Kognitive Psychologie und Gestaltpsychologie

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28. Februar 2014
Herbert Bruhn
2014
Anmerkungen zur Wahrnehmungspsychologie
Erweiterung des kognitiven Paradigmas
durch die Gestaltpsychologie von Carl Stumpf und
die Musikphänomenologie von Sergiu Celibidache.
-1-
(c) Herbert Bruhn, Zeißstraße 6, 22765 Hamburg, www.herbertbruhn.de
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Inhalt
1.
Vorbemerkungen des Autor5
Erkenntnisse in der Psychologie ........................................................................ 5
Anliegen des Autors .......................................................................................... 5
Phänomenologie als Aussage ............................................................................ 5
Authentisches Material ..................................................................................... 6
Kognition und Gestaltpsychologie als Paradigma .............................................. 6
2. Wahrnehmen als Weg zur Erkenntnis
Psychologie und kognitive Paradigma ............................................................... 9
Informationstheoretisches Grundeinstellung – Strukturalisten ......................... 9
Kognition als Grundlage: Konstruktivisten ......................................................... 9
Handlungtheoretische Perspektive ................................................................. 12
3. Sinneserfahrung und Wirklichkeit
Das Objekt als Forschungsgegenstand ............................................................ 13
Sinnesempfindung und Aneignung der Umwelt .............................................. 14
Äußere Sinnesempfindung und die doppelte Wirklichkeit ............................... 14
Sinneseindruck ............................................................................................... 15
Interaktion mit Vorstellungen ......................................................................... 15
Wahrnehmung einer Gestalt ........................................................................... 16
Weitere Fragestellungen, Hypothesen stehen bereit ...................................... 17
Realisation der Wahrnehmung und Selbst-Objekt-Differenzierung ................. 18
-3-
4.
Objektivität der Sinneswahrnehmung
Natürliche Tendenz und Objektivität............................................................... 19
Die Hypothese von der Außenwelt .................................................................. 20
Objektive Beurteilung von Musik .................................................................... 21
5.
Celibidache und Husser
Edmund Husserl und die Gestaltpsychologie ................................................... 25
Celibidache und die Musikphänomenologie .................................................... 26
Anhang
Verwendete Literatur ..................................................................................... 29
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Vorbemerkungen des Autors
1. Vorbemerkungen des Autors
Erkenntnisse in der Psychologie
Erkenntnisse stehen im Mittelpunkt wissenschaftlicher Tätigkeit. Diese Tätigkeit
wird erfolgreich genannt, wenn ein Wissenschaftler Regelmäßigkeiten erkennt –
bei Psychologen sind das Regelmäßigkeiten im Verhalten von Menschen, bei Musikwissenschaftlern sind es Regelmäßigkeiten n der Beziehung zischen Mensch
und Musik.
Erkenntnisse versprechen die beobachteten Ereignisse aber nur, wenn sie in
definierbaren Umständen in einer beschreibbaren Umgebung überzufällig oft als
Folge von Aspekten der Umgebung wahrgenommen werden können.
Die Erkenntnisse sollen über die individuellen Erlebnisse eine einzelnen Menschen hinausgehen – Erkenntnisse beanspruchen überindividuelle Gültigkeit.
Dies ist eine wesentliche Voraussetzung der heutigen Psychologie.
Anliegen des Autors
Seit Jahren arbeitet der Autor daran, die Musiktheorie seines Lehrers Sergiu
Celibidache, die Musikphänomenologie, aufzuschreiben und für die weitere Vermittlung zugänglich zu machen. Dies erweist sich als schwer und langwierig:
Celibidache war ein außergewöhnlicher Dirigent und ein gebildeter Philosoph.
Um seinen Aussagen über Musik gerecht zu werden und mit seiner Kritik an Musikern nicht fortwährend als Nörgler und Aufschneider dastehen zu müssen, soll
die Wahrnehmungstheorie vorab als Skizze veröffentlicht und die Leser und Lerserinnen zur Diskussion aufgefordert werden.
Phänomenologie als Aussage
Die Musikphänomenologie von Sergiu Celibidache ist eine psychologische Ausdeutung mitteleuropäischer Musiktheorie. Er selbst verwendete sie in den Proben als Argumente für seine radikalen Forderungen an die Orchestermusiker. Die
Musikphänomenologie Celibidaches hat derzeit nicht den Rang einer Wissenschaftlichen Theorie.
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Authentisches Material
Mit den Aussagen zur Musikphänomenologie liegt jedoch wertvolles Material
vor, das aus der Introspektion eines großen Künstlers entstand und die mentalen Prozesse beim Komponieren, Musizieren und Anhören klassischer und
klassisch beeinflusster mitteleuropäischer Musik beschreibt.
Der Autor der vorliegenden Schrift hat bereits früh die Gestaltpsychologie als
mögliche Grundlage für die Musikphänomenologie erkannt und Aussagen von
Wolfgang Metzger und Ernst Kurth in seine Arbeit einbezogen. Tatsächlich sind
die Grundlagen in der Wiener Schule von Fanz Brentano zu finden – und zwar bei
Carl Stumpf: Edmund Husserl war acht Jahre lang Assistent von Carl Stumpf
(1892 bis 1900 in Leipzig und München) und wurde von Stumpf habilitiert.
Stumpf war mit der weiteren Entwicklung seines Schülers jedoch garnicht einverstanden. In der Erkenntnistheorie, seinem letzten Werk, widmete er ein ganzes
Kapitel dem Phänomenologismus und der Subjektivität von Husserls Vorgehen.
Die Kritik hätte Celibidache ebenso geäußert wie Carl Stumpf.
Authentisches Material
Bisher hat derAutor überwiegend auf die eigenen Aufzeichnungen aus den Jahren 1976 bis 984 zurückgegriffen und sie gelegentlich mit dem Komponisten
Gerd Kühr (Graz) diskutiert oder aus dessen Unterlagen komplettiert. Die Originalunterlagen sind im Jahr 2012 nach dem Tod von Celibidaches Frau gefunden
