Prof. Dr. Josef Freise Nur für den persönlichen Gebrauch!! Leben mit kultureller und religiöser Vielfalt: Chancen und Spannungen 1. Statistische Daten In Deutschland sind 31,5% katholisch, 30,8% protestantisch, 29% ohne Konfession, 4% Muslime, 0,8% neue rel. Bewegungen, 0,3% Buddhisten, 0,2% Juden, 0,12% Hindus. In Ostdeutschland sind über 70% konfessionslos, aber 32% der Konfessionslosen bezeichnen sich als religiös (Bertelsmann Stiftung 2013). Im Jahr 1950 waren in der Bundesrepublik Deutschland (also ohne die DDR) 96,4 % der Bevölkerung Mitglied einer der beiden Kirchen. 2. Der Kulturbegriff Kultur umfasst nach der Definition der UNESCO (19829 nicht nur die „Hochkultur“ (Literatur, Musik, Theater, bildende Kunst), sondern auch die „Alltagskultur“ mit ihren Ritualen und Gewohnheiten. Kulturelle Muster sind "der Stock eines in der kommunikativen Praxis bewährten Wissens" (Habermas). Kulturelle Gewohnheiten sind entlastend, weil selbstverständlich, können aber auch einengend sein, wenn sie zu einem „eingefahrenen“ Denken und Handeln führen. 3. Der Religionsbegriff Religion als re-ligio (Rück-Bindung) ist ein vom Christentum geprägter westlicher Begriff, ohne Entsprechung in den außereuropäischen Sprachen Religion kann definiert werden als der Teil der Lebenswelt von Menschen, durch den Menschen in Verbindung mit dem Unsagbaren, Transzendenten, Göttlichen einen Sinn erfahren, Bindungen an Werte eingehen, die ihrem Leben angesichts von schwierigen Erfahrungen wie Leid, Krankheit, Tod und angesichts von beglückenden Erfahrungen (Liebe, Zuwendung) Sinn vermitteln. 4. Die Kritik an der Religion in der europäischen Moderne Ludwig Feuerbach kritisiert die Religion als menschliche Projektion: Der Mensch erschafft seinen Gott selbst und projiziert in ihn all die Eigenschaften, die eigentlich den vollkommenen Menschen selbst bestimmen sollten. Das Leben als solches hat für Feuerbach eine religiöse, heilige Bedeutung, und es braucht keinen Gott, der über allem wacht. Karl Marx baut auf Feuerbach auf. Religion wird als Ideologie entlarvt, die in der Klassengesellschaft die Herrschaftsverhältnisse zementiert („Seid der Obrigkeit untertan!“) und die Unterdrückten auf ein Jenseits nach dem Tod vertröstet. Insofern ist Religion das Opium des Volkes, die Droge, die das unerfüllte Leben der Untertanen erträglich macht und ein Aufbegehren verhindert. Sigmund Freud hatte ein ambivalentes Verhältnis zur Religion. Er bezeichnete sie einerseits als universelle Zwangsneurose und sah sie andererseits als Mittel zum notwendigen Triebverzicht. Kulturbildung erfordert Triebverzicht. Menschen brauchen Schranken, um Inzest, Kannibalismus und Mord kulturell zu überwinden. Freud machte auf drei fundamentale Kränkungen aufmerksam, die religiöse Menschen durch die Wissenschaft erfuhren: - die Kränkung durch die kopernikanische Wende, nach der die Erde nicht mehr Mittelpunkt des Kosmos ist, - die Kränkung durch Charles Darwin, der den Menschen als Produkt einer natürlichen Evolution und als Mitglied der Familie der Primaten begriff, und - die Kränkung durch die Tiefenpsychologiemit der Erkenntnis, dass der Mensch vom Unterbewusstsein geprägt wird, indem er nicht Herr im eigenen Haus ist (Freud 1969, 283 f). 5. Vorurteile und Rassismus in Deutschland Rassismus kann definiert werden als eine Praxis der Unterscheidung von Menschen und Gruppen, wobei die eigene Gruppe als die überlegene und zivilisierte, die „rassifizierte“ Gruppe (auch aufgrund ethnischer oder religiöser Merkmale) als rückständig irrational, gewalttätig angesehen wird. 57 Prozent der Befragten gaben in einer Umfrage an, dass sie den Islam bedrohlich finden. 