DDG Kurs “Klinische Diabetologie”, München, 2013 Das Diabetischen Fußsyndrom Diagnostik, Therapie und Prävention Martin Füchtenbusch Diabeteszentrum am Marienplatz München & Forschergruppe Diabetes am Helmholtzzentrum München Auch heute noch ist das Risiko für Menschen mit Diabetes im Laufe des Lebens ein diabetisches Fuß-Ulcus zu entwickeln mit 12-25% enorm hoch. Deshalb kommt es darauf an, auf regelmäßige Fußinspektionen zu achten, eine diabetische Neuropathie als häufigste Ursache des diabetischen FußSyndroms (DFS) rechtzeitig zu erkennen, geeignetes Schuhwerk zu tragen und eine gute Stoffwechseleinstellung anzustreben. Zur lokalen Therapie chronischer Wunden gibt es eine neue klinische Leitlinie (2013), die zum download im Deutschen Ärtzeblatt zur Verfügung steht ( DÄ, Jg. 110, Heft 3, 18.1.2013). Periphere diabetische Polyneuropathie und pAVK- Beide Erkrankungen tragen zur Entwicklung eines DFS bei Das Fuß-Ulcus entsteht überwiegend auf dem Boden einer peripheren sensiblen und/oder motorischen Neuropathie und wäre daher prinzipiell vermeidbar. Als Hauptrisikofaktor für eine Extremitätenamputation (immer noch kommt es zu etwa 68 Amputationen/1000 Diabetiker/Jahr) erfordert das Fuß-Ulcus in der Regel eine langwierige und aufwändige interdisziplinäre Therapie, verursacht enorme Kosten und führt zu einer erheblichen Einschränkung der Lebensqualität. Es ist deshalb für die primäre Prävention entscheidend, die Risiken für ein diabetisches Fuß-Ulkus zu erkennen. Neu ist die Erkenntnis, dass häufiger als noch vor einigen Jahren angenommen, auch die periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK) eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des DFS spielt. So zeigen aktuelle Daten aus einer Querschnittsuntersuchung von > 390000 Patienten, die am DMP Typ 2 Diabetes in Bayern eingeschrieben sind, dass bei 18% 1 eine Makroangiopathie und bei 9% eine pAVK als Begleit- bzw Folgekomplikationen vorliegen. Dabei trägt die pAVK isoliert, ohne Vorliegen einer diabetischen Neuropathie in etwa 15%, und, zusammen mit der Neuropathie in 35-50% der Fälle zur Entwicklung eines DFS bei. Häufigkeit des DFS Chronische Formen des DFS, z.b. die diabetische Osteoarthropathie oder der „Charcot-Fuß“, können, meist im Zustand nach abgeheiltem Fußulcus, auch als „Risikofuß“ ohne akute Infektion, neben hochentzündlichen Ulcera, vorkommen. Beide Situationen fasst man im engeren Sinn unter dem Begriff DFS zusammen. Die Prävalenz aktiver Fuß-Ulcera bei Menschen mit Typ 2 Diabetes beträgt nach neueren Studien aus dem europäischen Ausland (UK, Niederlande) 1,7% , die eines Ulcus in der Vorgeschichte bei etwa 5%, die jährliche Inzidenz von Fuß-Ulcera beläuft sich auf 2%. Alle 30 Sekunden kommt es weltweit zu einer ExtremitätenAmputation bei Menschen mit Diabetes, in Deutschland liegt die Amputationsrate bei etwa 29000/Jahr. Die Zeit bis zum Abheilen eines diabetischen Ulcus beträgt durchschnittlich 11-14 Wochen. Wegen des extrem hohen Risikos eines Rezidivulkus, das nach einer prospektiven Untersuchung aus Schweden bis fünf Jahre nach stattgehabtem Fuß-Ulkus auf 70% ansteigt, kommt der primären und der sekundären Prävention die entscheidende Bedeutung zu. Fuß-Inspektionen sollten nach stattgehabtem Ulkus bei jedem Arzt-Patienten-Kontakt, wenn keine Risiken vorliegen, in der Regel mindestens einmal jährlich erfolgen. Der Patient sollte im Rahmen einer Diabetesschulung eine spezielle Fuß-Schulung erhalten um selbst einen wichtigen Beitrag zur Früherkennung von Risiken für ein diabetisches FußUlkus zu leisten. Wie entstehen diabetische Fuß-Ulcera ? Es kommt durch Glykierung zu Veränderungen an den kleinen und grossen Gefässen, zu Verhärtungen des Bindegewebes und einer eingeschränkten