»Närrisch, dass jeder in seinem Falle seine besondere Meinung preist!« Religiöse Toleranz bei Goethe Von: Reiner Strunk, erschienen im Deutschen Pfarrerblatt, Ausgabe: 8 / 2012 Goethe wird oft eine Abneigung gegen die positive Religion nachgesagt. Doch dies greift zu kurz. Goethe erfasst vielmehr die Ambivalenz von Offenbarungswahrheiten und entwickelt ein Verständnis von Toleranz, das über das bloße Dulden des jeweils Andersdenkenden weit hinausgeht. Es enthält - wie Reiner Strunk zeigen kann - Anregungen für gegenwärtige Debatten im Feld interreligiöser Begegnungen. Goethes Naturell entsprach es offenbar nicht, in Alternativen zu denken und zu urteilen und in Kontroversen zu leben. Seine Grundauffassung besagte: zu lernen ist von allen und überall. Darum kann er betonen, dass "ich überhaupt Kontroversen nicht liebte; indem ich immer lieber von dem Menschen erfahren mochte, wie er dachte, als von einem andern hören, wie er hätte denken sollen"(1). Das ist ein persönlicher Erklärungsbeitrag zu dem, was man Goethes Toleranz nennen kann. Sie betraf zunächst kein moralisches Prinzip, sondern eine subjektive Neigung und Haltung. Kontroversen schmecken ihm nicht. Dahinter steckt die Erfahrung oder mindestens die Ahnung, dass Kontroversen umso heftiger ausgetragen werden, je plakativer in der Form und je reduzierter im Gehalt sie daherkommen. Abgrenzung und Gegnerschaft brauchen das grobe Profil, die holzschnittartige Darstellung. Eine differenzierte Wahrnehmung ist ihnen im Wege. Sie könnte der Entschiedenheit des Urteils abträglich sein. Auch religiös zeigte sich Goethe, und zwar in seinen jungen Jahren ähnlich wie in seinem Alter, den harten, unnachgiebigen Kontroversen gegenüber abgeneigt. Sie entsprachen weder seinem inneren Bedürfnis noch seiner Grundvorstellung vom universalen Lebenszusammenhang. Um Gott oder Nicht-Gott zu streiten, kam ihm nicht in den Sinn, so sehr ihn die Gottesfrage lebenslang umgetrieben hat. Und was in seiner Zeit an öffentlich ausgetragenen Querelen über Theismus und Atheismus geboten war und ihn selber ja durchaus einbezog, ist ihm letzten Endes doch recht unzugänglich und unverständlich geblieben. Charakteristisch erscheint, wie er sich auf den übel bescholtenen und zum Ursprung des ganzen atheistischen Sumpfes erklärten Spinoza mehr als einmal zustimmend berief. Am 9. Juni 1785 schrieb er an Jacobi: "Du erkennst die höchste Realität an, welche der Grund des ganzen Spinozismus ist, worauf alles übrige ruht, woraus alles übrige fließt. Er (sc. Spinoza) beweist nicht das Dasein Gottes, das Dasein ist Gott. Und wenn ihn andre deshalb Atheum schelten, so möchte ich ihn theissimum, ja christianissimum nennen und preisen"(2). Der Weg des Ausgleiches, der verschiedene Positionen in Angelegenheiten der Religion oder der Philosophie gelten lassen möchte, pflegt allerdings dem Verdacht eigener Unentschiedenheit, ja tendenzieller Gleichgültigkeit hervorzurufen. Wer viele Überzeugungen teilt, scheint selber keine zu haben. Seine nach außen gezeigte tolerante Geste ist dann nur die Maske einer vorherrschenden Indifferenz. Alles gleich gültig zu nennen, wird zum Ausweis von Gleichgültigkeit. Wer viele Überzeugungen teilt, scheint selber keine zu haben Dieser Verdacht ist Goethe nicht fremd geblieben, und er hat sich deutlich gegen ihn verwahrt. Das geht bereits aus einer frühen Schrift hervor, dem "Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***", die 