch/Bilder/pdf/anfahrt.pdf.
 Peenemünde
Geschichte der Raketentechnik
Historisch-Technisches
Informations­zentrum
Peenemünde
Im Kraftwerk
17449 Peenemünde
Telefon: 03 83 71 / 505-0
Telefax: 03 83 71 / 505-111
www.peenemuende.de
[email protected]
Dauerausstellung
April bis September
10.00 bis 18.00 Uhr
Oktober bis März
10.00 bis 16.00 Uhr
(montags geschlossen)
Eintritt: 6,00 Euro
ermäßigt: 4,00 Euro
Verkehrsanbindung:
Das Museum ist unter anderem mit der Usedomer Bäderbahn (UBB) erreichbar.
 Prora
Verführt · Verleitet ·
­ erheizt. Das kurze Leben
V
des Nürnberger Hitler­
jungen Paul B.
Dokumentationszentrum
Prora
Objektstraße, Block 3
18609 Prora
Telefon: 03 83 93 / 1 39 91
Telefax: 03 83 93 / 1 39 34
www.proradok.de/seiten_
deutsch/aktuelles.html
[email protected]
8. November 2008 bis
31. März 2009
Eintritt: 3,00 Euro
ermäßigt: 2,00 Euro
(Kinder unter 14 Jahre freier
Eintritt)
Verkehrsanbindung:
Bahn: Regionalbahn von Stralsund bzw. Binz bis Station
»Prora-Nord« oder »ProraOst«; Pkw: Von Stralsund
über den Rügendamm auf der
B 196 und weiter auf der
B 196a Richtung Binz nach
Prora.
 Seelow
(bei Frankfurt/Oder)
Die Schlacht um die Seelower Höhen im April 1945
Gedenkstätte/Museum
­Seelower Höhen
Küstriner Straße 28a
15306 Seelow
Telefon: 0 33 46 / 597
Telefax: 0 33 46 / 598
www.gedenkstaette-­­seelowerhoehen.de
[email protected]
Dauerausstellung
10.00 bis 16.00 Uhr
(montags geschlossen)
Eintritt: 3,00 Euro
ermäßigt: 1,50 Euro
Verkehrsanbindung:
Bahn/Bus: Von Berlin mit
Regional­express RE 1 bis
Bahnhof »Frankfurt (Oder)«,
weiter mit OE 60 nach »Seelow (Mark)«, 3 Minuten zu
Fuß.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
29
Militärgeschichte kompakt
8. Januar 1959 Sieg Fidel Castros in Kuba
ullstein bild
Ist heute von Kuba die Rede, denkt wohl jeder zuerst an
Fidel Castro. Der »maximo lider« dominierte die Entwicklung der karibischen Insel im vergangenen Jahrhundert wie kaum ein anderer Staatschef eines
Landes.
Bereits 1953 versuchte Castro erstmals, den Diktator
Fulgencio Batista zu stürzen. Dessen Regime zeichnete
sich, unter dem Schutz der Vereinigten Staaten, primär
durch Korruption, Unterdrückung, maßlose Dekadenz
und schrankenlose Prostitution aus. Ein vom jungen
5 Castro zieht unter dem Rechtsanwalt Castro geführter Überfall auf die MonJubel der Bevölkecada-­Kaserne in Santiago de Cuba scheiterte 1953 aber
rung in Havanna ein. auf ganzer Linie. Vor Gericht gestellt und verurteilt,
wurde er nach drei Jahren Haft ins Exil nach Mexiko
abgeschoben. Ende 1956 kehrten Castro und seine Getreuen, unter ihnen der
Argen­tinier Ernesto »Che« Guevara, heimlich nach Kuba zurück und begannen
in den Bergen im äußersten Südosten der Insel ihren Kampf von Neuem. Mit
­ihrer klassischen Sabotage- und Guerillataktik schwächten sie fortwährend die
Armee Batistas, bis diese quasi in sich kollabierte. Jeder Machtbasis enthoben,
floh Batista am 1. Januar 1959. Castros Truppen starteten ­einen Sieges- und Jubel­
zug quer über die Insel und zogen am 8. Januar in ­Havanna ein. Die neue Regierung unter Castro, dessen Bruder Raoul und »Che« Guevara begann mit der
­revolutionären Umgestaltung des Landes. Die Beziehungen zu Washington verschlechterten sich massiv, Castro führte Kuba an die Seite der Sowjet­union. Tiefpunkt war die Raketenkrise des Jahres 1962, als die Welt am Rand eines nuklearen
Krieges stand. Bis heute besteht eine konsequente Wirtschaftsblockade seitens
der USA. Castro regierte Kuba 48 Jahre. 2007 übergab er die Regierungsgeschäfte an seinen Bruder Raoul, 2008 trat er offiziell als Präsident zurück.
