Dr. sc. hum. Anette Brechtel Diplom-Psychologin Nationales Centrum für Tumorerkrankungen Heidelberg Sektion Psychoonkologie Sexuelles Erleben –– ein (Tabu-)Thema für Patienten und Betreuende? 14. Internationales Seminar Onkologische Krankenpflege – Fortgeschrittene Praxis 25./26. August 2011 St. Gallen Bedeutung von Sexualität … angesichts einer Krebserkrankung Ausmaß und Umfang sexueller Beeinträchtigungen und Probleme Mythen und Tabuthemen Notwendigkeit und Möglichkeiten der Unterstützung Sensibilisierung und Selbstreflektion Körperliches Erleben Krankheit emotionales Erleben Beeinträchtigung des sexuellen Erlebens soziales Erleben Sexualität und Krebserkrankung … Bedeutung sexuellen Erlebens: … „ … ein zentraler Aspekt im Leben eines Menschen – Geschlecht, Geschlechtsidentität und soziale Rolle, sexuelle Orientierung, Erotik, Freude, Vergnügen, Genuss, Intimität, Fortpflanzung. Sexualität wird erfahren und findet Ausdruck in Gedanken, Phantasien, Wünschen, Überzeugungen, Einstellungen, Werten, Verhaltensweisen, Praktiken, Rollen und Beziehungen.“ WHO 2003 – übersetzt A. Brechtel Sexualität hat zu tun mit … Selbstwert Lebensqualität Partnerschaft und Liebe Fruchtbarkeit Weiblicher/ männlicher Identität sich spüren/sich nah sein Leben/ lebendig sein sich attraktiv und begehrenswert finden Patienten erwarten, von ihren Behandlern angesprochen zu werden jeder 2. bis 3. Patient erwartet, von seinem Hausarzt angesprochen zu werden (Buddeberg et al. 2007) Informationsbedarf zum Thema Sexualität auch bei älteren Patienten/innen 50% der Männer und Frauen im Alter von 40-70 Jahren 30% der Frauen im Alter von 70-80 Jahren (Hartmann et al. 2002) Krebspatienten wünschen sich Aufklärung und Information bei 80% der Männer mit Prostata-Ca und bei 38% der jeweiligen Partnerinnen, die vom Arzt nicht angesprochen wurden (Rösing & Berberich 2004) Vergleich des sexuellen Erlebens von Mamma-CaPatientinnen mit einer Kontrollgruppe (Broeckel et al. 2002) Orgasmusprobleme Probleme der Erektion Unfähigkeit, zu entspannen und Sex zu genießen mangelnde Appetenz allg. sexuelle Funktionsfähigkeit 0,00 0,50 1,00 1,50 2,00 2,50 Zufriedenheit mit Beziehung vaginale Trockenheit Hitzewallungen Brustkrebs Überlebende Kontrollgruppe Depression Fatigue -6,00 -4,00 -2,00 0,00 2,00 4,00 6,00 8,00 10,00 Veränderungen der Sexualität bei langzeitüberlebenden Patientinnen nach Vaginal- und Gebärmutterhalskrebs Gefühl, dass Sex für den Partner unangenehm Blutungen nach Geschlechtsverkehr Gefühl der Unattraktivität wegen Narben Blaseninfektion oder Inkontinenz nach Geschlechtsverkehr kein Spaß am Sex Versagensangst keinen Orgasmus Schmerzen beim Verkehr Lubrikationsprobleme verminderte Lust 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Kontrollgruppe (n=320) Patientinnen (n=160) Lindau et al. (2007) Gynecologic Oncology % Veränderungen der Sexualität bei Patientinnen mit Gebärmutterhalskrebs wenig bis gar kein sex. Interesse in den letzten 6 Monaten 41% 41% Reduziertes sex. Interesse in den letzten 5 Jahren Mittlere bis hohe Belastung durch Veränderungen des sex. Interesses Kontrollgruppe n = 350 58% 54% 23% 48% Beeinträchtigung der Lubrikation in den letzten 6 Monaten 11% 26% Mittlere bis hohe Belastung durch Lubrikationsstörung 39% Ca-Pat. n = 256 54% Verminderte sexuelle Erregung in den letzten 6 Monaten 25% 36% Mittlere bis hohe Belastung bei anhaltender Erregungsstörung 26% 51% 58% Geschlechtsverkehr: < 2 x pro Monat in den letzten 6 Monaten Kein Geschlechtsverkehr in den letzten 6 Monaten 64% 28% 32% 35% dadurch bedingte mittlere bis hohe Belastung 50% 0% 10% Bergmark et al (1999) New England J of Med 20% 30% 40% 50% 60% 70% Sexuelle Probleme nach Ileostoma-Anlage N = 128, (m = 69, w =59), 7 Jahre postoperativ sexuell inaktiv wegen des Stomas Störung der Partnerschaft Gefühle der Trauer und Verzweiflung Ekel "Stoma als "Makel Selbstbildnis gestört 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 % Hartlapp 2006 Sexualität – ein Tabuthema in der ärztlichen Praxis auch in der Pflege-Praxis? ? ? „Wie gehe ich mit dem Thema Sexualität um?