Kapitel 12. Differenzen- und Differenzialgleichungen In diesem Kapitel wollen wir die grundlegenden Techniken erklären, mit denen das dynamische Verhalten von ökonomischen Systemen (und nicht nur solchen) untersucht werden kann. Dabei tritt ganz oft ein Parameter t auf, der meistens als “Zeit” interpretiert werden kann. Wir werden sowohl zeitkontinuierliche Systeme als auch zeitdiskrete Systeme kennenlernen. Wir beginnen mit dem diskreten Fall. 12.1 Differenzengleichungen Eine Gleichung der Form xt = a xt−1 + b heißt Differenzengleichung erster Ordnung mit konstanten Koeffizienten. Dabei bezeichnet x0 den Startwert; a und b sind (reelle oder komplexe) Konstanten. Mathematik II – SoSe 2004 122 Wenn man bei einer solchen Differenzengleichung x0 kennt, so kann man x1, x2, . . . ausrechnen. Aus naheliegenden Gründen werden Differenzengleichungen oft auch Rekursionsgleichungen genannt. Beispiel 1 xt = 2xt−1 − 1, x0 = 3 Wir erhalten x1 = 2 · 3 − 1 = 5 x2 = 2 · 5 − 1 = 9 x3 = 2 · 9 − 1 = 17 x4 = 2 · 17 − 1 = 33 usw. Das Problem ist hier, dass wir zwar prinzipiell xt berechnen können (wenn wir nur geduldig genug sind), es aber zunächst keine “geschlossene” Formel für xt gibt, also keine Formel, die abhängig von t, a, b und x0 den Wert xt berechnet, ohne vorher xt−1, xt−2 , . . . , x1 berechnet zu haben. Eine solche Formel (wenn es sie denn gibt) nennen wir Lösung der Differenzengleichung. Es ist in der Tat möglich, solche Formeln anzugeben: Mathematik II – SoSe 2004 123 Gilt xt = a xt−1 + b, xt = a t · x0 − t = 1, 2, . . ., so ist b 1−a x +t·b 0 b + 1−a falls a 6= 1 falls a = 1 Beispiel 2 (1) Wir betrachten noch einmal xt = 2xt−1 − 1, x0 = 3 . Die oben angegebene Formel liefert xt = 2 t 3 − −1 1−2 = 2t+1 + 1 + −1 1−2 Das stimmt mit den berechneten Werten überein. (2) xt = −3xt−1 + 4, x0 = 0 Mathematik II – SoSe 2004 Die ersten Folgenglieder 124 sind x0 = 0 x1 = 4 x2 = −8 x3 = 28 x4 = −80 usw. Die “geschlossene”, explizite Formel ist xt = (−3) t 4 − 4 4 + = −(−3)t + 1. 4 Stationäre Punkte Wir betrachten xt = axt−1 + b. Ein Punkt x∗ heißt stationär, wenn x∗ = a x ∗ + b gilt, wenn die Differenzengleichung also konstante Werte (nämlich den Wert x∗) liefert. Stationärer Punkt ist b . x = 1−a ∗ Mathematik II – SoSe 2004 125 Damit kann man die Lösung b b t xt = a · x0 − + 1−a 1−a auch in der Form xt = at(x0 − x∗) + x∗ schreiben. Die Differenzengleichung kann auch als xt = a(xt−1 − x∗) + x∗ geschrieben werden. Ist |a| < 1, so gilt lim xt = x∗, t→∞ d.h. die Folge (xt) kommt dem stationären Punkt immer näher. In diesem Fall heißt die Differenzengleichung stabil. Beispiel 3 x0 = 3, 1 1 xt = xt−1 + , x0 = 3 Es gilt 2 2 x1 = 2, 3 x2 = , 2 5 x3 = , 4 9 x4 = 8 und so weiter. Wir haben x∗ = 1 und limt→∞ xt = 1. Mathematik II – SoSe 2004 126 Beispiel 4 (“Schweinezyklus”) Die Kosten, um q Schweine zur Schlachtreife zur führen, seien C(q) = α q + β q 2. Wir nehmen an, es gibt N Schweinezuchtbetriebe. Die Nachfrage D nach Schweinen hänge vom Preis der Schweine ab und sei D(p) = γ − δ p. Ferner versucht jeder Schweinezuchtbetrieb seinen Profit π(q) = p · q · C(q) = p · q − α · q − β · q 2 zu optimieren. Wie überlegen uns zunächst, wie groß q gewählt wird, um π(q) zu maximieren. Dazu bestimmen wir π 0(q) = p − α − 2 β q und erhalten p−α π (q) = 0 genau für q = . 