ks
12. März 1929 »Windiges
aus der Deutschen Luftfahrt«
pa-akg
Die Ausgabe der Wochenzeitschrift »Die Weltbühne«
vom 12. März 1929 sorgte für Furore. Unter dem Titel
»Windiges aus der deutschen Luftfahrt« wurden die
Verbindungen zwischen Reichswehr, ziviler Luftfahrt
und Flugzeugindustrie aufgezeigt. Der Friedensvertrag
von Versailles (1919) hatte deutsche Luftstreitkräfte
verboten. Die Reichswehr jedoch umging diese Bestimmungen und sah sich durch diesen Artikel herausgefordert. Daher wurde gegen den Autor Walter Kreiser
5 Carl von Ossietzky
(Pseudonym Heinz Jäger) und gegen den Herausgeber
(Mitte) mit seinen
der »Weltbühne« Carl von Ossietzky am 1. August 1929
Verteidigern vor
Strafantrag gestellt. Noch 1929 erfolgten Voruntersuchun­
dem Reichsgericht
Leipzig im Novemgen in Sachen Landesverrat und Verrat militärischer
ber 1931.
Geheimnisse. Allerdings versuchten Reichswehr, Jus­tiz­
ministerium und Auswärtiges Amt zunächst, das Verfahren zu verschleppen, damit nicht noch weitere Details an die Öffentlichkeit
­gelangten. Vor dem Reichsgericht wurde schließlich im November 1931 der
»Weltbühnenprozess« verhandelt. Herausgeber und Autor wurden zu je anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt. Während sich Kreiser nach Frankreich absetzte, trat Ossietzky seine Haft am 10. Mai 1932 in Berlin-­Tegel an. Er wurde am
22. Dezember 1932 im Rahmen einer Weihnachtsamnestie entlassen. Das NS­Regime ließ jedoch den überzeugten Pazifisten und Demokraten Ossietzky im
Februar 1933 erneut verhaften und in ein Konzentrationslager einweisen. Folter
und schlechte Haftbedingungen führten zu Tuberkulose, an deren Folgen er
schließlich am 4. Mai 1938 starb. Am 23. November 1936 war Carl von Ossietzky
rückwirkend der Friedensnobelpreis für das Jahr 1935 zuerkannt worden. Das
NS-­Regime untersagte ihm die Reise nach Oslo, sodass er den Nobelpreis nicht
persönlich in Empfang nehmen konnte.
hp
30
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
Heft 1/2009
Service
Militärgeschichte
Zeitschrift für historische Bildung
 Vorschau
Die nächsten beiden Ausgaben der Militärgeschichte thematisieren in größerem Umfang den Zweiten Weltkrieg, Heft 2 befasst
sich aus gegebenem Anlass vornehmlich mit
Themen des Kriegsbeginns 1939. Im ersten
Heft des Jahres 2009 schließt Markus Eikel
mit seinem Beitrag über das Führerhauptquartier »Werwolf« im ukrainischen Winniza
an den Aufsatz von Peter Lieb in der vorangegangenen Ausgabe an, wo dieser fragte, ob
die deutsche Besatzung 1918/19 in der Ukraine ein »Wegweiser zum Vernichtungskrieg«
ab 1941 gewesen sei. Markus Eikel nimmt
nunmehr die militärischen Entscheidungen
an der Ostfront in den Blick, die im mi­li­täri­
schen Lagezentrum in der Ukraine während
des Zweiten Weltkrieges getroffen wurden.
