1.3 Die Verteilungstheorie - MONARCH

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1.3 Die Verteilungstheorie
1.3.1 Überblick
Das Interesse an verteilungstheoretischen Fragestellungen war für die
russische Volkswirtschaftslehre des ausgehenden 19. und beginnenden 20.
Jahrhunderts charakteristisch. Die Ursache dafür dürfte in der tief verwurzelten Überzeugung liegen, die auf individuellem Gewinnstreben und Privateigentum an den Produktionsmitteln basierende kapitalistische Wirtschaftsordnung schließe eine gerechte Verteilung des Sozialprodukts grundsätzlich aus.
Ein Dorn im Auge war den Nationalökonomen Russlands dabei vor allem der
Gewinn des Unternehmers. Verstärkt wandten sie sich deshalb der Profittheorie zu.1
Ein Großteil der Forscher, von denen S. N. Bulgakov sowie N. F. Danielson ⟨Nikolaj-On⟩ hervorzuheben sind,2 schloss sich zunächst der Marx’schen
Ausbeutungslehre an, welche wiederum auf dessen Mehrwerttheorie beruht.
Wert- und Verteilungslehre sind hier untrennbar miteinander verbunden.
Nach Auffassung Marx’ entsteht Profit allein aus unbezahlter Arbeit:3
Der Kapitalist ist an der Produktion einer Ware nicht direkt beteiligt. Er stellt
die Produktionsmittel zur Verfügung, mit deren Hilfe die Lohnarbeiter das
Gut erzeugen. Der Wert W des Erzeugnisses ermittelt sich aus dem in „gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit“ gemessenen Verschleiß an Rohmaterialien und den Maschinenabschreibungen (der indirekten oder toten Arbeit
bzw. dem konstanten Kapital c) sowie der direkten oder lebendigen Arbeit.
Letztere teilt sich auf in die notwendige Arbeit (das variable Kapital v),
welche die zur Reproduktion der Arbeitskraft erforderliche und in Form von
(Subsistenz-)Löhnen vergütete Zeit angibt, sowie die Mehrarbeit (den Mehrwert m), welche für den Kapitalisten zusätzlich und unbezahlt geleistet werden muss.
(1)
W =c+v+m
1 Vgl. Seraphim, H.-J., Neuere russische …, a.a.O., S. 51.
2 Vgl. ebenda, S. 120 ff.
3 Zum Folgenden siehe Helmedag, F., Warenproduktion mittels Arbeit, 2. Aufl.,
Marburg 1994, S. 172 ff.
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Überblick
Entscheidend für die Marx’sche Argumentation ist die These, dass allein die
lebendige Arbeit in der Lage ist, dem Rohstoff Wert hinzuzufügen. Den
Mehrwert eignet sich der Unternehmer bei Realisierung der Ware auf dem
Markt als Profit an. Er entsteht dadurch, dass der Kapitalist die „doppelt
freien“ Arbeiter4 zwingen kann, über jene Zeit hinaus zu produzieren, die zur
Erstellung der von ihnen konsumierten Produkte notwendig wäre. Somit
beutet er sie aus. Der Grad der Ausbeutung wird mittels der Mehrwertrate
m ′ gemessen, die das Verhältnis von Mehrarbeit und notwendiger Arbeit
angibt:
(2)
m′ = m
v
Marx nimmt an, dass die Mehrwertrate in allen Sektoren gleich ist. Die
individuelle Profitrate p ′ ermittelt er als Quotient aus Mehrwert zum gesamten in die Produktion eingebrachten Kapital:
(3)
p′ =
m
c+v
Im Konkurrenzgleichgewicht entspricht die individuelle Profitrate der
gesamtwirtschaftlichen Durchschnittsprofitrate:
(4)
p′ =
M
C +V
M symbolisiert die Summe der sektoralen Mehrwerte, C und V die der
einzelwirtschaftlichen konstanten bzw. variablen Kapitale. Teilt man nun
Zähler und Nenner der rechten Seite von (4) durch V, ergibt sich:
(5)
M
m′
p′ = V =
C +1 Q +1
V
4 D.h. Subjekte, die nicht Eigentümer der Produktionsmittel, doch zum Vertragsab-
schluss berechtigt sind. In den Worten Marx’: „... frei in dem Doppelsinn, daß er ⟨der
Arbeiter⟩ als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, daß er
andrerseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur
Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen.“ (Marx, K., Das Kapital, Bd. 1, 32.