61% meinen, der Islam passt nicht in die westliche Welt. 40 % fühlen sich durch den Islam wie Fremde im eigenen Land. 24% möchten Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland verweigern (statista 2016). Wolfgang Benz zieht Analogien zwischen dem Antisemitismus und der Islamfeindlichkeit. Es sei offenkundig, dass die Islamfeindschaft an Traditionen des Antiziganismus und Antisemitismus anknüpft. Wer das aber vertritt, „muss allerdings damit rechnen, mit Krawall überzogen zu werden, weil er angeblich Judenfeindschaft mit Feindschaft gegen Muslime gleichsetzt“ . Worum es aber wirklich gehe, sei, „aus der Geschichte der Judenfeindschaft zu lernen.“ 6. Notwendige Religionskritik Es ist unbestritten, dass es eine Religionskritik auf jede Religion hin geben können muss, z.B. zu Fragen nach der Gleichberechtigung von Mann und Frau, nach historisch-kritischer Auslegung von Heiligen Schriften, nach der Trennung von Staat und Religion usw. Kriterien für eine faire Religionskritik sind die klare Adressierung der Kritik, die Vermeidung pauschaler Urteile sowie die Einbeziehung auch der eigenen Religion in notwendige Kritik. 7. Religiöse Differenzierung: Es werden in Religionen verschiedene Religionsformen unterschieden: Exklusivismus: Exklusivistische fundamentalistische Strömungen halten die eigene Religion für die einzig akzeptable und werten alle anderen Religionen ab. Inklusivismus: Das inklusive Denken hält am Gedanken der Einzigartigkeit und Unüberholbarkeit der eigenen Religionen fest, erkennt aber an, dass auch andere Religionen Wahrheiten enthalten, und verurteilt diese Religionen nicht. Pluralismus: Hier wird davon ausgegangen, dass andere Religionen ihre Anhänger ebenso wirksam und erfolgreich zur Wahrheit und zum Heil führen können wie die eigene Religion. Perspektivismus: Der Perspektivismus erkennt an, „dass meine Sicht und Erkenntnis zwangsweise durch die Stelle eingeschränkt und geprägt sind, wo ich stehe und woher ich schaue, … sodass meine Sicht immer schon eine Interpretation ist." 8. Der Papst zum interreligiösen Dialog "Der Islam ist nicht gewalttätig" Der Papst wehrt sich gegen eine pauschale Verurteilung des Islams. Den Islam als terroristisch zu bezeichnen, sei nicht gerechtfertigt. Fundamentalisten gebe es auch bei den Christen. https://www.youtube.com/watch?v=no5mAPHiCYQ Papst Franziskus hat für einen interreligiösen Dialog geworben, der Unterschiede nicht einebnet. "Die Begegnung mit dem, der anders ist als wir, kann uns bereichern", mahnt er. 9. Kulturell und religiös geprägte Konflikte - Alltagskonflikte, wenn miteinander nicht verträgliche lebensweltliche Gewohnheiten aufeinanderprallen: Essensgewohnheiten (Gerichte ohne Schweinefleisch in Kantinen), koedukative Erziehung vs. Geschlechtertrennung beim Sportunterricht, Sexualkunde, Klassenausflüge, Moscheebauten usw.) - Diskriminierungserfahrungen: persönlich, kulturell, strukturell - Machtverteilungskonflikte: religiöse Feiertage, Wahlrecht, Gestaltung der Schulcurricula, Eingehen auf kulturelle Gewohnheiten, Sprache, Lieder, Geschichten der Kinder unterschiedlicher kultureller Herkunft in Kitas und Familienzentren 10. Elementarerziehung im Kontext kultureller und religiös-weltanschaulicher Vielfalt Bildung ist der zentrale Schlüssel für die persönliche Entwicklung von Individuen und für die Entwicklung einer ganzen Gesellschaft. 10.1 Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund in Familienzentren (Kitas) - Kinder brauchen sichere Bindungsbeziehungen und anregungsreiche Umgebung. - Kinder brauchen die Wertschätzung von Mehrsprachigkeit und damit Wertschätzung ihrer Muttersprache. - Kinder wollen als Teil ihrer Familie wahrgenommen und wertgeschätzt werden. Sie möchten erleben, dass ihre Familien den Kindergarten oder den Familienzentren mitgestalten. - Kinder möchten, dass sie in ihrer Unterschiedlichkeit wertgeschätzt werden und dass unfaire, diskriminierende Äußerungen und Handlungen, die sie zu Außenseitern machen könnten, abgewehrt werden. 