Beweglichkeit der Gelenke (limited joint mobility). Die diabetische Mikroangiopathie spielt aber nicht die prominenteste Rolle, sie ist nicht okklusiv, da in der Regel keine Gefässverschlüsse auftreten. Entscheidend ist die periphere Neuropathie, die als motorische Neuropathie zu Atrophie der Fußmuskeln und reduzierter Viskoelastizität des Bindegewebes, als sensorische Neuropathie zu reduzierter Nozizeption, 2 Berührungs- und/oder Temperaturempfinden und als autonome Neuropathie über einen reduzierten Sympatikotonus mit gestörter Sudomotorik zu trockener Haut und Entwicklung von Fissuren führt. Neuropathisch bedingtre Fuß-Ulcera entwickeln sich deshalb häufig plantar unterhalb der Mittelfußkonochen, Ulcera im Rahmen einer pAVK dagegen typischerweise akral an den Zehen oder der Ferse. Ein akutes singuläres Trauma als Auslöser eines diabetischen Ulcus fehlt häufig, eine Fehl-Dauerbelastung im Rahmen der normalen Bewegung, häufig bei zusätzlich zu engem Schuhwerk reicht als Trigger für die Entstehung eines diabetischen Ulcus aus. Jede offene Wunde wird innerhalb weniger Stunden durch Mikroorganismen kolonisiert (positiver Keimnachweis in der Kultur des Wund-Abstrichs), es kommt aber nicht in jedem Fall zu einer Infektion, welche nur anhand klassischer klinischer Entzündungszeichen diagnostiziert werden kann. Typische Zeichen der Infektion wie Calor, Rubor und Dolor können allerdings bei Neuropathie bzw. Ischemie fehlen, weswegen auch eine akute und potentiell bedrohliche lokale Infektion relativ symptomarm sein kann. Häufig ist die nach Infektion innerhalb von Stunden einsetzende Chemotaxis, d.h. die lokale Akkumulation von Makrophagen und neutrophilen Granulozyten, unzureichend, weswegen das „körpereigene Wunddebridement“ entweder gar nicht oder nur sehr verzögert einsetzt. Zusätzlich führt im Bereich der Läsion der erhöhte lokale Druck aufgrund der Fehlbelastung zu einem verstärkten und beschleunigten Keimwachstum. Diagnostik der peripheren diabetischen Neuropathie Das anamnestisch erhobene Beschwerdebild steht am Anfang des Diagnosegangs und erlaubt häufig bereits eine zutreffende Zuordnung der Fußulcera zur neuropathischen Genese einerseits und pAVK anderseits. Missempfindungen, gleich welcher Art, Hypästhesien, insbesondere in Ruhe und häufiger nachts sprechen für das Vorliegen einer peripheren Neuropathie, belastungsabhängige Schmerzen mit reduzierter Gehstrecke für eine pAVK. Die neurologische Basisuntersuchung umfasst einfache, relativ schnell durchzuführende, aber gut validierte Untersuchungsmethoden (Abb. 1) wie Zahnstocher (alternativ Einmalnadel oder Neurotip: die korrekte Frage an den Patienten lautet: „Haben Sie Schmerzen ?“ und nicht: „Spüren Sie das ?“), Tiptherm (Temperaturempfinden, Kalt-Warm-Unterscheidung = Ja/Nein), 128-C-Stimmgabel (Tiefensensibilität: Frage an den Patienten: „Sagen Sie mir bitte, ab wann Sie die 3 Vibration nicht mehr spüren“, untere Normgrenze 6/8 bis 30. LJ; > 30 LJ: 5/8, Prüfung am dorsalen (Oberflächensensibilität: 1 1. Sek. Zehengrundgelenk), Aufsetzen plantar Weinstein-Monofilament am 1., 3., oder 5. Metatarsalköpfchen bis sich das Filament durchdrückt und Frage an den Patienten: „Spüren Sie das“) zu leisten. Hilfsmittel und Instrumente zur Screening-Untersuchung der diabetischen peripheren Neuropathie Haut eindrücken und entlangfahren mittels Einmal-Nadel oder eines Neurotips Frage an den Patienten: „Haben Sie Schmerzen ?“ Nicht fragen: „Spüren Sie das ?“ Oberflächen-Sensibilität mittels Wattebausch testen: Frage an den Patienten: „Spüren Sie das ?