Aufl., Berlin 1988, S. 183; vgl. ebenfalls S. 742.)
50
Die Verteilungstheorie
Dabei bezeichnet Q die gesamtwirtschaftliche „organische Zusammensetzung
des Kapitals“.
Formel (5) weist auf eine wichtige Implikation der Marx’schen Kapitalismusanalyse hin: Bleibt die Mehrwertrate unverändert und erhöht sich im
Verlaufe der kapitalistischen Entwicklung die organische Zusammensetzung
des Kapitals infolge einer konkurrenzbedingten Akkumulation des Mehrwerts
im konstanten Kapital, dann sinkt die Profitrate. Dies führe zu vermehrten
wirtschaftlichen Krisen und letztlich zum Zusammenbruch des kapitalistischen Systems.5
Dieses „Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate“ bildete nun auch
den Hauptangriffspunkt der sich seit Ende der 1890er Jahre vermehrt
regenden kritischen Stimmen, an deren Spitze erneut Tugan-Baranovskij und
Struve standen.6 Da über deren verteilungstheoretische Ansichten unten
ausführlich berichtet wird, an dieser Stelle nur soviel: Beide sind der
Meinung, dass Marx die mit technischem Fortschritt einhergehende Steigerung der Arbeitsproduktivität nicht korrekt in seine Mehrwerttheorie
integriere. Der Fehler liege darin, dass er einzig die menschliche Arbeit als
mehrwertschaffende Kraft berücksichtige. Mit gleichem Recht könne
Mehrwert aber auch durch Tiere oder Maschinen erzeugt werden. Vor diesem
Hintergrund mache die Marx’sche Einteilung des Kapitals in konstante und
variable Bestandteile keinen Sinn. Der Mehrwert sei damit nämlich keine
Funktion des variablen Kapitals allein, sondern verändere sich in Abhängigkeit vom Gesamtkapital. Des Weiteren variiere die Ausbeutungsrate. Dann
5 Vgl. hierzu Dobias, P., Sozialismus – Marxismus, in: Issing, O. (Hrsg.), Geschichte
der Nationalökonomie, 3. Aufl., München 1994, S. 117 ff.
6 Vorausgegangen waren den Arbeiten Struves und Tugan-Baranovskijs einige kritische
Studien an der Universität Kiev sowie Beiträge von J. G. Žukovskij (Karl Marks i ego
sočinenie o kapitale ⟨Karl Marx und sein Werk über das Kapital⟩, in: Vestnik Evropy, V,
1877), V. F. Zaleskij (Učenie o proischoždenii pribyli na kapital ⟨Die Lehre von der
Entstehung des Profits auf das Kapital⟩, Otdel II: Učenie o kapitale ⟨Die Kapitaltheorie⟩,
Kazan 1898) sowie L. Z. Slonimskij (Versuch einer Kritik der Karl Marx’schen
ökonomischen Theorien, 2. Aufl., Berlin 1899). Deren kritische Bemerkungen zur
Theorie Marx’ deckten sich teilweise mit denen Tugan-Baranovskijs und Struves. Doch
erst mit den Schriften der beiden führenden Nationalökonomen entbrannte eine
stürmisch geführte Diskussion zum Verteilungsproblem, welche die Gemüter der
gesamten russischen Intelligenz bewegte. Vgl. Seraphim, H.-J., Neuere russische …,
a.a.O., S. 127 ff.
