Unfruchtbare Riesen - Universität Zürich

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Unfruchtbare Riesen
Die Schildkröten auf dem Aldabra-Atoll im Indischen Ozean
haben kaum Nachwuchs – Schweizer Forscher suchen nach Gründen
Riesenschildkröte: Mittelpunkt eines
eigenen Ökosystems auf dem Aldabra-Atoll
FOTO: GETTY IMAGES
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Relativ wenige Vorfahren
der 100 000 Tiere
Aldabra liegt im von Piraten heimgesuchten Westen des Indischen
Ozeans, 400 Kilometer nördlich
von Madagaskar. Es ist ein menschenleeres Tropenparadies mit
seltenen Vögeln, Reptilien und
üppigem Meeresleben. Berühmteste Einwohner sind die Riesenschildkröten, die 250 Kilogramm
schwer und über 200 Jahre alt
werden können.
Vor 100 Jahren waren die Riesen, wie ihre Verwandten auf an-
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ren. Alle knapp
der Uni Zü:B1-9
100 000 heute
rich. Um die=25282C;2B
lebenden Tiere
sen abzuschätstammen von rezen, werden Zäulativ wenigen Urahne künftig einige
nen ab. «Wir haben
Gebiete auf Aldabra
heute noch Tiere hier, die
von Riesenschildkröten freidiesen Engpass überlebt haben»,
halten. Ausserdem vermessen die
sagt Postma. 150-jährige GrossForscher den Pflanzenwuchs
mütter leben mitten unter ihren
durch Sammeln sowie mit Hilfe
Neffen, Enkeln und Urenkeln.
von Satellitenbildern und LaserIhre Familiengeschichte tragen
aufnahmen aus der Luft.
die Tiere in den Genen, weshalb
Wiederbesiedlung anderer
die Wissenschaftler regelmässig
Inseln durch die Nachzucht
Blutproben entnehmen werden.
Die Prozedur durften sie eigens
Die Zeit drängt, denn das maxian den Aldabra-Riesenschildmal 19 Meter über dem Meereskröten im Zoo Zürich üben. Der
spiegel gelegene Atoll ist vom KliZootierarzt beteiligt sich am Promawandel stark betroffen: In den
jekt, weil sich seine Aldabraletzten Jahren fiel in manchen GeSchildkröten ebenfalls nicht fortgenden bereits deutlich weniger
pflanzen. Mit den Blutproben
Regen. Zwar variiert das Nahkann auch der Hormonzustand
rungsangebot auf Aldabra schon
der Weibchen untersucht werden.
in normalen Zeiten drastisch zwiVielleicht lässt sich so das Rätsel
schen Trocken- und Regenzeit.
der fehlenden Jungtiere im Zoo
«Doch nur wenn man die natürlilösen.
chen Schwankungen kennt, kann
Oder liegt das Problem beim
man auch voraussagen, ob der
Futter? Was und wie viel die RieKlimawandel den Schildkröten
sen fressen, ist eine der Kernfraschaden wird», sagt Schaepmangen des Zürcher Projekts. Ihr Kot
Strub. So zielen die verschiedewird gesammelt, eingetütet und
nen Forschungsansätze letztlich
an den Verhaltensökologen Denauf eine zentrale Frage ab: Wie
nis Hansen nach Zürich geschickt.
hängen Klima, Vegetation und
Dieser analysiert Pflanzenreste
Schildkröten zusammen?
und Parasiten darin, aber auch
Das Zürcher Aldabra-Projekt
Samen, die von den Reptilien vererkundet nicht nur ein einzigartibreitet werden. Offenbar komges, von urtümlichen Schildmen wechselwarme Reptilien beskröten geprägtes Ökosystem. Es
ser mit karger Inselkost aus als
schafft auch Wissensgrundlagen
grosse Warmblüter. Dies könnte
für die Seychelles Island Foundanebenbei erklären, warum sich
tion, um die Riesenschildkröten
der Riesenwuchs hier und auf den
langfristig zu beobachten und zu
Galapagos-Inseln parallel entschützen, und für Naturschützer,
wickelte, denn die Arten sind
die auf anderen Inseln ausgestornicht nahe verwandt.
