In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 23

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In: Widerspruch Nr. 25 Philosophie des Mülls (1994), S. 23-30
Autor: Roger Behrens
Artikel
Roger Behrens
Von der Philosophie des Abfalls zur
Philosophie des Mülls
Zur Wiederaufbereitung einer Allegorie
I.
„Kinder nämlich sind auf besondere Art geneigt, jedwede Arbeitsstätte
aufzusuchen, wo sichtbare Betätigung an den Dingen vor sich geht. Unwiderstehlich fühlen sie sich vom Abfall angezogen, der sei es beim Bauen,
bei Garten- oder Tischlerarbeit, beim Schneidern oder wo sonst immer
entsteht. In diesen Abfallprodukten erkennen sie das Gesicht, das die
Dingwelt gerade ihnen, ihnen allein zukehrt.“1
Die Welt der Kinder, der Walter Benjamin diese einfühlsame Beschreibung gibt, droht zur Vergangenheit zu werden: zwar ist noch so manchem Kind das gefahrenlose Spiel mit dem Abfall aus der Produktionswelt der Erwachsenen vergönnt, doch mehr und mehr wird diese spielerische Aneignung der Dingwelt zum Spiel mit dem Tod. Seitdem
Kinderspielplätze auf dioxinverseuchten Böden gebaut und die Wiesen
von radioaktiven Regen Tschernobyls verstrahlt sind, seitdem verschiedene Kunststoff-Farben, die auch die Spielzeugwelt bunt machen, sich
als cadmiumhaltig und damit krebserregend erwiesen haben, seitdem
kann den Kindern nicht einfach die Welt der Erwachsenen, samt ihres
Abfalls, zum Spielen überlassen werden.
Abfall hat bei Benjamin noch die positive Bedeutung einer Spur; er kann,
wenn er in die geschickten Hände des Kindes gerät und von seiner Phan1
W. Benjamin, „Alte vergessene Kinderbücher“, in: ders., Gesammelte Schriften III,
Frankfurt/Main 1991, S.16.
Von der Philosophie des Abfalls zur Philosophie des Mülls
tasie durchdrungen wird, einen Gebrauchswert zurückerhalten, den er im
Akt der Produktion als Reststoff schon verloren gehabt zu haben schien.
Mit der Phantasie des Dialektikers bewaffnet, kann Benjamin es den
Kindern gleichtun und sich ebenfalls dem Abfall zuwenden: die Allegorie
des Abfalls wird ihm zum dialektischen Bild: als „Abfall der Geschichte“
notiert er im Passagen-Werk ein Fragment, aus dem hervorgeht, wie „in
der Analyse des kleinen Einzelmoments [der] Kristall des Totalgeschehens zu entdecken sei“, von „Montage der Geschichte“ ist dabei die
Rede2. Ein Ergebnis dieser Montage ist das Passagen-Werk selbst - Benjamin hinterläßt der Nachwelt diese Arbeit als „dialektische Feerie“, als
Märchen3. Denn das Märchen selbst ist „Abfallprodukt ... im Entstehungs- und Verfallsprozeß der Sage“4. Er nimmt den Abfall der Geschichte, die trümmerhaften Formen von Vergangenheit und Gegenwart,
und montiert sie zum aufblitzenden Bild der Zukunft; aus dem Abfall
liest er wie aus dem Kaffeesatz: daß der Abfall sich dabei dem Tausch
und somit der Verwertung entzieht, macht ihn zum Speicher für einen
Vorgriff auf ein Gesellschaftsbild, das dem Prinzip der Verwertung fern
liegt. Am konkretesten hat Benjamin diesen Gedanken wohl im Ursprung des deutschen Trauerspiels an dem Bild der Ruine dargelegt5.
Benjamin verortet hier die Ruine sowohl geschichtsphilosophisch („Mit
ihr hat sinnlich die Geschichte in den Schauplatz sich verzogen“6), erkenntnistheoretisch („Allegorien sind im Reiche der Gedanken was Ruinen im Reiche der Dinge“7) und ästhetisch („... trümmerhafte Formen
des geretteten Kunstwerks...“8).