Überblick
51
lassen sich aber bezüglich der Entwicklung der Profitrate ganz andere
Schlüsse ziehen: Statt zu fallen, wird sie steigen oder zumindest konstant
bleiben. Konsequenterweise sei deshalb die Mehrwerttheorie Marx’ und die
auf ihr fußende Ausbeutungslehre abzulehnen.
Aber Tugan-Baranovskij und Struve gehen noch einen Schritt weiter: Sie
sind der Ansicht, dass es für eine Theorie der funktionellen Verteilung
überhaupt keiner Wert- bzw. Preislehre bedarf. Das Verteilungsproblem sei
ein Problem sui generis. Zwar habe Marx Recht, es als Ausdruck sozialer
Machtverhältnisse zu betrachten, seine Lösung in Verbindung mit der
Mehrwerttheorie sei aber inkorrekt. Ebenso genüge der von den Grenznutzentheoretikern eingenommene individuelle Standpunkt bei der Preisbestimmung nicht, die Hauptaufgabe einer Verteilungstheorie zu bewältigen,
welche darin bestehe, die Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen
Einkommenskategorien zu erklären. Stattdessen müsse der gegenseitige
Einfluss der einzelnen sozialen Gruppen beachtet und die Aufteilung des
Sozialprodukts in Löhne und Profite damit aus dem Kampf der gesellschaftlichen Klassen (Arbeiter, Kapitalisten) um ihre Anteile auf Grundlage deren
relativer sozialer Stärke erklärt werden.
Struve hat seine Position später aufgegeben. Tugan-Baranovskij dagegen
versuchte, eine eigene „soziale Verteilungstheorie“ zu entwickeln, in der er
ausbeutungs- und produktivitätstheoretische Elemente zu vereinigen gedachte. Diese hat zwar keinen großen Anklang gefunden, allerdings war die
gewiesene Richtung sehr einflussreich. Die Hervorhebung des sozialen
Charakters der Verteilung ist typisch für die russische Nationalökonomie zu
Beginn des 20. Jahrhunderts.7 So zählt z.B. die von Dmitriev besprochene
Arbeit S. I. Solncevs (1872-1936) zu dieser Strömung.8
Daneben gab es aber natürlich auch andere Auffassungen, welche die
funktionelle Verteilung als Ergebnis des Preisbildungsprozesses betrachteten.
Beachtung erfuhr insbesondere die von Clark ausgearbeitete Grenzproduktivitätstheorie.9 Gemäß dieser Lehre werden die einzelnen Produktionsfaktoren
7 Vgl. ebenda, S. 139.
8 Solncev, S. I, Zarabotnaja plata, kak problema raspredelenija ⟨Der Lohn als Vertei-
lungsproblem⟩, St. Peterburg 1911. Die Rezension Dmitrievs lautet: Novyj opyt
„rešenija” problemy raspredelenija ⟨Ein neuer Versuch der „Lösung“ des Verteilungsproblems⟩, in: Russkaja Mysl', n. 3, 1912, S. 9-14. Siehe Kapitel 2.3.7, S. 267 ff.
9 Vgl. Paškov, A. I. u.a., Istorija ..., a.a.O., tom III, čast' 1, S. 199.
52
Die Verteilungstheorie
Arbeit, Kapital und Boden, welche alle einen spezifischen Beitrag zum
Gesamtprodukt erbringen, entsprechend ihrem wertmäßigen Grenzprodukt
entlohnt. Entscheidend ist also das Marginalkalkül: Lohn, Profit und Rente
ergeben sich aus der letzten wirtschaftlich noch zulässigen, d.h. einem
Unternehmer noch Gewinn bringenden Einheit eines Faktors. Grenzarbeiter,
Grenzkapital und Grenzboden bestimmen somit das Einkommen auch der
restlichen Teile der jeweiligen Gruppe.10 Als Anhänger der Grenzproduktivitätstheorie gilt neben (dem späten) Dmitriev N. N. Šapošnikov.11 Allerdings
stand Letzterer äußerst kritisch dem dieser Lehre zugrunde liegenden Prinzip
der vollkommenen Konkurrenz gegenüber.12
Eine modifizierte Produktivitätstheorie entwickelte V. F. Zaleskij.13 Diese
wurde jedoch ebenso wie seine werttheoretischen Ansichten kaum beachtet.
