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B. AXIOME
Von den Axiomen haben wir bisher noch gar nicht gesprochen. Jedoch war alles
Bisherige eine notwendige Vorbereitung auf diesen schwierigen und doch so grundlegend wichtigen Gegenstand der Wissenschaftstheorie.
Das Prinzip der „Ableitung“ oder Deduktion hat etwas Faszinierendes. Denn es erlaubt uns, eine Aussage aus der vorhergehenden sozusagen „reibungslos“ hervorgehen zu lassen.
Aber was bedeutet hier „hervorgehen lassen“? Man könnte denken, hiermit sei
gemeint, daß ein Satz B, der aus einem Satz A durch Ableitung „hervorgegangen“
ist, aus eben diesem Grunde „einsehbar“ sei. Das stimmt aber nur in einem indirekten Sinne.
Betrachten wir wieder unseren Quadrierungssatz
(a + b)2 = a2 + 2ab + b2.
Dieser Satz ist als solcher nicht „einsehbar“. „Einsehbar“ ist [114] an ihm nur der
Vorgang seiner Entstehung: er ist aus den vorausgesetzten Sätzen durch bestimmte
Operationen, die wir beschrieben haben, hervorgegangen. Weil wir diese Operationen Schritt für Schritt vorgenommen haben und daher ihre „Richtigkeit“ kennen,
sind wir auch von der „Richtigkeit“ des entstandenen Satzes überzeugt.
Wenn also die Sätze A, B, C,, X, Y, Z so auseinander abgeleitet werden können,
daß aus A B, aus B C, aus C D, …, aus W X, aus X Y, aus Y Z folgt, dann bedeutet
das: Die Operationen, die von A zu B, von B zu C, von C zu D, …, von W zu X, von
X zu Y, von Y zu Z führen, sind als richtig „einsehbar". Der Satz Z entsteht also aus
einer lückenlosen Kette von Operationen, die wir als richtig kennen. Nur in diesem
Sinne ist der Satz Z „einsehbar“. Er ist also nicht unmittelbar, als solcher, einsehbar.
Das ist gerade im Gebiet der Mathematik leicht zu zeigen. Die hier vorkommenden
Aussagen sind „auf den ersten Blick“ so kompliziert, daß „sie verstehen“ immer nur
heißen kann, die Ableitungsschritte zurückgehen, die zu ihnen geführt haben.
Wir wollen daher sagen: Einen Satz bezeichnen wir als „einsehbar“, wenn die
Schritte einsehbar sind, die von vorausgesetzten Sätzen aus zu ihm führen.
Was ist nun der erste Ableitungsschritt unserer Reihe von Sätzen? Offenbar derjenige, der von A zu B führt. Der Satz B ist also insofern „einsehbar“, als wir die
Schritte einsehen, die von A zu B führen.
Hieraus folgt: in unserem System gehen die Sätze B, C, D, …, X, Y, Z aus „einsehbaren“ Schritten hervor und sind insofern selbst in indirektem Sinne »einsehbar“.
Der einzige Satz, der keinen Operationsschritt vor sich hat und daher auch nicht aus
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einem solchen (einsehbaren) Schritt entsteht, ist der Ausgangssatz A.
Hieraus ergibt sich: für die Sätze B, C, D, …, X, Y, Z ist es nicht erforderlich, daß
sie „selbst“ einsehbar sind, weil zu ihnen Schritte führen, die als solche einsichtig
sind. [115]
Für den Satz A gilt das nicht, denn zu ihm führen keine Schritte hin.
Es gibt daher nur zwei Möglichkeiten:
Entweder wir setzen den Satz A unverstanden hin und geben uns damit zufrieden,
daß dann wenigstens alle folgenden Sätze durch einsehbare Operationen ableitbar
sind – oder aber wir machen den Satz A selber einsehbar und haben somit nicht nur
einsehbare Schritte von Satz zu Satz, sondern – als Grundlage und Ausgangspunkt
des Ganzen – einen einsehbaren Anfangssatz.
Das, was wir bisher als „Satz A“ diskutiert haben, nennt man nun herkömmlicherweise eben ein Axiom.
Und in der Tat sind in der Geschichte der Axiomatik beide von uns beschriebenen
Wege beschritten worden, die Axiome in ein deduktives System einzubauen.
