ambassade de france - Französische Botschaft

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Frankreich – Info
Herausgeber : Französische Botschaft
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2012
Rede des Ministers für auswärtige Angelegenheiten Laurent Fabius
„Frankreich und die neue arabische Welt“
27. Juni 2012
Meine Damen und Herren,
ich freue mich, die Abschlussrede bei diesem Kolloquium über den Stand der Dinge in der
arabischen Welt in Zeiten der Revolutionen zu halten. Meine Anwesenheit hier zeigt, welche
Bedeutung Frankreich seinen Beziehungen zur arabischen Welt und der Debatte mit
Intellektuellen, Hochschulvertretern und Forschern beimisst. Ich begrüße Ihre hochwertigen
Arbeiten und danke Professor Gilles Kepel für die Organisation und für die freundliche
Einladung.
Am 17. Dezember 2010, dem Tag der Selbstverbrennung des tunesischen Straßenhändlers
Mohamed Bouazizi vor dem Gouvernorat von Sidi Bouzid, wusste noch niemand, dass damit
eine Schockwelle ihren Anfang nehmen würde, die die arabische Welt verändern sollte.
Eineinhalb Jahre später wird der Muslimbruder Mohamed Mursi in Ägypten zum
Staatspräsidenten dieses bevölkerungsreichsten Lands der Region gewählt, das sich
tiefgreifend verändert hat. Es gibt ganz offensichtlich eine „neue arabische Welt“ und Frankreich
muss sich ihr gegenüber positionieren.
Um die Bedeutung dieses Wandels zu begreifen, lohnt sich ein Rückblick in die jüngste
Geschichte. Mitte des 20. Jahrhunderts, zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit, erlebte die
arabische Welt bereits eine Phase politischer Aufruhr. Zwar haben damals die Staaten ihre
Unabhängigkeit erlangt, nicht aber die Völker. In einer zweiten Phase kamen oft durch
Militärputsche, mit Zustimmung oder unter Mitwirkung der Großmächte, autoritäre Regime an
die Macht. Darauf folgten, unter dem Deckmantel des arabischen Nationalismus, mehrere
Jahrzehnte des politischen Stillstands. Doch die Gesellschaften haben sich weiter entwickelt,
oder haben zumindest den Wunsch gehabt, sich weiter zu entwickeln, und so den Weg für die
aktuellen Umwälzungen geebnet. Letztere erscheinen wie eine Art dritte Epoche der arabischen
Welt seit der Unabhängigkeit. In Tunis, in Kairo, in Damaskus, in Sanaa, in Bengasi – in
unterschiedlicher Form taucht überall dieselbe Parole auf: Würde, karama.
Durch diesen Wind der Freiheit ist unsere arabische und mediterrane Nachbarschaft oft nicht
mehr wiederzuerkennen; durch den „arabischen Frühling“ zeichnet sich eine Landschaft ab, die
mit ihren Kontrasten und ihren Ungewissheiten verblüfft. Über die traditionellen Unterschiede
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hinaus – der Maghreb ist nicht der Mittlere
Osten, der wiederum nicht die arabische
Halbinsel – ist eine neue Kartografie erkennbar.
In Tunesien, Ägypten, Libyen und Jemen sind die Regime gestürzt und die Diktatoren verjagt,
was einem beispiellosen Bündnis aus jungen Leuten, Mittelschicht und Militärs zu verdanken ist.
Nach dem Sturm besteht für diese Länder die Herausforderung nun darin, eine gerechtere und
stabilere politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung herzustellen.
In anderen Ländern hat der arabische Frühling die Regierungen zu einer Modernisierungs- und
Demokratisierungsbewegung veranlasst. Marokko gibt das Beispiel für diesen Weg, dem
Jordanien mehr oder weniger zu folgen scheint. In Algerien gleichen die Erwartungen der
Bevölkerung denen in der restlichen arabischen Welt; bleibt zu hoffen, dass das neue
Parlament die erwarteten Reformen schnell durchführt.
Die Golfstaaten – Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar, Kuwait – sind
wichtige Akteure auf der internationalen Bühne und bedeutende Investoren geworden. Sie
spielen eine manchmal entscheidende Rolle in den regionalen Entwicklungen, besonders in
Libyen, Syrien oder Jemen. Hinter einem vordergründigen Stillstand stehen ihre Gesellschaften
unter dem Einfluss eines strengen Islam, zeigen aber auch den Willen nach Öffnung. Die
Debatte wird vernehmbar und findet seinen Niederschlag in der Presse und sogar in den
Institutionen.