1772 entstand und im biographischen Zusammenhang seiner beginnenden Distanzierung von bestimmten pietistischen Grundanliegen zu lesen ist. Der fiktive alte, in seiner Laufbahn zu eigenständigem Denken und Glauben gereifte Ortspfarrer schreibt an seinen Amtsnachfolger. Dabei berührt er nicht zuletzt das Thema der religiösen Toleranz. Aber er behandelt das Thema keineswegs moralisch im Sinne aufklärerischen Denkens, das die Toleranz zum Gebot der Vernunft erhob. Wenn Vernunft das schlechthin Überlegene ist, Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 1/7 dem alle Gestalten religiöser Anschauung untergeordnet sind, dann wird Toleranz möglich im Sinne einer Duldung von Dingen, die im Grunde unerheblich und darum gleichgültig sind. Der briefschreibende Pastor argumentiert bei Goethe jedoch anders. Er verwendet sich für Toleranz, aber gegen Indifferenz. "Zwar müsst ihr nicht denken, dass meine Toleranz mich indifferent gemacht habe", erklärt er(3). Und schiebt als Begründung nach: "So wenig die ewige, einzige Quelle der Wahrheit indifferent sein kann, so tolerant sie auch ist, so wenig kann ein Herz, das sich seiner Seligkeit versichern will, von der Gleichgültigkeit Profession machen"(4). Das sind zwei Argumente in einem Zusammenhang. Das eine berührt die Frage nach der (universalen) Wahrheit, das andere die Frage nach der (persönlichen) Wahrhaftigkeit. Die ewige Quelle der Wahrheit, so lässt Goethe den Pastor sagen, kann nicht indifferent sein. Warum nicht? Statt einer zu erwartenden philosophischen Aussage folgt jetzt eine biblisch-theologische. Denn die gemeinte Wahrheit hat nichts von einer abstrakten Idee an sich. Sie ist die eine, sich unendlich verströmende Liebe Gottes. Stimmt es, dass bei kosmischen Berechnungen die Astronomen sich um Millionen Meilen verrechnen können, so gilt nach Goethe erst recht: "wer der Liebe Gottes Grenzen bestimmen wollte, würde sich noch mehr verrechnen"(5). Es widerspräche dem Wesen dieser Liebe, in irgendeiner Weise indifferent zu sein. Liebe bildet geradezu die ewige, vitale Gegenkraft zu aller Indifferenz. Aber tolerant ist sie gleichwohl. Und dabei verdient Beachtung, dass die Toleranz der Liebe eine andere ist als die Toleranz der Vernunft. Die Toleranz der Liebe nimmt das Verschiedene an, die Toleranz der Vernunft geht zum Verschiedenen auf Distanz. Darum formuliert der Pastor im Blick auf Anders- und Ungläubige sein Credo der Toleranz: "ich überlasse ... alle Ungläubigen der ewig wiederbringenden Liebe"(6). Gottes Liebe als "Quelle der Wahrheit" ist größer und reicht weiter als alle menschlichen Scheidungen und Kontroversen in religiösen Wahrheitsansprüchen. In diesem Kontext gelingt Goethe, auf Offb. 3,20 anspielend, eine wunderbare Sentenz zum intoleranten Bekehrungseifer: Jesus "wollte anklopfen an der Türe und sie nicht einschmeißen"(7). Die Abwehr des Indifferenz-Vorwurfs hat im Argument des Pastors neben dem objektiven auch ihren subjektiven Anlass. Ein "Herz, das sich seiner Seligkeit versichern will", kann einfach nicht "gleichgültig" sein. Das ist unbestritten. Aber vermag es ebenfalls tolerant zu sein? Bildet subjektive Glaubensüberzeugung denn nicht den notorischen Antrieb zur Intoleranz? Wissen die Gläubigen sich nicht ständig von den Anders- und Ungläubigen geschieden? Der Pastor weiß darum und resümiert entsprechend: "das Hauptelend der Intoleranz offenbart sich