Bevor die Verlegung der obersten militäri­
schen Führung von der ostpreußi­schen »Wolfs­
schanze« nach Winniza erfolgen konnte,
wurde das Gebiet um das Lagezentrum großräumig »gesäubert«; bis zur Ankunft Hitlers
im Juli 1942 sollten alle Juden aus dem Raum
Winniza verschwunden sein.
Ein weiterer Beitrag zum Zweiten Weltkrieg hat die Torpedo-Krise zum Inhalt, die
im April 1940 mit dem britisch-deutschen
Kampf um die Vorherrschaft in den norwegi­
schen Gewässern ihren Höhepunkt erreichte.
Die Besatzungen der deutschen U-Boote
setzten sich mit den zahlreichen Torpedoversagern nicht nur zusätzlichen Gefahren aus,
diese nagten darüber hinaus am Selbstvertrauen der Offiziere und schwächten so die
Kampfkraft der Truppe. Welche technischen
Mängel und menschlichen Unzulänglichkeiten zu der Krise führten, die in letzter Konsequenz die verantwortlichen Männer vor
dem Reichskriegsgericht unter Anklage sah,
arbeitet Heinrich Schütz heraus.
Uwe Brammer widmet sich paramilitäri­
schen Verbänden in der Weimarer Republik
und knüpft so an die Ausführungen von Rüdiger Bergien an, der in Heft 3/2008 die Freikorpsbewegung in Deutschland nach dem
Ersten Weltkrieg beschrieben hat. Und
schließlich zeichnet Christian Senne ein Bild
von der Militärbeobachtertätigkeit eines
deutschen Offiziers Ende des 19. Jahrhunderts.
mt
Militärgeschichte im Bild
Vom Preußischen Ulanenregiment
(1. Hannoversches) Nr. 13 zum
Ausbildungszentrum der Heeres­
aufklärungstruppe in Munster
A
m 1. September 2008 übernahm
das jüngst aufgestellte Ausbildungszentrum Heeresaufklärungstruppe in Munster, das den Beinamen »Heeresaufklärungsschule«
führt, das neue Dienstgebäude des Generals der Heeresaufklärungstruppe
und Kommandeurs Ausbildungszentrum Heeresaufklärungstruppe (Oberst
Karl-Ernst Graf Strachwitz) mit einer
ganz besonderen Feier. In Munster
fand an diesem Tag die Miniatur eines
Reiterstandbildes des Bremer Bildhauers Ernst Moritz Gorsemann eine neue
Heimat. Das Original des »Hannoverschen Ulans« steht seit 1922 in der Eilen­
riede in Hannover und erinnert an das
Preußische Ulanenregiment (1. Hannoversches) Nr. 13. 1990 wurde die Minia­
tur für die – 1994 aufgelöste – Panzer­
bri­gade 3 in Nienburg geschaffen, die
den Marsch der hannoverschen Garde
du Corps (franz.: Leibgarde) als Parade­
marsch führte. Auch das Aufklärungslehrbataillon 3 der Bundeswehr, das
2006 in Lüneburg seinen 50. Geburts6 Reiterstandbild des Bremer Bildhauers
Historisches Museum Hannover
Ernst Moritz Gorsemann (1886–1960)
in der Eilenriede in Hannover, Aufnahme
von 1927 von Wilhelm Ackermann.
tag feierte, sieht sich der Tradition der
Hannoverschen Kavallerie verpflichtet.
Original und Kopie des Reiterstandbildes verweisen auf die Entstehung
eines deutschen Nationalstaates im
19. Jahrhundert und auf 200 Jahre
wechselhafte Kavalleriegeschichte.
