Ein Altersbild für das 21. Jahrhundert von Norbert Herschkowitz, Prof. em. Dr. med. Wir leben in einer besonderen Zeit: Noch nie in der Geschichte haben so viele Menschen ein so hohes Alter erreicht – mit einer so hohen Anzahl gesunder Jahre. Neuste Erkenntnisse aus der Wissenschaft, etwa aus der Medizin, Genetik, Neurobiologie und Neuropsychologie, können unser Altersbild beeinflussen und Vorurteile abbauen. Erkenntnisse der Neurowissenschaft, die unser Altersbild beeinflussen können: • Auf- und Abbauprozesse finden während des ganzen Lebens statt. • A lterungsprozesse sind individuell und spezifisch (nicht nur allgemein). • Das Gehirn behält lebenslang seine Eigenschaft der Plastizität (Formbarkeit). • Demenz gehört nicht zum üblichen Altern. Jeder Mensch altert anders Eben so wenig wie es die Jugend gibt, gibt es das Alter. Die menschliche Entwicklung wird bestimmt durch das lebenslange individuelle Zusammenwirken von Vererbung und Umwelt. Jeder Mensch ist daher einmalig. Die Unterschiede zwischen Menschen werden im Verlauf des Lebens dank individueller Lebenserfahrungen immer grösser. Bis gegen Ende des 20. Jahr6 Das Gehirn 2/2014 hunderts nahm man noch an, die Hirnentwicklung sei mit 20 Jahren abgeschlossen. Wir wissen heute, dass die Vernetzung einiger wichtiger Hirnregionen – zum Beispiel der vorderen Hirnrinde mit Teilen des limbischen (emotionalen) Systems – noch mindestens bis ins Alter von 60-70 Jahren verstärkt wird. Die Anzahl Nervenzellen im Gehirn bleibt bis ans Lebensende beinahe konstant. Es ist möglich, dass einige Zellen absterben und durch neue Nervenzellen ersetzt werden. Das ist zum Beispiel im Hippocampus, der eine wichtige Rolle in Gedächtnisfunktionen spielt, schon beobachtet worden. Doch die Informationsaufnahme und -verarbeitung oder die Weiterleitung der Impulse an die entsprechenden Körperorgane kann mit zunehmendem Alter verlangsamt werden. Diese Abbauerscheinungen verlaufen jedoch nicht bei jedem Menschen gleich, und auch beim Einzelnen finden sie weder gleichzeitig noch im gleichen Ausmass statt. Stand bis vor einigen Jahren die Arbeit der einzelnen Nervenzellen oder speziellen Hirnareale im Mittelpunkt, wendet sich die Forschung heute der Bedeutung von ganzen Netzwerken zu. Das Gehirn ist das komplexeste Die Gehirnentwicklung ist bestimmt durch das Zusammenwirken von Vererbung und Umwelt. Der Verlauf des Lebens ist daher bei jedem Menschen einmalig. Bild: Fotolia Organ des Menschen, und sämtliche Teile sind – zum Teil sogar mehrfach – miteinander verbunden. Ein Beispiel dafür ist die Cingulat-Hirnrinde, die kognitive und emotionale Netzwerke mit motorischen Hirnarealen verbindet. Dabei sind Denken, Fühlen und Bewegung miteinander vernetzt. Eine Störung in einer einzelnen Region des Gehirns oder in einem Verbindungstrakt innerhalb des Systems kann weitreichende Konsequenzen für das Verhalten haben. Wir unterscheiden zwischen üblichem Altern und krankhaftem Altern (Demenz). Es ist ein Hauptanliegen der Wissenschaft, Mittel zu finden, um das gesunde Altern zu fördern und die krankheitsbedingten Symptome so weit wie möglich hinauszuzögern oder eines Tages sogar zu verhindern. Die Cingulat-Hirnrinde (gelb) verknüpft kognitive, emotionale und motorische Netzwerke. Dass Nervenzellen absterben und neue entstehen, gehört zur normalen Entwicklung des Gehirns – auch im Hippocampus (blau), der wichtige Gedächtnisfunktionen wahrnimmt. Cingulat Hirnrinde Hippocampus Bild: Barbara Enggist, forum|pr Plastizität Das Gehirn ist das dynamischste Organ im menschlichen Körper. Von zentraler Bedeutung ist seine Plastizität (Formbarkeit). Während des ganzen Lebens passen sich Hirnstrukturen an neue Herausforderungen und Veränderungen in der Umwelt an. Sowohl geistige wie auch körperliche Erfahrungen und Aktivitäten verändern Hirnstrukturen und bilden die Basis für neue Verhaltensweisen. Unser Gehirn bleibt während des gesamten Lebens formbar. Diese Plastizität ermöglicht: • Entwicklung (körperlich und geistig) • L ernen, Umlernen, Erinnern, Vergessen • Rehabilitation nach Krankheit oder Verletzungen • Umdenken, neue Strategien entwickeln • A npassen an neue Situationen 7 Das Gehirn 2/2014 Obwohl die Plastizität des Gehirns in jüngeren Jahren am stärksten ausgeprägt ist, bleibt sie lebenslang erhalten. Eine Untersuchung zeigte, dass 80- bis 90-jährige Testpersonen mit gezielten Übungen ihr Arbeitsgedächtnis verbessern konnten. Dieses ist notwendig, um Informationen für kurze Zeit «im Kopf» zu behalten, zum Beispiel, um eine Frage zu beantworten oder eine Telefonnummer einzutippen. Die Teilnehmenden hörten zum Beispiel eine Reihe von Zahlen und mussten sie anschliessend wiederholen (vorwärts und rückwärts). Sie mussten Rhythmen nachklopfen und sich die Position von Bildern merken. Die Übungen umfassten also visuelle, motorische und auditive Reize. Ein differenziertes Altersbild Unter «Altersbild» verstehen wir mehr als nur eine Bestandsaufnahme. Es ist zugleich ein Leitbild, das einen Einfluss auf die Zukunft hat – sowohl auf persönliche Lebensziele als auch auf das Zusammenleben verschiedener Generationen und auf die entsprechenden sozialen Einrichtungen. Die World Health Organisation (WHO) definiert ihr Ziel in Bezug auf eine «aktive Lebensgestaltung im Alter» mit den folgenden Worten: «Aktives Altern ermöglicht es den Menschen, ihr Potenzial für körperliches, soziales und geistiges Wohlbefinden auszuschöpfen und am sozialen Leben in Übereinstimmung mit ihren Bedürfnissen, Wünschen und Fähigkeiten teilzunehmen». Die Voraussetzung dafür ist ein differenziertes Altersbild, das neuste wissenschaftliche Erkenntnisse umfasst. Literatur: Zinke, K. et al (2012) «Potentials and limits of plasticity induced by working memory training in old-old age.» Gerontology, 58(1): 79-87