doch am meisten in den Uneinigkeiten der Christen selbst, und das ist was Trauriges"(8). Dem nun etwa mit praktischen Unionskonzepten zu begegnen, ist allerdings nicht das, was der Pastor für empfehlenswert hielte. Es wäre "eine Sottise wie die Republik Heinrichs des Vierten"(9). Nicht auf der Ebene von Angleichung oder Vermischung in Organisation und Lehre kann ein Sinn fürs Gemeinsame und damit Toleranz zustande kommen, sondern allein auf der Ebene persönlicher Wahrhaftigkeit. Wem es damit Ernst ist, "der wage", so lautet das erstaunliche Ergebnis, "ein Nachfolger Christi öffentlich zu sein, der wage, sich’s merken zu lassen, dass ihm um seine Seligkeit zu tun ist"(10). Dieser Rekurs auf eine lebendige und wahrhaftige Nachfolge Christi, die vor Indifferenz ebenso wie vor Intoleranz bewahre, liest sich überraschend aus Goethes Feder. Auch wenn er es an dieser Stelle nicht als sein eigenes Bekenntnis, sondern als dasjenige eines fiktiven Pastors vorgetragen hat. Jedenfalls hat Goethe damals, im Alter von 23 Jahren, die Lösung der Toleranzfrage nicht an einem Ort jenseits des Christentums, sondern in dessen eigenem Zentrum für denkbar und möglich halten können. "Dulden heißt beleidigen" Viele Jahre nach dem "Brief des Pastors" schreibt Goethe den sachlich weiterreichenden, wunderbaren Aphorismus: "Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen"(11). Die Tendenz, dass es tatsächlich um Anerkennung, nicht allein um Duldung gehe, war schon im frühen "Brief des Pastors" spürbar. Jetzt wird sie entschieden zum Programm. Es gibt Toleranz im Sinne einer "Duldung", die gewähren lässt, was Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 2/7 einem nicht schaden, genauer betrachtet: nicht einmal nahe kommen kann. Solche Duldung verhält sich beleidigend, weil das Geduldete hingenommen wird, ohne ernst genommen zu werden. Es hat keine Bedeutung. Geduldet wird, was sich nicht lohnt, anerkannt oder verworfen zu werden. Anerkennung ist die Form, etwas gelten zu lassen, das anders ist als man selbst. Sie verlangt keine inhaltliche Übereinstimmung, wenn es sich um verschiedene Konfessionen, verschiedene Religionen handelt. Aber sie verlangt Respekt. Und Kenntnis. Toleranz, die zur Anerkennung wird, hat einen Weg von intensiver Kenntnisnahme, von offener Begegnung hinter sich. Duldung wirkt beleidigend, weil sie einen Akt von Herablassung meint. Anerkennung dagegen erfolgt auf gleicher Augenhöhe. Dies macht Goethes Maxime zur Grundregel für einen wünschenswerten Stil interreligiöser Begegnungen, und er hat sich selber durchweg an diesen Stil gehalten, etwa mit seinen Studien und Äußerungen zum Judentum und zum Islam. Der Anerkennung im Wege steht für Goethe keineswegs eine persönliche Überzeugung ("ein Herz, das sich seiner Seligkeit versichern will"), sondern erst die Ausstattung einer solchen Überzeugung mit dem Anspruch exklusiver Gültigkeit. Das ergibt religiöse Intoleranz, wie Goethe sie beispielhaft an Lavater sowie in seinem frühen Dramenentwurf über Mohammed demonstriert. Mit Johann Caspar Lavater, dem Züricher Theologen und Begründer einer umstrittenen Physiognomik zur Erkenntnis menschlicher Charaktereigenschaften, hat Goethe sich mehrfach auseinandergesetzt. Wir beschränken uns auf jene Partien, die Lavaters Religiosität betreffen. Sie finden sich im 14. und im 19. Buch von "Dichtung und Wahrheit", beziehen sich also auf Kontakte des jungen