2β 0 Das ist offensichtlich ein Maximum wenn β > 0 ist, denn dann ist π 00(q) = −2 β < 0. Mathematik II – SoSe 2004 127 Also produziert jeder Betrieb gibt es also ein Angebot von Np − Nα 2β p−α 2β Schweine, insgesamt Schweinen. Die Nachfrage nach Schweinen ist γ − δp. Wir haben also einen stabilen Zustand, wenn Np − Nα = γ − δp 2β gilt, also bei einem Preis p ∗ 2γβ + N α . = N + 2βδ In der Regel besteht aber ein Unterschied zwischen p und p∗. Das bedeutet, dass sich aufgrund der Angebotssituation auf dem Markt ein Preis bildet, der von dem Preis verschieden ist, für den die Zuchtbetriebe ihre Produktion kalkuliert haben. Wir versuchen nun zu klären, wie sich das System möglicherweise entwickelt. Qualitativ wird es so sein, dass die Betriebe den am Markt erzielten Preis (nennen wir ihn p0) als Grundlage ihrer neuen Kalkulation in der nächsten Zuchtperiode (im nächsten Jahr) wählen. Aber auch so wird Mathematik II – SoSe 2004 128 vermutlich kein stabiler Zustand erreicht werden. Es wird wieder so sein, dass der am Markt ermittelte Preis (aus Angebot und Nachfrage) von p0 verschieden ist. Man kann sich aber vorstellen, dass die Unterschiede zwischen dem Preis im Jahr t und dem im Jahr t + 1 immer kleiner werden. Das wollen wir nun mathematisch fundieren. Dazu nehmen wir an, der Preis zum Zeitpunkt t sei pt. Dieser Preis ist die Kalkulationsgrundlage für die nächste Zeitperiode. Das heißt, die Zuchtbetriebe gehen davon aus, den Preis pt zum Zeitpunkt t + 1 zu erzielen und produzieren entsprechend zusammen ein Angebot von N (pt − α) Schweinen 2β Dieses Angebot soll auf dem Markt zum Zeitpunkt t + 1 nun verkauft werden. Die Gleichheit von Angebot und Nachfrage wird durch den Preis aufgrund der Formel γ − δpt+1 = N (pt − α) 2β ermittelt, also pt+1 = Mathematik II – SoSe 2004 −N αN + 2βγ pt + , 2βδ 2βδ 129 eine lineare Differenzengleichung mit der Lösung pt = (−a)t(p0 − p∗) + p∗, wobei a = p∗ = N 2βδ 2γβ + αN N + 2βδ Das ist genau der schon oben ermittelte Preis für einen stabilen Zustand. Ist |a| < 1, so pendelt der Preis um p∗ herum, mal ist er größer, mal kleiner als p∗ (weil a > 0, denn die Parameter β und δ sind nur sinnvoll, wenn sie > 0 sind). Der Preis nähert sich p∗ aber immer mehr an. Wir können dies in folgendem Bild veranschaulichen: Auf der y-Achse wird das Angebot aufgetragen, auf der x-Achse der Preis. Beginnen wir mit einem Preis 0 −α) p0, so ist das zugehörige Angebot S0 = N (p2β . Zu diesem Angebot berechnet sich der neue Preis p1 durch γ − δp1 = S0. Der neue Preis p1 veranlasst 1 −α) die Zuchtbetriebe, S1 = N (p2β Schweine aufzuziehen. Am Markt wird aus diesem Angebot ein Preis p2 durch γ − δp2 = S1 ermittelt, usw. Mathematik II – SoSe 2004 130 Angebot Angebot abhängig vom erwarteten Preis S1 S0 Preis abhängig vom tatsächlichen Angebot Preis p2 p0 p∗ p1 Wir haben in das Bild die beiden Geraden S= N (p − α) 2β und S = γ − δp eingezeichnet. Der Schnitt dieser beiden Geraden ist Mathematik II – SoSe 2004 131 genau der stationäre Punkt p∗ mit dem zugehörigen Angebot γ − δp∗. Beispiel 5 (Finanzmathematik) Die Formeln, die wir in dem Kapitel über Finanzmathematik kennengelernt haben, sind im wesentlichen Lösungen linearer Differenzengleichungen 1. Ordnung. Wir wollen das an einem Beispiel illustrieren: Angenommen, eine Familie nimmt einen Kredit in Höhe von 100 000 ¤ auf. Zinsen in Höhe von 0.5% werden am Anfang eines jeden Monats fällig. Die Familie zahlt am Ende eines jeden Monats 550 ¤ an die Bank zur Schuldentilgung. Wir erhalten die Differenzengleichung Kt+1 = 1.005 Kt − 550, K0 = 100000, wobei Kt die Schulden am Ende des Monats t angibt. Wir erhalten 550 550 t Kt = 1.005 · K0 − + 0.005 0.005 t 1.005 − 1 = 1.005t · K0 − 550 · . 0.005 Das ist genau der Ausdruck, den Sie auch erhalten, wenn Sie die Formel auf Seite 258 anwenden mit d = 0.005 und A = 550. Mathematik II – SoSe 2004 132 Variable Koeffizienten Eine Differenzengleichung xt = at xt−1 + bt, t = 1, 2, . . . heißt lineare Differenzengleichung 1. Ordnung mit variablen Koeffizienten Eine solche Gleichung tritt beispielsweise auf, wenn der Zinssatz im obigen Beispiel nicht konstant ist oder auch die Tilgung variabel ist. Man kann sich hoffentlich vorstellen, dass es für solche Gleichungen keine so schönen Formeln gibt wie für Gleichungen mit konstanten Koeffizienten. Es gilt xt = t Y s=1 ! a s x0 + t X k=1 t Y s=k+1 as b k . (15) Beispiel 6 Sie wollen unter zwei Möglichkeiten der Geldanlage auswählen: Sie können in den nächsten drei Jahren jährlich 5000 ¤ anlegen. Sie erhalten das Angebot, das Geld mit jährlich 5% zu verzinsen. Alternativ bietet man Ihnen an, das Geld im ersten Jahr mit 4%, im zweiten Jahr mit 7% und im dritten Jahr Mathematik II – SoSe 2004 133 mit 4% zu verzinsen. Welches Angebot ist besser? Im ersten Fall haben wir die Differenzengleichung xt = 1.05(xt−1 + 5000) = 1.05 · xt−1 + 5250, x0 = 0, t = 1, 2, 3. Im zweiten Fall haben wir xt = at(xt−1 + 5000), x0 = 0, a1 = 1.04, a2 = 1.07, a3 = 1.04, t = 1, 2, 3. Wir können x1, x2, x3 natürlich in beiden Fällen direkt ausrechnen: x0 x1 x2 x3 Fall 1 Fall 2 0 0 5250 5200 10762.50 10914 16456.125 16550.56 Eingesetzt in Formel (15) erhalten wir im Fall 1 1.052 · 5250 + 1.05 · 5250 + 5250 im Fall 2 1.04 · 1.07 · 5200 | {z } +1.04 · 5350 | {z } + 5200 | {z } =b1 Mathematik II – SoSe 2004 =b2 =b3 134 Achtung: Das zweite Angebot ist nur deshalb besser, weil jährlich Geld angelegt wird. Würden Sie einen Betrag von z.B. K0 = 15000 für drei Jahre anlegen, so haben Sie bei der ersten Anlageform nach drei Jahren 1.053 · K0 = 1.157625 · K0, im zweiten Fall 1.04 · 1.07 · 1.04 · K0 = 1.157312 · K0, also (etwas) weniger