worden. Es bleibt abzuwarten, was die Auswertung der Unterlagen ergibt, da die
Kontaktaufnahme zum derzeitigen Besitzer der Unterlagen bisher erfolglos war.
Proben, die auf einem Symposoium 2012 in München vorgestellt wurden, beweisen die Authentizität. Wahrschweinlch sind die in den Vorlesungen hervorgegangenen Inhalte jedoch vollständiger als die schriftlichen Aufzeichnungen Celibidaches, da in den Vorlesungsmitschriften auch über die Diskussionen berichtet
wurde.
Kognition und Gestaltpsychologie als Paradigma
Für den Fachmann nun eine kurze Wegweisung für die nächsten Kapitel. Die Begegnung mti Sergiu Celibidaches Musikphänomenologie hat beim Autor intensive
Arbeit bewirkt, die zum Diplom und zur Promotion in Psychologie geführt haben.
Für den eigenen Berufsweg war die Nähe zur kognitiven Psychologie von Ulric
Neisser und der damals parallel entwickelten Wahrnehmunglehre von James J.
Gibson wichtig1.
1
Gibson, 1979, deutsch: Gibson, 1982.
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Vorbemerkungen des Autors
Durch die Gründung der Carl-Stumpf-Gesellschaft und die Neuauflage der Erkentnislehre von Carl Stumpf aus dem Jahr 1936 ist der Autor zum Schluss gekommen, dass die heutige Psychologie mit kognitivem Paradigma die Richtung
der Musikphänomenologie zwar schon relativ gut trifft. Carl Stumpf war aber
1936 schon weiter als Neisser 1976. Die Erkenntnisse von Stumpf verbunden mit
den empirischen Ergebnissen der Kognitiven Psychologie des 21. Jahrhunderts
könnte zu einer psychologisch-empirischen Ästhesgtik führen, in der Celibidaches
Musikphänomenologie eine wesentliche Rolle spielen könnte.
Vor allem gelang Celibidache zu Lebzeiten der Beweis, dass eine konsequente
Anwendung seiner Forderungen zu hohem ästhetischen Erleben führt.
Die Ausführungen von Celibidache betrafen überwiegend die Formulierung von
Regeln für den Musiker. Celibidache sagte: Nichts ist Musik, Musik entsteht immer wieder neu im Menschen. Der Autor würde heute nach Kenntnis von
Stumpfs Gefühlstheorie so formulieren:
Musik ist ein Objekt der Wahrnehmung, dass nicht zwangsläufig aus Sinnesempfindungen und den damit verbundenen Vorstellungen entsteht. Die Regeln des
Musizierens sind aus den Fähigkeiten der Menschen abgeleitet, die sich die Klänge aneignen müssen – aus den Sinnesempfindungen müssen Gestaltganzheiten
entstehen, die dann bei gelungenen Aufführungen einen obejktiv nicht mehr
fassbaren Spannungsbogen im Menschen entstehen lassen, zu einem Objekterleben führen, dass nicht allein aus äußerer oder innerer Sinnesempfindung allein
erklärt werden kann.
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2. Wahrnehmen als Weg zur Erkenntnis
2. Wahrnehmen als Weg zur Erkenntnis
Psychologie und kognitive Paradigma
Die derzeit vorherrschende Richtung ist die Kognitive Psychologie. Sie entstand in
den USA und löste in den Jahren zwischen 1960 und 1980 das Paradigma der
Lerntheorie ab. Das war der Wechsel vom Menschen als programmierbaren Baustein mit Informationsinput und vorhersagbarem Output hin zum Menschen, der
sich Gedanken über sich selbst macht.
In der Kognitiven Psychologie sieht der Autor drei Mainstreams, deren Vertreter
während der 1970er und 1980er bemerkenswert wenig Kontakt untereinander
aufnahmen: Die Strukturalisten, die Konstruktivisten und die Handlungstheoretiker.
Im diesem ersten Kapitel soll deutlich gemacht werden, dass die Wahrnehmung
in den drei Hauptrichtungen der Psychlogie unterschiedliche Bedeutung hat.
Über die Beschreibung der Wahrnehmung wird deutlich, dass die kognitive Psychologie sîch langsam Erkenntnissen annähert, die die Gestaltlpsychologen bereits in den 1920er Jahren hatten.
Informationstheoretisches Grundeinstellung – Strukturalisten
Ausgangspunkt waren die Programme der Digitalisierung in den 1950er Jahren
und das TOTE-Prinzip von Miller, Galanter & Pribram, 1960,1973: test – operate
– test – exit. Eine erste Testphase findet die Ausgangsbedingungen, auf deren
Grundlage die Operation durchgeführt wird. Nach erneutem Test wird beabsichtigtes Ziel und erreichtes Ergebnis miteinander verglichen und die Einheit beendet.
John R. Anderson (Anderson, 1981,1983) ist der führende Vertreter der strukturalistischen Richtung: Ihn interessierten die Problemlösungen von Menschen und
er versuchte, die Wege der verschiedenen Menschen in eine übergreifende Gehirnarchitektur aus mathematischen Funktionen zu überführen.
Die problemlösungsorientierte Lernpsychologie der Strukturalisten wurden begleitet von den Motivationspsychologen, die das lineare unidirektionale Modell
mit zurückwirkenden Schleifen versahen: Es wurde angenommen, dass das Handeln durch die Bewertung von Ergebnisantizipationen geleitet sei. Bekanntester
deutscher Vertreter dieser Erwartungs-mal-Wert-Theorien oder auch Attributionstheorien war Heinz Heckhausen (Heckhausen, 1980; Weiner, 1980).
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Informationstheoretisches Grundeinstellung – Strukturalisten
Der Begriff der Wahrnehmung spielt in informationstheoretischen Modellen keine Rolle: Informationen aus der Umwelt fließen fortwährend über Eingangskanäle wie Auge und Ohr oder über Rezeptoren für Gerüche und für Geschmack. Die
Vielfalt der Eindrücke, die verar bietet werden, veranlassten zru Weiterentwiclung des Konzepts: In den 1980er und 1990er Jahren entwickelte sich die Vorstelung, dass Parallelverarbeitung, die in der Kommunikation von simulierten
Netzwerken komplexere Probleme und Lösungswege darstellen konnten. Die
informationstheoretischen Forscher bedienten sich überwiegend Flow-Charts, in
denen der Informationsfluss an entscheidenden Knotenpunkten von zusätzlich
aufgenommenen Bedingungen gelenkt wurde (McClelland, Rumelhart & the PDP
Research Group, 1986, Rumelhart, DMcClelland & Group, 1986). Diese Richtung
gewann auch zeitweilig Einfluss auf die Wahrnehmungspsychologie, auf die
Strukturalisten in der Sprachpsychologie und die Musiktheoretiker, die später die
AI-Modelle zur Generierung von Melodien (im Überblick Stoffer, 1981) und Akkordfolgen führten (im Überblick Hernandez u. a. , 2013). Parallelverarbeitende