Zaleskij geht bei seiner Erklärung des Profits davon aus, dass dieser nur aus
dem Wesen des Kapitals herrühren könne. Denn das Kapital sei neben der
Arbeit ein selbständiger produktiver Faktor. Beide leisten im Produktionsprozess einen eigenständigen Beitrag zur Schaffung des Mehrprodukts.
Derjenige Teil des Mehrprodukts, welcher durch die auf dem Verbrauch von
Energie außerhalb des menschlichen Organismus (mechanische, physikalische, chemische Kräfte) basierende Kapitalnutzung entstanden ist, stellt den
Profit dar. In seiner Profiterklärung abstrahiert Zaleskij sowohl von der
Ausbeutung der am Herstellungsprozess mitwirkenden Arbeiter als auch von
der Zeit, innerhalb derer die Gütererzeugung vonstatten geht.14
Das Zeitmoment spielt dagegen in der Agio-Theorie Böhm-Bawerks die
Hauptrolle. Die meisten russischen Ökonomen standen dessen Lehre
allerdings kritisch gegenüber, Anhänger fand sie nur sehr wenige.15 Böhm-
10 Vgl. Stavenhagen, G., Geschichte der Wirtschaftstheorie, 4. Aufl., Göttingen 1969, S.
250.
11 Vgl. Paškov, A. I. u.a., Istorija ..., a.a.O., tom III, čast' 1, S. 199. Paškov bezieht sich
bei seiner Einschätzung auf Šapošnikov, N. N., Teorija cennosti i raspredelenija ⟨Die
Theorie des Wertes und der Verteilung⟩, Moskva 1912. Die relevante Aussage Dmitrievs
liest man in Dmitriev, V. K., Novyj russkij ..., a.a.O., S. 112 f. Siehe 2.3.5, S. 244 f.
12 Vgl. Želesnov, V. J., Rußland, a.a.O., S. 172.
13 Zaleskij, V. F., Učenie ..., Otdel II, a.a.O.
14 Intensiv beschäftigt sich mit der Theorie Zaleskijs Seraphim, H.-J., Neuere russische
…, a.a.O., S. 165 ff.