Die Ruinen sind nicht bloß „Emblem der Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit der kapitalistischen Kultur ..., sondern auch .. Emblem ihrer
Destruktivität“9. Diese Destruktivität deutet heute nicht mehr auf die
Befreiung vom Kapitalismus zugunsten einer neuen Epoche, sondern auf
die Destruktion einer jeden Möglichkeit weiterer Geschichte. Dieses ist
2
W. Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd.V.1., a.a.O., S.575.
vgl. Susan Buck-Morss, Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das PassagenWerk, Frankfurt/Main 1993, S.401ff.
4 W. Benjamin, „Alte vergessene Kinderbücher“, a.a.O., S.17.
5 vgl. W. Benjamin, Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS I.1., S.353ff.
6 ebd., S.353.
7 ebd., S.354.
8 ebd., S.358.
9 Buck-Morss, Dialektik des Sehens, a.a.O., S.204.
3
Behrens
der Unterschied zwischen einer Schloßruine oder den Trümmern eines
antiken Tempels und dem explodierten Kraftwerk; dieses ist mithin der
Unterschied zwischen Abfall und Müll. Das Attribut, das dem Abfall
zukommt, ist der Ver- und schließlich Zerfall - das Unbrauchbare wird
durch diese „Logik des Zerfalls“ (Adorno) wieder dem Werden zugeführt; nicht ein Kreislauf ist damit gemeint, sondern der Zerfall hinterläßt an den Dingen Spuren, die von gänzlich Neuem zeugen. Dem Müll
hingegen kommt die Eigenschaft des Nicht-mehr-zerfallens zu; seine
Destruktivität konstruiert nicht die Idee des Neuen, sondern potenziert
die Gewalt der Destruktion.
Müll hat etwas Bewegungs- und Geschichtsloses: der Giftmüll zerfällt
höchstens in eine neue Gefahrenstufe des Gifts, die Zerfallszeiten radioaktiven Mülls haben für mehr als ein Menschenleben den Charakter des
Ewigen, die Plastikverpackung bleibt immerwährendes Zeugnis unserer
Kultur. Das Verfallsdatum auf den Nahrungsmittelprodukten gibt ein für
alle Male an, an welchem Tag der Gegenstand seine Dinglichkeit verläßt,
um für den Rest aller Zeiten Müll zu sein: die Objektwelt steht damit
nicht in unterschiedlichsten Stadien von Gebrauchsmöglichkeiten dem
Menschen gegenüber, eben bis zum Abfall, für den die Kinder noch
Verwendung finden, sondern in einem kruden Dualismus - einem „dualen System“ eben - von nur einer Verbrauchsmöglichkeit; alles was diese
Möglichkeit übersteigt, ist Müll. Den Objekten kommt also nicht mehr
neben dem Tauschwert ein Gebrauchswert, sondern ein Verbrauchswert
zu10.
Auch ist Abfall eine Rarität: von vergangenen Zeiten sind seine Reste
kaum noch erhalten, die paläontologischen Knochenabfälle sind regelrechte Schätze der Wissenschaft. Zwar wissen wir von den unhygienischen Zuständen vom Kot durchmatschter Straßen im Mittelalter, von
dem Schmutz in den Arbeitervierteln um die Jahrhundertwende, doch
haben diese Zeiten ihren Abfall nicht hinterlassen. Der Müll wird dementgegen für alle kommenden Zeiten seine Zeichen setzen: eine Rarität
wird das werden, was noch nicht Müll ist. Die kommenden Schätze nicht nur für die Wissenschaft - werden der Abfall im Müll sein, das was
10
vgl. Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd.2, München 1988,
S.44. Das beste Beispiel ist das Auto: der Gebrauchswert - Fortbewegung und
Transport - des Autos ist im Verhältnis für die dafür aufgewendete Zeit der Produktion geradezu irrational (vgl. Ivan Illich, Die sogenannte Energiekrise, Reinbek 1974,
S.26f.). Gleichzeitig wird zum Wertkriterium des Autos heute buchstäblich der
Verbrauch gemacht.