Goethe mit Lavater, freilich reflektiert und beschrieben in seinem vorgerückten Alter. "Manche Epoche meines nachherigen Lebens", schreibt Goethe, "ward ich veranlasst, über diesen Mann zu denken, welcher unter die Vorzüglichsten gehört, mit denen ich zu einem so vertrauten Verhältnis gelangte"(12). Es besteht kein Zweifel daran, dass Goethe von Lavater beeindruckt gewesen ist, weniger freilich von dessen psychologischen und theologischen Theorien als von der Kraft und der Originalität seiner Persönlichkeit. Offenbar war er ein Mensch, der sich gern öffentlich darstellte und der ein beinahe magisches Vermögen besaß, auf sein Publikum Einfluss zu nehmen. Goethe unterhielt eine Korrespondenz mit ihm und traf ihn auch persönlich. Und Lavaters Art reizte ihn später noch, ein Psychogramm seiner Person zu erstellen. Was die Seite religiöser Entschiedenheit bis zum Ausweis schwer erträglicher Intoleranz bei Lavater ausmachte, ergibt sich für Goethe aus zwei Quellen, die unglücklich zusammenfließen. Die eine liegt in Lavaters Wesen, die andere in seiner Dogmatik, genauer: in seiner Christologie. Nach Goethes Urteil zeigte sich Lavater von seinem Wesen her ebenso impulsiv und kompromisslos im Verfolgen seiner Absichten wie narzisstisch im Blick auf die Wertschätzung seiner Person: "Nicht leicht war jemand leidenschaftlicher bemüht anerkannt zu werden als er"(13). Wo er heftig für seine Überzeugungen streitet, steht deshalb nicht nur deren Wert, sondern immer zugleich seine persönliche Würde auf dem Spiel. Zustimmung in der Sache bedeutet auch Anerkennung seiner Person. Kritik an der Sache empfindet er als Schmach für sich selbst. Es ist diese Kombination von Geltungsbedürfnis und Sachinteresse, die einen respektvoll-toleranten Umgang mit anderen schwierig, wo nicht unmöglich macht. Wenn der Missionar zugleich ein Narziss ist, bleibt für ihn jede Form von anerkennender Toleranz auf der Strecke. Bei Lavater verstärkt sich diese Problemlage auf der inhaltlichen Ebene durch seine Christologie. Die Person Christi bedeutet ihm die vollkommene Verwirklichung des Menschlichen. Und Goethe urteilt, dass Lavater "den Gottmenschen (sc. Christus) seiner individuellen Menschheit so lange ideell einverleibte, bis er zuletzt mit demselben wirklich in eins zusammengeschmolzen, mit ihm vereinigt, ja eben derselbe zu sein wähnen durfte"(14). Christliche Identität wird so als christologische Identität verstanden und gefordert. Das Resultat ist eine Beziehung ohne Distanz. Der verabsolutierte Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 3/7 Christus verlangt die absolute Identifikation. An ihm vorbei erscheint kein Wert und keine Wahrheit annehmbar. Und in seiner Nachfolge darf nichts gelten, was nicht genuin zu seiner Wirklichkeit gehört. Diese Exklusivität der Christus-Person und ihrer religiösen Bedeutung ist für Goethe befremdlich und unannehmbar. Er beklagt die "heftige Zudringlichkeit eines so geist- und herzvollen Mannes" und empfindet sie als "ärgerlich"(15). In dieser Zudringlichkeit bleiben nur die reinen und harten Alternativen: "Entweder Christ oder Atheist"(16). Lavater steht für eine Religiosität, die den Dialog nicht leisten will und aus Prinzip nicht leisten kann. Er behauptet, "man müsse entweder mit ihm ein Christ, ein Christ nach seiner Art werden, oder man müsse ihn zu sich hinüberziehen"(17). Das Entweder-Oder wird unauflöslich, tertium non