15 Vgl. ebenda, S. 149.
Überblick
53
Bawerk sieht die Ursache des Gewinneinkommens in der unterschiedlichen
Bewertung von Gegenwarts- und Zukunftsgütern. Gegenwartsgüter werden
von den Wirtschaftssubjekten aus drei Gründen höher geschätzt: (1) aus der
Verschiedenheit des Verhältnisses von Bedarf und Deckung in den unterschiedlichen Zeiträumen, (2) aus der systematischen Unterschätzung künftiger Bedürfnisse und der zu ihrer Befriedigung dienenden Mittel, (3) aus der
Meinung, dass gegenwärtige Güter bessere Mittel der Bedürfnisbefriedigung
sind und daher einen höheren Grenznutzen aufweisen als zukünftige.16 Der
Kapitalzins ist nun eine Folge der Zeitdifferenz. Verzichtet jemand auf den
Genuss von Gütern heute und stellt die nicht ausgegebenen Mittel als
Produktionsdarlehen zur Verfügung, so erhalte er an zukünftigen Gütern
nicht nur das Gleiche, sondern auch ein Mehr, das Agio zurück.17 Dem liegt
die Böhm-Bawerk’sche Vorstellung der „Mehrergiebigkeit von Produktionsumwegen“ zugrunde.18 Damit meint er die produktive Verwendung von
Gegenwartsgütern, die Herstellung von Produktionsmitteln, deren Einsatz zu
einer ergiebigeren Produktion führt. Der Ausstoß von Zukunftsgütern ist
höher als der Einsatz von Gegenwartsgütern. Der Kapitalzins entspringt also
der Wertdifferenz zwischen Gegenwarts- und Zukunftsgütern und wird für
die Überlassung der Ersteren gezahlt. Diese Argumentation sei gleichermaßen auf den Arbeitsmarkt anwendbar, Ausbeutung findet dann nicht statt.19
Die russische Kritik richtete sich vorrangig gegen die drei von Böhm-Bawerk
angeführten Gründe der Minderschätzung von Zukunftsgütern. Sie seien
sowohl methodologisch fehlerhaft, als auch realitätsfremd. Die Agiotheorie
müsse deshalb verworfen werden.20
Schließlich wird in der Literatur noch auf einen eigenständigen russischen
Versuch einer Verteilungstheorie hingewiesen, die „Gesellschaftliche Lehre
des Kapitalzinses“ von P. I. Georgievskij (1857-1938). Dieser führt den im
Produktionsprozess geschaffenen Wertzuwachs allein auf den von ihm
16 Vgl. Böhm-Bawerk, E. v., Kapital und Kapitalzins, Zweite Abtheilung: Positive
Theorie des Kapitales, Innsbruck 1889, S. 262 ff.
17 Vgl. ebenda, S. 300.
18 Vgl. ebenda, S. 274 ff. Zur Erläuterung der Umwegsproduktion und dem daraus
abgeleiteten Kapitalbegriff siehe ebenda, S. 15 ff.
19 Vgl. ebenda, S. 358 ff.
20 Im Detail berichtet über die russischen Einwände Seraphim, H.-J., Neuere russische
…, a.a.O., S. 149 ff.
54
Die Verteilungstheorie
zusätzlich zu Arbeit, Boden und Kapital eingebauten Produktionsfaktor
Gesellschaft zurück. Sein Ansatz konnte jedoch ebenfalls keine Aufmerksamkeit auf sich lenken.21
Damit endet der Überblick zum Stand der russischen Verteilungstheorie
am Anfang des vorigen Jahrhunderts. Im Folgenden werden Tugan-Baranovskij und Struve etwas detaillierter betrachtet. Beide Ökonomen weisen starke
inhaltliche Bezüge zu den Arbeiten Dmitrievs auf und werden darüber hinaus
von Letzterem ob ihrer verteilungstheoretischen Positionen des Öfteren angesprochen. Deshalb erscheint dieses Vorgehen für eine Einordnung des Dmitriev’schen Werkes gerechtfertigt.
1.3.2 Tugan-Baranovskijs „soziale Theorie der Verteilung“
Den Ausgangspunkt der Entwicklung einer eigenen Verteilungstheorie bildet
für Tugan-Baranovskij die Kritik am Marx’schen „Gesetz vom tendenziellen
Fall der Profitrate“. Dieses sei nicht nur der Realität widersprechend, sondern
auch unvereinbar mit dessen absoluter Arbeitswerttheorie.
