Franz Feiner Spiritualität als Weg der persönlichen Gestaltwerdung und im sozialen Lebensbereich (erscheint in: Zeitschrift für Gestaltpädagogik 19 (2008) Heft 2. 1. Annäherung an den Begriff „Spiritualität“ Hier kann es nicht um eine De-fini-tion gehen, denn Spiritualität geht über Grenzen (finis) hinaus, sowie sich auch der Geist nicht eingrenzen lässt. Gehen wir aber zunächst nicht auf die lateinische Wortwurzel des Substantivs von Geist (spiritus), sondern auf das dahinter stehende Verb: Dieses heißt spirare = atmen. Für die alltägliche Vorstellung hat Geist mit der Höhe zu tun; atmen hingegen hat mit jedem Lebewesen zu tun, und klingt damit sehr erdig. Für den Schweizer Meditationsmeister Pierre Stutz ist Spiritualität im Alltag verankert, indem er sagt: Wenn wir das, was wir alltäglich tun, bewusst tun, ist das schon Spiritualität. Und ein anderer Meditationsmeister, David Steindl-Rast, sagt: Was wir bewusst und gern tun, ist Spiritualität. Lassen wir also die genannten Aussagen zusammenfließen: Was wir bewusst und gern tun, wo wir durchatmen können, das ist Spiritualität. Die jüngst erschienene Biografie über den spirituellen Meister Willigis Jäger trägt den bezeichnenden Titel „Das Leben ist Religion“ mit dem Untertitel „Stationen eines spirituellen Weges“. Und dies wird begründet: „’Religion ist das Leben und das Leben ist Religion’. Immer wieder kommt Willigis Jäger auf dieses zentrale Motiv seiner spirituellen Praxis und Lehre zurück … Wenn das individuelle Dasein gar nichts anderes ist als die Gestaltwerdung Gottes in bestimmter Gestalt, dann liegt es auf der Hand, dass der Sinn des Daseins genau darin liegt, diese göttliche Wirklichkeit, die es seinem Wesen nach ist, für sich und in sich zu realisieren: zu Bewusstsein zu bringen und aus diesem Bewusstsein zu leben. Ein Leben aus dem Bewusstsein seiner göttlichen Herkunft aber ist Religion: Religion ist das Leben, und das (mehr oder weniger gelingende) Leben ist Religion“ (Quarch 2005, 9). In meinem Artikel geht es also grundsätzlich um eine offene Sicht einer Spiritualität, die nicht auf eine bestimmte Religion eingeschränkt ist. – Ich bringe aber auf Grund meiner eigenen Sozialisation und beruflichen Basis als Religionspädagoge an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Graz auch Beispiele aus dem christlichen / biblischen Bereich; vieles lässt sich aber relativ leicht auf andere Religionen übertragen. 2. Drei menschliche Dimensionen In einem Text von Pierre Stutz mit dem Titel „Morgensegen“ geht es um drei Dimensionen des Lebens: stehen, atmen und empfangen. Dieser Segen ist für mich und meine Frau zu einem morgendlichen Ritual geworden, uns diesen Text im Sprechen einander zu schenken bzw. schenken zu lassen und bewusst und freudig die Haltungen zu vollziehen. Morgensegen Jeden Morgen mich in die Mitte des Zimmers stellen dastehen zu mir stehen. Jeden Morgen vor aller Leistung mich erinnern dass Leben ein Geschenk ist - 1 tief ein- und ausatmen aus dem Urvertrauen heraus dass Gott in mir atmet und ich dadurch mit der ganzen Schöpfung verbunden bin. Jeden Morgen mich neu segnen lassen im Dastehen mit offenen Händen im Genießen der Zärtlichkeit im Staunen über die alltäglichen Wunder. (Pierre Stutz, in: Wünschen und Segnen, 12) Meditieren wir diese drei Dimensionen des Menschseins: a) Stehen ist uns Erwachsenen so selbstverständlich. Wir denken nicht mehr daran, wie mühsam es mit ca. einem Jahr war, den aufrechten Gang zu lernen. Immer wieder hinfallen und aufstehen. Den Mut nicht verlieren. Jetzt können wir stehen und wir tun es, als ob es die selbstverständlichste Sache der Welt wäre. Dabei war es ein langer Lernprozess (im Vergleich mit den anderen hoch entwickelten Säugetieren, die schon bei der Geburt aufrecht stehen können) und es ist auch nicht für jeden selbstverständlich; z.B. Querschnittgelähmte