Von der Philosophie des Abfalls zur Philosophie des Mülls
doch noch einmal verwertbar ist. Doch schon jetzt haben die kapitalistischen Weltmarktgesetzte entschieden, daß dieser Umgang mit dem Abfall im Müll kein Kinderspiel sein wird, wie Benjamin es beschreibt, sondern Kinderarbeit, die die imperialistischen Länder mit ihrem Müll
verteilen, aufzeigbar an den von uns oftmals mit falscher Freude über
Kreativität bestaunten Konservenblechkoffern oder Gummireifenschuhen aus afrikanischen Ländern. Der Unterschied zwischen Müll und
Abfall kann sogar in den derzeit beliebten Epochenbegriffen von Moderne und Postmoderne gefaßt werden: die Moderne als jenes Zeitalter
mit positivem Verwertungsbezug zum Müll, in dem man sogar anfing im
18. Jahrhundert künstliche Ruinen zu bauen; die Postmoderne dann nach
einem Vorschlag von Burghart Schmidt datiert auf den Abriß einer von
den ehemaligen Mietern selbst zerstörten Betonwohnruinen im Jahre
1972.11 Sammeln und Verwenden, das gehört zur Welt der Abfälle; Abfälle soll man „nicht inventarisieren sondern ... auf die einzig mögliche
Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden“12. In einer Zeit,
in der Müll nur noch mit Schutzanzügen aufgelesen werden kann, ist
Inventarisierung, das heißt: Endlagerung der Zwang. Der Repräsentationskraft des Abfalls steht somit die reine Präsenz des Mülls gegenüber.
II.
Dieser Unterschied zwischen Abfall und Müll ist auch für die Philosophie virulent: das, was im abstrakten Sinn mit Müll bezeichnet wird - von
der Kunststoffverpackung bis zu verbrauchten Brennelementen -, berührt zweifellos Grundfragen der Philosophie, maßgeblich das Problem
der Naturbeherrschung, oder: um es altmodischer auszudrücken, das
Verhältnis von Subjekt und Objekt. Und doch hat sich die Philosophie
den Müll nicht zum nennenswerten Thema gemacht: auch hier wirkt,
11 vgl. Burghart Schmidt, Postmoderne - Strategien des Vergessens, Darmstadt und
Neuwied 1986, S.8; Charles Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur,
Stuttgart 1988, S.9. „Die Moderne Architektur starb in St. Louis/Missouri am 15.Juli
1972 um 15.32 Uhr,“ so Jencks, mit der Sprengung der Pruitt-Igoe-Siedlung. „Zweifellos hätte man die Ruinen erhalten, sie unter Denkmalschutz stellen sollen...“(ebd.)
Das Problem heute ist keines mehr von Denkmalschutz, sondern vielmehr der gebotene Schutz vor giftigen Bausubstanzen, weshalb ein Abriß von Ruinen oftmals gar
nicht möglich ist (In Hamburg-St. Pauli steht ein nichtabreißbares Hochhaus: um es
niederzureißen, müßte der asbestverseuchte Bau vollständig mit einer Kunststoffhülle überzogen werden).
12 W. Benjamin, Passagen-Werk, a.a.O., S.574.
Behrens
was Günther Anders in den 50er Jahren schon „Apokalypse-Blindheit“
nannte13. Verhärtet wird diese Blindheit paradoxerweise dadurch, daß die
akademische Philosophie sich gerade in den letzten Jahren den Symptomen der Müllproduktion des Kapitalismus nicht länger entziehen konnte
und unter dem Stichwort „ökologische Ethik“ einen Bereich abzirkelte.
Diese Ethik ist aber eine Ethik des äußersten Symptoms: sie spekuliert
über die zerstörten Wälder aus Beispiel und reine Möglichkeit und entwirft eine Moral für den Umgang mit dem kranken und noch gesunden
Baum. Nur selten reichen diese Spekulationen für eine Ethik der inneren
Symptome hin, also eine Ethik des Mülls, beziehungsweise eine Ethik
der Ursachen, was bedeuten würde, eine Kritik der politischen Ökonomie zu entwickeln.