“ ? „Mit wieviel Personen spreche ich über dieses Thema?“ ? „Mit wem spreche ich über Sexualität?“ ? „Wann spreche ich darüber?“ ? „Was bespreche ich?“ „Hatten Sie in den letzten 12 Monaten sexuelle Schwierigkeiten, die länger als 1 Monat andauerten?“ Männer: 35% JA Frauen: 54% JA Mercer et al. (2003) BMJ 11161 Frauen und Männer im Alter von 16 bis 44 Jahren länger dauernde sexuelle Störungen bei 10% der Durchschnittsbevölkerung Buddeberg (2007) Praxis Sexuelle Probleme und Funktionsstörungen: Frauen Sexuelle Lustlosigkeit/Appetenzstörung Sexuelle Aversion Störungen der sexuellen Erregung Versagen genitaler Reaktionen Orgasmusstörung Mangelnde sexuelle Befriedigung nachorgastische Verstimmung Vaginismus Dyspareunie Sexuelle Funktionsstörungen: Frauen Lubrikationsprobleme 18 19 6 6 Versagensängste 11 16 17 17 Sex nicht angenehm 8 13 Schmerzen beim Sex 27 21 24 15 27 21 23 22 Orgasmushemmungen 26 28 27 Mangelndes Interesse 0 Brandenburg, U. et al. (2002) 5 10 15 50-59 40-49 30-39 18-29 20 25 30 30 32 32 35 Sexuelle Probleme und Funktionsstörungen: Männer Sexuelle Lustlosigkeit/Appetenzstörung Erektionsstörung Schmerzhafter Geschlechtsverkehr/Dyspareunie Orgasmusprobleme: vorzeitige Ejakulation ausbleibende Ejakulation Ejakulation ohne Befriedigung retrograde Ejakulation nachorgastische Verstimmung Sexuelle Funktionsstörungen: Männer Erektionsstörungen 9 7 18 11 14 Versagensängste 17 6 Sex nicht angenehm 8 19 19 9 10 28 Vorzeitiger Erguss Orgasmushemmungen 7 7 15 13 14 Brandenburg, U. et al. (2002) 5 31 32 30 9 9 Mangelndes Interesse 0 50-59 40-49 30-39 18-29 10 15 17 20 25 30 35 Sexualität im Alter … Die sexuelle Aktivität und das sexuelle Interesse nehmen bei Frauen und Männern mit zunehmenden Alter ab, erlischt aber nur selten ganz. Interesse an Sexualität in jungen Jahren als Prädiktor für die Bedeutung von Sexualität im Alter (Bucher et al. 2001) 24% der 85-jährigen verheirateten Frauen und 46% der 85jährigen verheirateten Männer berichten über sexuelle Empfindungen (Skoog, 1996) Von erotischen Träumen berichten 74% der 50 – 79-Jährigen und 1/3 der über 80-Jährigen Sexuelles Interesse haben 71% der 50 – 80-jährigen verheirateten Frauen (von Sydow, 1995) Mythos Sexualität Sexualität verliert im Alter an Bedeutung! Männer können und wollen immer! Zum guten Sex gehört ein Glückliche Paare Die Lust fällt vom Himmel! Orgasmus! haben erfüllenden Sex! Guter Sex ist ein Garant für die Guter Sex ist spontan! Beziehung! Sexuelle Störungen im Zusammenhang mit Krebserkrankungen werden meist tabuisiert sehr stark schwankende Inzidenzangaben: 30 – 90% treten um so häufiger auf, je stärker Erkrankung und Therapie direkt die Sexualorgane betreffen sind meist interagierende bzw. Summationseffekte von „sexuellen Dysfunktionen“ und „funktionellen Sexualstörungen“ Können nur durch offene Kommunikation bewältigt werden Veränderung bzw. Beeinträchtigung von Sexualität durch eine Krebserkrankung Belastung (persönlich und partnerschaftlich) ☺ Entlastung („Vorbei mit der Verlust einer Ressource ☺ Chance zur Reflektion und Beeinträchtigung des Selbstwertes Beeinträchtigung der Lebensqualität … Pflichterfüllung!“) Neubestimmung ☺ Chance für eine Wiederbelebung einer „vergessenen“, „verloren geglaubten“ Ressource ☺… Patientengruppen, die besonders gefährdet sind, psychische und sexuelle Probleme zu entwickeln: Patienten, die noch nicht oder nicht mehr in einer festen Partnerschaft leben Patienten, die erst seit kurzem in einer neuen Partnerschaft leben Patienten, die häufig wechselnde Sexualkontakte pflegen Patienten mit einer sexuellen Vorgeschichte, die traumatisch oder extrem belastend erlebt wurde Weitere Patientengruppen, die besonders gefährdet sind, psychische und sexuelle Probleme zu entwickeln: Patienten mit Fehleinschätzungen über die „natürliche“ Veränderung von Sexualität im Alter Patienten ohne Fähigkeit zur Kommunikation über Sex und Krankheitsfolgen Patienten, die unter