Fehlende Breitenentwicklung des Oberkiefers

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BZB März 12
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Fehlende Breitenentwicklung
des Oberkiefers
Zusammenhänge zwischen chronischen Atemwegsinfektionen und Störungen
der Gebissentwicklung bei Kindern
Ein Beitrag von Dr. Brigitte Schnell, Schongau
Bei Kindern werden anläßlich hals-nasen-ohren
ärztlicher Untersuchungen häufig vergrößerte Adenoide (Polypen) und Tonsillae palatinae (Gaumenmandeln) festgestellt. Der Atemweg durch die
Nase ist stark eingeengt und die Atmung findet
vorwiegend durch den Mund statt. Damit kann die
Nase nicht mehr ihre Aufgaben der Befeuchtung,
Filterung und Erwärmung der Atemluft erfüllen. Vor
allem im Winter kommt es durch das Einatmen kalter Luft zu chronischen Atemwegsinfektionen, die
mit hypertrophierten Tonsillen und Adenoiden einhergehen.
Bei Mundatmung muss die Zunge während des
Schluckens ihre natürliche Lage am Gaumen (somatisches Schluckmuster) verlassen. Sie liegt nun
schlaff im Mundboden und drückt eher gegen die
Schneidezähne. Dieses viszerale Schluckmuster
ist erforderlich, damit der Atemweg durch den
Mund freigehalten wird. Normalerweise schluckt
der Mensch im Wachzustand etwa zweimal in der
Minute und einmal pro Minute während des Schlafens, also etwa 2000 Mal pro Tag. Fehlt beim
Schlucken der Druck der Zunge gegen den Gaumen, kann sich das Gaumengewölbe, das gleichzeitig den Nasenboden bildet, nicht weiter ausformen. Der Oberkiefer bleibt in seiner transversalen
Entwicklung zurück und wird auch im Vergleich
zum Unterkiefer zu schmal. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass der Unterkiefer eher nach
vorne geschoben wird, um der durch die hypertrophierten Tonsillen verursachten Einengung des Rachenraums entgegenzuwirken. In diesem Zusammenhang kann sich auch ein frontaler Kreuzbiss
entwickeln. Das durch die vergrößerten Tonsillen
und die dadurch bedingte Mundatmung ausgelöste
Schnarchen führt zu unruhigem Schlaf und dies
wiederum zu Konzentrationsstörungen beim Kind.
Im Bereich der Frontzähne sind häufig Gingivahyperplasien und Entkalkungen sichtbar, die Lippen
sind trocken und rissig. Weitere negative Auswirkungen der Mundatmung wie etwa auf das HerzKreislauf-System und die Lunge sind bekannt.
Fehlende Breitenentwicklung des Oberkiefers
Der aufgrund der fehlenden Breitenentwicklung
des Oberkiefers erzeugte Platzmangel für die oberen seitlichen Schneidezähne und die oberen Eckzähne ist gravierend. Häufig kommt es zur Ausbildung eines seitlichen Kreuzbisses. Aber nicht alle
Kinder entwickeln bei zu schmalem Oberkiefer einen seitlichen Kreuzbiss im Seitenzahnbereich.
Bei manchen kommt es durch Parafunktionen
auch zur Abrasion der Milchmolaren und der
Sechsjahrmolaren und zwar so lange, bis eine "gesicherte" Höcker-Höckerverzahnung entsteht. Kinder, die ständig knirschen, leiden häufig an chronischen Kopfschmerzen und Blockaden im Bereich
des Kopfes beziehungsweise der Halswirbelsäule.
In der Regel wird die seitliche Höcker-Höckerverzahnung umgangen, indem sich der kleine Patient eine
Lieblingsseite aussucht, zu welcher der Unterkiefer
geschoben wird. Kommen die Patienten in einer sehr
frühen Phase, in der die Seite noch nicht fixiert ist,
nehmen sie den Kreuzbiss wechselweise rechts oder
links ein. Leider werden die Kinder nur selten rechtzeitig genug dem Zahnarzt oder dem Kieferorthopäden vorgestellt. In der Regel ist der Kreuzbiss schon
auf eine Seite fixiert. Bei den kleinen Patienten kann
man bereits von extraoral an der asymmetrischen
Unterlippe erkennen, wo der Kreuzbiss ist. Je länger
dieser besteht, desto stärker wird die Gesichtsasymmetrie.
