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EGMR
Associated Society of Locomotive Engineers & Firemen (ASLEF)
gg. das Vereinigte Königreich
Urteil vom 27.2.2007
Kammer IV
Bsw. Nr. 11.002/05
Verbot des Ausschlusses eines Gewerkschaftsmitglieds
wegen dessen politischer Gesinnung
Art. 11 EMRK
Sachverhalt:
Die vorliegende Beschwerde wurde von der
Associated Society of Locomotive Engineers &
Firemen (ASLEF) erhoben, einer unabhängigen
Gewerkschaft, der die meisten britischen Lokomotivführer angehören. Nach ihren Statuten
zählen zu ihren Aufgaben sowohl die Regelung
der Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und
Arbeitgebern, als auch die allgemeine Förderung der Arbeiterbewegung und die Unterstützung positiver Maßnahmen in Bezug auf
Gleichbehandlung ohne Berücksichtigung von
Geschlecht, sexueller Orientierung, Religion,
Rassenzugehörigkeit oder ähnlichem.
In Übereinstimmung mit Art. 14 (a) der
Statuten forderte die Hauptversammlung von
ASLEF (AAD), beunruhigt von der allgemeinen
Zunahme faschistischer Aktivitäten, im Jahr
1978 das Exekutivkomitee der Gewerkschaft
zu einem strengen Vorgehen gegenüber anstößigen Handlungen von politischen Parteien wie
der britischen National Front auf.
Im Februar 2002 wurde Herr Lee, ein Mitglied der rechtsextremen British National Party
(BNP), die aus der National Front hervorgegangen war, auf seinen Antrag hin in die ASLEF
aufgenommen. Im April desselben Jahres wurde Herr Lee als Kandidat der BNP für die Gemeinderatswahlen in Bexley nominiert.
Am 17.4.2002 übermittelte ein Gewerkschaftsfunktionär von ASLEF einen Bericht
über Herrn Lee an das Generalsekretariat, aus
dem hervorging, dass dieser aktives Mitglied
der BNP sei. In einem beigelegten Fax des Rats
für Rassengleichheit in Bexley war zu lesen,
dass Herr Lee einige Verteiler von Flugblättern
antifaschistischen Inhalts belästigt hätte.
Das Exekutivkomitee von ASLEF beschloss
am 19.4.2002 einstimmig, Herrn Lee aus der
Gewerkschaft auszuschließen, wovon dieser
am 24.4. schriftlich verständigt wurde. Als
Begründung wurde angeführt, dass seine
Zugehörigkeit zur BNP unvereinbar mit der
Mitgliedschaft in der ASLEF sei, da sie gegen
deren Grundprinzipien verstoße und geeignet
wäre, ihr Ansehen zu schädigen.
Herr Lee erhob Einspruch gegen den Ausschluss aus der Gewerkschaft, erschien jedoch
trotz Aufforderung nicht vor dem Berufungskomitee, das den Einspruch am 13.3.2003
abwies. Im Mai 2003 erklärte die AAD, dass
die Mitgliedschaft bei faschistischen Organisationen unvereinbar mit der Zugehörigkeit zur
ASLEF sei und Mitglieder der BNP daher von
der Gewerkschaft ausgeschlossen werden sollten. Die Statuten der ASLEF wurden daraufhin
entsprechend geändert.
Herr Lee leitete in weiterer Folge ein Verfahren vor dem Arbeitsgericht ein, wobei er
sich auf § 174 des Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992 stützte. Diese
Bestimmung verbietet es Gewerkschaften, Personen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer
politischen Partei von der Mitgliedschaft auszuschließen. Die Entscheidung vom 21.5.2003
fiel zu seinen Gunsten aus, woraufhin die Bf.
eine Berufung einbrachte. Das Berufungsgericht hob das angefochtene Urteil am 10.3.2004
auf und verwies die Sache zur neuerlichen
Entscheidung an ein anderes Arbeitsgericht.