Anderswo reagieren Regime, die am Status quo festhalten wollen, auf die Forderungen der
Menschen mit Unterdrückung und Gewalt. In Syrien führt die Mischung aus massiver
Unterdrückung, Auswirkungen des Mosaiks von Gemeinschaften, das dieses Land darstellt, und
Einmischung von außen zu einer wahrhaft humanitären Katastrophe und zur Gefahr der
Destabilisierung für die ganze Region. Libanon erfährt die Auswirkungen dieser Krise mit voller
Wucht und erleidet hohe Spannungen. Im Süden wächst die Frustration der Palästinenser,
verstärkt durch ihre Weltoffenheit und ihr hohes Bildungsniveau. Während Israel sich fragt,
welche Folgen diese Umbrüche für die eigene Sicherheit haben.
Zu diesem facettenreichen Bild kommen noch die vielen Brennpunkte, die der Instabilität
Vorschub leisten. In Irak hat die Regierung bedeutende Aufbauanstrengungen unternommen,
aber es bleibt noch viel zu tun, um die Sicherheit und den Zusammenhalt im Land sowie den
Schutz der Minderheiten zu gewährleisten. In der Sahara-Sahel-Zone entwickelt sich eine
komplexe und sehr gefährliche Krise, die zahlreichen Verfallsfaktoren geschuldet ist:
gescheiterte Staaten, vernachlässigte Randzonen, Korruption und Schmuggel, Präsenz stark
bewaffneter islamistischer Gruppierungen.
Auch wenn der arabische Frühling beeindruckende Veränderungen angestoßen hat, scheint
doch die Zukunft instabil und ungewiss. Diese Ungewissheit wird in der französischen und
europäischen Öffentlichkeit mit gemischten Gefühlen betrachtet. Das Streben nach Demokratie
wird begleitet von einer Welle der Sympathie; aber die Gefahr der politischen Instabilität
mitsamt ihrer wirtschaftlichen Folgen sowie die wachsende Intoleranz werfen zumindest Fragen
auf.
Was ist vor diesem Hintergrund zu hoffen, zu befürchten, zu tun? Drei Fragen, auf die ich in
Ansätzen antworten möchte.
Frankreich blickt zuversichtlich auf die Veränderungen in der arabischen Welt, denn es teilt die
Überzeugung, dass es stets vorzuziehen ist, auf Demokratie zu setzen. Zuversichtlich, aber
auch mit geschärftem Blick, denn wir sind uns der gegenwärtigen sowie mittel- und langfristigen
Herausforderungen wohl bewusst. Es steht nicht in unserer Macht, die Revolutionen
automatisch in Erfolge zu verwandeln und es steht uns nicht zu, uns in das politische Leben
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souveräner Staaten einzumischen. Doch
Frankreich ist sich seiner Verantwortung
bewusst; Frankreich will und muss die demokratischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Übergangsprozesse auf bilateraler und multilateraler Ebene aktiv fördern.
Was ist zu hoffen? Die Bewegungen in den arabischen Gesellschaften sind tiefgreifend und, wie
gesagt, komplex. Darin kommen Erwartungen zum Ausdruck – Freiheit, Gerechtigkeit, Würde
und Demokratie –, die auch unsere sind und die Werte aufgreifen, die traditionell vor allem von
Frankreich in die Welt getragen werden. So habe ich persönlich schon in den ersten Wochen
des Jahres 2011 Vertreter dieser Bewegungen getroffen. Und deshalb habe ich, wie viele
andere auch, bedauert, dass die damalige französische Regierung nicht auf diese revolutionäre
Dynamik eingegangen ist. Im Maghreb hat Frankreich – jedenfalls seine Regierung –
enttäuscht; die Enttäuschung wurde noch verstärkt durch die Stigmatisierung der
Einwanderung, die sie gleichzeitig praktizierte.
Das Ausbleiben einer entsprechenden Reaktion hat eine lange Vorgeschichte. Obwohl die
Zustände in einigen arabischen Staaten bekannt waren – dem Volk wurde die Macht entzogen,
Menschenrechte unterdrückt, die Presse mundtot gemacht, Korruption und Arbeitslosigkeit
fanden Einzug – wurde seit Jahrzehnten auf autoritäre und sogar diktatorische Regime gesetzt,
um die Stabilität in der Region zu garantieren. Dabei bieten Mächte, die auf Angst und
Repression basieren, nur eine Illusion von Stabilität, die am Ende immer Risse bekommt.