10.2 Umgang mit Kindern bei unterschiedlicher Religion - Kinder haben ein Recht auf Religion (Schweitzer). Sie möchten, dass Fragen wie der Glaube an Gott und das Leben nach dem Tod in öffentlichen Einrichtungen wie dem Kinderhort zur Sprache kommen und nicht tabuisiert werden. - Wichtig ist, dass die pädagogischen Fachkräfte in Kindertagesstätten und Familienzentren sich in Fragen der kulturellen und religiösen Vielfalt fortbilden, um zu wissen, wie sie angemessen auf Kinder unterschiedlicher Religion reagieren können. - Bei sensiblen kulturellen wie religiösen Fragen ist zentral, die Eltern einzubeziehen. 11. Die Notwendigkeit interkultureller Öffnung - Das Leitbild einer Organisation muss die Verschiedenheit in der Einrichtung thematisieren und auf die anerkannte „Gleichheit der unterschiedlichen Nutzerinnen und Nutzer der Dienstleistungen“ abzielen (Hubertus Schröer). - Die Zugangsbarrieren müssen analysiert sein. - Organisationsentwicklung zielt darauf ab, dass sich die innere Haltung der Mitarbeiter_innen öffnet. Dazu können Fortbildungsangebote beitragen. - Migrationssensibilität muss auch in der Vernetzung und im Sozialraum spürbar sein. Interkulturelle Öffnung zeigt sich daran, dass auch wirklich Mitarbeitende mit Migrationsbiografie eingestellt werden. - Interkulturelle Öffnung ist eine Führungsaufgabe, die „top-down“ als Gesamtstrategie angelegt ist und als partizipativer Prozess gestaltet wird (Schröer). 12. Die Herausforderung der Interreligiösen Öffnung Bekenntnisorientierte Einrichtungen müssen, um dem öffentlichen Bildungs- und Wohlfahrtsauftrag gerecht zu werden, die Pluralität der Gesellschaft anerkennen und eine respektvolle Haltung gegenüber unterschiedlich religiösen und nichtreligiösen Menschen in ihrer Einrichtung pflegen. Unter dem Stichwort des Diversity-Management hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es für das Betriebsklima und für den Erfolg des Betriebs von Vorteil ist, wenn jede_r einzelne Mitarbeiter_in in seiner und ihrer Eigenart respektiert und wahrgenommen wird, wenn jede_r die eigene spezifische Prägung (bezogen auf Geschlecht, Alter, Schicht, kulturelle und nationale Herkunft, Religion, körperliche Verfassung / Behinderung, sexuelle Orientierung) offensiv in die Einrichtung einbringen kann und nicht verstecken muss. Die positive Wertschätzung von Vielfalt hat auch für bekenntnisorientierte Bildungs- und Sozialeinrichtungen eine Bedeutung. Konfessionelle Einrichtungen dürfen keine Gettos und keine Kaderschmieden bilden. Nur in einer Atmosphäre des offenen Dialogs kann auch erreicht werden, dass der Respekt vor Menschen mit unterschiedlicher Weltanschauung und Religion in der jeweiligen Einrichtung eingeübt wird. Dieser Respekt und die Anerkennung von vielfältigen Orientierungen sind grundlegender Wert der globalisierten und pluralen Gesellschaft. Vielfalt ist auch in bekenntnisorientierten Bildungseinrichtungen ein „Muss“: Katholische Einrichtungen müssen sich für andersreligiöse und nichtreligiöse Mitarbeiter_innen öffnen. Auch andersreligiöse und nichtreligiöse Mitarbeiter_innen können das Profil einer katholischen Einrichtung stärken, wenn sie die entsprechende Haltung mitbringen. 13. Beispiele für die Gestaltung kultureller und religiöser Vielfalt - Intensive Elternarbeit zu häuslicher Gewalt, zum deutsches Schulsystem, zur Stärkung der Beziehungen zwischen alteingesessenen und neuzugezogenen Familien usw. - Die Diözese Osnabrück hat mit jüdischen und muslimischen Kooperationspartnern einen jüdisch-christlichen Kinderhort (Kita 2010) und eine Grundschule der drei abrahamitischen Religionen (taz 2008) auf den Weg gebracht. - Die Erzdiözese Köln hat erfolgreiche Projekte zu „Marie und Murat“ entwickelt. Weitere Informationen zum Thema sowie Literaturhinweise finden sich auf der Homepage: www.Josef-Freise.de