Dieses bestätigte am 6.10.2004 das Urteil der
ersten Instanz, wogegen die Bf. kein Rechtsmittel mehr erhob.
Als Konsequenz des zweiten Urteils musste Herr Lee wieder in die Gewerkschaft aufgenommen werden, obwohl dies nunmehr
deren Statuten widersprach. Andernfalls hätte
ASLEF jedoch die Zahlung von Entschädigungen an Herrn Lee auferlegt werden können.
Rechtsausführungen:
Die Bf. rügt eine Verletzung von Art. 11
EMRK (Vereinigungsfreiheit).
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Zur Einrede der Regierung und zur Zulässigkeit:
Die britische Regierung wendet ein, die Beschwerde sei wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges unzulässig, da
sich die Bf. in der mündlichen Verhandlung vor
dem Berufungsgericht nicht auf Art. 11 EMRK
berufen hätte und daher die Entscheidung des
Berufungsgerichts nicht wegen Missachtung
dieses Anspruchs anfechten hätte können.
Dem Vorbringen der Bf., sie hätte die Entscheidung des Berufungsgerichts nicht mehr
anfechten können, da diese zu ihren Gunsten
ausgefallen sei, hält die Regierung entgegen,
dass der Oberste Berufungsgerichtshof solche
Rechtsmittel in „außergewöhnlichen Umständen“ trotzdem zulässt.
Der GH kann dem Argument der Regierung,
die Bf. hätte sich in der mündlichen Verhandlung nicht auf Art. 11 EMRK berufen, nicht
folgen. Aus dem Urteil des Berufungsgerichts
ergibt sich, dass dieses Art. 11 EMRK für irrelevant hielt und es nicht für notwendig erachtete, diese Bestimmung zur Auslegung von
§ 174 des Trade Union and Labour Relations
(Consolidation) Act 1992 heranzuziehen. Diese
strittigen Punkte wurden somit eindeutig vor
dem Berufungsgericht vorgebracht. Aus diesem Grund weist der GH die Einrede der Regierung zurück und erklärt die Beschwerde für
zulässig (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 11 EMRK:
Die Bf. bringt vor, § 174 des Trade Union and
Labour Relations (Consolidation) Act 1992 stelle
einen unrechtmäßigen Eingriff in ihr Recht auf
freie Wahl ihrer Mitglieder dar. Sie habe ein
Recht, sich von Personen zu distanzieren, deren politische Gesinnung sie verabscheue. Das
innerstaatliche Recht widerspreche insofern
dem Recht auf Vereinigungsfreiheit.
1. Allgemeine Grundsätze:
Das Recht, Gewerkschaften zu bilden und
ihnen beizutreten, ist ein spezieller Aspekt der
Vereinigungsfreiheit und gestattet es Gewerkschaften unter anderem, ihre Statuten selbst
festzulegen und ihre inneren Angelegenheiten selbst zu verwalten. Dazu zählt auch die
Möglichkeit, Regeln betreffend die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft aufzustellen.
Ebenso wie sich ein Arbeiter oder Angestellter
frei entscheiden kann, ob er einer Gewerkschaft beitreten will oder nicht, sollte eine
Gewerkschaft die Freiheit genießen, ihre Mitglieder nach eigenem Gutdünken auszuwählen. Art. 11 EMRK kann nicht dahingehend
interpretiert werden, dass er Gewerkschaften
oder anderen Organisationen die Pflicht auf76
erlegt, jedermann als Mitglied zu akzeptieren,
der ihnen beitreten möchte. Es besteht zum
Beispiel auch kein Zweifel daran, dass religiöse oder politische Vereinigungen ihre Mitglieder danach aussuchen dürfen, ob sie ihren
Glauben und ihre Prinzipien teilen.
Staatliche Interventionen in innere Angelegenheiten der Gewerkschaften müssen gemäß
Art. 11 Abs. 2 EMRK gesetzlich vorgesehen
und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein. Der Staat muss freilich Individuen
gegen einen etwaigen Missbrauch der dominanten Stellung von Gewerkschaften schützen.