So forderte der große Mathematiker und Philosoph Pascal, daß Axiome „selbstevident“ sein müßten. „Selbstevidente“ Sätze aber kann und soll man nicht beweisen:
Man dürfe „keines von den Dingen beweisen wollen, die so selbstevident sind, daß es
nichts noch Klareres mehr gibt, um sie zu beweisen.“ i
Was Pascal mit „Selbstevidenz“ meint, ist uns aus unserem Alltagsverstand heraus
durchaus begreiflich; ein „selbstevidenter“ Satz ist offensichtlich ein Satz, der uns
„intuitiv“ „einleuchtet“, der unserer „Anschauung" entspricht und so fort. Man denke nur an das bekannte Euklidsche Parallelen„axiom”, das man etwa so formulieren
könnte:
„Zu einer gegebenen Geraden kann es durch einen nicht auf ihr selbst liegenden
Punkt in der Ebene nur eine Parallele geben.“ ii
In der Tat ist dieses Axiom für uns „evident“. Wenn wir also auf einem solchermaßen einleuchtenden Satz durch ebenfalls einleuchtende Ableitungsschritte eine Geometrie aufbauen, dann muß diese Geometrie ein von Grund auf „evidentes“ oder
einsehbares „axiomatisches“ System ergeben.
Nun ist jedoch im 19. Jahrhundert die sogenannte nicht- [116] euklidische Geometrie
entwickelt worden, in der das Parallelenaxiom nicht gilt. iii
Was heißt aber: das Parallelenaxiom „gilt“ hier nicht? Das heißt weder, daß hiermit
das Parallelenaxiom als „falsch“ erwiesen wurde, noch heißt es andererseits, daß die
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neuen, der nichteuklidischen Geometrie zugrundeliegenden Axiome nunmehr als
„richtiger“ „erkannt“ worden wären. Vielmehr heißt es nichts anderes als dies: die
nichteuklidische Geometrie geht von anderen Axiomen aus und leitet von diesen
anderen Axiomen ein anderes geometrisches System ab.
Damit ist eine neue Sachlage geschaffen: ein „Axiom“ ist hiernach nicht unbedingt
mehr ein „selbstevidenter“ Satz, sondern einfach ein Satz, der die Grundlage eines
axiomatischen Systems bildet. Als solcher kann er selbstevident sein (euklidische
Geometrie), muß es aber nicht sein (nichteuklidische Geometrie). Das Axiom ist also
nicht mehr durch seine „Evidenz“, sondern nur noch durch seine Stellung als Ausgangssatz eines deduktiven Systems charakterisiert.
Aus dieser Sachlage hat David Hilbert um die letzte Jahrhundertwende folgende
Konsequenz gezogen:
An den „Axiomen“ als dem ersten Anfang der Mathematik soll zwar festgehalten
werden. Aber man muß die Vorstellung aufgeben, die Axiome müßten „selbstevident“ sein. Axiome sind nicht einfach „einsehbar“, sondern sie werden „willkürlich
gesetzt“. iv
Aus solchen willkürlich gesetzten Axiomen wird dann –nach wie vor – durch Ableitungen das ganze System aufgebaut.
Hilbert fragt also nicht mehr danach, was Punkte, Geraden, Ebenen „sind“, sondern
er setzt sie als irgendwelche „Dinge“, zwischen denen er sich „Beziehungen“ denkt.
Wichtig sind nur diese Beziehungen als solche, denn ihre Beschreibung macht eben
die Axiome aus. Als was man dagegen diese Dinge bezeichnet, darauf kommt es gar
nicht an, weil es eben nicht interessiert, was sie „sind“: Statt „Punkt, Gerade, Ebene“, meint [117] Hilbert, könnte man genausogut „Tische, Stühle, Bierseidel“ v oder
„Liebe, Gesetz, Schornsteinfeger“ vi sagen.
Die Axiome sieht man heute also nicht mehr als „evident“ an. Sie sind willkürlich
gesetzte, rein formal zu interpretierende Anfangssätze.
Als Beispiel für ein System von solchen nicht mehr einsehbaren Axiomen seien
hier die sogenannten Peano-Axiome für die natürlichen Zahlen aufgeführt:
1.
2.
3.
4.
5.
Null ist eine natürliche Zahl.
Ist x eine natürliche Zahl, so auch der Nachfolger von x.
Null ist nicht Nachfolger einer natürlichen Zahl.
Natürliche Zahlen mit gleichen Nachfolgern sind gleich.