Das hat wohl auch damit zu tun, daß unter dem Stichwort der „ökologischen Ethik“ weniger die ökologischen und gar nicht die sozialen Probleme benannt werden, sondern allenfalls die ethischen. Die Richtung
dieser Philosophie ist präventiv, die ökologische Katastrophe der Wennfall - der Müll aber, mit dem wir es heute zu tun haben, ist schon die
Katastrophe, in Gang gesetzt durch eine Maschine der Warenzirkulation.
Dabei wird auffällig, daß es die Philosophie keineswegs versäumt hat, auf
die Industrie zu reagieren, die den Müll hervorgebracht hat: unzählige
Publikationen widmen sich der Informations-, Medien- und Computertechnologie. Aber hier interessiert nicht das sichtbar-konkrete Resultat,
die physische Bedrohung, die zum Beispiel dadurch entsteht, daß es
noch keine Möglichkeit gibt, Computerschrott zu entsorgen, sondern das
Interesse gilt der Unsichtbarkeit, der virtuellen Realität oder den elektronischen Daten14.
Die Philosophie fühlt sich nicht so recht zuständig für den Müll (was
anscheinend konstitutiv zum Müll gehört: daß niemand sich für ihn zuständig fühlt)15: im Zuge der wissenschaftlichen Arbeitsteilung ist das
Müllproblem an die Soziologie abgetreten worden, an die Ökologie, die
Sozialgeschichtsschreibung, die Umweltpädagogik, die Technologiefol13
vgl. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd.1, München 1988, S.235ff.
Man müßte dem hinzufügen: wenn es Untersuchungen zum Thema Müll gibt,
dann auch wieder nur im Interesse an der Form der Unsichtbarkeit, etwa der Radioaktivität.
15 In ökonomischen Begriffen heißt das, daß Müll kein Eigentum darstellt. Im Zeitalter des weltweiten Industriekapitalismus rückt hinter die Frage nach dem Eigentum
an Produktionsmitteln also noch eine zweite: die danach, wem die Destruktionsmittel
gehören.
14
Von der Philosophie des Abfalls zur Philosophie des Mülls
genabschätzung vielleicht noch im radikalsten Fall. Eine Philosophie,
gleich ob dem System oder der Kontingenz verschrieben, die zum Zentraltopos das Prinzip des Werdens hat, in dem alle Formen des Ver- und
Zerfalls aufgehoben sind, hat wahrscheinlich auch gar nicht die logische
Apparatur, um sie einem Phänomen zuzuwenden, das konstitutiv vom
Prinzip der Unvergänglichkeit bestimmt ist. Der Müll ist die adäquate
Allegorie der „Dialektik im Stillstand“ - nichts paßt auf ihn besser als
Benjamins Satz: „Die Überwindung des Begriffs 'Fortschritt' und des
Begriffs der 'Verfallszeit' sind nur zwei Seiten ein und derselben Sache“16.
III.
Und doch kann festgestellt werden, daß der Müll seine Spuren auch in
der geistigen Welt längst hinterlassen hat. Noch aus den Tagen, wo der
Müll harmloser Abfall war, hat er sich einen allegorischen Wert bewahrt.
Kurt Schwitters konnte aus Abfall noch Collagen komponieren und
Marcel Duchamp Ausrangiertes zur Kunst erklären, der Abfall war als
Fundstück noch gebrauchsfähig. Auch in der Literatur, Benjamin sehr
verwandt, finden sich Allegorien des Abfalls, etwa bei Kafka: er entwirft
„das Bild der heraufziehenden Gesellschaft“ nicht unmittelbar, sondern,
wie Adorno festhält, er „montiert es aus Abfallsprodukten“17. Abfall ist
ästhetisch gesehen - um Kants berühmten Satz aus der Kritik der Urteilskraft umzuwandeln - wertmäßig ohne Wert: an ihm läßt sich ein Bild
von Schönheit noch konstruieren, auch wenn es bloß dessen Negatives,
die Vergänglichkeit ist, das was einmal schön war, der Zerfall.