“ (siehe auch Weinsteinfilament) Temperaturempfinden mittels Tiptherm testen, KaltWarm-Unterscheidung = Ja/Nein Tiefensensibilität mittels 128-C-Stimmgabel testen. Frage an den Patienten: „Sagen Sie mir bitte, ab wann Sie die Vibration nicht mehr spüren“, untere Normgrenze 6/8 bis 30. LJ; > 30 LJ: 5/8, Prüfung am dorsalen 1. Zehengrundgelenk) Oberflächensensibilität mittels Weinstein-Monofilament testen: 1 Sek. Aufsetzen plantar am 1., 3., oder 5. Metatarsalköpfchen bis sich das Filament durchdrückt und Frage an den Patienten: „Spüren Sie das“) zu leisten. Bildnachweise: Prof. M. Haslbeck Abb. 1 Basisdiagnostik der pAVK Die angiologische Basisuntersuchung umfasst Inspektion, seitenvergleichende Palpation und Auskultation. Die Inspektion wird ergänzt durch die sog. RatschowProbe. Eine seitenverzögerte Rötung der Haut des Vorfusses oder der Zehen in Tieflagerung ist ein wichtiges Indiz für das Vorliegen relevanter peripherer arterieller Verschlüsse. Alleiniges Tasten der Pulse ist bei einer Sensitivität von nur 20% für das Erkennen einer pAVK unzureichend und deshalb mit der Auskultation als Basisuntersuchung zu kombinieren. Zusammen mit einer Claudicatio-Anamnese weist die Kombination aus seitenvergleichendem Pulsetasten, Auskultation und Belastungsoszillographie nach der Basler-Studie einen Erfassungsgrad von 84% für eine klinische relevante pAVK auf. Hinsichtlich des Hautstatus sollen Integrität, Turgor, Haare, Nägel, Schweißbildung und Farbe beurteilt werden. Zu klären sind ferner Muskelatrophie, Deformität und Temperaturunterschied. Wenn möglich sollte 4 aich der Knöchel-Arm-Index (ABI) im Rahmen der Basisuntersuchung dopplersonographisch gemessen werden. Der ABI definiert sich als Quotient aus systolischem Knöchelarteriendruck und systolischem Druck der A. brachialis. Neben der Verwendung einer dem Arm- und Beinumfang angepassten Blutdruckmanschette erfolgt immer eine vergleichende Druckmessung an beiden Armen (obligatorische Messung an beiden Armen und Verwendung des höheren Blutdrucks, wenn unterschiedliche Drücke gemessen werden sollten). Therapie des diabetischen Fuß-Ulkus: Die Therapiesequenz folgt in der Regel dem IRWAS-Prinzip (Behandlung der Infektion, Revaskularisierung, Wundbehandlung, ggfs. Amputation, Schuhversorgung). Eine erfolgreiche Wundheilung des diabetischen Fuß-Ulcus setzt voraus, dass alle Wunddebridement, Therapieprinzipien (Optimierung Druckentlastung, Kontrolle der des Stoffwechsellage, Exsudates/feuchte Wundbehandlung, und ggfs. Revaskularisation) konsequent umgesetzt werden. Der oberflächliche Wundabstrich reicht nicht aus, da er das die Infektion unterhaltende Keimspektrum häufig nicht abbildet. Eine Gewebeentnahme aus der Wunde zur mikrobiologischen Aufarbeitung ist der Goldstandard, welcher aber in der Praxis häufig nicht umsetzbar erscheint. Nicht ganz einheitlich werden zur Einteilung der Läsionen immer noch verschiedene Klassifikationen verwendet, am häufigsten sind die Wagner- und die Armstrong-Klassifikation (Abb. 2). Stadium A 0 I II III B Risikofuß, Z.n. Läsion kompl. Epitheldeckung + Infektion Oberflächl. Wunde bis zur Läsion bis zum Wunde Gelenkkapesel Knochen oder oder Sehen in Gelenkkapsel + Infektion + Infektion + Infektion C + Ischemie + Ischemie + Ischemie + Ischemie D + Infektion + Ischemie + Infektion + Infektion + Ischemie + Ischemie + Infektion + Ischemie Abb. 2 Einteilung des diabetischen Fuß-Ulkus nach Wagner-Armstrong 5 Generell muss beachtet werden, dass primär blande aussehende Ulcera häufig Weichteilinfektionen aufweisen, und dass potentiell extremitätenbedrohende Infektionen häufig ohne systemischen Infektionszeichen wie Fieber, Schüttelforst oder Leukozytose auftreten können. Potentiell gefährliche Infektionen können gerade beim Diabetiker leicht unterschätzt oder gänzlich übersehen werden. Die verschiedenen Stadien der Wundheilung (Infektion/Nekrose, Granulation, Epithelialisierung) müssen