sind Jahre und Jahrzehnte auf den Rollstuhl angewiesen; sie können nicht stehen und schon gar nicht gehen. Z.B. war mein Schwiegervater 15 Jahre querschnittgelähmt. Und er hat es kaum verkraftet, nach seiner Wirbelsäulenverletzung ganz auf andere angewiesen zu sein, ihnen eine „Last“ zu sein und er äußerte oft „am liebsten sterben“ zu wollen. b) Atmen ist uns meist noch selbstverständlicher als das Stehen. Der Atem fließt ohne unser Zutun. Wir müssen dazu nicht etwas leisten, nicht aktiv sein. Und: Wir können uns verbunden wissen mit anderen Geschöpfen, die atmen: Mitmenschen, Tiere und auch Pflanzen. Wir können uns erinnern, was die Bibel über den Lebensbeginn sagt: dass der Lebensatem dem Adam (klingen diese Worte nicht ähnlich?) eingehaucht wird – wie mit einem Kuss hat unser Leben begonnen (vgl. Gerjolj 2006). Ist das nicht eine wunderbare Deutung: Unser Leben hat mit Beziehung begonnen: das Leben der Menschheit als ganzer und das Leben des einzelnen. Mit dem zweiten Teil des Morgensegens spüren wir nach, dass – da Gott seinen Atem uns eingehaucht hat – er in mir und auch in den Mitgeschöpfen atmet, dass ich also durch diesen göttlichen Hauch verbunden bin mit allem, was atmet. Dass es Gott ist, der in mir atmet, ist uns Christen vertraut, nicht aber den Moslems, die Gott nicht „in uns“, sondern als rein transzendentes Wesen sehen. Wollte man diesen Segen mit Moslems sprechen, wird man Widerstand ernten (wie es mir vor einem Jahr bei einer Tagung passiert ist). c) Die Haltung der offenen Hände zu üben tut uns gut. – Wir sind eher gewohnt hart zuzupacken, etwas zu leisten, zu schaffen und damit uns mit unserem Werk und Tun als höchst wichtig zu betrachten. Die Leistungsfähigkeit des Menschen ist zwar sehr wertvoll, doch nicht das einzige, das Menschsein ausmacht. Vielleicht ist das Feiern der Geburtstage ein Zeichen dafür, dass die Menschen heute nicht nur Leistungsträger sein wollen, sondern dass sie dankbar sind für die Grundlage, das Leben. Also können wir es als Segen empfinden, stehen und atmen zu können und uns als Empfangende zu erleben. Diese Haltung bewusst zu üben, ist Spiritualität, sagt Pierre Stutz. 2 3. Aus den eigenen Quellen schöpfen – Tiefen- bzw. Transzendenzbeziehung in „Geist und Wahrheit“ – d.h. unabhängig von institutioneller Religion Die Wunden anzuschauen und aufzuarbeiten, sich noch einmal in sie hineinzuspüren, damit sie sich wandeln können, Verletzungen anzuschauen und sich auszusöhnen mit seiner – verwundeten – Lebensgeschichte, ist hauptsächlich der Weg der Therapie. „Das ist ein wichtiger Weg. Aber wir dürfen dabei nicht stehen bleiben. Wir dürfen nicht immer nur fragen, was uns krank gemacht hat, sondern sollten genauso auch untersuchen, was uns denn gesund macht ...“ (Grün 1998, 11). Einerseits zeigt der Benediktinermönch und Erfolgsautor in Sachen spirituelle Bücher den Weg der Therapie (Wunden anschauen und aufarbeiten) auf, andererseits empfiehlt er den Weg der Freude und damit der Ressourcen. Grün empfiehlt, nach Spuren der eigenen Lebensgeschichte zu suchen, die von Freude und Lebendigkeit geprägt waren, sich der Erlebnisse zu erinnern, „in denen wir voll Freude und Fröhlichkeit waren, in denen wir so richtig die Lust am Leben gespürt haben. Solche Spuren ... können unsere Wunden ... oft besser heilen als das ständige Kreisen um die Kränkungen, die wir erfahren haben" (Grün 1998, 11f.). Anselm Grün greift eine Idee von Verena Kast auf, die „eigene Freudenbiografie“ zu schreiben, um mit den heilenden Kräften in uns in Berührung zu kommen; das ist „eine Art Selbsttherapie, die wirksamer sein kann als Jahre qualvoller Fremdtherapie." (Grün 1998, 21f.) A. Grün vertritt die Auffassung, dass dort, wo einer sich lebendig fühlt, wo seine Energie zu strömen beginnt, er auch Gott begegnet und seine ureigenste spirituelle Spur entdeckt (vgl. Grün 