­Deren Anfänge reichen zurück bis ins
Napoleonische Zeitalter. Während der
französischen Besatzung des Kurfürs­
tentums Hannover wurde 1803 in England »The King’s German Legion« aufgestellt. Deren 1. Schweres (seit 1813:
Leichtes) Dragoner-Regiment kämpfte
unter dem Herzog von Wellington in
den Napoleonischen Kriegen und
kehrte am 24. Februar 1815 als GardeRegiment in die nun königlich-hanno­
versche Armee zurück. 1816 bestanden
in Hannover die Garde du Corps und
ein Gardekürassier-Regiment. Im preußisch-österreichischen Krieg von 1866
erwarb hannoversche Kavallerie im
siegreichen Gefecht von Langensalza
(27. Juni) Ruhm und Ehre, als die Garde
du Corps eine glänzende, aber blutig
gescheiterte Attacke gegen die mit dem
überlegenen Zündnadelgewehr ausgestattete preußische Infanterie ritt. Entgegen dem hannoverschen Reglement
weit vor der eigenen Linie reitend,
führte Premierleutnant Graf Ernst von
Wedel seine 1. Schwadron in Paradeformation gegen das feindliche Infanteriekarree. Anders als die Mehrzahl
seiner Ulanen überlebte Graf von Wedel den Angriff schwer verwundet.
Die hannoversche Armee musste
trotz ihres (später mitunter stark in seiner Bedeutung überhöhten) Erfolges
bei Langensalza bereits am 29. Juni
1866 gegenüber den preußischen
­Truppen kapitulieren. Das Königreich
Hannover wurde annektiert und zur
preußischen Provinz Hannover. Als
Preußi­sches Ulanen-Regiment Nr. 13
(1. Hannoversches) ging die Garde du
Corps in der preußischen Armee auf.
Die hannoverschen Gardekürassiere
hingegen dienten fortan als UlanenRegiment Nr. 14 (2. Hannoversches).
Hannoversche Kavallerie zeichnete
sich 1870 in der letzten großen Reiterschlacht der Weltgeschichte bei Vionville und Mars-la-Tour (nahe Metz)
aus. An der Spitze der 13er Ulanen fiel
ihr Oberst Friedrich von Schack, aus
Wolken in Mecklenburg-Schwerin
stammend, der dem zahlenmäßig weit
überlegenen französischen Gegner eine
für den weiteren Verlauf des Krieges
bedeutende Niederlage beigebracht
hatte. Oberst von Schack wurde am
20. August 1870 in Mars-la-Tour beigesetzt. Graf Ernst von Wedel, der Held
von Langensalza, erhielt übrigens bei
»seinen«, nun preußischen Ulanen den
Ehrentitel eines Obersten »à la suite«
(der Titel berechtigt zum Tragen einer
Regimentsuniform, beinhaltet jedoch
kein dienstliche Stellung).
Kaiser Wilhelm II. ernannte sich am
13. September 1889 selbst zum Chef
des ruhmreichen Ulanen-Regiments
Nr. 13. Dieses trug fortan an der Fellmütze, Tschapka genannt, den Garde­
stern, auf den Schabracken (Sattel­
decken), den Stern des schwarzen
Adler­ordens und auf den Schulterstücken den Namenszug des Kaisers. Ab
1899 durften die »Königsulanen« wieder die Tradition der hannoverschen
Garde du Corps fortführen. Im Ersten
Weltkrieg kämpften sie, aufgeteilt in
zwei Halbregimenter, sowohl an der
Westfront als auch auf dem östlichen
Kriegsschauplatz. 1918 endete die Geschichte der hannoverschen Ulanen.
Die Tradition der beiden Regimenter
übernahmen in der Reichswehr die 1.
und 2. Es­ka­dron des 13. Reiter-Regimentes, das bis 1939 bestand, als seine
Schwadro­nen in diversen Aufklärungsabteilungen der Wehrmacht aufgingen.
Eine Traditionskameradschaft »Königsulanen-Regiment (1. Hannoversches)
13 1889 e.V.« ging nach dem Zweiten
Weltkrieg mit dem Panzergrenadierbataillon 11 (später 13) der Bundeswehr
eine Patenschaft ein, die bis zur Auflösung der Kameradschaft in den 1980er
Jahren bestand. Die Panzergrenadiere
pflegten die Tradition bis zur Auflösung des Bataillons 1992 am Standort
Wesendorf.
Bernhard Chiari
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
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