Die große Hoffnung, die aus den arabischen Revolutionen entspringt, ist die Hoffnung auf eine
arabische Welt, die durch Demokratie und Freiheit in Frieden, Stabilität und Wohlstand lebt.
Ich halte diese Hoffnung für berechtigt. In den Revolutionen hat sich eine arabische Welt
offenbart, die für Freiheit entbrannt ist, nach Würde strebt und sich nach politischen und
sozialen Rechten sehnt. Während wir hier und da selber den Eindruck vermittelt haben, an
unseren demokratischen Werten zu zweifeln, und uns mit dem Status quo in der arabischen
Welt und anderswo zufrieden gegeben haben, erinnern uns diese Revolutionen an die
Universalität dieser Bestrebungen.
Ich möchte an dieser Stelle meine Bewunderung für all jene zum Ausdruck bringen –
Gewerkschaftler, Menschenrechtsaktivisten, Blogger, Studenten, einfache Bürgerinnen und
Bürger, zum Teil Militärangehörige –, die den Mut besessen haben, sich gegen die
Unterdrückung durch grausame, auf korrupten Systemen beruhende Regime aufzulehnen. Ich
denke insbesondere an die Selbstlosigkeit jener, die in Syrien und anderswo täglich unter
Einsatz ihres Lebens diesen Kampf bestreiten.
Die Bewegung ist nun in Gang gekommen. Die Mauer der Angst ist gefallen. Zum ersten Mal
seit der Unabhängigkeit gewinnen jene, die vorher eher als Untertan betrachtet wurde, das
Gefühl, Bürger zu sein. Die Gesellschaften in Tunesien, Libyen, Ägypten, Jemen haben gezeigt,
dass sie ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen wollen, obwohl viele sich erlaubten zu glauben,
dass sie unfähig dazu seien. Dadurch wurde das alte, häufig mit einer kolonialistischen Färbung
gespickte Vorurteil des Westens zerstreut, wonach es eine naturgegebene Unvereinbarkeit
zwischen demokratischen Bestrebungen und der arabischen Welt gäbe, womit unterschwellig
immer die muslimische Welt gemeint war.
In Wirklichkeit nähren sich diese Revolutionen aus einem Streben nach Universalität, das sich
durch die arabische Geschichte zieht. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte die
arabische Welt eine liberale Epoche – in jenen Ländern, wo zu bestimmten Zeiten eine
verfassungsrechtliche und parlamentarische Ordnung bestand. Diese Erfahrungen mit der
Demokratie entstanden ihrerseits aus der Nahda-Bewegung – der kulturellen und intellektuellen
Renaissance im 19. Jahrhundert. Diese Phasen wurden von starken weitgehend weltlichen
populären, sozialen und patriotischen Protestbewegungen begleitet. Jene, die wir heute
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erleben, sind in vielerlei Hinsicht ihre Erben,
gleichen.
auch wenn sie sich in Form und Umfang nicht
Die Revolutionen in der arabischen Welt sind alles andere als immer nur ein Gegenentwurf zu
anderen Kulturen und anderen Werten, und sie entsprechen auch nicht jenen irrtümlichen
Prophezeiungen, die einen Kampf der Kulturen vorausgesagt hatten. Die Revolutionen in der
arabischen Welt sind im Grunde weitgehend eine Wiederaneignung dessen, was uns gemein
ist. Dabei erinnern die Akteure im richtigen Moment daran, dass das Bekenntnis zum Islam
nicht unvereinbar mit dem Streben nach Demokratie ist.
Ganz konkret können wir nur hoffen, dass die Islamisten, die durch Wahlen an die Macht
kommen, brauchbare Kompromisse finden, damit sie regieren können; dass sie beweisen, von
der Opposition an die Macht wechseln zu können; dass sie den Rahmen, in dem sie gewählt
wurden, respektieren; dass sie die wirtschaftliche und soziale Entwicklung meistern und zur
Verminderung des Extremismus beitragen.
Was ist zu befürchten? Dass diese neuen Mächte, die viele Opfer erbracht haben, um an die
Regierung zu kommen, in absehbarer Zeit nicht bereit sind, die Macht gegebenenfalls wieder
abzugeben; dass es ihnen nicht gelingt, sich aus der monolithischen Kultur und Praxis zu lösen,
die in vielen Jahren der Unterdrückung, ja des Untergrunds verwurzelt liegt; dass absehbare
wirtschaftliche und soziale Probleme zu ihrer Radikalisierung führen; kurzum und mit harten
Worten: dass das Ticket, das ihnen ausgestellt wurde, keine Rückkehr- oder wenigstens
Änderungsoption beinhaltet.