1998, 25) Die Spur der Lebendigkeit - Die Spur meiner ureigensten Spiritualität A. Grün lädt v.a. seine ausgebrannten Klienten ein, „die Spur ihrer Lebendigkeit zu entdecken. Dort, wo einer sich lebendig fühlt, wo seine Energie zu strömen beginnt, dort begegnet er auch Gott, dort kann er auch seine ureigenste spirituelle Spur entdecken" (Grün 1998, 25). Er stellt die Frage, wo er sich als Kind am wohlsten gefühlt habe, wo er sich als Kind lebendig erlebt und was er am liebsten getan hat, wo er sich als Kind gefreut hat (vgl. Grün 1998, 26f.). "Ich bin überzeugt, dass ein Kind von sich aus genau den Weg findet, auf dem es auch in schwierigen Verhältnissen leben kann ... dann tut es ihm jetzt gut, dann sprudelt auf einmal eine Quelle von Freude in ihm auf, die echter und tiefer ist als alles ... Da keimt auf einmal Hoffnung auf, dass das Leben doch gelingen kann, die Ahnung, dass in einem selbst ja ein kerngesunder Lebenskeim liegt, der nur auf die Entfaltung wartet“ (Grün 1998, 27f.). Für Anselm Grün als geistlichen Begleiter ist diese Spur der Selbsttherapie immer auch eine Spur der ureigensten Spiritualität. „Da hilft es oft, die urpersönlichste Spur zu entdecken, auf der man als Kind Gottes Nähe erfahren hat, auf der man sich am wohlsten gefühlt hat. Denn dort, wo ich mich als Kind ganz im Einklang mit mir und der Welt gefunden habe, dort war ich auch eins mit Gott" (Grün 1998, 29). A. Grün berichtet von einer Frau, die immer allen alles recht machen wollte und sich ihr ganzes Leben überfordert fühlte. Auf die Frage, wo sie sich als Kind am wohlsten gefühlt habe, meinte sie, "sie habe sich als Kind oft Höhlen in das Heu oder Stroh gegraben und habe sich darin zurückgezogen. Da hat sie sich richtig wohl gefühlt. Da war sie geschützt. Da konnte sie kein Konflikt erreichen. Da konnte niemand mit ihr schimpfen. Da hat sie sich richtig lebendig gefühlt, da war Lebensfreude. Da war sie ganz bei sich, mit sich in Einklang. Die Höhle ist ja ein Symbol für den Mutterschoß. Es war eine gesunde Regression, die das Kind da für sich als Lebensspur entdeckt hat. Und sie hat noch einen anderen Weg gefunden Sie ist gerne auf eine große Linde geklettert, die vor ihrem Haus stand. Dort konnte man sie nicht sehen. Dort konnte sie von oben alles beobachten. Da hat sie sich richtig frei gefühlt. Und zugleich hat sie sich größer gefühlt als die Menschen ... Die 3 Höhle und der Baum sind zum einen mütterliche Symbole, zum anderen haben sie auch eine religiöse Bedeutung. Sich in eine Höhle zurückziehen kann auch heißen: Gott als Schutzraum erfahren, bei Gott daheim sein, in Gott Heimat und Geborgenheit erleben. Gott schützt diese Frau vor der bedrohenden Nähe der Menschen, die ständig etwas von ihr wollen ... Nicht der Gott, dem sie alles recht machen muss ..., sondern der Gott, bei dem sie geborgen ist, bei dem sie sein darf, wie sie ist, geschützt und frei, geborgen und daheim, dieser 'Höhlengott' wird sie heute heilen und ihr den Raum schenken, in dem sie regenerieren kann. Natürlich ist das mütterliche Bild der Höhle auch ein einseitiges Gottesbild. Es braucht auch den Gegenpol des Exodusgottes ... Aber für ihre jetzige Situation braucht sie dieses mütterliche Gottesbild, damit sie aufhört, sich zu überfordern, damit sie sich in Gottes liebende Arme fallen lassen kann" (30f.). Und Grün schildert ein weiteres Beispiel: "Ein Mann hatte als Kind in seiner desolaten Familie kein Vertrauen gelernt ... (er) erinnerte sich, wie er als Kind am liebsten zum Rhein gegangen ist. Dort konnte er stundenlang sitzen, auf das Wasser schauen und sich den eigenen Gedanken und Träumen überlassen ... Er hat als Kind unbewusst das Wasser gesucht. Aber jetzt ist es wichtig, sich das unbewusste Tun bewusst zu machen und es genauer anzuschauen. Nur dann wird es fruchtbar für heute. Das Wasser, das strömt und