Netzwerke führten in der visuellen Wahrnehmung zu großen Erfolgen, da sie
eine selbstlernende Objekterkennung simulieren konnten. Dies konnte in der
automatisierten Produktion zur Steuerung von Greifarmen verwendet werden,
obwohl die Modelle nicht die menschliche Wahrnehmung abbildeten.
Kennzeichnend für Struktur-orientierte Psychologie sind quasi-mathematische
Formeln und flow-charts, Diagramme, die die Vernetzung und den sequentiellen
Ablauf der Informationsverarbeitung verdeutlichgen.
Der Informationsinput führt bei einer geegneten Konstellation zu einem Handlungsoutput. Ziele der Forschung ist, die Regeln für die Verbindung zwischen Input und Output, also zwischen Informationsaufnahme und Handlungsoutput zu
finden.
In der Musikpsychologie wurden strukturalistische Modelle lange hoch geachtet.
In den USA machten Diana Deutsch, Carol Krumhansl und Jamshed Bharucha
damit ihre Karriere. In Deutschland finden sich eigene strukturalistische Ansätze
zur Melodie bei Thomas Stoffer, zur Form bei Peter Faltin und zur Harmonie bei
Herbert Bruhn. 2
Der Begriff der Wahrnehmung ist aber im Prinzip im informationstheoretischen
Paradigma nicht definiert.
2
Dazu die Kapitel über Mehrstimmigkeit und Harmonie (S. 625-697) sowie Wissen
und Gedächtnis (S. 403-449; Bruhn, Mehrstimmigkeit und Harmonie,
2005,Wissen und Gedächtnis, 2005).
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2. Wahrnehmen als Weg zur Erkenntnis
Kognition als Grundlage: Konstruktivisten
Dieser Forschungsansatz ist europäisch beeinflusst, obwohl die beiden Hauptwerke vom Amerikaner Ulric Neisser stammen. Der europäische Einfluss liegt im
konstruktivistischen Ansatz der Entwicklungspsychologie von Jean Piaget
(Schweiz) sowie Heinz Werner (1890-1964). Über Heinz Werner, der seine Lehrstuhl in Hamburg 1933 zusammen mit William Stern verlassen musste, dürften
die wesentlichen Aspekte des Konstruktivismus in die amerikanische Psychologie
eingegangen sein, da Werner nach seiner Flucht aus Deutschland noch bis in die
1960er Jahre hinein in den USA wirksam war. Einen ähnlich starken Einfluss sollte
den emigierten Gestalttheoretiker unter den Soziologen zugestanden werden.3
Unter Konstruktivismus wird verstanden, dass der Mensch ein Modell von seinem Leben, eine mentale Repräsentation seiner selbst in einer ihn umgebenden
Lebenswelt entwickelt, an der er seine Ziele und Handlungen orientiert, bewertet
und auswertet.
So sah es auch Ulric Neisser, der die informationstheoretische Ausrichtung hinter
sich ließ und dem Beh Dser weltweit bekannt – der von ihm gewählte Titel Cognitive Psychology wurde zur Bezeichnung für das neue psychologische Paradigma.
Mit dem Begriff cognition (vom lateinischen cognoscere: Erkennen) wurde der
amerikanischen Psychologie eine Äquivalent des deutschen Erkenntnisbegriff
hinzugefügt. Dies entkrampfte den Umgang mit der deutschen Einstellung Zum
anderen bewirkte es, dass man sich vom altmodischen Erkenntnisbegriff der
deutschen Philosophie distanzierte,
Der hohe Bekanntheitsgrad von Neisser bewirkte, dass sich sein zweites Buch
blitzschnell über die Welt verbreitete: So war Cognition and Reality bereits knapp
drei Jahre auch in Deutschland unter dem Titel Kognition und Wirklichkeit erhältlich.4
Im zweiten Werk führt Neisser den Schemabegriff ein, mit dessen Hilfe Repräsentationen der Umwelt gebildet wie auch erklärt und Antizipationen ermöglicht
werden sollen. Wahrnehmung bedeutet mentale Repräsentationen der physikalischen Umwelt.
3
Horckheimer, Wertheimer, Lewin: bisher nicht aufgearbeitet – dazu Lück, 1984.
4
In Englisch: Neisser, 1967 sowie Neisser, 1976. Das zweite Buch erschien bereits
nach drei Jahren auf Deutsch: Neisser, 1979, in den 1970er Jahren eine sehr
schnelle Reaktion.
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Handlungtheoretische Perspektive
Handlungtheoretische Perspektive
Noch eine Schritt weiter gehen die Handlungstheoretiker, denen die Erkenntnis
des Menschen über sich selbst wichtig war. Der Mensch erkennt sich selbst,
wenn er handeln in seine Umwelt eingreift. Im deutschsprachigen Raum hat
dieses Paradigma insbesondere im pdäagogischen Umfeld sehr große Bedeutung
erlangte.5
Die Wahrnehmung des Menschen ist dadurch nicht mehr von der Handlung
trennbar. Wahrnehmung ist eine Handlung, die das Ziel verfolgt, möglichst viele
relvante Aspekte der Wirklichkeit zu erfassen. Der Mensch befindet sich in einer
Lebenswelt, läuft herum, bewegt sich, sucht nach Informationen, nimmt Informationen auf und integriert sie in seinen Wissensstand.
Die Hauptvertreter der Handlungspsychologie berufen sich auf die sowjetischen
Modelle dialektischer Wechselwirkungen, einer psychologisch-soziologischen
Theorie, die das Individuum eng verschmolzen mit der Gesellschaft bzw. sogar als
Produkt seiner Umwelt gesehen werden kann: Das Individuum ist das Ergebnis
der gesellschafltichen Verhältnisse. Diese Sichtweise ist durch die politischen
Veränderungen in den sogenannt sozialistschen Staaten der Welt nahezu verloren gegangen.6
Wahrnehmung bedeutet Handlung: Der Mensch bewegt sich handelnd in seiner
Lebenswelt, indem er seine Handlungsziele aus der mentalen Repräsentation der
Umwelt ableitet.7
5
Rolf Oerter, 1971 in Deutschland und Hans Aebli, 1980,1981
6
Dialektischen Theorien der Psychologie sind psychologisch-soziologisch
(Leontjew, 1982 und Wygotski, 1978,1987) und deren deutsche Vertreter
(Hacker, 1978, Volpert, 1983; Professoren an der Humboldt-Universität zur Zeit
der DDR).
Dialektische Theorien werden derzeit nicht mehr weiter entwickelt. Es war in
den 1990er Jahren erschreckend zu sehen, wie sich gestandene Wissenschaftler
von den neuen politischen Verhältnissen beeinflussen ließen.
7
Hierzu auch Neisser, 1976/1979.
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3. Sinneserfahrung und Wirklichkeit
Das Objekt als Forschungsgegenstand
Die Zusammenfassung im vorigen Kapitel sollte deutlich machen, dass sich psychologische Forschung überwiegend damit beschäftigte, wiei wohl dem Wahrnehmungsobjekt beschäftigt und damit, wie die Umwelt als Paket von Informationen in den Menschen hineinkommt. Die meisten psychologischen Theorien
beschäftigen sich damit, das Objekt neu zu strukturieren und eine abstrakte