Seien es die Wahlen im Maghreb, das Erstarken des radikalen Islam, die oft heftigen
Bedrohungen der Grundrechte, insbesondere der Rechte der Frauen, sei es in Syrien oder in
Mali: Ein ganzes Sorgenbündel liegt in der unmittelbaren Aktualität.
Tatsächlich befürchten viele Demokraten, dass sie ihrer Revolution beraubt werden. In
überwiegend konservativen Gesellschaften treten der radikale Islam einerseits und die Armee
andererseits häufig als Auswege bietende Kräfte auf. Innerhalb der islamistischen Bewegung
gibt es neben wahren Demokraten auch vehemente Gegner des Pluralismus. Zwischen der
Rückkehr des Religiösen und gesellschaftlichem Konservatismus sind die Frauenrechte und
jene der religiösen Minderheiten häufig Angriffen ausgeliefert.
In Libyen zum Beispiel bleibt die Lage instabil und die Regierung tut sich schwer, sich zu
behaupten. In Syrien geht das tägliche Morden unter der Befehlsgewalt des Chefmörders
Baschar Al-Assad weiter. Laut Schätzungen benötigen 1,5 Millionen Menschen humanitäre
Hilfe. Über 100 000 syrische Bürger sind bereits aus ihrem Land nach Libanon, in die Türkei,
nach Jordanien und in Irak geflohen; das wirkt sich auf die Gleichgewichte in diesen Ländern
aus. In Bahrain mischen sich Proteste in der Bevölkerung und Besorgnis um die regionale
Sicherheit; und Repression ist zu beobachten.
Es besteht die Gefahr, dass eine Revolution unterbunden oder zweckentfremdet wird, die
Gefahr, nach großer Hoffnung eine herbe Enttäuschung zu erleben. Eine politische
Enttäuschung, wenn der demokratische Prozess unterbunden wird. Wirtschaftliche und soziale
Enttäuschung, da die Revolutionen im ersten Moment negative wirtschaftliche Folgen mit sich
bringen, vor allem im Tourismus und im Bereich Auslandsinvestitionen. Die Revolutionen haben
auch innere Spannungen in den arabischen Gesellschaften wieder aufleben lassen: soziale und
religiöse Spannungen, Spannungen zwischen Modernität und der Behauptung der Identität,
Spannungen zwischen den eher konservativen Gesellschaften und einer liberaler eingestellten
gebildeten Jugend. Sowohl in Syrien als auch in Irak, in Libanon und im gesamten Nahen und
Mittleren Osten zeigt sich die historische Kluft zwischen Schiiten und Sunniten – die einer
längeren Abhandlung bedürfte – als strukturelles Problem.
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Können die arabischen Gesellschaften unter diesen Umständen diese Spannungen auf zivile,
pluralistische und friedliche, kurz auf demokratische Art und Weise in den Griff bekommen?
Oder wird angesichts der Konfliktgefahr erneut auf die vermeintliche „Stabilität“ durch autoritäre
Mächte gesetzt, die vielleicht nicht so überzogen, aber doch kaum demokratischer sind als die
vorangegangenen? Soweit ein paar alternative Szenarien und Fragen, die sich hier abzeichnen.
Ich bin überzeugt, dass heute ein allzu großer Pessimismus ebenso unangebracht wäre, wie
gestern die unbesonnene Hoffnung auf einen schnellen Übergang zu einer Demokratie nach
westlichem Vorbild.
Denn wir dürfen nie vergessen, dass jeder demokratische Prozess langfristig angelegt ist, dass
es dabei immer Fort- und Rückschritte gibt, Beschleunigung und Stillstand und dass auf
Versprechen immer Zweifel folgen. Revolutionen verlaufen nie vollkommen geradlinig. In
unserer eigenen Geschichte kam nach der Französischen Revolution die Restauration. Nach
1848 kam das Second Empire. Und nach der Pariser Kommune 1871 folgte eine Phase des
„Ordre moral“, die durch die Rückkehr des Religiösen geprägt war. An keinem Ort der Welt
entsteht Demokratie an einem Tag.
Dazu kommt, dass es nicht nur ein einziges Demokratiemodell gibt und dass es jedem Land
selbst obliegt, das Modell zu finden, das zu ihm passt. Es müssen politische Modelle erprobt
werden – man denke insbesondere an die Türkei –, in denen Traditionen und neue Formen der
politischen Teilhabe, eigene Bezugspunkte und universelle Grundsätze miteinander verbunden
sind.
