stars Badiou urg- kraft en oses er digi- m lie- r kapita- e? eo

Werbung
Zwanzig Jahre nach dem
Ende der Sowjetunion wird
2010 in der Berliner Volksbühne die «Idee des Kommunismus» diskutiert. Hunderte
von Menschen strömen für
die Philosophie-Popstars
Slavoj Žižek und Alain Badiou
an den Rosa-LuxemburgPlatz. Welche Sprengkraft
haben heutige Utopien
wie ein bedingungsloses
Grundeinkommen oder digitale Commons? Warum lieben Theaterbesucher kapitalismuskritische Stücke?
Eine Ausgabe über Neokommunismus.
4
Das S-Wort
Autokratisch planen? Anarchisch leben? Wer heute vom Sozialismus spricht, sucht nach neuen politischen Optionen.
»Wir sind jetzt alle Sozialisten«, titelte das amerikanische Nachrichtenmagazin Newsweek auf dem Höhepunkt der Finanz- und Wirtschaftskrise am 6. Februar 2009. Man konnte sich die Augen reiben.
Man konnte sie sich auch gleich noch mal reiben, wenn man weiterlas. Der Sozialismus, auf den die US-Journalisten ihr Land da zumarschieren sahen, war derjenige, der schon Westeuropa in seinen
Klauen gehalten habe. »Wir werden zunehmend französischer«,
schrieb das Blatt.
Unter Sozialismus stellt sich jeder etwas anderes vor; das war
schon immer so. Wenn nicht gerade vom real existierenden (beziehungsweise nicht mehr existierenden) Sozialismus der früheren Ostblockstaaten die Rede ist, pendeln die Zielvorstellungen zwischen
autokratischer Staatsaufsicht, demokratischer Bestimmung der wirtschaftlichen Ziele und anarchistischer Verwirklichung in freien Kollektiven, zwischen gewaltsamer Revolution und friedlicher Überzeugungsarbeit, zwischen der Erfüllung historischer Aufträge und der
tastenden Suche nach einer besseren Zukunft.
Und trotzdem: 23 Jahre nach dem Fall der Mauer und vier Jahre
nach dem Ende von Lehman Brothers zeigen sich in diesem Durcheinander einige Kristallisationspunkte, mit deren Hilfe man sich eine
konkrete Politik vorstellen kann – und vielleicht sogar einen neuen
Sozialismus. Seit Jahren schon schaut die Linke nach Zentral- und
Südamerika. In Venezuela spricht Staatschef Hugo Chávez seit seiner Machtergreifung 1998 vom »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«.
Er ließ sich vom deutschstämmigen und in Mexiko forschenden Soziologen Heinz Dieterich beraten und fand Nachahmer in Ländern wie
Bolivien und Ecuador. Chávez enteignete internationale Konzerne,
legte sich aber auch mit heimischen Firmen an und steckte große
Teile der Öleinnahmen in populistische Umverteilungsprogramme zugunsten der sozial Schwachen.
»Der zentrale Gedanke ist hier die Wiederaneignung von Enteignetem«, sagt Elmar Altvater, Soziologe aus Berlin und Kenner der linken Szene, »ein Gedanke, der bis auf Rosa Luxemburg zurückgeführt
werden kann.« Ob Bodenschätze oder Energieversorgung, ob Urheberrechte oder Patente auf Erbgut: Wenn Konzerne und sonstige
Machteliten sich diese unter den Nagel gerissen hätten, dann dürfe
die Mehrheit sie sich zurückholen. Auf Altvater wirkt der Gedanke erstaunlich frisch. »Man kann sagen, dass die Occupy-Bewegung, die
an der Wall Street und in Frankfurt demonstrierte, in Lateinamerika
vorgedacht und vorpraktiziert worden ist.«
Die wichtige Frage bleibt: Und dann? Die autokratische Revolution des Hugo Chávez gilt nicht mal wesentlichen Teilen der Linken
als gelungen – eine tragfähige neue Form des Wirtschaftens ist dort
nicht entstanden, und ohne Erdöleinnahmen wäre das Land bankrott.
Ein leuchtendes Vorbild für eine sozialistische Wirtschaftsordnung
kann das nicht sein.