datur. Religiöse Identität verhärtet sich in der Weise, dass sie als aggressive Intoleranz nach außen tritt. Goethe reagiert darauf, indem er antwortet: "wenn er mir mein Christentum nicht lassen wollte (sc. die Toleranz-Forderung!), wie ich es bisher gehegt hatte, so könnte ich mich auch wohl zum Atheismus entschließen"(18). - Ein trotziger Widerspruch gegen die religiöse Zudringlichkeit und den ausgeübten Druck der Intoleranz. Der Wink mit dem Atheismus spielt mit der Möglichkeit, die gebotene Alternative zu ergreifen. Sie liegt für Goethe jedoch nicht von der Sache her nahe. Vielmehr wird sie zum Ausdruck seines Protestes: keine Toleranz gegenüber der Intoleranz! Äußerer Verrat an den inneren Wahrheiten der Religion Auf andere Weise und in anderem Zusammenhang beschäftigt Goethe das Toleranz-Thema in seinem dramatischen Mahomet-Projekt. Während der "West-östliche Divan" den Niederschlag seiner Islam-Studien im Alter darstellt, gehört das Mahomet-Projekt in seine Frühzeit. Es ist um die Jahreswende 1772/1773 begonnen worden und Fragment geblieben. Im Entwurf aber war es über fünf Akte hin durchkomponiert. Goethe berichtet darüber im 14. Buch von "Dichtung und Wahrheit". Er behandelt in diesem dramatischen Konzept den Weg zur Instrumentalisierung von Religion. Konkretisiert soll das an der Geschichte Mohammeds werden. Dabei leitet ihn kein islamfeindlicher Affekt, im Gegenteil: er betont, dass er Mohammed "nie als einen Betrüger hatte ansehn können"(19). Das war zu seiner Zeit, wo eine Diffamierung des Islam aus dem Betrugsverdacht gegen Mohammed ihr Hauptargument bezog, ein Zeugnis von bemerkenswerter religiöser Toleranz. Die übliche Kritik am Islam ist es also nicht, die Goethe aufgreifen und mit seinem dramatischen Spiel bekräftigen wollte. Ihm ging es vielmehr um das Problem eines äußeren Verrats an den inneren Wahrheiten der Religion. Um deren geschichtliche Verunstaltung. Um den Prozess ihrer fortschreitenden Instrumentalisierung. Dies war auch nach Goethes Verständnis kein spezifisches Problem des Islam. Es hing dem Christentum nicht weniger an und prägte dessen Geschichte. Fürs Drama wählt Goethe bloß beispielhaft eine außerchristliche Geschichte und Gestalt in fremder Kulisse, weil sie geeignet erscheint, sich vorbehaltloser auf den Gang der Ereignisse einzulassen. Dieser Gang der Ereignisse folgt einer Richtung, die Goethe selbst formuliert: "Das Himmlische, Ewige, wird in den Körper irdischer Absichten eingesenkt"(20), d.h.: Gott und die Religion werden irdisch-menschlichen Zwecksetzungen unterworfen, also instrumentalisiert. Die Zwecke, für die man sie in Gebrauch nimmt, triumphieren über den Gehalt, sodass die betreffenden religiösen Wege "anstatt zum Heil, vielmehr zum Verderben führen"(21). Das Drama soll beginnen mit einem Monolog, der Mohammeds Erkenntnis des einen und einzigen Gottes zum Gegenstand hat. Goethe verarbeitet dabei eine alte Legende, die im Koran schon mit Abraham verbunden wurde (Sure 6, 76-79). Es ist eine Erzählung von der monotheistischen Gotteserkenntnis. Demnach verehrt Abraham/Mohammed zuerst einen strahlenden Stern am Himmel, anschließend den Mond, schließlich die Sonne. Und dann sagt Abraham im Wortlaut des Koran: "Siehe, ich wende mein Angesicht lautern Glaubens zu dem, der die Himmel und die Erde erschaffen" (Sure 6,79), und Goethe formuliert im Blick auf Mohammed: "das Gemüt empfindet, dass es sich nochmals