Was ist zu tun, wo sich Hoffnungen und Befürchtungen vermischen? Das ist die dritte Frage,
auf die eine Regierung Antwort geben muss. Angesichts dieser so komplexen wie ambivalenten
Situation sieht sich Frankreich – im Namen der Nähe, der Freundschaft und der Geschichte, die
uns verbinden – in der Verantwortung, unterstützend da zu sein. Frankreich hat auch Interessen
zu verteidigen. Die arabische Welt ist unser Nachbar und alles, was dort passiert, hat
unmittelbare Folgen für uns. Aus ökonomischer Sicht stellt die Stabilität der arabischen Welt
mitsamt ihren Ressourcen eine ganz entscheidende Herausforderung dar. Wir haben keine
vernünftige Alternative als an der Stabilität, dem Frieden, der Sicherheit und der wirtschaftlichen
Entwicklung dieser unerlässlichen Partner mitzuarbeiten.
Dabei werden wir uns an vier wichtige Grundsätze halten: Ablehnung von Gewalt gegen die
Bevölkerung, Verteidigung der Grundrechte, Achtung des Pluralismus und der
Minderheitenrechte, die Notwendigkeit tiefgreifender Reformen als wichtige Voraussetzung, um
den wirtschaftlichen und sozialen Erwartungen der Bevölkerung nachzukommen.
Kurzfristig bestimmen aktuelle Notlagen unsere Prioritäten. In Syrien fordert die blutige
Unterdrückung jeden Tag neue Opfer. Frankreich setzt sich dafür ein, dass die Gewalt ein Ende
findet. Am vergangenen Montag (25. Juni 2012) haben wir gemeinsam mit unseren
europäischen Partnern ein Bündel neuer Sanktionen beschlossen, um den Druck auf das
Regime zu erhöhen. Die Verhandlungen, insbesondere zwischen den ständigen Mitgliedern des
Sicherheitsrats, werden fortgesetzt, um eine wirksame Umsetzung des Annan-Plans zu
ermöglichen. Dies setzt ein geschlossenes Vorgehen des Sicherheitsrats voraus,
möglicherweise über eine Resolution nach Kapitel VII. Kommende Woche wird sich auf
französische Initiative die Gruppe der Freunde des syrischen Volkes in Paris treffen, wozu über
150 Staaten eingeladen sind. Es geht darum, die Opposition zu unterstützen und den
politischen Übergang vorzubereiten, denn Baschar Al-Assad muss gehen.
Die Situation in Mali und in der gesamten Sahelzone ist ebenfalls ein Notfall. Wenn wir untätig
bleiben, könnte sich Nord Mali zum dauerhaften Rückzugsgebiet für Terroristen entwickeln.
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Auch da setzen wir uns entschlossen dafür ein, dass die Sicherheit und die
verfassungsrechtliche Ordnung wieder hergestellt werden. Wir unterstützen die Sicherheits- und
Entwicklungsanstrengungen der Afrikanischen Union, der ECOWAS, der EU und der Vereinten
Nationen. Vermittlungstätigkeiten sind im Gang, sicherheitsbegleitende Maßnahmen in der
Vorbereitung. Was die terroristische Bedrohung angeht, so hilft nur regionale Zusammenarbeit,
um die gefährlichen und höchst mobilen Gruppen zum Scheitern zu bringen. Frankreich arbeitet
an Initiativen in diese Richtung, zusätzlich zu den regionalen Initiativen und jenen der lokalen
legitimen Regierungen.
Darüber hinaus macht uns Iran weiterhin große Sorgen. Natürlich hat dieses große Land das
Recht auf die zivile Nutzung von Kernenergie. Aber wäre Iran im Besitz der Atomwaffe, dann
wäre die Verbreitungsgefahr groß und die Region würde destabilisiert werden. Da steht für uns
sowie für alle angrenzenden Staaten, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate,
Katar, sehr viel auf dem Spiel. In Abstimmung mit ihnen und mit dem Sicherheitsrat setzen wir
unsere Anstrengungen weiter fort, damit Iran sich bereit erklärt, sich an seine internationalen
Verpflichtungen zu halten.