radikalen und aggressiven Therapien leiden Patienten, bei denen in der Vorgeschichte bereits Sexualstörungen aufgetreten sind Ursachen sexueller Störungen/Probleme bei Krebspatienten/innen • Erkrankungs- und behandlungsbedingte körperliche Ursachen • Medikamente/Substanzen • Psychosoziale Ursachen Körperliche Ursachen sexueller Störungen bei Krebspatienten/Innen • Allgemeine Verschlechterung des körperlichen Befindens (z. B. Fatigue-Syndrom) • Krankheits- und/oder behandlungsbedingte unmittelbare Schädigung von Genitalorganen • Krebs- und/oder behandlungsbedingte Einschränkungen sexueller Funktionen • Wundschmerzen nach operativen Eingriffen • Tumor- und/oder Metastasenlokalisation im Zentralnervensystem • Nebenwirkungen von Behandlungsmaßnahmen, die die Fertilität beeinträchtigen • Lageveränderungen innerer Organe Psychosoziale Ursachen sexueller Störungen bei Krebspatienten/Innen • Konfrontation mit der Diagnose Krebs und deren Auswirkungen auf das Selbsterleben und Selbstwertgefühl • Krankheits- oder behandlungsbedingte depressive Verstimmungen und Ängste • Krebs- und/oder behandlungsbedingte Veränderungen des Körperbildes sowie damit verbundener Verlust des Empfindens der eigenen Attraktivität • Fehlvorstellungen und Wissensdefizite über Sexualität nach einer Krebserkrankung • Falsche Erwartungen, Normen und Wertvorstellungen • durch die Erkrankung ausgelöste, zuvor latent vorhandene Partnerschaftskonflikte • Sexuelle Versagensängste PLISSIT-Modell (Annon & Robinson, 1978; Annon, 1987) P ermission Gesprächsbereitschaft signalisieren L imited I nformation Die richtige Information zur richtigen Zeit zur Aufklärung und Korrektur von Fehlvorstellungen und Wissensdefiziten S pecific S uggestions I ntensive T herapy konkrete Informationen, Empfehlungen, Ratschläge Unterstützung durch Weitergabe von Kontaktadressen von Psycho- und/oder Sexualtherapeuten oder Sexualberatungsstellen Was wir tun können ... Gesprächsbereitschaft signalisieren Gesprächsangebot - „Hat sich durch die Erkrankung etwas in Ihrer Partnerschaft verändert?“ (niederschwellig) Informationen über sexuelle Störungen, deren Ursachen und Auswirkungen Informationen zu Behandlungsmöglichkeiten Unterstützung bei der Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper, den krankheitsbedingten Veränderungen und deren Bedeutung Vermittlung entsprechender Unterstützungs- bzw. Beratungsangebote Anregung gemeinsamer Gespräche/ Miteinbeziehung des Partners/der Partnerin Erarbeitung konkreter Bewältigungsstrategien Was wir tun können ... Unterstützung bei der Auseinandersetzung mit dem Gesprächsbereitschaft signalisieren eigenen Körper, den- krankheitsbedingten Gesprächsangebot „Hat sich durch die Erkrankung etwas in Ihrer Partnerschaft verändert?“ (niederschwellig) Veränderungen und deren Bedeutung Informationen über sexuelle Störungen, deren Ursachen Gefühle wahrnehmen und aushalten und Auswirkungen Betrauern möglich machen und begleiten Informationender zuSpirale Behandlungsmöglichkeiten Bewusstmachen von Sprachlosigkeit, Rückzug und Scham eine passende Sprache finden Unterstützung bei der Auseinandersetzung mit dem Betroffene lassen, dass sie über das Thema Veränderungen sprechen können eigenen erleben Körper, den krankheitsbedingten Anregungen Anstöße geben, Einstellungen und Wissen zu und derenund Bedeutung überdenken „Bei der Stange halten“ auch bei Problemen Bedeutung von Kommunikation Die therapeutische Wirkung kurzer Gespräche Betroffene erleben, dass sie über das Thema sprechen können Vorbildfunktion, Modelllernen der/die Betroffene fühlt sich in seinem Erleben ernst genommen, kann Trauer, Scham, … zulassen der/die Pflegende kann Empfindungen benennen, die der/die Betroffene selbst nicht aussprechen kann der /die Betroffene bekommt Anregungen und Anstöße, um Einstellungen und Wissen zu überdenken der/die Pflegende kann die/den Betroffene/n auf zu erwartende Probleme vorbereiten und dazu Hilfestellung geben … Literaturempfehlungen, Internetadressen und Broschüren: siehe Handout