als im Fall 1. Differenzengleichungen 2. Ordnung Differenzengleichungen drücken die Dynamik eines Systems aus. Das ist hoffentlich bis hierher klar geworden und soll noch einmal vertieft werden. Beispiel 7 Mit Yt bezeichnen wir die gesamten Ausgaben, die in einer Volkswirtschaft zum Zeitpunkt t getätigt werden. Diese setzen sich aus konsumptiven Ct und investiven It Ausgaben zusammen. Wir nehmen an, der Zusammenhang zwischen diesen Größen sei wie folgt gegeben: Mathematik II – SoSe 2004 135 Y t = Ct + It (klar!) Ct+1 = a · Yt + b It+1 = c · (Ct+1 − Ct). Wir erhalten Yt+1 = Ct+1 + It+1 = a · Yt + b + c · (Ct+1 − Ct) = a · Yt + b + c · a · Yt + c · b − c · a · Yt−1 − c · b = a · (1 + c) · Yt − a · c · Yt−1 + b oder, anders geschrieben, Yt+2 = a · (1 + c) · Yt+1 − a · c · Yt + b, t = 2, 3, . . . Um Yt zu berechnen, müssen wir in diesem Fall Informationen über die Ausgaben in den zwei vorhergehenden Zeitperioden haben! So etwas nennt man eine Differenzengleichung 2. Ordnung: Mathematik II – SoSe 2004 136 Eine Gleichung der Form xt+2 = f (t, xt, xt+1) heißt Differenzengleichung 2. Ordnung. Gilt dabei xt+2 + at xt+1 + bt xt = ct, so heißt die Differenzengleichung linear. Sind die at, bt, ct nicht von t abhängig, so sprechen wir von einer linearen Differenzengleichung mit konstanten Koeffizienten. Es sollte klar sein, dass man diese Begriffe leicht auf Differenzengleichungen noch höherer Ordnung verallgemeinern kann. In unserem Beispiel 7 haben wir eine lineare Differenzengleichung mit konstanten Koeffizienten. Wir wollen hier einige Bemerkungen zur Lösung linearer Differenzengleichungen machen. Die Gleichung xt+2 + at xt+1 + bt xt = 0 heißt homogen. Man kann zeigen, dass es zwei (1) (2) Basislösungen ut und ut gibt, die linear unabhängig Mathematik II – SoSe 2004 137 sind. Dabei nennen wir zwei Folgen (ut) und (vt) linear unabhängig, wenn aus λut + µvt = 0 für alle t folgt λ = µ = 0. Wir können dann jede Lösung xt des homogenen Systems schreiben als (1) (2) xt = A u t + B u t mit geeignet gewählten Zahlen A und B. Ist u∗t eine spezielle Lösung des inhomogenen Systems xt+2 + at xt+1 + bt xt = ct so lässt sich jede Lösung xt des inhomogenen Systems in der Form (1) (2) xt = A ut + B ut + u∗t schreiben. Es gibt ein einfaches Verfahren, wie man die Lösung linearer Differenzengleichungen mit konstanten Koeffizienten bestimmen kann. Wir beschränken uns hier auf den Fall 2. Ordnung. Mathematik II – SoSe 2004 138 Die allgemeine Lösung einer Differenzengleichung xt+2 + a xt+1 + b xt = 0 ist xt = A α1t + B α2t wobei α1 und α2 zwei verschiedene Lösungen von x2 + ax + b = 0 (16) sind. Gibt es nur eine Nullstelle α von x2 + ax + b, so ist die allgemeine Lösung xt = A α t + B t α t . Die Gleichung (16) heißt charakteristische Gleichung der Differenzengleichung. Beispiel 8 (1) xt+2 − 6xt+1 + 8xt = 0 Die charakteristische Gleichung ist x2 − 6x + 8 = 0 mit den Nullstellen 2 und 4. Die allgemeine Lösung ist Mathematik II – SoSe 2004 139