strömt, beruhigt. Es relativiert alles, was wir erlebt haben. Es zeigt uns, dass alles vergeht, dass alles wegfließt. Genauso floss das Schimpfen des Vaters oder das Schreien der Mutter weg. Es hatte keine Macht mehr über ihn ... Das fließende Wasser ist ein Symbol des Lebens und der Lebenserneuerung ... Die Spur des Wassers, das immer fließt, als Bild seiner Spiritualität ... Er muss ja Gott nicht zuerst als Person sehen. Gott ist Leben, strömendes Leben, fließende Liebe ... Bevor er sich damit quälte, Gott als Person zu denken, sollte er in der Beobachtung des fließenden Wassers Gott als die Quelle allen Seins entdecken, als die Quelle, die auch in ihm sprudelt und das Leben in ihm zur Blüte bringt ... Vielleicht erkennt er dann, was es heißt, dass Gott als die Quelle des Seins sich auch in Worten ausdrückt, die wir verstehen können, in Worten der Liebe, die von einem Du kommen und uns als Du ansprechen.“ (Grün 1998, 36 – 38) Für A. Grün ist die Spur zur eigenen Lebendigkeit in der Kindheit „eine Spur hin zu der Spiritualität, die für mich stimmt, die aus meiner eigenen Person herauswächst und mich genauso untrüglich zu Gott führen wird, wie sie mich als Kind zum Leben gebracht hat." (Grün 1998, 43ff.) Will nicht auch Jesus die Menschen dorthin führen, ihre eigene Spiritualität zu entdecken? Betrachten wir die Begegnung mit der Frau am Jakobsbrunnen (Joh 4,542) “Unterwegs kam er (Jesus) in die Nähe des Dorfes Sychar, das nicht weit von dem Feld entfernt liegt, das Jakob einst seinem Sohn Josef vererbt hatte. Dort befand sich der Jakobsbrunnen. Jesus war von dem langen Weg müde geworden und setzte sich an den Brunnen. Es war gegen Mittag. Da kam eine samaritische Frau zum Wasserholen. Jesus sagte zu ihr: »Gib mir einen Schluck Wasser!« Seine Jünger waren ins Dorf gegangen, um etwas zu essen zu kaufen. Die Frau antwortete: »Du bist ein Jude, und ich bin eine Samariterin. Wie kannst du mich da um etwas zu trinken bitten?« … Jesus antwortete: »Wenn du wüsstest, was Gott den Menschen schenken will und wer es ist, der dich jetzt um Wasser bittet, dann hättest du ihn um Wasser gebeten, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben.« »Herr, du hast doch keinen Eimer«, sagte die Frau, »und der Brunnen ist tief. Woher willst du dann das lebendige Wasser haben? Unser Stammvater Jakob hat uns diesen Brunnen hinterlassen. Er selbst, seine Söhne und seine ganze Herde tranken daraus. Du willst doch nicht sagen, dass du mehr bist als Jakob?« Jesus antwortete: »Wer dieses Wasser trinkt, wird wieder durstig. 4 Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird in Ewigkeit keinen Durst mehr haben. Ich gebe ihm Wasser, das in ihm zu einer Quelle wird, die bis ins ewige Leben weitersprudelt.« »Herr, gib mir von diesem Wasser«, bat die Frau, »dann werde ich keinen Durst mehr haben und muss nicht mehr hierher kommen, um Wasser zu schöpfen.« Jesus sagte zu ihr: »Geh und bring deinen Mann her!« »Ich habe keinen Mann«, sagte die Frau. Jesus erwiderte: »Es stimmt, wenn du sagst: 'Ich habe keinen Mann.' Fünfmal warst du verheiratet, und der, mit dem du jetzt zusammenlebst, ist nicht dein Mann. Da hast du die Wahrheit gesagt.« »Herr, ich sehe, du bist ein Prophet«, sagte die Frau. »Unsere Vorfahren verehrten Gott auf diesem Berg. Ihr Juden dagegen behauptet, dass Jerusalem der Ort ist, an dem Gott verehrt werden will.« Jesus sagte zu ihr: »Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, in der ihr den Vater weder auf diesem Berg noch in Jerusalem anbeten werdet ... Aber die Stunde kommt, ja sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit …« Die Frau sagte zu ihm: »Ich weiß, dass der Messias kommen wird, der versprochene Retter. Wenn er kommt, wird er uns alles sagen.« … In diesem Augenblick kehrten seine Jünger zurück. Sie wunderten sich, ihn im Gespräch mit einer Frau anzutreffen. Aber keiner fragte ihn: »Was willst du von ihr?