Therapie durch Gaumennahterweiterung
Aus dem Circulus vitiosus (fehlende Nasenatmung,
Mundatmung, kalte Luft fördert die Hypertrophie der
Tonsillen) kommen die Patienten von alleine nicht
mehr heraus. Die Therapie besteht in der möglichst
frühzeitigen Behebung der oben dargestellten Kieferanomalie. Wir führen hierzu die forcierte Gaumennahterweiterung (GNE) durch. Die für die Erweiterung
der Gaumennaht verwendete Apparatur besteht aus
einer mit vier Bändern über kräftige Drähte verlöteten
GNE-Schraube. Beidseitig bebändert werden - je
nach Alter des Kindes - die oberen Milchmolaren be-
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ziehungsweise die ersten Milchmolaren und der erste bleibende Molar (s. Abb.8 bis 10 und 17). Diese
Apparatur erlaubt - im Gegensatz zur einzementierten Kunststoffplatte - die Reinigung der Zähne. Zudem akzeptieren die Patienten diejenige Apparatur
am ehesten, die den Zungenraum möglichst wenig
einengt. Die Schraube wird je nach dem Alter der Patienten und dem Ausmaß der erforderlichen transversalen Erweiterung über einen Zeitraum von vier bis
zwölf Tagen zwei- bis dreimal pro Tag gedreht, wobei
der Kiefer pro Umdrehung um 0,2 mm erweitert wird.
Durch diese rasche Aktivierung wird erreicht, dass
die applizierte Kraft nicht zu einer orthodontischen
Knochenresorption in den Druckzonen der belasteten
Zähne und zu einer Zahnbewegung durch die bukkale Knochenlamelle hindurch führt. Eine Knochenresorption kommt erst etwa zwei bis drei Wochen nach
Beginn der Kraftapplikation in Gang und bis dahin ist
die erwünschte Erweiterung der Gaumennaht schon
längst erreicht. Die Kraft wirkt auf die bei Kindern
noch offene Sutura palatina. Sie ist y-förmig und verschließt sich erst im zweiten Lebensjahrzehnt von
nasal und dorsal nach ventral.
Behandlungszeitpunkt
Der Kreuzbiss sollte behoben werden, sobald er auftritt. Dies ist bereits bei kleinen Patienten im Alter
von vier Jahren möglich. In den ersten zwei bis drei
Tagen geben die Kinder ein Druckgefühl im Bereich
der Gaumennaht an. Da bei Vier- bis Sechsjährigen
alle Knochenstrukturen noch sehr weich sind, leiden
sie weniger unter einer solchen Therapie als ältere
Kinder und Teenager. Bereits nach circa drei Tagen
ist die Gaumennaht offen. Man erkennt dies an dem
größerwerdenden Diastema mediale, das sich spontan innerhalb von vier Wochen wieder schließt. Ab
diesem Zeitpunkt ist das Drehen an der Dehnschraube für den Patienten druckfrei möglich. Ziel dieser
Frühbehandlung ist es, den Kreuzbiss zu beheben,
damit die erste Wechselgebissphase ungestört ablaufen kann.
Auswirkungen der Gaumennahterweiterung
Die forcierte Gaumennahterweiterung führt auch zu
einer Bewegung des Oberkiefers nach vorne und unten. So wird der gesamte Nasenraum über die Gesamtlänge des Oberkieferkomplexes von der Apertura piriformis bis zur Choane vergrößert und die Luftpassage durch die Nase wird erheblich verbessert.
Oft sagen die Mütter, dass das Kind nun nachts nicht
mehr schnarcht. Durch die Kippbewegung der Molaren kann der Biss frontal vorübergehend aufgehen.
Jedoch schließt sich der frontal offene Biss, wenn
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sich der Schluckakt wieder normalisiert hat. In der
Regel stellt sich bei frühem Behandlungsbeginn bereits nach einer bis zwei Wochen die Unterkiefermittellinie spontan ein. Zudem kann ein frontaler Kreuzbiss durch die Oberkieferschwenkung verschwinden.
Ein großer Vorteil der Gaumennahterweiterung ist
auch der Platzgewinn im Frontzahnbereich, wodurch
eine Extraktionstherapie vermieden werden kann.
Wenn genügend Platz für die oberen Eckzähne vorhanden ist, brechen diese von alleine regelrecht
durch.