Wir beobachten außerdem mit großer Aufmerksamkeit die Lage im Nahen Osten, wo eine
Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen ein unverzichtbarer Schritt ist, um die „neue
arabische Welt“ zu stabilisieren und zu befrieden. Die Veränderungen, die in der Region in
Gang gekommen sind, wecken neue Erwartungen bei den Palästinensern und könnten die
Sicherheitsbedingungen Israels verändern. Das Ausbleiben von Fortschritten bei der Lösung
des Nahost-Konflikts, welches den Radikalismus in den muslimischen Gesellschaften befördern
könnte, ist in keiner Weise ein unabwendbares Schicksal. Vor den Wahlen in den USA sind
keine großen Schritte zu erwarten. Aber wir müssen wieder die Initiative dazu ergreifen, denn
das Recht auf einen lebensfähigen palästinensischen Staat und auf die Sicherheit Israels ist
nicht etwa ein ständig wiederkehrendes theoretisches Motiv, sondern eine unverzichtbare
Notwendigkeit für die Welt, für die gesamte Region und für Frankreich.
Mittelfristig ist Frankreich gewillt, die demokratischen Übergangsprozesse überall da, wo sie
einsetzen, zu begleiten. Es gibt keine bessere Garantie für Frieden und Stabilität als die
Demokratie. Anders als im Falle bestimmter Praktiken aus der Vergangenheit soll dieser
Grundsatz die Leitlinie unseres Engagements bilden. Daher unterstützen wir das demokratische
Potenzial der arabischen Revolutionen und die Dynamik politischer Teilhabe, die darin zum
Ausdruck kam. Wir werden solidarisch mit den Ländern sein, die nach Demokratie streben.
Ist der Grundsatz einmal festgelegt, stellt sich die Frage nach der Methode. In der
Anfangsbewegung sowie in der Tiefendynamik dieser Revolutionen steckt der Wille nach
Überwindung jeglicher Art der Vormundschaft – ob von innen oder von außen. Nun muss jede
Gesellschaft ihren eigenen Weg finden und das ist durch nichts – und am wenigsten durch
einen Drittstaat – zu ersetzen. Wir lehnen jede Form des Paternalismus ab, auch wenn es sich
um einen, wenn ich das so sagen darf „pro-revolutionären Paternalismus“ handelt.
Wir werden zugleich pragmatisch und bestimmt sein. Frankreich ist bereit, die Legitimität und
Vielfältigkeit demokratischer Formen anzuerkennen und mit jenen zu sprechen, die daraus
hervorgegangen sind. Denn wäre es nicht paradox, wenn wir angesichts der laufenden
demokratischen Prozesse heute eine strengere Achtsamkeit an den Tag legen würden als in
der Vergangenheit gegenüber den alten diktatorischen Regimen?
Gleichzeitig müssen wir mit Bestimmtheit unsere Werte vertreten und die Ereignisse
aufmerksam beobachten. Frankreich wird sich seine Urteilsfreiheit bewahren und sich zu Wort
melden, wenn es dies für erforderlich hält. Am Geiste der Demokratie festzuhalten, heißt vor
allem, zwei wichtige Grundsätze zu achten:
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Erstens: die Unantastbarkeit der
Grundfreiheiten – Gleichheit vor dem
Gesetz, Meinungsfreiheit, Frauenrechte, Minderheitenrechte. Besonders im Hinblick auf
die Achtung der Frauen werden wir sehr aufmerksam sein. Das ist eine Frage der Würde
und auch des Fortschritts für die ganze Gesellschaft. Die arabische Welt muss den
Frauen ihren Platz einräumen, wenn sie alle ihre Chancen nutzen will.
Zweitens: Politische Wechsel und Pluralismus sind die Grundvoraussetzung für eine
freiheitliche Gesellschaft. Wir werden also jeden Versuch des Machtentzugs oder der
Einschränkung demokratischer Rechte anprangern. Die Achtung des Pluralismus ist
umso entscheidender, als die arabischen Gesellschaften in ethnischer oder religiöser
Hinsicht oft sehr vielschichtig sind. Die Minderheitenrechte müssen geschützt werden.
Unsere Priorität besteht darin, die neue Bürgerschaft zu begleiten, indem wir mit der
Zivilgesellschaft und nicht nur mit den Regierungen sprechen. Gesprächspartner für uns
müssen auch die demokratischen Bewegungen, die Vereinigungen zur Verteidigung der
Rechte, vor allem der Frauenrechte sowie die Bewegungen, die sich für Bildung, Kultur oder
wirtschaftliche Entwicklung einsetzen, sein. Unsere Begleitung wird nicht allein die Diplomatie
betreffen; sie sollte weit darüber hinaus gehen. Wir wünschen uns mehr Austausch zwischen
Studierenden, Begegnungen zwischen Intellektuellen und Hochschulangehörigen, mehr Dialog
zwischen Vereinen, mehr Foren für Unternehmen und Unternehmer aller Ebenen, indem –
zumindest was den Maghreb betrifft – die starke Vernetzung unserer Gesellschaften genutzt
wird.