Der Müll schließt demgegenüber eine Ästhetik oder Ästhetisierung aus,
wenngleich er am einfachsten dadurch vergessen und verharmlost wird,
wenn man ihn ästhetisiert; Müll wird zu dem - wieder in Anlehnung an
einen Kantischen Satz -, was ohne Begriff mißfällt. In der Kunst hatte
das seine Protagonisten im Punk und Trash der Musik und Literatur, im
Bereich des Films wären die Splattermovies zu nennen. Es wurde daraus
eine regelrechte Kunst des Mülls, samt einer dazugehörigen Urteilskraft
der Geschmacklosigkeit. Filme wie „Soilent Green“ oder „Blade Runner“ gewöhnen uns heute schon an eine Zukunft, in der die Menschheit
in ihrem eigenen Müll erstickt ist; hinzu kommt eine Unzahl von Science
16
W. Benjamin, Das Passagen-Werk, a.a.O., S.575.
Theodor W. Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, in: ders., Prismen, Frankfurt/Main 1987, S.258.
17
Behrens
Fiction Filmen im Stile von Star Trek, die schon mit einer Erlösungszeit
nach dem Zeitalter des Mülls operieren18. Aber diese Antiästhetik des
Mülls braucht gar keine Science Fiction: jüngst ist in den USA eine Welle
der Geschmacklosigkeit, eine Verherrlichung der Barbarei und des Mülls,
zu verzeichnen, die selbst schon wieder eine ganze Industrie von Comicfiguren und Fernsehshows hervorgebracht hat. Die hierbei inszenierte
Antiästhetik des Mülls operiert mit unserem anästhetischen Verständnis
vom Müll: im Kinofilm ist er nicht riechbar, der Gift- und radioaktive
Müll ist sinnlich nicht faßbar, unseren Hausmüll bringen wir in Tonnen
und Schächten aus der Wahrnehmbarkeit, und selbst auf dem Computerbildschirm werden Daten symbolisch in einer Mülltonne zum Verschwinden gebracht. Kommt es da noch von ungefähr, wenn auch die
philosophische Ästhetik den Menschen langsam auf eine Anästhetik
vorbereitet?19
Günther Anders hat im Zusammenhang mit der atomaren Drohung vor
einer „Solennifizierung“, also einer „Verfeierlichung durch Ästhetisierung“ gewarnt, die es sich leistet, „die Wahrheit in ihrer ganzen Furchtbarkeit auszusagen. Das kann sie sich deshalb leisten, weil sie das
Furchtbare in die Sprache des Ästhetischen übersetzt, das heißt: weil sie
das Horrende als etwas durch seine Größe ... Erhabenes darstellt... Die
Darstellungen des Höllensturzes passen ins Barock, nicht in unser Zeitalter, und die (massenhaft existierenden) Darstellungen der Katastrophe
gehören nicht an die Wand gehängt, als Ausschmückung unserer Wohnungen...“20
Diese Solennifizierung droht auch dem Problem des Mülls: wo die Begriffe der Schönheit nicht mehr hinreichen, soll der Müll wenigstens seine
Erhabenheit erhalten, der Müll wird schließlich sogar vergöttert, zur
negativen Religion des Industriekapitalismus. Schließlich hat der Müll ja
durchaus etwas Göttliches, sagen wir im Sinne einer Spinozistischen
Substanz in Hinblick auf seine Unvergänglichkeit. Allegorisch ließen sich
die Müllberge schon als jene Berge deuten, auf denen der kommende
18
„Raumschiff Enterprise“ ist im 24.Jahrhundert situiert, gespickt mit Botschaften,
die immer wieder auf die Fehler unserer Zeit deuten und von einer großen Katastrophe zu Beginn des zweiten Jahrtausend reden. Diese Katastrophe wird als überwunden dargestellt, ohne das gesagt wird, wie das geschah.
19 vgl. Wolfgang Welsch, Ästhetik und Anästhetik, in: ders., Ästhetisches Denken,
Stuttgart 1990, S.9ff.
