Erdogan vs Hering

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JAN WE ILE R
ME IN L E BE N A L S ME NSCH
FOLG E 4 75
Erdogan vs Hering
D
ie Kulturtechnik der Beleidigung ist en vogue wie nie. Wobei man
auch sagen könnte, dass nicht das Beleidigen in Mode ist, sondern das
Beleidigtsein. Alle sind so wahnsinnig sensibel geworden. Selbst
Tatsachenbehauptungen können von empfindsamen Gemütern zum
Anlass einer Strafanzeige genommen werden. Zum Beispiel ist es
wahr, dass Thilo Sarrazin seinen Kollegen Adolf Hitler von Platz eins
der Sachbuch-Charts verdrängt hat. Man muss aber sofort anfügen,
dass sich die Kollegialität lediglich auf das Schreiben von unleserlichen
Sachbüchern bezieht, sonst gibt’s Stunk. Und der kostet Geld.
Die ordentliche Beleidigung eines Polizeibeamten wird zum Beispiel schnell teuer und
man sollte sich gut überlegen, ob man sich das von Zeit zu Zeit gönnt oder nicht. Die Preisliste
funktioniert ähnlich wie bei Einbauküchen und Autos, richtet sich jedoch auch nach dem
Einkommen. „Blödes Schwein“ kann zum Beispiel 500 Euro kosten, das vergleichsweise
harmlose „Witzbold“ immerhin 300, infantiles Zunge rausstrecken 150 Euro. Da heißt es jetzt
klug konfigurieren. Man könnte zum Beispiel „Witzbold“ sagen und die Zunge rausstrecken
und wäre damit noch nicht bei den Kosten für einmal „blödes Schwein“ angelangt.
Leider gibt der Katalog keine Auskunft darüber, ob man für 300 Euro mehrfach
„Witzbold“ sagen darf oder ob jede Nennung neu zählt. Das wäre ja unfair gegenüber
Stotterern und Menschen mit fehlendem Kurzzeitgedächtnis. Übrigens kostet „alte Sau“
sogar fünf Mal so viel wie „blödes Schwein“, nämlich 2500 Euro. „Bulle“ hingen ist nicht
strafbar, weil es sich laut Amtsgericht Augsburg um einen umgangssprachlichen Begriff
handelt, der nicht mehr straffähig sei, was sich aber sofort ändert, wenn man
„Bullenschwein“ sagt. Bei „Bullenschwein“ wird der Umstand mitbestraft, dass der Beleidiger
offenbar in Bio nicht aufgepasst hat, denn Bullenschweine gibt es in der Natur gar nicht. Da
hört der Spaß auf.
Beim türkischen Präsidenten Erdogan hingegen fängt der Spaß gar nicht erst an. Es
vergeht kein Tag, an dem dieser politische Laubenpieper nicht irgendwelche Nachbarn oder
andere missliebige Zeitgenossen aus läppischem Grund vor Gericht zerrt. Früher nannte man
solche Leute Querulanten und hat ihnen einen Vogel gezeigt (macht 750 Euro). Der türkische
Präsident besitzt ein geradezu seismografisches Talent im Aufspüren von Beleidigungen und
hat soeben einen Seestern angezeigt, der auf dem Grund des Pazifischen Ozeans liegend sich
mit einer Zacke an die Stirn getippt und sinngemäß gesagt haben soll, der Erdogan habe
womöglich nicht alle Latten am Zaun. Es kann sich aber auch um einen Übersetzungsfehler
handeln, denn „Erdogan“ klingt so ähnlich wie das philippinische Wort für Hering.
Apropos Hering. Carl Gottlieb Hering kann froh sein, dass er bereits 1853 verstorben ist.
Würde er heute noch leben, müsste auch er unbedingt mit einer Strafanzeige rechnen. Das
Ministerium für Beleidigungsklagen in Ankara hätte sich seiner sicher längst angenommen
und bestimmt einen deutschen Anwalt gefunden, um den sächsischen Komponisten Hering
zu verklagen. Dieser hat nämlich nicht nur das unverfängliche „Hopp, hopp, hopp, Pferdchen
lauf Galopp“ vertont, sondern auch den so genannten Kaffee-Kanon, in welchem es heißt: „CA-F-F-E-E, trink nicht so viel Kaffee! Nichts für Kinder ist der Türkentrank, schwächt die
Nerven, macht Dich blass und krank. Sei doch kein Muselmann, der ihn nicht lassen kann.“
Türkentrank? Schwache Nerven? Muselmann? Unerhört eigentlich, aber Herr Hering
kann dafür nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Es würde mich dennoch nicht
wundern, wenn das etwas dümmliche Lied demnächst bei uns verboten würde. Vielleicht
wird ja der Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei sogar davon abhängig gemacht.
Oder es gelingt der Kanzlerin, den beleidigten Potentaten irgendwie zu besänftigen. Sie
könnte öffentlich sagen, dass türkischer Kaffee sehr gut schmeckt. Jedenfalls besser als der
Mist aus den Vollautomaten der Hersteller Jura, Saeco und WMF. Das sei alles total ekelhafte
Brühe und habe mit Espresso so viel zu tun wie eine Schmelzkäseecke mit richtigem Käse.
Man solle die Maschinen dieser Hersteller im Pazifik versenken. Könnte sie sagen. Die
Anzeigen der beleidigten Firmen müsste die Kanzlerin dann eben aus Staatsräson ertragen. •
16. MAI 2016
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