Form der Beschreibung zu entwerfen. Für diese Form von Beschreibung hat Ulric
Neisser den Begriff Schema geprägt. Schemata können aus einer verbalen Beschreibung bestehen, mit einem feststehenden Begriff bezeichnet werden oder
mit einem Algorithmus definiert sein.
Die Informationen werden der Umwelt entnommen, die sich allerdings nach der
Vorstellung kognitiver Psychologen nicht umfassend in den Schemata wiederfinden lassen. Die Art der Verarbeitungsprozesse oder Übertragungsbeschränkungen des physiogischen Rezeptorengefüges lassen eine vollständige Bearbeitung
der Umweltinformationen nicht zu. Dafür werden zur Verdeutlichung unterschiedliche Metaphern verwendet:
Filtertheorie – eine Materie sorgt dafür, dass nur die gewünschten Elemente weiterfließen. So hält ein Kaffeefilter den Kaffeesatz zurück, ein Fettfilter entfettet Flüssigkeiten und eine Filter im Röhrenverstärker sorgte dafür, dass das
Netzbrummen nicht zu hören ist.
Bottle Neck Theorie – der Flaschenhals verengt den Bereich, durch den Flüssigkeit aus einer Flasche herauslaufen kann. Die Menge einer potenziell auch angenehmen Entnahme von Einheiten der Flüssigkeit (z. B. Cognac) wird begrenzt.
Käseglocke – durch das Überstülpen einer Glashaube wird vor übel oder anzüglichem Geruchseinfluss geschützt. Man hebt die Glocke nur kurz an, um Informationen zu entnehmen.
Im ersten Fall werden potenziell negative Dinge vom Empfänger ferngehalten, im
zweiten Fall wird die Menge potenziell positiver Dinge rationiert. Sonderfall ist
die dritte Filtermöglichkeit, die einen direkten Informationsfluss in keine Richtung zulässt, wenn nicht jemand Drittes Einfluss nimmt.
Aus den so gewonnenen Informationen konstruiert der Mensch ein Modell von
sich und seinem Verhalten in der Umwelt.
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Sinnesempfindung und Aneignung der Umwelt
Sinnesempfindung und Aneignung der Umwelt
Der Informationsfluss, der den Menschen bzw. sein Bewusstsein erreicht, ist also
zunächst vom Gegenstand der Umwelt unspezifisch auf den Menschen gerichtet.
An einem bestimmten Punkt erreicht die Information das Bewusstsein, weckt
gewissermaßen Interesse und die Richtung kehrt sich um: Der Mensch beginnt
die Information, die er über den Gegenstand hat, so zusammenzusetzen, dass
sich ein Sinnzusammenhang ergibt. Findet sich nicht gleich ein Zusammenhang,
so richtet der Mensch seine Aufmerksamkeit auf weitere Aspekte der Umwelt
und erhält so weitere Informationen.
Filtertheorien sind also nicht notwendig, da der wahrnehmende Mensch die Filter umgehen kann. Der Wahrnehmende würde seine Aufmerksamkeit auf die
vorher weggefilterten Inhalte richten, sobald er merkt, dass ihm Informationen
fehlen.
Äußere Sinnesempfindung und die doppelte Wirklichkeit
Celibidache spricht von der doppelten Wirklichkeit des Klanges und meint damit
die Beziehung zwischen dem physikalischem Reiz (der Luft, die in unterschiedlich
komprimierter Form auf das Trommelfell trifft. Nur aus dem angeeigneten Klang
kann (untergünstigen Umständen) Musik entstehen. Der physikalischen Klang
muss dafür verschiedene Voraussetzungen erfüllen, die das Wahrnehmungssystem, die Rezeptoren definieren. Er muss vom Ohr aufgenommen werden können, Die Sinneszellen müssen ausreichend angepasst sein, um für die Verarbeitung von Rhythmus, Klang, Tonhöhe in Frage zu kommen.
Die physikalische Welt ist der Ausgangspunkt – die Berührung zwischen den Sinneszellen und den Außenweltreizen ist die kritische Brücke, die die Außenwelt
mit der Welt des Menschen verbindet. An dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt
wird der Außenweltreiz empfunden. Die Sinnesrezeptoren melden ein Ereignis in
der Umwelt, das den Körper berührt hat. Carl Stumpf nennt dies äußere Sinnesempfindung.
Wir empfinden den Reiz – selbst der schwächste Reiz zum Beispiel einer sanften
Berührung wird nach 2 Millisekungen vom Menschen empfunden. Das Ereignis
wird in der Empfindung vollständig erfasst: Es hat einen Anfangszeitpunkt, es
wird die Zeitdauer des Ereignisses, die Stärke und die Veränderung der Starke
weitergemeldet.
Die Empfindung dauert so lange, wie das Ereignis in der physikalischen Weltes
Neues zu bieten hat. Fürdie Identifikation eines Tones brauchen wir relativ viel
Zeit, da der musikalische Ton je nach Musikinstrument erst einschwingen muss,
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3. Sinneserfahrung und Wirklichkeit
bis aus den forztwährenden Empfindungen eines neuen Geräusches ein Tonhöheneindruck und ein Eindruck vom gerade gespielten Instrument ensteht.
Sinneseindruck
Der Mensch empfindet das Umweltereignis sehr schnell – zwei Millisekunden
benötigt der Nervenompuls, um im Rückenmark anzukommen, wo die Empfindung augebblicklcih einem aktivierenden Einfluss ausübt: Das ARAS im Hirnstamm versetzt momentan nicht angesprochene Ssysteme in einen erhöhten
Zustand der Aufmerksamkeit.
Das aktivierende Areal im Hirnstamm ist für alle Sinnesempfindungen zustä dig –
das ist besonders eoinfach, da alle Sinnesrezeptoren im Prinzip eine Art von Frequenzzähler sind.
Dauerbelastung
etwas anfassen/berühren
berührt werden
Wahrnehmung von Zittern
Vibnrationen von Maschinen
Hören
Sprache
Musik
Richtungshören
dto. bei Fledermäusen
Sehen
einzeln zählbare Ereignisse
mehrere Ereignisse pro
mehrere
Ereignssse
pro
Minute
Sekunde
ab 19 Ereignisssen pro Sekunde
bis 1.000 Hz
bis 6.000 Hz
bis 11.000 Hz
bis 30.000 Hz
ab ##.### Hz
Aus mehreren Empfindungen entsteht nach Stumpf ein Sinneseindruck. Dieser
Eindruck ist die erste Aussage über den möglichen Verursacher des Tons oder
Geräusches
Interaktion mit Vorstellungen
Die Sinneseindrücke werde durch die Verarbeitung im Nervensstem selbst zu
eine rneue Einheit. Es entsteht die Vorstellung eines Objekts:
Für die auditive Wahrnehmung hat Bregman eine reihe von Kriterien definiert,
die vermutlich in der frühen Bearbietung des Stroms der Empfindungen aus dem
Hörnerv (auditory stream) zu Identifikation von auditiven Objekten führen (auditory stream segregation): hier die gefundenen Kriterien, die aus einer Vielzahl
von Einzelschwingen den Eindruck eines rollenden Steines
Dazu die Forschungserebnsise von Bregman aus dem Anfang der 1990er Jahre:

Klänge, die keine Beziehung zueinander haben, beginnen oder enden selten
geau zum selben Zeitpunkt.
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Wahrnehmung einer Gestalt

Ein einzelner Klang oder eine Folge von Klängen, die von derselben Klangquelle stammen, tendieren dazu, ihre Eigenschaften gemeinsam, Fließend
und langsam zu verändern.

Physikalische Materie, die in Vibrationen versetzt wird, tendiert dazu, ein für
diese Materie typisches Frequenzmuster auszubilden. In diesem Frequenzmuster gibt wiederum Freqenzanteile, die ein für die Materie typisches ganzzahliges Verhältnis zueinander aufweisen.
Diese Eigenschaften schaffen im Menschen eine Form von Vorstellung, wie ein
Gegenstand beschaffen sein könnte. Über die Rückwirkungen auf die Wahrnehmung wird zu sprechen sein. Für die offensichtliche Parallele zwischen der Anschaulichen angeeigneten Welt und dem Physikalischen Ursprung prägte Celibidache den Begriff der Natürliche Tendenz, auf den im nächsten Kapitel eingegangen wird.
Objekt-Wahrnehmung als Ereignis

Bei den kognitiven Psychologen ist das Objekt etwas Gegebenes – es ist da.
Für den Menschen gewinnt es erst Realität, wenn er es berührt, sieht oder
hört.