Für alle Eigenschaften, die eine natürliche Zahl haben kann, gilt: Wenn diese
Eigenschaft der Null zukommt und mit jeder natürlichen Zahl auch ihrem Nachfolger, so kommt diese Eigenschaft allen natürlichen Zahlen zu. (Dies ist das
Prinzip der sogenannten „vollständigen Induktion“, die aber, da in einem axiomatischen System vollzogen, in Wahrheit eine strenge Deduktion ist.) vii
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(Unter „natürlichen Zahlen“ versteht der Mathematiker diejenigen Zahlen, mit deren
Hilfe man „natürlicherweise“ Gegenstände zählt. Das sind also die positiven ganzen
Zahlen 1, 2, 3 .... Die negativen ganzen Zahlen und die Bruchzahlen sind also schon
keine natürlichen Zahlen mehr; über die Null werden wir gleich noch zu sprechen
haben.)
Wer nun nachlesen möchte, wie die Peano-Axiome lauten, und zu diesem Zweck
zufällig in mehreren Büchern nachschlägt, wird eine merkwürdige und ihn zunächst
aufs höchste verwirrende Feststellung machen: in manchen Büchern wird die Null, in
anderen jedoch die Eins als erste natürliche Zahl angegeben. viii
Aber eben gerade dieser dem „gesunden Menschenverstand" nicht einleuchtende
Sachverhalt ist vorzüglich geeignet, zu zeigen, was man heute unter einem Axiom
eben versteht: es ist gar nicht von vornherein „evident“, wie ein Axiom lauten [118]
„muß“ – sondern man kann es sich aussuchen, wie man ein Axiom formulieren will:
ob man in den Text der Peano-Axiome die Null oder die Eins als erste natürliche
Zahl einsetzt. Angesichts eines Axioms darf man also nicht fragen: „Warum ist hier
von der Null und nicht von der Eins die Rede, obwohl man doch im täglichen Leben
mit ‚eins' zu zählen anfängt?“ Denn ein Axiom ist eben ein Satz, der gar nicht einsehbar zu sein braucht.
Der springende Punkt ist also: man muß erst einmal verstehen, daß man gar nicht
verstehen soll, warum ein Axiom nun gerade so und nicht anders lautet – man soll es
als Anfangssatz annehmen und andere Sätze daraus ableiten.
Aus: Seiffert, Helmut (1973): Einführung in die Wissenschaftstheorie. Sprachanalyse, Deduktion, Induktion in Natur- und Sozialwissenschaften. 6., unveränd.
Auflage (Beck'sche Schwarze Reihe, 1), S. 113-118.
i
Zitiert bei Meschkowski, Einführung, S. 10.
S. 13 f. – Vgl. Frey, Mathematisierung, S 41-44. – Lorenzen, Denken, S. 123.
iii
Meschkowski, Einführung, S. 16, Anm. 4.
iv
S. 17. – Vgl. Kamlah/Lorenzen, Propädeutik, S. 17. f.
v
Meschkowski, Einführung, S. 16, Anm. 4.
vi
S. 16.
vii
Zitiert nach Hans-Georg Steiner, in: Heinrich Behnke u. a.: Mathematik I. Frankfurt: Fischer Bücherei 1964. (Das Fischer Lexikon) S. 170.
viii
Die Null nennen z. B. : Gerhard Frey, Mathematisierung, S. 56. – Detlef Laugwitz, in: Neue Sammlung 5 (1965), S. 13 f. – Jürgen Schmidt: Mengenlehre … I … Mannheim: Bibliogr. Inst. 1966 (BIHochschultaschenbücher. 56/56a) S. 168. – Hans-Georg Steiner, in: Behnke u. a., Mathematuik I
(oben Anm. 10), S. 170.
Die Eins nennen z. B.: Meschkowski, Einführung, S. 54. – Herbert Meschkowski (Hg.): MathematikDuden für Lehrer. … Mannheim + Zürich: Bibliogr. Inst. 1969. S. 41. – Georg Wolff (Hg.): Handbuch
der Schulmathematik. Band 77 … Hannover: Schroedel; Paderborn: Schöningh 1967. S. 149. – Pickert,
ii
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Günter; Görke, Lilly, in: Grundzüge der Mathematik … Band I …. 3. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck +
Ruprecht 1966. S. 92 f.
In Wolff, Handbuch der Schulmathematik 7, S. 135, wird auf beide Möglichkeiten aufmerksam gemacht.
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