überbieten muss; es erhebt sich zu Gott, dem Einzigen, Ewigen, Unbegrenzten, dem alle diese begrenzten herrlichen Wesen ihr Dasein zu verdanken haben"(22). Jahrzehnte später erinnert Goethe sich an diese Eingangshymne zu seinem "Mahomet", die er "mit viel Liebe Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 4/7 gedichtet" hatte, besonders genau. Der Text war ihm abhanden gekommen, er ist später jedoch aus dem Nachlass der Frau von Stein wieder aufgetaucht. Mahomets Monolog am Anfang illustriert die Klarheit der natürlichen Gotteserkenntnis und die Reinheit religiöser Ehrfurcht. Aber damit ist es bald vorbei. Die Absicht, der religiösen Einsicht öffentliche Geltung zu verschaffen, bringt auf den Weg ihrer unheilvollen Verfälschung. Aus Gesinnung wird Diktat, aus Verehrung Zwanghaftigkeit. Im zweiten Akt entsteht der Streit, "und Mahomet muss entfliehn. Im dritten Akt bezwingt er seine Gegner ... Das Irdische wächst und breitet sich aus, das Göttliche tritt zurück und wird getrübt. Im vierten Akte verfolgt Mahomet seine Eroberungen, die Lehre wird mehr Vorwand als Zweck, alle denkbaren Mittel müssen benutzt werden; es fehlt nicht an Grausamkeiten"(23). Und selbst wenn der Schluss versöhnlich ausfällt - offensichtlich, um den üblichen Schmähungen der Gestalt des Propheten nicht Vorschub zu leisten - , wenn Mahomet also zuletzt wieder "zu sich selbst, zum höheren Sinne" findet und sozusagen rehabilitiert wird, steht die Kernbotschaft des Dramenentwurfs im Zeichen der Kritik. Nicht einer Kritik an der Religion selber, aber an deren absichtsvoller Verkehrung. Das "Himmlische" wird so irdischen Bedingungen und Interessen unterworfen. Es wird seiner Freiheit beraubt und mit Zwängen, mit Gewalt, mit "Grausamkeiten" überzogen. Mit solcher Instrumentalisierung geht notwendig eine kämpferische Intoleranz einher. Wer in und mit der Religion siegen möchte, muss zu Unterlegenen machen, was immer ihr entgegenzustehen scheint. Reserven gegenüber der "natürlichen Religion" Eine denkbare Lösung könnte in der Abkehr von den so genannten "positiven" oder "Offenbarungs"-Religionen und in der Hinwendung zur "natürlichen Religion" liegen. Natürliche Religion ist eine Sache vernünftiger Einsicht, nicht dogmatischer Festlegung. Sie ist universal und unpolemisch. Sie verlangt keine Bekenntnisse und keine Bekehrungsakte, und Intoleranz ist ihr von Hause aus fremd. Doch Goethe unternimmt diesen Schritt nicht ohne weiteres. Gewiss fehlt es nicht an Äußerungen, die seine Sympathie bekunden für das, was man als "natürliche Religion" zu bezeichnen pflegt. Aber er hat auch seine Reserven dagegen und sie werden namentlich an zwei Punkten greifbar: bei einer mehr kulturgeschichtlichen Beobachtung und bei einer Überlegung zum Charakter des Glaubens. Goethe macht die allgemeine Beobachtung, dass es typisch sei für die aufklärerische Zeit, eine "besondere Mäßigkeit" zu üben. Das ist die Unlust zum Extremen und die Neigung, harten Polaritäten zu entgehen. Man ist bestrebt, "durchaus die Mittelstraße und Billigkeit gegen alle Meinungen für das Rechte" zu halten(24). Das ist ein Weg zur Toleranz, der auf Kosten der Profile geht, und Goethe zögert nicht, ihn abzulehnen. Die allgemeine Tendenz zur "Mäßigkeit" sieht er von den Theologen geteilt, wo sie "zu der sogenannten natürlichen Religion hinneigen". Inwiefern? Goethe: "Aus jenem Mäßigkeitsprinzip (!) gab man sodann sämtlichen positiven