Verursacht das Objekt eine Sinnesempfindung, so tritt es als Ereigniss ins
Bewusstsein des Menschen, als ein Ereignis, das den Zustand des wahrnehmenden Menschen verändert.

Verändert sich eine Zeitlang nichts im Umfeld des Menschen, dann wird
nichts gemeldet.

Ohne Ereignisse adaptiert der Wahrnehmungsapparat selbst an sehr aktive
Umwelteinflüsse.

Diese Adaptation kann physiologisch (Anpassung des Auges an Dunkelheit
oder grelles Licht) sein oder willentlich herbeigeführt werden (das Nichtbeachten einer lauten Arbeits- oder Wohnsituation).
Der Sinneseindruck führt somit ohne weitere Annahmen zur Ausbildung eines
Wahrnehmungsobjektes. Die Annahme eines Verarbeitungsschemas ist somit
nicht notwendig.
Wahrnehmung einer Gestalt
Wenn der Mensch seine Aufmerksamkeit auf die Sinnesempfindungen richtet, so
kann die Wahrnehmung nicht vom Gegenstand geleitet sein. Der Mensch sammelt die Empfindungen verschiedener Sinne und es entsteht aus der Summe der
Sinnesempfindungen eine Eindruck davon, was um ihn herum los ist. Verschiedene Eindrücke verbinden sich auf einer weiteren Ebene zu einer Einheit. Das
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3. Sinneserfahrung und Wirklichkeit
erste Ereignis verbindet sich mit den folgenden Empfindung zu etwas, das man
als das Erleben eines Gegenstand ansehen kann.
Eine Ereignis erhält eine Form, eine Struktur und wird zum wahrgenommenne
Gegenstand.
In der kognitiven Psychologie begnügt man sich mit der Entwicklung des Objektbegriffs, der dort mit dem Begriff Schema belegt wird. Carl Stumpf macht deutlich, dass ein aus dem Sinneseindruck entstandener Wahrnehmungsgegenstand
aufgrund des Charakters eines Umweltereignisses zusätzliche Qailitäten erhält,
die im physikalischen Material weder enthalten noch beabsichtigt sind.
Dies wird in der Gestaltpsychologie mit den drei Prinzipien von Christian von Ehrenfels beschrieben:
(1) Ganzheitlichkeit: Die Wahrnehmung tendiert dazu, Einzelempfindungen
zu Ganzheiten zusammenzufassen.
(2) Übersummenhaftigkeit: In der Wahrnehmung der Umwelt erhlt der
wahrgenommene Gegenstand zusätzliche Eigenschaften, Qualitäten oder
Merkmale, die physikalisch nicht repräsentiert sind.
(3) Transponierbarkeit: Die Eigenschaften eines Objekts sind nicht abhängig
vom Raum, in dem sich das Objekt entfaltet.
Ein Ton erhält eine Farbe und wird mit dem Anblick eines Musikinstruments verbunden. Ein gesprochener Satz erhält aufgrund der Sprachmelodie einen emotionalen Charakter,d er durch die Verbindung mit dem Anblick eines Gesichts als
Fürsorge empfunden wird oder in Verbindung mit einem erhobenen Arm zur
Flucht veranlasst.
Zwei Töne gehen eine Beziehung zueinander ein, die entweder Ruhe vermitteln
(Konsonanz) oder eine Direktionalität, eine Richtung suggerieren – geht es wieter
oder kehrt der dritte Ton wieder zurück?
Weitere Fragestellungen, Hypothesen stehen bereit
Verbindung mit neurophysiologischen Erkenntnissen: Was ist ein evoziertes Potenzial im Rahmen einer Musikphönomenologie.
Welche Folgen muss es haben, dass selbst die Ableitung der Tonhöhe
Da der kontinuierliche Strom der Verarbeitung auditiver Signale mehrere Ereignisse beinhalten könnte, werden die eningehenden Empfindungen sortiert und
dejengen,d ie ein ähnliches oder sogar übereinstimmendes Veränderungsmuster
haben, zu einer Verarbeitungeinheit zusammengestellt und weitergeleitet.
Tonhöhe
Anzahl der Ereignisse pro
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Zeitdauer von einem
Realisation der Wahrnehmung und Selbst-Objekt-Differenzierung
charakteristisch für
Kammerton A
mittlerer Sopranton
Messton
Pikkoloflöte
A-Saite Cello
A-Saite Kontrabass
tiefster Ton Klavier
oder Kontrafagott
pro Minute
pro Sekunde
zum nächsten Ereignis
440 Hz
7,33 136,36 ms
880 Hz
14,67
68,18 ms
1000 Hz
16,67
60,00 ms
3440 Hz
57,33
17,44 ms
195 Hz
3,67 272,73 ms
110 Hz
1,83 545,45 ms
55 Hz
0,92 1090,91 ms
Es gibt viele Rezeptoren für jede Wahrnehmungsmodalität und viele Modalitäten. Das bereitet keine Probleme, weil alle Sinnesemfindungen dasselbe Format
haben.
Realisation der Wahrnehmung und Selbst-Objekt-Differenzierung
Gegenstände sind reale Gegenstände - wir nehmen sie wahr als etwas, das außerhalb von uns existiert. So wird wohl in jeder Philosophie-Anfängervorlesung
fortwährend das Pult als Beispiel für Wahrnehmung von Gegenständen genommen. Das Pult, an dem offensichtlich immer noch Philosophie gelesen wird, ist
das Beispiel, dass man auf seine realität durch anfassen überprüfen kann. Aber
der Eindruck ist in uns. Auch Personen sehen wir selbstständig in der Umwelt
agieren. Aber ihre Aussagen dringen in uns ein.
Nimmt man die Musik als Beispiel für Wahrnehmung, so fällt auf, dass zwischen
konkreten und fassbaren Gegenständen und sowie abstrakten bzw. nicht fassbaren Gegenständen unterschieden wird:


Die Sonne geht über dem Meer auf. Aber:
Die Sonne geht im Herzen auf
Es geht uns ein Licht auf.
Das Orchester spielt für uns in der Hamburger Musikhalle. Aber:
Musik geht in den Kopf, in den Bauch und in die Füße.
Der Orgrlklang dröhnt im Kopf.
Vorstellungen oder Erinnerungen behalten wir in uns und für uns. Abstrakte Eindrücke oder Gefühl ebenfalls.
Musik erklingt in uns. In welche Kategorie fällt Musik? In welche Kategorien fallen andere Objekte der Sinneswahrnehmung?
Dies soll später im Zuge der Erscheinungsformen von Wirklichkeit geklärt werden
(Kapitel XX). Voraussetzung dafür ist eine Diskussion über die Repräsentation von
Sinnesinformationen und Objekten des Erlebens (Kapitel XX-1).
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4. Objektivität der Sinneswahrnehmung
Natürliche Tendenz und Objektivität
Celibidache spricht von der natürlichen Tendenz eines musikalischen Ablaufs
oder musikalischen Ereignisses. Dies stellt sich als Analogie zum Begriff der Objektivität von Höllwerth dar. Celibidaches Aussage dazu war, die natürliche Tendenz entspräche dem, was ein Phänomen ‚von sich aus‘ machen würde. In dieser
Aussage finden implizit sich die drei Kriterien von Höllwerth wieder. Natürliche
Tendenzen sind intraindividuell stabil und beschreiben stabile Relationen zwischen Wahrnehmungsobjekten, die von verschiedenen Individuen gleich oder
ähnlich eingeschätzt werden. Umgangssprachlich ausgedrückt hieße das: Man
empfindet etwas als naturgegeben, wenn eine Beobachtung immer zur selben
Beurteilung oder Einschätzung führt und diese Beurteilungen auch avon anderen
bestätigt werden.
Ein musikalischer Ton zum Beispiel hat die natürliche Tendenz zu verschwinden.
Musiker und Musikhörer empfinden es gleichermaßen als natürlich, dass ein Ton
erklingt und wieder verklingt. Das geschieht mit dem ersten Klang in der Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 von Ludwig van Beethoven ebenso wie am Anfang des
1. Satzes seiner 4. Sinfonie. Im Vorspiel zum Fliegenden Holländer geschieht das
Gegenteil: Richard Wagner widerspricht der natürlichen Tendenz, da er durch
das heftige Tremolo der Streicher das Verklingen des Anfangstons verhindert. Die
erwähnten Stückanfänge von Beethoven strahlen Ruhe aus, Wagners Anfang
versetzt den Hörer sofort in Alarmbereitschaft.
Die natürliche Tendenz eines Klangs oder eines Tones ist die Rückkehr zur Ruhe,
zur Entspannung. Hält ein Musiker einen Ton lange und lautstark an, so entspricht das nicht der natürlichen Tendenz des Tones. Der Musiker setzt Energie
mit dem Bogen oder seinem Atem ein und widerspricht der natürlichen Tendenz.
Das bewirkt in der anschaulichen Welt der wahrgenommenen Musik eine Zunahme der Spannung.
Die Diskussion über die natürliche Tendenz von akustischen Erscheinungen verdient umfangreiche Aufmerksamkeit, da man sich in einem nicht definierbaren
Raum zwischen physikalischer Welt und der Welt des Menschen befindet. Der
Begriff ‚natürlich‘ suggeriert, dass es sich um die physikalische Welt handelt. Tatsächlich ist es aber die Welt der Anschauung des Menschen. Es wird hier eine
Analogie zwischen der physikalischen und der psychischen Welt angenommen:
Dem physikalischen Verschwinden eines Tones (das Leiser-werden) steht das
Verschwinden des Tons aus dem Bewusstsein gegenüber.
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Die Hypothese von der Außenwelt
Die drei Ehrenfels-Prinzipien als Zusammenfassung dessen, was Celibidache natürliche Tendenz nennt, repräsentieren etwas, was Stephan Höllwerth als Objektivität bezeichnet. 8 Musik setzt sich aus mehreren akustischen Einzelereignissen
zusammen, die sich im Erleben zu einer Ganzheit zusammenschließen. Erst durch
die Aneignung der Umweltklänge wird es möglich, dass in der Vorstellung aus
den Klängen das Musikerlebnis entsteht.
Gerade die Gestaltpsychologen haben sich mit der Sinneswahrnehmung sehr
ausführlich beschäftigt und dabei eine Vielzahl von Nachweisen geführt, die auf
eine fehlerhafte oder verzerrende Übertragung der Informationen aus der Umwelt hinweisen.9 Diese Fehlerhaftigkeit hindert den Menschen dennoch nicht
daran, die Umwelt als real und objektiv richtig zu sehen.
Allerdings gefallen sich insbesondere Philosophen und Psychologen darin, diese
Wahrnehmungstäuschungen zum Anlass für Zweifel an der Objektivität von Lebens- und Handlungsgrundlagen zu nehmen. Wenn die wahrnehmung nicht ind
er Lage sei, die physikalische Welt jederzeit qanalog mental nachzubilden, dann
sei auch fraglich, ob die physikalische Welt unabhängigkeit von der Wahrnehmung Realität beanspruchen könne. 10
Die Hypothese von der Außenwelt
Es gibt eine von meinem Bewusstsein in ihrer Existenz unabhängige Welt von
Dingen, die unter sich in raum-zeitlichen Verhältnissen und in gesetzlicher Wechselwirkung stehen, und von denen ein Teil (der eigene Körper) mit meinem
Bewsstsen in konsztanter Weise verbunden ist, während andere Teile in analoger
Weise mit anderen Bewusstseinsteilen verbunden sind.11
Umgekehrt könnte allerdings den Sinnesqualitäten die objektive Realität abgesprochen werden, weil die innere Logik zum Beispiel von Musik nicht in den empirischen Gesetzen der Physik wiederzufinden ist (a.a.O.). Stumpf argumentiert
hier, dass die meisten Menschen spontan bereit wären, die anschauliche oder
vorgestellte Welt mit der realen physikalischen Welt gleichzusetzen. Er selbst
könne sich sogar eine reale Welt der Musik vorstellen, die keinen mathematischen Formeln folgt, sondern ausschließich subjektive Eigenschaften hat, die sich
8
Vgl. Höllwerth 2007.
9
Zum Beispiel bei Wolfgang Metzger, 1936 [1975] über das Sehen.
10
Dazu und zu den folgenden Absätzen die Ausführungen zum Subjektiven Idealismus, bzw. Phänomenalismus, in Stumpf, 1936 [2012], S. 585 ff
11
Stumpf, 1936 [2012], S. 595.
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Objektivität der Sinneswahrnehmung
erst im rozess der Aneignung realisieren. Als Beispiel führt er hier die Harmonielehre an, was allerdings nur begrenzt stimmt.
Dazu weiß man heute mehr:
Die Entstehung von Sinnesqualitäten scheint in der Natur der physiologischen
Informationsverarbeitung festgelegt zu sein - wahrscheinlich sogar (wie die Tonhöhenwahrnehmung und die Wahrnehmung von Harmonie) in mathematischer
Form festlegbar und vorsehbar. 12 Die Ergebnisse der Konsonanztheorie von Ebeling und xxxx sind ein erster Beweis dafür, dass die Harmoniebeziehungen nicht
kulturgewachsen oder sogar willkürlich ergestellt werden. Es wird im Colliculus
inferior unter dem Eindruck der Sinnesempfindungen vom Ohr ein Beziehungsgeflecht bereit gestellt, dessen Folge die Gestaltqualität Harmonie ist. 13
Die Repräsentation von Wissen über die aktuelle Umwelt erfolgt nicht durch
Übersetzung von sensorische Reizen in kognitive Schemata. Die Umwelt wird
vom Menschen überwiegend als kontinuierlich gleich empfunden. Dies repräsentiert sich in elektrophyiologisch homöosthatischen Zuständen der Nerven einer
Region. Die ersten Einheiten der verschiedenen Rezeptorengruppen stehen dabei unter dem Einfluss einer Aktivität der Rezeptoren, so dass die Aufrechterhaltung des Zustand mehr oder weniger, aber fortwährend Arbeit ist. Überschreitet
die Aktivität des Rezeptorenbereichs eine Grenze, so führt dies zu Depolarisierung von einelnen oder mehreren Zellen und eine Aktionspotenzial wird in Richtung der nächstfolgenden Verarbeitungseinheit geschickt. Es wird über eine Veränderung des Zustands berichtet
So wird plausibel, dass ein Schema der Kognition nicht auf Gegenstände der Physik bezogen sein kann. Setzt man probeweise das Schema als Begriff von Neisser
mit der Empfindung als Begriff von Stumpf gleich, so lässt sich erkennen, dass
nicht der Zustand der physikalischen Welt berichtenswert ist, sondern die Empfindung, das sich gerade etwas geändert hat.
Objektive Beurteilung von Musik
Musik wird vom Musikhörer als Gegenstand erlebt, der außerhalb von sich existiert. Emotionen oder Gefühle bezieht der Musikhörer direkt auf sich selbst.
Musik erhält so ein hohes Maß an Subjektivität. Das haben insbesondere Vertreter der Musikästhetik des 19. Jahrhunderts wie Carl Dahlhaus zu vertreten, die
eine Weiterentwicklung der klassischen Musik allein in der sogenannten Neuen
12
Konsonanz entpuppt sich derzeit als Mustererkennungsprozess, wie in den aufeinander bezogenen Arbeiten von Ebeling, 2007und xxxx Darmstadt gezeigt
wird.
13
Eindruck ist die Bezeichnung von Stumpf, 1936 [2011] für
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Objektive Beurteilung von Musik
Musik, der experimentellen Klassik der 1950er bis 1970er Jahre, sahen. 14 Der
damals scharfe Ausschluss der Rockmusik als tatsächlich neuer Musik verunsicherte die Fachwelt, so dass auch heute noch Klassikfachleute kaum eine Aussage darüber wagen, welche Musik gut oder schlecht bezeichnet werden darf. Es
scheint dem Fachmann, es gäbe kein objektives Maß mehr. Immanuel Kant wird
herangezogen, die scheinbare Gesetzlosigkeit philosophisch zu untermauern:
Musik sei ein „schönes Spiel der Empfindungen“ (Kant 1977 [1790], §51), eine
„Sprache unterster Empfindungen“ (ebd., §53 und „von Empfindungen unbestimmter Ideen“ (ebd.). Zusammenfassend wird oft der Schluss gezogen, Musik
sei Geschmackssache und außerdem kulturabhängig.
Dieser Einstellung soll hier widersprochen werden. In der Musik gibt es, wie in
allen anderen Künsten, Kriterien für Objektivität im Sinne intersubjektiver Übereinstimmung.