« oder: »Worüber redest du mit ihr?« Die Frau ließ ihren Wasserkrug stehen, ging ins Dorf und sagte zu den Leuten: »Da ist einer, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe. Kommt mit und seht ihn euch an! Ist er vielleicht der versprochene Retter?« Da gingen sie alle hinaus zu Jesus … Viele Samariter in jenem Ort kamen zum Glauben an Jesus, weil die Frau bezeugt hatte: »Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe.« Als sie nun bei Jesus eintrafen, baten sie ihn zu bleiben, und er verbrachte zwei Tage bei ihnen. Da kamen noch viel mehr von ihnen zum Glauben aufgrund seiner Worte. Sie erklärten der Frau: »Jetzt glauben wir nicht länger wegen deiner Erzählung, sondern weil wir ihn selbst gehört haben. Wir wissen jetzt: Er ist wirklich der Retter der Welt.« (Joh 4, 5 – 42; Übersetzung nach: Gute Nachricht) Auf dem Brunnenrand sitzend – in der Mittagshitze – geschieht dieses heilsame Gespräch. Jesus fordert sie auf, ihm zu trinken zu geben – dies löst bei ihr natürlich Verwunderung aus. Es scheint ihr schwer zu fallen zu glauben, dass sein Durst größer ist als der Stolz eines jüdischen Mannes. Seine Antwort scheint nur aus einem Stolz zu kommen; denn würde sie ihn bitten, gäbe er ihr lebendiges Wasser. Dies wirkt auf sie, als sei sein Wasser das wertvollere als das ihre. Darauf beruft sie sich auf die gemeinsame Vergangenheit, auf den Vater und Brunnenbauer Jakob, der auch ihr etwas Selbstbewusstsein gibt. Jesus beharrt auf seinem Wasser, das den Durst auf Dauer stillt. Darauf erbittet die Frau solches Wasser, "damit ich nicht mehr durstig werde und nicht mehr hierher kommen muss, um Wasser zu schöpfen" (V 15). Sie folgt nicht der Hintergründigkeit Jesu, sondern bleibt also beim Konkreten. Darauf verlangt Jesus sehr konkret, sie solle ihren Mann holen. Damit trifft er ihren wunden Punkt. Doch Jesus verurteilt den Lebenswandel der Frau nicht, sondern versteht ihn als Ausdruck eines tiefen Verlangens nach Halt, einer unendlichen Sehnsucht nach Annahme und Geborgenheit, als Ausdruck eines ungestillten Durstes nach Liebe (vgl. Fischedick 1988, 149). Die Frau begreift, dass er ihr das Leben und ihre menschliche Not durchsichtig macht. Sie fühlt sich zutiefst verstanden. Er muss also ein Prophet sein. Ihr Leben wird geöffnet auf den Grund, der wirklich tragfähig ist: auf Gott. Die Frau spürt, dass dies anders geschieht „als auf den amtlichen Wegen herkömmlicher Religion. Die Frau spürt diesen Widerspruch: 'Unsere Väter haben ... und ihr sagt ...' (4,20). Darum versucht Jesus, sie behutsam aus der Abhängigkeit von Autoritäten zu lösen, damit sie statt dessen 'im Geist und in der Wahrheit' (4,23) unmittelbar und aufrichtig Gott begegnen kann. " (H. Fischedick 1988, 150). 5 Spiritualität bedeutet, den eigenen inneren Raum als heiligen Raum wahrzunehmen. 4. Von alten Meistern Spiritualität lernen MeisterInnen der Spiritualität finden sich vielfach in Klöstern; alltäglich schwingen sie sich in den Rhythmus des Lebens ein. Vom Lob Gottes am frühen Morgen (Laudes) bis hin zur abendlichen Vesper strukturieren die Gebetszeiten den Tag: Die Arbeit im Lauf des Tages bekommt dadurch kein Übergewicht. So kann die in der Welt immer stärker werdende Sucht und Krankheit des Workoholismus nicht Fuß fassen. Die Balance zwischen ora et labora, zwischen Kontemplation und Arbeit bewirkt ein persönliches Lebensgleichgewicht. Wobei auch ein Übergewicht und Einseitigkeit des Geistigen, des Betens problematisch ist; es gilt, den Himmel nicht nur oben zu suchen, sondern ihn als „geerdeten Himmel“ auf der Erde realisieren zu helfen. Als Beispiel, um diese Verknüpfung von Meditieren und Handeln zu lernen, kann die Geschichte vom brennenden Dornbusch (Ex 3) gelten. Mose hütete die Schafe und Ziegen seines Schwiegervaters Jitro, des Priesters von Midian. Als er die Herde tief in die Wüste hineintrieb, kam er eines Tages an den Berg des ELOHIM, den Horeb. Dort erschien ihm der Engel des JHWHs in der Herzstelle eines Feuers aus der Mitte des Dornbuschs. Und er sah, und da! Der Dornbusch brannte, aber der Dornbusch wurde doch nicht vom Feuer verzehrt. Und Mose sprach: „Ich will mich doch abkehren und das dieses große Gesehene sehen, weshalb sich der Dornbusch nicht aufzehrt.