Religionen gleiche Rechte, wodurch denn eine mit der andern gleich-gültig und unsicher wurde"(25). Wo ein übergeordnetes Prinzip (vor allem, wenn es sich um das "Mäßigkeitsprinzip" handelt) das Urteil fällt, dass alle positiven, geschichtlichen Religionen "gleiche Rechte" und gleiche Gültigkeit hätten, verordnet es deren Gleichgültigkeit. Die Toleranz der "Mäßigkeit" will wegschleifen und glätten, was in die Form solcher Mäßigkeit nicht passt. Sie ist zudem ein künstliches Gebilde, das die innere Kraft der positiven Religion verkennt. Denn, so lautet Goethes zweite Bemerkung in dieser Sache: "Die allgemeine, die natürliche Religion bedarf eigentlich keines Glaubens"26.Goethe trifft an dieser Stelle die wichtige Unterscheidung zwischen "Glauben" und "Überzeugung". "Glauben" ist eine existenzielle Erfahrung, "Überzeugung" eine intellektuelle Leistung. Darum erklärt er: "Zur Überzeugung kann man zurückkehren, aber nicht zum Glauben"27. Dass ein "großes, hervorbringendes, ordnendes und leitendes Wesen sich gleichsam hinter der Natur verberge", ist Ausdruck einer Überzeugung, nicht eines Glaubens. Man kann solche Überzeugung teilen, sie zwischendurch aufgeben und erneut einleuchtend finden. Eine Überzeugung verlangt nichts und sie verändert auch nichts für die Gestaltung des Lebens. - Ganz anders der Glaube, und zwar präzis der Glaube in einer Offenbarungsreligion: er ist bestimmt durch die tief greifende existenzielle Erfahrung eines Menschen, des Offenbarungsträgers, eines Stammes oder Volks. Und diese existenzielle Erfahrung revolutioniert das vorher gelebte Leben. Oft ist damit ein Weg "unendlicher Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 5/7 Prüfungen" bezeichnet, "wodurch die Glaubensfähigkeit jener Ahnherren ins hellste Licht gesetzt wird"28. Wird also, argumentiert Goethe, das Wesen der Offenbarungsreligion ernst genommen und der Glaube gewürdigt, der in ihrem Horizont sich einstellt, dann bildet das Konzept einer natürlichen Religion keine Alternative. Sie trifft nämlich nicht, was sie zu treffen meint, und bietet keine Lösung für die Konkurrenz verschiedener Religionen. Eine Toleranz der Gleichgültigkeit kommt für Goethe jedenfalls nicht in Betracht. Sie bliebe hinter der Vielfalt des Lebens (und hier eben des religiösen Lebens) weit zurück. Möglich erscheint nur, wie in den Maximen angesprochen, eine Toleranz der Anerkennung. Sie praktisch zu gestalten, bedeutet allerdings ein schwieriges Unterfangen. Goethe hat es auf seine Weise, bei seiner anerkennenden Begegnung mit dem Islam im "West-östlichen Divan" versucht. Ost und West, muslimische und christliche Kultur im Gespräch Dieses Werk, Goethes späte Lyrik, zwischen 1815 und 1820 entstanden, angeregt durch die Lektüre des "Divan", der Gedichtsammlung des persischen Dichters Hafis aus dem 14. Jh., ist nun auch ein großartiges Zeugnis Goethescher Toleranz. Dies sei an zwei Beispielen gezeigt. Talismane Gottes ist der Orient! Gottes ist der Okzident! Nord- und südliches Gelände Ruht im Frieden seiner Hände. Der Vierzeiler darf als Mitte des ganzen "Divan" angesehen werden. Er ist es vor allem aus zwei Gründen, einem formalen und einem inhaltlichen. Formal ergibt sich die Gedichtstrophe aus der Zusammenfügung zweier Teile. Denn die ersten zwei Zeilen sind Zitat, und zwar Zitat aus dem Koran, die letzten beiden stammen von Goethe selbst, allerdings mit Anklang an biblische