Intraindividuelle Stabilität: Subjekte haben eine Absicht, wenn sie sich die
materiellen Eigenschaften eines Objekt aneignen. Der intentionale Umgang
mit den Umweltreizen ist wiederholbar.

Stabile Relationen zwischen den Wahrnehmungsobjekten: Objektivität ist
nicht alleine an Materialbeschaffenheiten festzumachen. Man nimmt zwischen den Objekten regelhafte Beziehungen wahr, 15 die sowohl in der materiellen Welt als auch in der Anschauungswelt16 bestehen oder aber übersummenhaft als Wesensmerkmal der Gestalt wahrgenommen werden.

Intersubjektive Subjekt-Objekt-Relation: Subjekte teilen den intentionalen
und zielgerichteten Vorgang der Aneignung mit anderen Subjekten.
Höllwerth zeigt auf, wie in diesem geschichtlichen Kontext drei methodische
Forderungen an die Psychologie realisiert sind, die den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und Objektivität sichern: 17

Eine Theorie der Erfahrung kommt ohne Vorannahmen am unmittelbaren
Bewusstseinserleben aus.

Psychische Beobachtungen können rekonstruiert und wiederholt werden.

Bewusstseinsakte sind intentional gerichtet. Dadurch wird Bewusstsein immer zu Bewusstsein von etwas.
g
15
Vgl. Husserl 1987 [1928].
16
Vgl. Metzger 1941.
17
Vgl. Höllwerth, 2007, 97f.
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Objektivität der Sinneswahrnehmung
Dies grenzt die Phänomenologie von einer spekulativen Philosophie wie auch von
einer positivistischen Psychologie ab und ermöglicht eine Form der Objektivierung: Objektivität entsteht als intersubjektive Übereinstimmung im Zugang zum
Objekt (hier die Musik) sowie in der Wiederholbarkeit von Wahrnehmungshandlung, Handlungsabsicht und Ergebnis der Wahrnehmungshandlung.
- 23 -
5. Celibidache und Husserl
Edmund Husserl und die Gestaltpsychologie
Celibidaches Zugang zur Musik über die Phänomenologie ist wissenschaftsgeschichtlich auf Edmund Husserl zurückzuführen, mit dessen Schirften er sich in
den 1930er Jahren intensiv auseinander setzte. Edmund Husserl war etwa acht
Jahre lang Assistent von Carl Stumpf und habilitierte sich am Lehrstuhl von
Stumpf während der Jahre in Leipzig, München und Halle. Der Autor beabsichtigt, die Musikphänomenologie von Celibidache in das Gedankengebäude von
Stumpf zu integrieren – im ersten Teil der Erkenntnislehre liest man nun ein ganzes Kapitel, in dem sich Carl Stumpf von seinem früheren Mitarbeiter Edmund
Husserl abgrenzt. Darf man nun Celibidache als bekennender Anhänger der Husserlschen Gedanken bedenkenlos in die Gestaltpsychologie einbeziehen?
Der Autor der hier vorliegenden Schrift hat sich dazu entschlossen, Celibidaches
Musikphänomenologie der Arbeit von Carl Stumpf zuzuordnen – keineswegs bedenkenlos, sondern wohlüberlegt nach Kenntnis der Kontroverse zwischen Husserl und Stumpf. 18
Aus der heutigen Zeit wird nicht mehr verständlich, weshalb die Auseinandersetzung mit so scharfen Worten geführt wurde. Man darf nicht vergessen, dass beide vom Ursprung Philosophen waren – Carl Stumpf die Philosophie durch die
Begründung eines Instituts für Experimentelle Psychologie aber verlassen hatte.
Psychologie und Philosophie standen sich zeitweilig sehr feindselig gegenüber:
die Philosophie betrachtete die Psychologie als Abtrünnige, die sich auf billige Art
mittels Empirie die Zustimmung der Masse erschlich und die Sache an sich, die
Suche nach Wahrheit und Transzedenz vernachlässigte bzw. sogar boykottierte
(S. 185).
Husserl verfolgte nach der Interpretation von Stumpf das Ziel einer abstrakten
Erkenntnislehre (S. 191). Die Phänomenologie sollte eine „reine oder Transzendentale Phänomenologie (...) als Wesenswissenschaft“ sein und nicht eine „Tatsachenwissenschaft.“19 Als Methode sollte die reine Phänomenologie angewandt
werden, die Erkenntnismethode, die nur nach logischen Schlüssen sucht und sich
von der unvollkommenen Sinneserfahrung von der Hermeneutik ablenken läßt.
Stumpf seht als wichtigste Quelle der Erkenntnisse die Sinnesempfindungen des
Menschen. Ihn interessiert isnbesondere, welche Regeln sich für den Zusam18
In der Erkenntnislehre von Stumpf, 1936 [2012] nimmt die Auseinandersetzung
den überwiegenden Teil von §13 ein, im Speziellen die Seiten 188 bis 206.
19
Alle angegebenen Zitate aus Stumpf, 1936 [2012] an den angegebenen Stellen.
- 25 -
Celibidache und die Musikphänomenologie
menhang zwischen Sinnesempfindungen, inneren Empfindungen und Vorstellungen finden lassen und wie diese Regeln in der Beziehung zur physikalischen Außenwelt stehen. Der Begriff Phänomenologie sollte seiner Ansicht nach nur für
die Untersuchung der Sinneserscheinungen, der Phänomene im engeren Sinn
verwendet werden (S. 188).
Beide Wissenschaftler, Stumpf wie Husserl, folgten den Ideen von Franz Brentano, dem Wiener Philosophen, bei dem Stumpf seine akademische Qualifikation
erlangte. Brentano lässt in seinen Schriften beide Fotrschungsziele nebeneinander gelten – die Suche nach den Gesetzen, die man aus der Erfahrungswelt ableiten kann ebenso wie die Suche nach den übergeordneten, apriorischen Regeln.
Das ist die Linie, die Stumpf verfolgt: Aus der Welt der Sinneserfahrungen Regeln
ableiten, die das Verhalten der Menschen innerlich wie äußerlich bestimmt.
Celibidache und die Musikphänomenologie
Sergiu Celibidache berief sich immer auf Edmund Husserl 20 und die in dessen
Werk vielfach vertretenen Aussagen zur Musik. Die Aussagen von Celibidache
treffen im Allgemeinen diejenigen von Husserl, werden aber immer wieder verändert durch andere Autoren der Phänomenologie. So übernimmt Celibidache
für die Beschreibung von Spannung in der Vorstellung von Musik aus den Arbeiten von Ernst Kurth. 21
Dennoch liegt Celibidache mit seiner eigenen Einstellung unwissentlich beim
empirisch arbeitenden Psychologen Carl Stumpf.
Die erste Lektion, die Studierenden bei Sergiu Celibidache erteilt wurde, bezog
sich auf die Beziehung zwischen dem physikalischen von Musik instrumenten
erezeugten Klang:
Celibidache sprach von der „Doppelten Zugehörigkeit“ des Klangs – der Zugehörigkeit zur Physik und zur Welt des Menschen. 22 Der physikalische Klang musste
vom Menschen angeeignet werden. Aus dem angeeigneten Klang konnte Musik
20
Hauptwerk: Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Husserls Sprache ist sehr von der alten deutshcen
philosophischen Wissenschaftssprache geprägt, so dass der Autor empfiehlt,
zumindest parallel das Buch von Höllwerth, 2007 zur Hand zu nehmen (S. 95 bis
Ende des Buchs).
21
Musikpsychologie, Ernst Kurth, 1931.
22
Siehe ausführlich im parallel entstehenden Werk zur Musikphänomenologie von
Sergiu Celibidache: Bruhn, 2014 i. V.
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Celibidache und Husserl
entstehen, wenn die Klänge zueinander in geeigneter Relation komponiert wurden und zudem in geeigneter Weise zu Erklingen gebracht wurden.
Die Aneignung der Klänge entspricht dem psychologischen Begriff der Wahrnehmung – und zwar sowohl im strukturtheoretischen, konstruktivistische und
handlungstheoretischen Sinne: Wenn ein Musiker sich einem neuen Musikstück
zuwendet, um es für eine Aufführung kennen zu lernen und zu üben, so versucht
er anhand der Noten die Absicht des Komponisten zu eerschließen, das kognitive
Modell der Komposition in sich nachzustellen und nähert sich dem Werk am Klavier mit den Noten und mit Tonaufnahmen von anderen Aufführungen hörend,
sehend und handelnd gleichzeitig.
Die erste Berührung mit dem Klang erfolgt als Empfindung: Sowohl Carl Stumpf
als auch Celibidache verwenden für die bloße Sinnesreizung das Wort Empfindung. Der Musiker nimmt die Sinneswahrnehmung als wahr – Stumpf sagt, dass
für den Mensch die Sinneswahrnehmung als „untrügliche Quelle“ gilt 23 und von
einem hohen Vertrauen in die „Objektivität der Sinneswahrnehmung“ begeleitet
wird.24
Die Klänge aus der physikalischen Welt können zu Musik werden, wenn sie den
geforderten Voraussetzungen genügen: Der Musiker muss die Anforderungen
des Komponisten erfüllen und dem Hörer erlebbar machen. Musik wird als wirklich angesehen, weil wir sie erleben.
Und an dieser Stelle liegt der Widerspruch, den Stumpf seinem Schüler Husserl
ankreidet und der Celibidache in totale Opposition zu Husserl bringt, liegt in dieser Aussage:
„Überall entspricht den mannigfaltigen Daten des reellen, noetischen Gehaltes
eine Mannigfaltigkeit in wirklich reiner Intuition aufweisbarer Daten in einem
korrelativen noematischen Gehalt, oder kurzweg ein Noema (...)“
„Die Wahrnehmung z.B. hat ihr Noema, zuunterst ihren Wahrnehmungssinn, d.
h. das Wahrgenommene als solches (...)“25
Husserl behauptet hier die durchgängige Parallelität von Noesis und Noema, die
unbedingte Verbindung von Wahrnehmung physikalischer Klänge und der Entstehung von Musik. Das hätte Celibidache nie akzeptiert, denn er sagt, dass aus
Noesis Noema werden kann.
Das Erleben ist einem individuellen Bewusstsein unterworfen – das Selbstbewusstsein eines einzelnen Menschen, der versucht, in seiner Umwelt ein erträgli-
23
Stumpf, 1936 [2012], S. 212
24
Stumpf, 1936 [2012], S. 214.
25
Husserl, 1913, § 88. Beide Zitate wörtlich nach Stumpf, 1936 [2012], S. 195/196.
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Celibidache und die Musikphänomenologie
ches Leben zu führen. Alles, was wir erleben, wird auch wirklich bedeutsam und
gewinnt Einfluss auf unser Leben. Im engsten Sinne des Wortes „wirklich“ hat ein
individuelles Erlebnis mehr Einfluss auf das Verhalten von Menschen als Wissen –
daher die besonderes Bedeutung von Wissenserfahrung und Erfahrungswissen.
Die Wahrnehmung schafft also noch keine Wirklichkeit – das eigene Erleben
macht die Wahrnehmung zur Wirklichkeit.
- 28 -
Anhang
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