20 G. Anders, Die atomare Drohung, München 1993, S.128.
Von der Philosophie des Abfalls zur Philosophie des Mülls
Moses seine Gesetzestafeln empfangen wird. Erstes Gebot: Du darfst
nicht wegwerfen. Um die Groteske zu verlängern: im Englischen hat
diese Vergötterung des Mülls schon auf jeder Pfandflasche ihren Begriff
gefunden, wenn dort das Wort „redemption-value“ in das Glas eingelassen ist: Erlösungs- oder gar Versöhnungswert des Mülls. Zu Recht hat
Adorno daraus schon das geschichtsphilosophische Telos abgeleitet:
„Die Auferstehung der Toten müßte auf dem Autofriedhof stattfinden.“21
Eine Religion des Mülls braucht schließlich nicht nur das moralische
Gesetz in sich, sondern auch den bestirnten Himmel, in dem der neue
Gott zu wohnen hat. Günther Anders hat dem einen luziden Aphorismus gewidmet:
„Das industrielle Problem von morgen wird nicht lauten: 'Wie produzieren wir die von uns gewünschten Produkte?', sondern: 'Wie produzieren
wir Installationen, mit deren Hilfe wir die unerwünschten Produktabfälle
loswerden?' Und es wäre denkbar, daß wir auf die Erzeugnisse gewisser
Produkte werden verzichten müssen, weil wir unfähig sein werden, deren
Abfälle zu bewältigen. Schon heute ist die Eliminierung des tödlichen
Atommülls (sofern diese als Eliminierung gelten darf) ebenso kostspielig
wie die Errichtung von Reaktoren, und schon morgen wird man überhaupt nicht mehr wissen, wohin damit. Das fehlt noch gerade - dieser
Vorschlag ist ja bereits in Betracht gezogen worden - daß wir den Dreck
ins All schießen: daß wir den Weltraum also deshalb erobert haben, um
ihn zur Jauchegrube für die Erde machen zu können. Eine nette Variante
der Säkularisierung des Himmels wäre das freilich.“22
Erst in dieser religiösen Sicht auf den Müll läßt sich eine Ästhetik des
Mülls jenseits von Schönheit und Erhabenheit entfalten: indem sie nahtlos sowohl von den alten Religionen und dem dazugehörigen Abfall
zehrt. Die Brücke, die jetzt geschlagen wird, mag etwas konstruiert klingen; aber sind denn nicht die berühmtesten Ruinen die von Kirchen und
Klöstern, also religiösen Bauten gewesen - man denke etwa an Caspar
David Friedrichs Bilder? Gleichzeitig ist es auch kein neues Bild, von der
Industriereligion zu sprechen und dabei die Fabriken mit ihren kirchturmartigen Schornsteinen zu den neuen Gotteshäusern zu allegorisieren.
Warum also nicht eine stillgelegte Fabrik, oder ein zerstörtes Atomkraft-
21
22
Th.W. Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, a.a.O., S.282.
G. Anders, Philosophische Stenogramme, München 1993, S.93f.
Behrens
werk zur Ruine erheben? Bilder dieser Art finden sich in den - von viel
Religiösität durchsetzten - Filmen Andrej Tarkowskijs23.
Diese Ästhetik ist aber nicht das, was Hartmut Böhme sich gerne
wünscht: „radikale Herausforderungen an das kulturelle Selbstverständnis der Industriegesellschaften und deren Verhältnis zur 'Irrationalität'
und vor allem zur Natur“24. Hier gleichsam eine ästhetische Kraft im
Sinne einer Herausforderung ausmachen zu wollen, wäre das, was Anders mit Solennifizierung oder auch Auratisierung25 meint. Herausfordern läßt sich die kapitalistische Müllproduktion aber nicht durch eine
Wahrnehmbarmachung durch die Kunst, sondern nur indem die Kunst
als unmißverständliche ästhetische Anklage fungiert, die schließlich eine
praktische Herausforderung provoziert. Statt einer Ästhetisierung des
Mülls bedarf es also einer Vermüllung der Ästhetik; darauf mag auch
Adornos Satz aus der Negativen Dialektik gezielt haben: „Alle Kultur
nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll.“26
23
vgl. Hartmut Böhme, Ruinen - Landschaften. Zum Verhältnis von Naturgeschichte und Allegorie in den späten Filmen von Andrej Tarkowskij, in: ders., Natur und
Subjekt, Frankfurt/Main 1988, S.334ff.
24 ebd., S.335.
25 vgl. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd.2, München 1988, S.44f.
26 Th.W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/Main 1982, S.359
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