Segensformeln. Dass Goethe in seinem "Divan" gern zitiert, und zwar aus dem Koran ebenso wie aus den Dichtungen des Rumi oder Saadi oder Hafis, entspricht seiner dialogischen Absicht: Ost und West, muslimische und christliche Kultur sollen in ein Gespräch geraten miteinander, sollen sich ergänzen und ineinander spiegeln. Der Koranvers, den Goethe zitierend aufnimmt, steht in Sure 2,142. In der Koran-Übersetzung des Joseph von Hammer, die Goethe damals vorlag und die er benutzt hat, heißt der Spruch: "Sag: Gottes ist der Orient und Gottes ist der Okzident." Das hat Goethe also wörtlich übernommen. In einem Brief vom 2. Januar 1815 an seinen Freund Boisserée hat er die Verse erstmals beigelegt und hinzugefügt, dass er täglich "eine Perikope aus dem Homer und dem Hafis" (also auch hier West-Östliches) lese und zu der "frommen Betrachtung" dieser vier Zeilen gefunden habe29. Die fromme Betrachtung, wie Goethe sie nennt, bildet vom Stil her einen Hymnus, eine Lobpreisung Gottes. Und zwar nun ausdrücklich des einen Gottes. Ob Orient oder Okzident mit den jeweils verschiedenen geschichtlich gewordenen Religionen, ob nördliche oder südliche Kultur: sie haben ihre innere Gemeinsamkeit in dem einen Gott, der Schöpfer und Erhalter ist und alles in seinen barmherzigen Händen hält. Das leuchtendste Beispiel für eine tolerante Haltung mit produktivem Effekt ist die bekannte Strophe in Goethes "Buch der Sprüche": Närrisch, dass jeder in seinem Falle Seine besondere Meinung preist! Wenn Islam Gott ergeben heißt, In Islam leben und sterben wir alle. Das ist ein Plädoyer für das innerlich Gemeinsame bei aller Religion und Religionsausübung. Gemeint ist die Haltung, die Gesinnung der Gottergebenheit. Arabisch heißt das "Islam". Aber es geht Goethe hier und an anderen Stellen eben nicht um den Islam als eigene und besondere Religionsform, denn da bewegte man sich für sein Verständnis wieder auf der Ebene, Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 6/7 wo jeder "seine besondere Meinung preist". In seinen "Noten", eigenen Erläuterungen zum "Divan", argumentiert er entsprechend: "Der Dichter steht viel zu hoch, als dass er Partei machen sollte"30. Also nicht eine bestimmte Religion möchte er favorisieren (etwa jetzt neu den Islam statt des Christentums), sondern auf die entscheidende innere Haltung aufmerksam machen und auf das praktische Verhalten, das sich daraus ergibt und das sich in östlichen wie in westlichen Religionen finden lässt: Ehrfurcht vor dem Göttlichen und Ergebenheit in Gott. Anmerkungen: 1 Dichtung und Wahrheit, Buch 16, in: Goethes Werke Bd. 10, München 12. Aufl. 2002, 76. 2 Zit. in Bd. 10, a.a.O., 584. 3 Werke Bd. 12, 229. 4 Ebd. 5 Ebd. 6 A.a.O., 232. 7 A.a.O., 234. 8 A.a.O., 232. 9 Ebd. 10 A.a.O., 237. 11 Maximen und Reflexionen Nr. 151, Bd. 12, 385. 12 Bd. 10, 156. 13 A.a.O., 157. 14 A.a.O., 158. 15 A.a.O., 16. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 A.a.O, 39. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 A.a.O., 40. 23 Ebd. 24 Dichtung und Wahrheit, Buch 7, Bd. 9, 274. 25 Ebd. 26 A.a.O., 138. 27 Ebd. 28 A.a.O., 139. 29 Zit. bei K. Mommsen, Goethe und der Islam, 2001, 411. 30 Bd. 2, 178. Deutsches Pfarrerblatt, ISSN 0939 - 9771 Herausgeber: Geschäftsstelle des Verbandes der ev. Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland e.V Langgasse 54 67105 Schifferstadt Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 7/7