“ Als aber JHWH sah, dass er sich abkehrte, um zu sehen, da rief zu ihm hin der ELOHIM aus der Mitte des Dornbuschs und sprach: »Mose! Mose!« Und er sprach: »Da bin ich.« Und er sprach: »Nicht nahe hierher! Streife deine Sandalen ab von deinen Füßen, denn der Ort, auf dem du stehst, er ist Erde des Heiligen. Und er sprach »Ich bin der ELOHIM deines Vaters, der ELOHIM Abrahams, der ELOHIM Isaaks und der ELOHIM Jakobs.« Da verbarg Mose sein Angesicht, denn er fürchtete, zu dem ELOHIM zu blicken. JHWH aber sprach: »Gesehen, ja gesehen habe ich die Demütigung meines Volks in Ägypten und gehört, ja gehört habe ich seine laute Klage gegen seine Antreiber, denn ich erkannte seine Schmerzen. Ich bin herabgekommen, um es von seinen Unterdrückern zu befreien. Ich will es aus Ägypten führen und in ein fruchtbares und großes Land bringen, ein Land, das von Milch und Honig überfließt … Ich habe den Hilfeschrei der Leute von Israel gehört, ich habe gesehen, wie grausam die Ägypter sie unterdrücken. Deshalb geh jetzt, ich schicke dich zum Pharao! Du sollst mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten herausführen.« (Ex 3, 1 – 10 – nach Übersetzung: Die Geschriebene) Mose wollte in dem „mystischen Erlebnis schwelgen, darin verweilen. Aber der Herr riss ihn kurzerhand heraus und gab ihm unvermittelt den Auftrag zu einer Mission: ‚Komm nicht näher … Geh vielmehr! Ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten heraus! … Ich bin bei dir; ich habe dich gesandt!’“ (Bühlmann 1989, 206). Wenn die Glocke oder das Semantron ruft, lässt der Mönch / die Nonne die Arbeit liegen und geht zum Gebet. Monotones, rhythmisches Rezitieren der Psalmen ermöglicht eine Meditation, wo nicht immer alles kognitiv gedeutet wird. Vor allem das Teilnehmen am Chorgebet in einem fremden Land, in einer fremden Sprache bewirkt ein Meditieren, das wir im Westen vom Rosenkranzgebet und im Osten mit den Mantras kennen. Ich habe auf dem Berg Athos die Erfahrung gemacht, dass ein mehrere Stunden dauerndes Gebet einen gleichsam in eine Geborgenheit wiegen kann, die im Kyrie eleison oder Gospodi pomiluj eine inhaltliche Fundierung hat. Das Erbarmen leitet sich im Hebräischen vom Begriff rehem = Mutterschoß ab; die Mehrzahl, also rehamim, also die 6 Fülle der „Mutterschöße“ wird im Deutschen mit Erbamen übersetzt. Κυριοζ, moi Gospod, erbarme dich und beherrsche mich, nimm mich hinein in deinen Herrschaftsbereich, deine βασιλεια, dein Königreich! Errichte mit meiner Hilfe die βασιλεια του θεου! Nimm uns alle auf in dein Erbarmen, pomiluj – erbarme dich, nimm uns auf in deinen Mutterschoß, wie einst Lazarus! Schenke der Menschheit Geborgenheit in dir, in deinem mütterlichen rehamim! (FF, Athos, 9.1.2004) Auf dem Heiligen Berg, dem Berg Athos, ist – wie auch in weiten Teilen der Ostkirche das Jesusgebet oder Herzensgebet, verbreitet; ein Gebet, bei dem ununterbrochen der Name Jesu Christi angerufen wird. Verrichtet wird das Jesusgebet üblicherweise an einer Gebetsschnur, griechisch Komboskini und russisch Tschotki genannt. Die geschlossene Schnur steht als Zeichen für das nie endende klösterliche Gebet. Es gibt keinen einheitlichen Gebetstext. Die Form Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner ist bereits im 6. Jahrhundert belegt. Dabei geht der Ursprung auf den blinden Bettler Bartimäus aus Jericho zurück: Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner (Mk 10,47). Am