Behandlungsablauf
Um einen optimalen Sitz der Apparatur zu erhalten,
hat sich die Eingliederung der fertigen GNE-Apparatur am selben Vormittag wie die Anpassung der Bänder bewährt. Vormittags lassen sich die Kinder leichter behandeln als am Nachmittag nach dem Kindergarten. Die Bänder werden ausgesucht und angepasst. Es erfolgt ein Abdruck über die Bänder, die in
die Abformung reponiert werden, damit die Apparatur auf dem Modell fertiggestellt werden kann.
Nach Eingliederung der Apparatur übt die Mutter das
Drehen der Dehnschraube noch in der Praxis und sie
wird über die Anzahl der Umdrehungen informiert.
Nach ein bis zwei Kontrollsitzungen innerhalb von
sieben bis vierzehn Tagen ist die Gaumennaht ausreichend geöffnet. Die Apparatur verbleibt dann zur
Stabilisierung des Behandlungsergebnisses für neun
Monate passiv im Mund.
Danach kann es indiziert sein, logopädische Übungen zu vorordnen. Da die Zunge jetzt viel Platz am
Gaumen hat, haben die Kinder die Möglichkeit, den
somatischen Schluckakt zu trainierten. Besonders
bei Klasse-3-Patienten unterstützt eine Nachbehandlung mittels Funktionsregler die Erlangung eines guten Lippenschlusses.
Nach ein bis zwei Jahren kann der kleine Patient entlassen werden. Danach wird der Zahnwechsel regelmäßig überwacht. Nach Durchbruch aller bleibenden
Zähne kann zur Feineinstellung eine Multibandapparatur erforderlich werden. Nur bei Patienten mit einem progenen Wachstumsmuster sind längere Behandlungsphasen erforderlich. In diesen Fällen kann
die GNE-Apparatur mit einer Delaire-Maske kombiniert werden. Dabei handelt es sich um ein extraorales Gerät zur Behandlung der Progenie bei Kindern.
Auf der Stirn und auf dem Kinn aufliegende Pelotten
sind durch kräftige Drähte verbunden. Die Vorrichtung wird durch Elastikzüge in die im Oberkiefer fest
eingesetzte Apparatur eingehängt. Damit sollen der
Oberkiefer und die oberen Zähne nach anterior bewegt und das Wachstum des Unterkiefers gehemmt
werden.
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Abb. 1 und 2: Ausgangsbefund bei einem vierjährigen Mädchen. Es besteht ein frontal offener Biss mit Zungenhabit bei ungenügender
Breitenentwicklung des Oberkiefers, die kleine Patientin beißt hier mittig.
Abb. 3 und 4: Unterkiefer nach rechts beziehungsweise links verschoben, mit rechtsseitigem beziehungsweise linksseitigem Kreuzbiss
Abb. 5 und Abb. 6: Seitenansicht rechts (ohne Kreuzbiss) und links (mit Kreuzbiss)
Fallbeispiele
Das erste Fallbeispiel betrifft ein kleines Mädchen,
das im Alter von vier Jahren in die Praxis kam. Sie
hatte einen frontal offenen Biss und eine offene Lippenhaltung. Nachts nahm sie noch den Schnuller.
Der Oberkiefer war transversal eng. Sie schloss die
Zähne beliebig rechts oder links in einer Höcker-Höckerverzahnung. Schnell schob sie den Unterkiefer
nach rechts, um einen rechtsseitigen Kreuzbiss einzunehmen. Das galt auch für die linke Seite. Sie war
so frühzeitig gekommen, dass sich der Biss noch
nicht auf einer Seite fixiert hatte (Abb. 1 bis 6).
Die Therapie bestand aus einer Gaumennahterweiterung (Abb. 7) und aus Lippenschlussübungen. Der
Kreuzbiss konnte nach zwei Wochen korrigiert werden. Bereits nach drei Monaten konnte man erkennen, dass der frontal offene Biss zu geht (Abb. 8 bis
10). Nach sieben Monaten hatte sich der offene Biss
noch deutlicher geschlossen. Die GNE-Apparatur
wurde nach neun Monaten entfernt (Abb. 11 und 12)
und die Behandlung mit einem Funktionsregler fortgesetzt.
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Abb. 7: Die zur Gaumennahterweiterung benutzte Apparatur.
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Abb. 8: Zustand nach sieben Monaten Behandlungszeit. Der frontale offene Biss hat sich geschlossen.
Abb. 9 und 10: Zustand nach sieben Monaten Behandlungszeit. Der Kreuzbiss ist überstellt.