bene Riesenschildkröten mittels
Auf Aldabra tummeln sich die
Nachzucht wieder ansiedeln wolPanzertiere in enormer Dichte,
len. Und womöglich gibt es dank
ähnlich wie Gnuherden in der
der kühnen Ranger und Forscher,
Steppe. «Wir erwarten einen masdie den Piraten trotzen, eines
siven Druck auf die Vegetation»,
Tages im Zoo Zürich junge
sagt Gabriela Schaepman-Strub,
Aldabra-Riesenschildkröten zu
Fernerkundungsspezialistin an
bewundern.
QB Was Gnus für die Steppe Afrikas,
sind die Riesenschildkröten für
ihr Heimatatoll Aldabra. Über
100 000 der urtümlichen, durch
die Nase trinkenden Reptilien
kriechen über die vier Inseln des
Atolls. Sie scheren das Gras millimeterkurz und balancieren sogar aufeinander, um an Büschen
zu knabbern. So schaffen sie ihr
ganz eigenes Ökosystem, Schildkröten-Rasen genannt.
Doch ein Mysterium wie aus
einem Kindermärchen umweht
die urtümlichen Giganten: Es
werden sehr wenige Jungtiere gesichtet. Ist ein natürliches Gleichgewicht mit der vorhandenen Vegetation erreicht, oder sind die
Riesen in ernster Gefahr? Liegt es
am Klimawandel, an räuberischen
Krabben, oder erschweren gar genetische Faktoren wie Inzucht die
Fortpflanzung?
Jetzt hat sich ein Team der Universität Zürich dank eines Forschungskredits aufgemacht, einige dieser Rätsel zu lösen. «Die
Schildkröten spielen eine so grosse Rolle im Ökosystem, dass man
an ihnen Einflussfaktoren von der
Vegetation bis zum Klima untersuchen kann», sagt Erik Postma,
Evolutionsbiologe an der Uni
Zürich.
deren Inseln, beinahe ausgestorben – sie wurden von Seefahrern
als lebender Proviant missbraucht.
Naturschützer durchkreuzten in
den 60er-Jahren Pläne für eine
britische Militärbasis auf Aldabra,
und seit 1982 gehört das Atoll
zum Weltnaturerbe. Seither schützt
und überwacht die Seychelles
Island Foundation (SIF) die Inselwelt. Seit 1998 erfassen Ranger
monatlich die Aldabra-Schildkröten entlang von zwölf Messlinien und erheben Vegetationsund meteorologische Daten.
Nicht viel hat sich seither im
Schildkrötenbestand geändert.
Laut ersten Analysen durch Lindsay Turnbull, Ökologin an der
Universität Zürich, scheint die
Population stabil. Doch auf einigen Messlinien finden die Ranger
kaum Jungtiere. Obwohl die
Schildkröten sehr alt werden,
sollte doch eine Verjüngung stattfinden. Ein blosser Messfehler,
oder sind die Tiere in Schwierigkeiten?
Bessere Daten sind vonnöten
wie Alter, Grösse, Bewegungen,
Krankheiten und Ernährungszustand von Individuen. Deshalb
werden im Rahmen der Zusammenarbeit mit der Uni Zürich insgesamt 2000 Riesenschildkröten
markiert und ihr individuelles
Wachstum erfasst; 30 Tiere erhalten zudem einen GPS-Sender auf
den Panzer geklebt, um ihre Bewegungen per Satellit zu überwachen. «Individuen zu kennen, ist
ein enormer Vorteil für die Forschung», sagt Postma. Man kann
die unterschiedlichen Lebensläufe der Tiere und ihre Wechselwirkung mit der Umwelt viel genauer bestimmen als mit statistischen Mittelwerten.
Für den Genetiker im Team ist
Aldabra ein Glücksfall: Die Tiere
standen vor 100 Jahren kurz vor
der Ausrottung, konnten sich seither aber fast ungestört vermeh-
>
VON BEATE KITTL
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