häufigsten wird der Text „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner“ verwendet. Die Einübung erfolgt in drei Schritten, die jeweils bei den meisten Menschen mehrere Jahre dauern werden: a) Häufiges mündliches Rezitieren: Der Gebetstext wird laut gesprochen oder zumindest mit den Lippen geformt. Man achte, andere Aspekte des Lebens, wie etwa Arbeit und tätige Nächstenliebe, nicht wegen der Übungen zu vernachlässigen. b) Innerliches Beten: Jetzt kann bewusst auf die Atmung beim Gebet geachtet werden, also beim Einatmen etwa Herr Jesus Christus, Sohn Gottes und beim Ausatmen erbarme dich meiner gebetet werden. c) Selbständiges Beten im Rhythmus von Atmung und Herzschlag: Das Gebet ist so sehr verinnerlicht, dass es gleichsam automatisch mit jedem Atemzug oder Herzschlag gebetet wird; es kommt aus dem Unterbewusstsein hoch und anfangs ist man erstaunt, da man sich plötzlich innerlich beten hört, ohne das Gebet willentlich "angeschaltet" zu haben. Das Jesusgebet hat sich verselbständigt. Ich kann aus meiner persönlichen Erfahrung sagen, wie mein Herz, das manchmal zu sehr in Hektik kommt, sich mit dem Herzensgebet beruhigt. Allein diese gesundheitliche Wirkung bei Stress sollte gerade in heutiger Zeit nicht unterbewertet werden. Die innerliche Ruhe weckt eine Bereitschaft, auf Rufe hin offen zu werden und sich auf den Mitmenschen und auf Gott hin zu öffnen. Die Aussage einer Kursteilnehmerin hat mich zutiefst berührt: Bei einem Ausbildungskurs für Gestaltpädagogik in Slowenien haben wir eines Morgens das Jesus-Gebet kennen gelernt und geübt. In einer weiteren Einheit wurde die Geschichte von der Ehebrecherin in Joh 8 gespielt. Dabei nahm eine Teilnehmerin die Rolle der Ehebrecherin ein, alle anderen die Masse, die sie extrem beschuldigte und ihr höchst lautstark die rhythmischen Rufe und Anschuldigungen entgegenschleuderte. Die Teilnehmerin war in ihrer Rolle so gefasst, selbst die wildesten Rufe und 7 Beschuldigungen konnten sie nicht aus der Ruhe bringen. In der Reflexion antwortete sie auf die Frage, warum sie so ruhig bleiben konnte: „Wir haben ja in der Früh das Jesus-Gebet geübt. Ich habe im Atemrhythmus immer wieder gebetet: Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner.“ 5. Rituale für mich persönlich Zum Begriff Ritual: „Das Wort Ritual leitet sich aus dem altindischen rta’ ab, das unter anderem für Wahrheit steht. Ein Ritual ist das bewusste, mit ganzem Herzen und ganzem Körper vollzogene Anerkennen der Wahrheit, wie sie sich uns jetzt zeigt. Gerade wenn wir die Wirklichkeit sehr bewusst in einem Ritual annehmen, gewinnt sie eine gute Gestalt, und Lösungen entfalten ihre größte Kraft“ (Rohner 2005, 59). Es ist persönlich wertvoll und tut gut, ein eigenes Ritual zu finden und auch zu realisieren. „Einfache spirituelle Alltagsübungen können eine Hilfe sein, im Alltäglichen das Wunderbare zu entdecken – und sie helfen dazu, nicht länger fremdbestimmt zu leben, gelebt zu werden, sondern mehr aus der eigenen Mitte heraus zu leben … Natürlich besteht auch die Gefahr, dass ein Ritual zur entleerten Gewohnheit, zum Automatismus wird. Um dem entgegenzuwirken, brauchen wir ein waches Auge, uns selbst und unsere Mitwelt bewusst wahrzunehmen. So bleiben wir lebendig, spüren, ob uns dieses Ritual (noch) gut tut, und entwickeln uns weiter“ (Stutz 2001, 10.12). Nachfolgend einige einfache Beispiele für solch bewusstes, ganzheitliches Einüben in Alltag und Wahrheit. Sie wollen lediglich Impuls und Anstoß sein, dass jede/r seine/ihre eigenen Rituale entwickelt. a) Mein persönliches Morgenritual finden und leben - Mit dem „rechten Fuß“ aufstehen, d.h. mit einer positiven Einstellung in den Tag treten. - Gymnastik – in Bewegung kommen - Waschen / Duschen: Müdigkeit und Schmutz wegwaschen und rein in den neuen Morgen gehen - Spruch, der Mut macht, z.B. „Der Tag