Ein solcher könnte etwa dann vorliegen, wenn
der Ausschluss eines Gewerkschaftsmitglieds
nicht in Übereinstimmung mit den Statuten
erfolgt oder wenn dieser eine außergewöhnliche Härte darstellt.
Jeder Eingriff in ein Konventionsrecht muss
aber in einem angemessenen Verhältnis zu
dem damit verfolgten Ziel stehen. Der Staat
hat daher die einander widersprechenden Interessen gegeneinander abzuwägen und die
erforderliche Übereinstimmung mit der EMRK
sicherzustellen, wobei er einen gewissen Ermessensspielraum genießt.
2. Anwendung im vorliegenden Fall:
Es stellt sich die zentrale Frage, wie weit der
Staat eingreifen darf, um ein Gewerkschaftsmitglied vor Maßnahmen seiner Gewerkschaft
zu schützen.
Beide Parteien akzeptieren die Tatsache,
dass § 174 des Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992 im gegenständlichen Fall die Bf. daran hindert, Herrn Lee aus
der Gewerkschaft auszuschließen. Nach dieser
Bestimmung darf niemand aufgrund seiner
Zugehörigkeit zu einer bestimmten politischen
Partei aus einer Gewerkschaft ausgeschlossen
werden. Dieses Verbot stellt zweifelsfrei einen
Eingriff in das Recht der Bf. auf Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 11 Abs. 1 EMRK dar, der
nach den Kriterien des Abs. 2 gerechtfertigt
sein muss.
Es ist daher festzustellen, ob der Staat einen gerechten Ausgleich zwischen den rechtlichen Interessen des Herrn Lee einerseits und
denen der bf. Gewerkschaft andererseits getroffen hat.
Nach Ansicht des GH verstößt der Ausschluss von Herrn Lee aus der Gewerkschaft
in keiner Weise gegen dessen Meinungsfreiheit
oder die Ausübung seiner rechtmäßigen politischen Aktivitäten und stellt auch sonst keinen bedeutenden Nachteil dar. In Bezug auf
Tarifverhandlungen repräsentiert ASLEF alle
Arbeitnehmer ohne Einschränkung, so dass
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Herr Lee nicht schutzlos gegenüber willkürlichen oder unrechtmäßigen Handlungen seines
Arbeitgebers ist. Historisch betrachtet waren
Gewerkschaften im Vereinigten Königreich wie
auch anderswo in Europa stets ideologisch mit
politischen Parteien, vor allem linksgerichteten, verbunden und sind es heute noch, wenngleich auch in geringerem Ausmaß. In den
innerstaatlichen Verfahren findet sich kein
Hinweis auf einen Irrtum der Bf. bezüglich der
Tatsache, dass die Ziele und Prinzipien von
ASLEF in deutlichem Gegensatz zu denen von
Herrn Lee stehen. Ebensowenig wurden der
Gewerkschaft von Seite des Staates bestimmte Aufgaben übertragen oder finanzielle Mittel
gewährt, woraus man eine Verpflichtung zur
Aufnahme von Mitgliedern ableiten könnte.
Da Herr Lee somit keine besondere Härte
erlitten hat und auch kein missbräuchliches
oder unzumutbares Verhalten von Seiten der
Bf. vorliegt, kommt der Gerichtshof zu dem
Schluss, dass der belangte Staat den ihm zustehenden Ermessensspielraum überschritten
hat. Eine Verletzung von Art. 11 EMRK liegt
daher vor (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
€ 53.900,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Young, James and Webster/GB v. 13.8.1981,
A/44
EuGRZ 1981, 559.
Cheall/GB v. 13.5.1985 (EKMR)
EuGRZ 1985, 733.
Wilson and the National Union of Journalists
u.a./GB v. 2.7.2002
NL 2002, 141; ÖJZ 2003, 729.
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Zimmermann
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