im Verlauf klinisch erkannt werden, da für jedes Stadium eigene Therapiestrategien gelten (Abb. 3). Ohne konsequente Druckentlastung ist eine Granulation der Wunde nicht möglich, die Ruhigstellung ist daher von übergeordneter Bedeutung. Bei nicht antibiotisch vorbehandelten Ulcera und kleineren Läsionen kann ambulant oral mit z.B. staphylokokkenwirksamen Penicillinen, Cephalosporinen der 1. Generation oder Fluoroquinolonen behandelt werden (typischerweise Präsenz von Staphylokokken, Streptokokken und Enterokokken), bei antibiotisch vorbehandelten oder schweren Infektionen ist zunächst eine i.v.-Therapie (in der Regel dann stationär) mit z.B. einem Cephalosporin der 2. oder 3. Generation und bei Nachweis von zusätzlich anareoben Keimen mit einem Cephalosporin der 3. oder 4. Generation oder mit einem Fluoroquinolon plus Clindamycin zu therapieren. Heilungsphase Therapieziel Entzündung nekrotisches und infiziertes Lokale Antiseptik Gewebe entfernen, Operative Nekrosektomie Eiter u. Sekret ableiten Mechanisch medikamentöse feuchte Wundbehandlung Wundreinigung Granulation Fibroblastenproliferation Kollagensynthese Angiogenese feuchte Wundbehandlung Epithelialisierung Proliferation und Migration von Epithelzellen trockene Wundbehandlung Therapie feuchte Wundbehandlung (Hydrokolloide, Hydrogenwundauflagen) glatte, feuchte Oberflächen (zB. Polymere, Fettgaze) Abbildung 3: Phasengerechte lokale Wundbehandlung des diabetischen Fuß-Ulcus 6 Die lokale Wundbehandlung muss bis zum Stadium der Epithelialisierung bei nichtischemischen Wunden im feuchten Milieu erfolgen. Das mechanische Wunddebridement und die vollständige Druckentlastung leisten den grössten Beitrag zur Wundheilung in dieser Phase. Im Stadium der Granulation stellt die feuchte Wundbehandlung die Grundlage der Wundheilung mit Proliferation der Fibroblasten, Kollagensynthese und Angiogenese dar. Erst wenn es im Stadium der Epithelialisierung durch Proliferation und Migration vob Epithelzellen kommt, darf mit einer trockenen Wundbehandlung begonnen werden. Prävention des diabetischen Fuß-Ulkus Im Rahmen der primären Prävention von Fuß-Ulcera ist eine regelmäßige Untersuchung der Füße (Fußdeformitäten, DruckstelIen, klinische Hinweise für eine pAVK), und eine mindestens einmal jährliche Erhebung des Neuropathie-Status Blutzuckereinstellung entscheidend. Ist es bereits zu einem peripheren Ulkus gekommen, müssen Arzt und Patient auf eine effiziente Sekundärprävention achten, um ein Ulkusrezidiv zu vermeiden. Wie bei der Verordnung von Schutz-, Therapie- und Entlastungsschuhen noch während der Wundbehandlung müssen für die Sekundär- und Tertiärprävention Fußdeformitäten, ggfs. Zustände nach Minor-Amputationen und der Mobilitätsgrad des Patienten berücksichtigt werden. Die Palette von Entlastungshilfen reicht von Teilentlastungsschuhen bis zu “total contact casts“ (Vollgipse) noch während der Wundheilungshase und von konfektionierten Schutzschuhen mit weichen Innensohlen und ausreichend Platz im Zehenbereich über Therapieschuhe mit individuell angepassten Innensohlen bis hin zu vollorthopädischen Schuhen. Die Zusammenarbeit mit einem „diabetologischen Schuhmacher“, der besondere Erfahrung mit dem DFS hat, ist hier der Schlüssel zu einer erfolgreichen Prävention. Genauso wichtig ist es, dem Patienten ggfs. erneut und speziell eine Fuß-Schulung zukommen zu lassen und ihn zu instruieren, nicht nur die Füße, sondern auch das Schuhwerk regelmäßig zu inspizieren. Ziel muss es sein, die Häufigkeit diabetischer Fußulcera und Rezidivulzera zukünftig drastisch zu senken. Dass dieses Ziel erreichbar ist, hat die Arbeit spezialisierter Behandlungseinrichtungen während der letzten Jahre bereits sehr erfolgreich nachweisen können. 7