Ein Lösungsvorschlag für dieses Problem, der im Moment viel
Aufmerksamkeit erfährt, ist Old school-Sozialismus im neuen Gewand: Der Staat oder eine andere gesellschaftliche Organisationsform soll die ganze Wirtschaft planen. In Moskau und an anderen Orten ist das zwar schon mal schiefgegangen, eigentlich auch bei
Chávez, aber schließlich – sagen die neuen Anhänger der öffentlichen
Planung – gibt es den technischen Fortschritt. Computer, Netzwerke,
Verfahren zur Datenberechnung sowie Einsichten aus der Psychologie und der Managementlehre könnten dabei helfen, eine funktionierende Planwirtschaft zu bauen. Was sind transnationale Konzerne
heute anderes als globale Planwirtschaften, koordiniert mit Computerhilfe? Wenn die das schaffen, warum nicht auch Sozialisten?
Eine andere populäre Denkrichtung entspringt der Wiederentdeckung und der Faszination für gemeinschaftliche Produktionsformen,
die spontan entstehen. Ausgerechnet die Trägerin des Wirtschaftsnobelpreises im Jahr 2009, die amerikanische Sozialforscherin Elinor
Ostrom, hat ihr Leben der Erforschung sogenannter Allmenden gewidmet: Wälder, Wasserreservoire oder Jagdgründe, die von einer
Gruppe gemeinsam bewirtschaftet werden. Ostrom hat gezeigt, dass
die gemeinschaftliche Verwaltung hier ohne staatliche Planwirtschaft,
aber auch ohne eine Überführung in den Privatbesitz funktioniert.
Häufig handeln die beteiligten Fischer, Jäger oder Landwirte untereinander die Regeln aus und beaufsichtigen deren Einhaltung.
Verwandt damit sind gemeinschaftliche Arbeitsformen, wie sie in der
Open-Source-Bewegung und im Internet gedeihen. Die gemeinschaftliche Produktion ganzer Betriebssysteme (Linux) oder Lexika (Wikipedia), bei der die Beteiligten nicht für Geld, sondern für Spaß und
Anerkennung arbeiten, ist offenbar hoch produktiv, und auch hier
funktioniert die Abstimmung zwischen den Menschen spontan. Entstehen da die Keimzellen für einen neuen, zwanglosen, aber zugleich
produktiven Sozialismus, der die Menschen glücklicher macht, als sie
es beim Arbeiten für Geld sind? »Solche immateriellen Formen des
Wohlstands – Computercodes, pharmazeutische Formeln – werden
produktiver eingesetzt, wenn sie nicht im Privatbesitz sind, sondern
wenn sie geteilt werden und wenn es offenen Zugriff darauf gibt«,
sagt Michael Hardt, Mitautor von Empire , einem Standardwerk der
linken Szene.
Gemeinsam ist allen Entwürfen eines neuen Sozialismus, dass
sie sich noch nicht zu einem großen Ganzen formen. Einzelne Ideen
und Lösungsansätze werden mal für die Industrie, mal für das Internet oder für die Allmenden formuliert; auf eine ganze Gesellschaft in
all ihrer Komplexität übertragen hat sie noch niemand.
Wenn über den Sozialismus des 21. Jahrhunderts gesprochen
wird, wird daher vieles noch als Ziel oder gar als Traum beschrieben:
Mehr Fairness zwischen den sozialen Schichten, mehr Geschlechtergerechtigkeit, mehr Toleranz zwischen den Kulturen und Ethnien, mehr
Nord-Süd-Gerechtigkeit, ein besserer Umgang mit der Natur. Oder
ex negativo: Die Zukunft nach dem Kapitalismus ist ein Sozialimus
ohne Moskau, ohne Einheitspartei, ohne Personenkult und ohne Unterdrückung der menschlichen Vielfalt und Schöpfungskraft. Braucht
man dann eigentlich noch das S-Wort? »Für manche Menschen ist
es wichtig, zu sagen, das ist unsere Tradition«, sagt der Soziologe
Altvater. »Identitäten stellen sich ja auch in kritischer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ein.«
Von Thomas Fischermann
erschienen in der ZEIT vom 15.12.2011
Neue Utopien
Daniel Häni, Unternehmer und Kulturschaffender,
hat 2006 zusammen mit dem Künstler Enno
Schmidt die Initiative “Bedingungsloses Grundeinkommen” gegründet. Das Ziel: 2500 Franken
im Monat bedingungslos für jeden.
Daniel, du beschäftigst dich seit über 20 Jahren mit der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens. Im April fangt ihr an, Unterschriften für eine Volksinitiative zu sammeln.