Die demokratischen Übergangsprozesse lassen sich vor allem dann realisieren, wenn es ihnen
gelingt, den wirtschaftlichen und sozialen Erwartungen nachzukommen – das sind konkrete,
menschliche, potentiell explosive Erwartungen. Die Revolutionen haben enorme Bedürfnisse
der arabischen Gesellschaften ans Licht gebracht: Zugang aller zu den gemeinsamen Gütern,
gerechte Verteilung des Volksvermögens, bessere Lebensbedingungen, wirtschaftliche
Entwicklung. Bekanntlich ist die Jugendarbeitslosigkeit eine der Hauptursachen für die
arabischen Revolutionen und zugleich eine der größten Gefahren für das, was folgt. In
Tunesien zum Beispiel liegt die Arbeitslosenquote von Jugendlichen mit Schul- oder
Studienabschluss weit über 30 %. Ein Wachstum von mindestens 5 % wäre nötig, um die
aufzunehmen, die jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt kommen. Doch so hoch ist das Wachstum
nicht oder noch nicht.
Auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene können und müssen wir – und Europa – die
angestoßenen Veränderungen mit aller Kraft begleiten. Es geht dabei um ihre Zukunft ebenso
wie um unsere. Beschäftigung für junge Menschen, Bildung und Ausbildung, Entwicklung der
Gebiete, produktive Investitionen, aber auch Bekämpfung von Ungleichheiten oder
Umweltschäden: Die Befriedigung dieser Bedürfnisse ist lebenswichtig für die Zukunft der
arabischen Gesellschaften. Was für uns auf dem Spiel steht, ist die Stabilität der gesamten
Region, die Zukunft der Mobilität zwischen den beiden Ufern des Mittelmeers, die Zukunft
unserer Wirtschaftsbeziehungen und die Zukunft der Frankophonie. Unsere Schicksale hängen
eindeutig miteinander zusammen.
Staatspräsident François Hollande hat Jugend, Gerechtigkeit und Wachstum ganz oben auf
seine Agenda für die Erholung Frankreichs gesetzt. Dabei ist es bezeichnend zu sehen, dass
diese Schwerpunkte – sicher in einer anderen Weise aber durchaus mit einer gewissen
Analogie – dieselben sind wie jene des arabischen Frühlings. Mit Blick auf ein solidarisches
Vorgehen der beiden Mittelmeerufer zeichnet sich da also eine natürliche Konvergenz ab.
Jugend, Gerechtigkeit und Wachstum müssen im Mittelpunkt der euro-mediterranen
Partnerschaft stehen, die wir aufbauen wollen. Meine Betonung liegt auf der Jugend; damit ist
der Vorrang der Bildung, der Berufsbildung, aber auch der Kultur und des Hochschulaustauschs
verbunden. Die jüngst erfolgte Abschaffung des schockierenden Guéant-Erlasses war ein
erstes, erwartetes Zeichen, das es Frankreich gestattet zu bekräftigen, dass es seine
„Wirkkraft“ nutzen und zur Ausbildung der
von morgen gestalten werden.
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Eliten beitragen möchte, die die arabische Welt
Diese Schwerpunkte sind auch Teil einer langfristigen Vision: Wir wollen zum Aufbau einer Art
großem euro-mediterranen Ganzen beitragen, als großes Plus für Europa und die arabische
Welt inmitten der Globalisierung. Um daran zu arbeiten, brauchen wir effiziente Werkzeuge.
Neuausrichtungen und Änderungen auf der Grundlage einer genauen Bestandsaufnahme.
Die Union für das Mittelmeer ging von einer großen, jedoch ungeschickten Zielsetzung aus. Es
war wahrscheinlich nicht realistisch, die beiden Mittelmeerufer in einem starren Gesamtkomplex
zusammenbringen zu wollen, indem man so getan hat, als gäbe es keine
Meinungsverschiedenheiten, Unterschiede und sogar Konflikte, die auf beiden Ufern
vorkommen können. Die Entscheidung, sich auf die Herren Mubarak und Ben Ali zu stützen,
zeugte nicht von besonderem Weitblick. Die Zielsetzung der Union für das Mittelmeer hat die
ersten Schwierigkeiten nicht überdauert. Doch wir müssen ihr Sekretariat nutzen, das sich als
nützlich erwiesen hat, und konkrete Kooperationsprojekte durchführen.