Abb. 11 und 12: Zustand elf Monate nach Behandlungsbeginn und zwei Monate nach Behandlung mit einem Funktionsregler-3.
Das zweite Fallbeispiel handelt von einem Jungen,
der sich im Alter von sieben Jahren vorstellte. Extraoral fiel das sehr gerade Profil auf, das für Kinder untypisch ist (Abb. 13). Er hatte eine Progenie mit einem frontalen Kreuzbiss sowie einen Kreuzbiss bei
63,64/73,74. Die Unterkiefermitte war mandibulär
nach links verschoben (Abb. 14 bis 16). Als Therapie
wurde eine Gaumennahterweiterung in Kombination
mit einer Delaire-Maske durchgeführt. Diese wurde
mittels Elastikzügen an die GNE-Apparatur gehängt
und tagsüber (z.B. Fernsehen, Hausaufgaben) sowie
nachts getragen. Bereits nach drei Monaten war der
Oberkiefer so weit nach ventral entwickelt, dass eine
Kopfbisssituation vorlag. Der seitliche Kreuzbiss ist
korrigiert (Abb. 17 bis 20).
Nach 14 Monaten waren die mittleren Schneidezähne im Oberkiefer durchgebrochen und es hatte sich
eine regelrechte Frontzahnbeziehung eingestellt. Da
der Patient einen guten vertikalen Überbiss hatte,
konnte der Unterkiefer in seinem Wachstum den
Oberkiefer mitnehmen. Durch die transversale Dehnung war nun genügend Platz für die seitlichen
Scheidezähne vorhanden (Abb. 21 bis 23). Um den
vertikalen Überbiss zu vertiefen und weiterhin den
Oberkiefer in seinem Wachstum zu fördern, trug der
Junge noch für 17 Monate einen Funktionsregler-3.
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Abb. 13 bis 16: Ausgangsbefund bei einem siebenjährigen Jungen mit ungenügender Breitenentwicklung des Oberkiefers. Es besteht
ein umgekehrter frontaler Überbiss.
Abb. 17: Die zur Gaumennahterweiterung benutzte Apparatur
(Zustand nach zwei Monaten).
Abb. 18: Zustand nach drei Monaten.
Abb. 19 und 20: Bereits nach drei Monaten (Gaumennahterweiterung in Kombination mit Delaire-Maske) konnte ein frontaler Kopfbiss
erreicht werden.
Die Bilder 24 bis 27 zeigen den Patienten ein Jahr
nach Abschluss der Frühbehandlung im Alter von elf
Jahren. Der frontale Überbiss hat sich weiter normalisiert. Es ist auch zu erwarten, dass ausreichend Platz
für die Eckzähne im Oberkiefer vorhanden sein wird.
Da die Sechsjahrmolaren jedoch fast in einer Klasse1-Relation stehen, sollte der Leeway im Unterkiefer
(Platzgewinn bei Verlust der zweiten Milchmolaren
im Unterkiefer) gehalten werden. Das bedeutet, dass
sobald sich die Zähne 75 und 85 lockern, ein Lingu-
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Abb. 21 bis 23: Zustand nach 13 Monaten Behandlung
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Abb. 24 bis 27: Zustand nach Nachbehandlung mit einem Funktionsregler-3 für ein Jahr.
albogen eingesetzt wird. Dieser soll verhindern, dass
die unteren Sechsjahrmolaren nach mesial wandern.
Der so gewonnene Platz steht zur Distalisation der
unteren Prämolaren zur Verfügung. Die unteren
Schneidezähne gewinnen Platz und können einen
bukkalen Kronentorque erhalten.
ne Biss wird geschlossen. Gleichzeitig wirkt sich die
Behandlung durch die Behebung der Mundatmung
positiv auf die Atemwege aus. Somit kann durch einen kleinen Eingriff einer großen Fehlentwicklung
vorgebeugt werden.
Zusammenfassung
Bei Kindern wirkt sich die frühzeitige Behandlung einer fehlenden Breitenentwicklung des Oberkiefers
mit Kreuzbiss positiv auf die weitere Gebissentwicklung aus. Dadurch werden Abrasionen verhindert,
Gesichtsasymmetrien wird vorgebeugt und der offe- Literatur bei der Verfasserin
Korrespondenzadresse:
Dr. Brigitte Schnell
Jugendheimweg 1
86956 Schongau
[email protected]
www.niceteeth4u.de
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