Was würde ein bedingungsloses Grundeinkommen verändern?
Wir hätten eine andere Stimmung ins Land. Das
Grundeinkommen würde die Schweiz sozialer und
gerechter machen. Arbeitslosigkeit wäre kein
Stigma mehr, sondern eine Krankheit. Es wären
nur diejenigen arbeitslos, die nicht wissen, was
sie arbeiten könnten. Armut in dem Sinn, dass
man kein Geld hat, gäbe es nicht mehr. Es kämen
dann wahrscheinlich andere Formen von Armut
zum Vorschein. Die Gesellschaft würde aber nicht
nur sozialer, sondern auch liberaler: Jeder einzelne hätte mehr Bestimmungsmöglichkeiten
über sein eigenes Leben.
Inwiefern?
Die Unternehmen müssten sich zum Teil attraktiver machen, damit man dort arbeiten möchte.
Im Fernsehen würden Firmen werben: „Kommen
Sie zu uns arbeiten, bei uns finden Sie wirklich einen Sinn!“ Auch der Konsum würde sich verändern. Wenn man kein Gefühl von Mangel mehr
hat, kauft man sich keine schlecht verarbeiteten
Schuhe für 50 Franken. Man kann bewusster konsumieren.
Wer arbeitet denn noch, wenn er nicht mehr
auf das Geld angewiesen ist?
Ich habe nur ganz selten erlebt, dass jemand sagt:
Wenn das BGE eingeführt wird, lasse ich alles liegen und mache nichts mehr. Das hält man gar
nicht lange aus. Jeder Psychiater kann dir bestätigen, dass die Menschen leiden, wenn sie nicht
arbeiten. Der Sinn der Arbeit ist das wirklich Nährende.
Und wie soll das finanziert werden?
Es ist schon finanziert. Mit dem BGE hat man
nicht mehr Geld, sondern das Geld, das man ohnehin hat und braucht, wird in der Höhe des
5
Grundeinkommens bedingungslos. Es würde
wahrscheinlich nur noch eine Steuer geben, die
Mehrwertsteuer.
Aber die Mehrwertsteuer kennt keine Progression. Alle zahlen gleich viel Prozent, unabhängig von der Höhe des Einkommens. Der soziale Umverteilungsgedanke von Steuern ist
damit abgeschafft.
Ja, das wäre gut, weil dieser Umverteilungsgedanke im Prinzip eine Illusion ist. Der Gedanke
der Umverteilung ist eine der größten Blendgranaten, die es im 20. Jahrhundert gegeben hat und
noch immer gibt. Die Sozialdemokratie krankt daran. Und viele Vielverdiener kranken auch daran.
Ersten umgehen sie die Steuer erfolgreich mit allen Mittel. Und zweitens bilden sie sich etwas darauf ein, dass sie mehr Steuern zahlen als andere.
Man kann mit Steuern nicht umverteilen.
Du glaubst also nicht an Steuern als Umverteilungsinstrument?
Nein, schon heute werden fast alle Steuern von
den Konsumenten getragen. Sie werden auf den
Preis der Produkte aufgeschlagen und dadurch
an die Konsumenten weitergegeben. Man sieht
es nicht auf Anhieb. Götz Werner, der Gründer
der deutschen Drogeriemarkt-Kette dm kam
durch diese Überlegung auf das Grundeinkommen: Im Prinzip könnte man heute alle Steuer als
Mehrwertsteuer erheben. Dieser würde aber ein
Steuerfreibetrag fehlen. Deshalb der Vorschlag
den Steuerfreibetrag der Mehrwertsteuer an alle
gleich und bedingungslos auszuzahlen: Das ist
die logische Form des Grundeinkommens.
Die Idee eines BGE hat Fans und Gegner in allen politischen Lagern, wo würdest du selbst
sie verorten?
Das BGE ist sozial, liberal, ökologisch, demokratisch, gut für Familien, gut für Frauen, gut für die
Kultur und gut für eine Wirtschaft, die den Menschen dient. Wir sprechen Anliegen aller Parteien
an. Mit Ausnahme der SVP vielleicht, die werden
sich wahrscheinlich ins Lager der Gegner einordnen, wie z.B. der Weltwoche-Chef Roger Köppel
es tut.
Alle Parteien werdet ihr kaum für eure Idee gewinnen können, welche am ehesten?