wird gelingen“; „An diesem Tag freue ich mich auf …“ - Summen / Tönen: Sich in den Tag ein-stimmen - Lied / Psalm - „Gedanken zum Tag“ - Bibelstelle des Tages – Losung für den Tag bzw. Lesung, Psalm, Evangelium (vgl. Kloster: Stundengebet: Laudes) b) Morgenritual mit dem Partner / der Partnerin Ein für beide wertvolles Ritual suchen, das gut tut; eine gemeinsame Verankerung im Leben und in der Tiefe suchen. (Bsp. Kuss / Guten-Morgen-Gruß / Morgensegen / Bibelstelle des Tages …) c) Schule / Kindergarten - Morgenkreis (Vgl. Marchtaler Plan, Eggenberger Plan) - In christlichen Gemeinschaften ist es üblich, mit dem Morgengebet zu beginnen - Rhythmisierung / Harmonisierung / „körperliche Synchronisierung“ (Schmid 1997, 28ff.) d) Informelle Gemeinschaften / Kurs / Vortrag / Konferenz Auch hier ist eine Rhythmisierung wichtig – sich gemeinsam auf Fragen / ein Thema / einen Inhalt einschwingen 6. Conclusio 8 Wir fragten uns: was macht meine individuelle und soziale Gestalt aus bzw. was ist der Beitrag der Spiritualität zu meiner eigenen Gestaltwerdung? Zum Menschsein gehört (neben der Sprache u.a. auch Dimensionen wie) - das Stehen können (vgl. Gollwitzer 1974) - das Atmen, das uns mit anderen Geschöpfen gemeinsam ist und - die Fähigkeit und Bereitschaft, etwas anzunehmen. Gestalten wir die Bereiche des Menschseins in bewusster Weise (P. Stutz) und auch gerne (D. Steindl-Rast) nähern wir uns immer mehr der eigenen Gestalt. Dazu gehört das Entdecken der eigenen Ressourcen, d.h. die Entdeckung der in der Kindheit fließenden Quellen und grundgelegten Kräfte, die oft umso stärker entwickelt sind, je mehr Schwieriges zu meistern war. Die eigenen Quellen und Kräfte nicht verkümmern lassen, sondern entwickeln – in einem Ritual zu verankern, sei empfohlen und ans Herz gelegt. So dient die Spiritualität der eigenen Gestaltwerdung – im individuellen und sozialen Leben. Verwendete und weiterführende Literatur: Bucher, Anton (2007): Psychologie der Spiritualität. Handbuch Weinheim: Beltz Bühlmann, Walbert (2. Aufl. 1989): Wer Augen hat zu sehen … Was Gott heute mit uns Christen vorhat, Graz – Wien – Köln: Styria Die Geschriebene (1998 – 3. Aufl.), hgg. von F. H. Baader, Schömberg. Fischedick, Heribert (1998): Aufbrechen. Schuld als Chance, München: Kösel Fischedick, Heribert (2004): Die Kraft der Rituale. Lebensübergänge bewusst erleben und gestalten, Stuttgart: Kreuz-Verlag Gerjolj, Stanko (2. Aufl. 2006): Živeti, delati, ljubiti, Celje Gollwitzer, Helmut (1974): Krummes Holz, aufrechter Gang. Zur Frage nach dem Sinn des Lebens, München: Kaiser Grün, Anselm (1997): Geborgenheit finden – Rituale feiern. Wege zu mehr Lebensfreude, Stuttgart: Kreuz-Verlag Grün, Anselm (1998): Die eigene Freude wiederfinden, Stuttgart: Kreuz-Verlag Gute Nachricht (1997): Bibel. Revidierte Fassung 1997 der "Bibel in heutigem Deutsch" Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft Jungclaussen, Emmanuel (Hrsg.) (2000): Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers. Freiburg i.Br.: Herder Kast, Verena (1997): Freude, Inspiration, Hoffnung, München: dtv Quarch, Christoph (Hrsg.) (2005): Willigis Jäger. Das Leben ist Religion. Stationen eines spirituellen Weges, München: Kösel Rohner-Dobler, Felix (2006): Familien brauchen Väter. Ermutigungen und Rituale, München: Kösel Schmid, Hans (1997): Die Kunst des Unterrichtens. Ein praktischer Leitfaden für den Religionsunterricht, München: Kösel Stutz, Pierre (2000): Heilende Momente, Gebärden – Rituale – Gebete, München: Kösel Stutz, Pierre (4. Aufl. 2001): Ein Stück Himmel auf Erden. Sieben Schritte zu mehr Lebendigkeit, Freiburg – Basel – Wien: Herder Stutz, Pierre (2001): 50 Rituale für die Seele, Freiburg – Basel – Wien: Herder Wünschen und Segnen, hgg. vom Familienreferat der Diözese Graz-Seckau (o.J.): Graz: Diözese Graz-Seckau Stand: 08.06.2008 21:54:55 9