Mehr noch als auf institutioneller Ebene zu arbeiten, halte ich viel von Kooperationen mit
„variabler Geometrie“, wo sich Länder je nach Interesse zu konkreten Projekten
zusammenfinden. Wir brauchen unterschiedliche Formate, um der Vielfalt der Situationen
gerecht zu werden und um unverzüglich konkrete Kooperationen umsetzen zu können. Wir
müssen Sorge dafür tragen, dass die Versprechen der Deauville-Partnerschaft eingehalten
werden: das Versprechen, die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Länder im
Übergangsprozess finanziell zu unterstützen.
Frankreich teilt mit den Maghreb-Ländern eine besondere Verantwortung. Durch unsere Nähe
stehen wir gemeinsam in der Pflicht, gemeinsam mit ihnen am Aufbau eines Kooperations- und
Handelsraums zwischen den beiden Ufern mitzuwirken. Doch ebenso wichtig ist es, dass sich
Europa als Ganzes in diese Partnerschaft mit der arabischen Welt einbringt. Daher wird
Frankreich diesen Schwerpunkt im ursprünglichen Sinne der Barcelona-Konferenz von 1995 mit
Überzeugung bei seinen europäischen Partnern vertreten.
Um daran zu arbeiten, müssen wir auch entschieden auf die regionale Integration hinwirken,
denn wir wissen als Europäer, welchen Nutzen das für den Frieden haben kann. Die Union des
Arabischen Maghreb kann wieder belebt werden – auf der Grundlage einer algerischmarokkanischen Annäherung und eines starken tunesischen Willens. Über den Kreis der
Mittelmeeranrainer hinaus nimmt der Kooperationsrat der Arabischen Golfstaaten wieder Fahrt
auf. Die EU unterhält mit ihm einen regelmäßigen Dialog; wir müssen weiter gehen und eine
richtige Partnerschaft in Gang bringen.
***
Meine Damen und Herren, es gibt in der Tat eine „neue arabische Welt“: Sie ist vielfältig,
manchmal verwirrend, macht Vorstöße und Rückschritte, doch im Wesentlichen spricht sie die
Sprache der Freiheit, die in unserem Land auf gewaltige Resonanz stößt. Das fügt sich
glücklich für Frankreich, dessen Sprache „der Hellenismus der arabischen Völker“ war, und
vielleicht noch ist, so wie Jacques Berque 1956 sagte. Um darzustellen, was diese arabische
Neuheit heute für Frankreich bedeutet, übernehme ich gerne die Worte dieses großen
Orientalisten, die er in einer Zeit sagte, als Frankreichs Position bei den arabischen Völkern
sehr viel heikler war. „Wir haben die Aufgabe, zu jungen Freiheiten beizutragen, und sei es, um
in ihnen unseren Platz einzurichten. Für die französisch-arabische Sache einzutreten, in einem
Moment, wo viele, bei anderen und bei uns, sie in Stücke reißen, scheint eine paradoxe
Kühnheit. Ich unterstütze dieses Paradoxon.“
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Nun, auch ich unterstütze dieses Paradoxon: Die Vorwegnahme der Unabhängigkeiten
vorgestern findet heute großen Anklang, während die arabischen Revolten wie die
Verlängerung der Kämpfe von vor 50 Jahren erlebt werden. Dieser manchmal vom Herbst oder
vom Winter bedrohte arabische Frühling ruft uns die Nähe in Erinnerung, die uns verbindet.
Mehrere Millionen unserer Landsleute haben ihre Ursprungsfamilien in diesem Erdteil. In den
Maghreb-Ländern wird unsere Sprache, gemeinsam mit der arabischen Sprache, im Alltag auf
den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen gesprochen. Die Geschichte und unsere
Zusammenarbeit verleihen uns immer das Bild einer Nation mit emanzipatorischer Kultur. Die
traditionellen Haltungen unseres Landes zu Gunsten der legitimen Rechte der Völker – wobei
vereinzelte Trübungen nicht ausblieben – haben uns dauerhaft Sympathien eingebracht. Wir
müssen diese Sympathien pflegen, sie manchmal wieder wecken, sie auch Früchte tragen
lassen und sie immer verdienen.
Trotz einiger dunkler Aspekte der Vergangenheit ist unsere Geschichte mit der arabischen Welt
in erster Linie eine geteilte Geschichte. Die arabischen Revolutionen schreiben eine neue Seite
dieser historischen Begegnung mit Frankreich, das seine Wirkkraft zu nutzen gedenkt. Es ist an
uns, diese Geschichte gemeinsam zu schreiben, in Freundschaft und in Partnerschaft mit den
arabischen Völkern, und das Mittelmeer zu einem vielversprechenden Raum der
Zusammenarbeit und des Teilens zu machen.
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