Ich bin selbst wohl eher ein Linker, aber ein sehr
liberaler. Und ich fühle mich in diesem Rechts/
Links-Schema gar nicht wohl. Man sagt ja: Die
Rechten sind äusserlich kleinkariert und die Linken innerlich. So empfinde ich das oft.
Eigentlich ist das BGE natürlich ein linkes Thema:
Man kämpft dafür, das die Abhängigkeiten im Kapitalismus, die man als gegeben ansieht, ein
menschlicheres Antlitz bekommen. Aber es gibt
auch viele Vorbehalte von links gegen das BGE.
Die Mehrwertsteuer zum Beispiel. Und die Gewerkschaften haben Angst, dass sie durch das
BGE ihr Kerngeschäft verlieren: den Kampf für einen Existenz sichernden Lohn. Ausserdem wollen die Politiker immer sofort Modelle ausrechnen. Man muss aber zuerst unvoreingenommen
auf das Ganze schauen, bevor man damit anfangen kann.
Das Einkommen wird von der Arbeitsleistung
entkoppelt. Das ist ein kommunistischer Gedanke.
Der Kommunismus und das Grundeinkommen
sind beides Sehnsüchte. Die Sehnsucht danach,
dass alle Menschen menschenwürdig leben können. Beide basieren auf der Idee der Gleichheit.
Aber der Kommunismus hat das Gleichheitsprinzip auf zu viele Lebensbereiche angewendet. Das
war ein Fehler, es entstand ein Arbeitszwang. Der
kommunistische Gedanke, dass alle Menschen
vollkommen gleich sind, ist genauso falsch wie
die kapitalistische Vorstellung des Menschen als
reinem Reiz-Reaktions-Wesen. Beim Grundeinkommen bekommt zwar jeder das Gleiche, unabhängig davon, ob er es braucht, aber jeder kann
auch selbst entscheiden, was er damit anfängt,
was er arbeitet und wie viel. Das war vollkommen
anders im Kommunismus. Deshalb waren dort
auch die Regale leer. Die Menschen sind individuelle Gemütswesen. mit einer Seele, einem
Rechtsgefühl, einem Geist und unterschiedlichen
Interessen und Fähigkeiten.
Ist es nicht ungerecht, wenn das BGE für alle
gleich hoch ist? Schliesslich ist das Leben auf
dem Land günstiger als in der Stadt, ein Kind
braucht weniger als ein Rentner, ein Gesunder
weniger als ein Kranker.
Diese Frage finde ich spannend. Vielleicht muss
man eine Abstufung machen, beispielsweise nach
dem Alter. Wir werden alle gemeinsam diskutieren, was sinnvoll ist. Deshalb haben wir den Initiativtext sehr allgemein formuliert: Das Grundeinkommen muss bedingungslos und für alle sein
und es muss ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Das ist gesetzt. Alles Weitere können
wir gemeinsam gestalten.
Es gibt durchaus auch Neoliberale, die mit dem
BGE sympathisieren.
Das Konzept des BGE ist sehr freiheitlich. Diese
Bürokratie, die wir jetzt haben, die tut jedem Unternehmerherz weh. Aber man muss aufpassen:
Einige einseitige Liberale möchten gleich einen
Kahlschlag. Das Grundeinkommen darf aber keine
Sozialleistungen abschaffen, es kann sie nur in
ihrer Höhe ersetzen. Wenn jemand eine Rente bezieht, die höher ist als das Grundeinkommen,
dann bekommt der die Differenz dazu. Bei der Arbeitslosigkeit könnte man sich überlegen, ob die
Versicherung freiwillig ist. Da sind viele Fragen zu
klären. Ich finde es interessant, wenn wir sie öffentlich diskutieren. Das Ganze ist eine Bildungsinitiative, ein Kulturimpuls.
Wie schätzt du realistisch die Chancen der
Volksinitiative ein?
Mein Anliegen ist, dass eine Diskussion in Gang
kommt. Dass jeder sich fragt: Was will ich eigentlich wirklich tun in meinem Leben? Wofür will ich
mich engagieren? Wie denke ich über meine Mitmenschen? Die Initiative ist nicht der Zweck sondern das Mittel. Wie bei der Armeeabschaffungsinitiative. Die wurde zwar nicht gewonnen, aber
sie hat die Schweiz grundlegend verändert.
Interview von Paula Scheidt
Herunterladen