Die Ursache für die Realitätsferne liege in der inkorrekten Behandlung
der sich im Zuge der kapitalistischen Entwicklung verändernden Arbeitsproduktivität. Marx ging zwar von der wirklichkeitsnahen Annahme einer
Steigerung der Arbeitsproduktivität infolge technischen Fortschritts aus, habe
aber de facto deren Senkung behandelt:
„Es ist ihm ein wunderbares Qui pro quo begegnet. Statt den Einfluß der
Erhöhung der Arbeitsproduktivität auf die Profitrate einer eingehenden
Analyse zu unterwerfen, hat er den entgegengesetzten Fall – den der Verringerung der Arbeitsproduktivität – untersucht und ist auf diese Weise zu
seinem Gesetz der fallenden Profitrate gelangt. Das hier ausgeführte beweist aber, daß dies nicht nur kein wahres Gesetz ist, sondern daß sein
gerades Gegenteil wahr ist.“22
21 Vgl. ausführlich ebenda, S. 160 ff. Seraphim bezieht sich auf Georgievskij, P. I.,
Političeskaja ėkonomija ⟨Politische Ökonomie⟩, 4. Aufl., St. Peterburg 1904, 2 Bde.
22 Tugan-Baranovskij, M. I., Der Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaftsordnung im Lichte der nationalökonomischen Theorie, in: Archiv für Sozialwissenschaft
und Sozialpolitik, I (2), 1904, S. 302.
Tugan-Baranovskijs „soziale Theorie der Verteilung“
55
Zu diesem Ergebnis gelangte Tugan-Baranovskij durch Betrachtung eines
Beispiels im Rahmen eines dreisektoralen Reproduktionsschemas. Im Falle
wachsender Arbeitsproduktivität führt die steigende organische Zusammensetzung des Kapitals zu einer Erhöhung der Mehrwertrate, und demzufolge
zu einer steigenden (bzw. konstanten) Profitrate.23 An dieser Tendenz können
auch die fünf von Tugan-Baranovskij angeführten Gegenwirkungen nichts
ändern.24
Marx könne also nicht annehmen, dass die Ausbeutungsrate bei steigender organischer Zusammensetzung des Kapitals unverändert bleibe.25 Der
Mehrwert hänge nämlich nicht nur von der menschlichen Arbeit ab. Sowohl
eine vollautomatisierte Wirtschaft als auch die Substitution aller menschlichen Arbeit durch tierische garantiere dem Unternehmer das gleiche Einkommen.26 Damit sei aber der Aufteilung des Kapitals in seine konstanten
und variablen Bestandteile die Basis entzogen sowie die Mehrwertlehre als
Grundlage einer Verteilungstheorie abzulehnen. Sein Fazit lautet deshalb:
„Was die Profitrate betrifft, ist kein Unterschied zwischen den sachlichen
Produktionsmitteln und lebendiger Arbeit zu ziehen: die relative Ersetzung
der lebendigen Arbeit durch sachliche Produktionsmittel ruft keine fallende
Tendenz der Profitrate hervor. Damit ist die Mehrwerttheorie als Theorie
der Gestaltung und der Veränderungen der Profitrate teils als unrichtig, teils
als inhaltsleer bewiesen ... Die Unterscheidung des variablen und konstan-
23 Vgl. ebenda, S. 296 ff. Die hier skizzierten Gedanken wurden von Tugan-Baranovskij
erstmals 1894 geäußert und insbesondere in den dem Autor vorliegender Arbeit nicht
zugänglichen Artikeln des ausgehenden 19. Jahrhunderts weiterentwickelt. Vgl. TuganBaranovskij, M. I., Promyšlennye krizisy v sovremennoj Anglii ⟨dt. 1901: Studien zur
Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England⟩ 1894, Kapitel VII, v.a. S. 208 ff.
der deutschen Ausgabe; Derselbe, Osnovnaja ošibka abstraktnoj teorii kapitalizma
Marksa ⟨Der grundlegende Fehler der abstrakten Kapitalismustheorie Marx’⟩, in: Naučnoe Obozrenie, 5 (1899), S. 973-985; Derselbe, Trudovaja cennost' i pribyl' ⟨Arbeitswert
und Profit⟩, in: Naučnoe Obozrenie, 3 (1900), S. 607-634. Zum Inhalt der beiden letztgenannten Schriften siehe z.B. Howard, M. / King, J., Value theory …, a.a.O., S. 235 ff.
24 Als dem Steigen der Profitrate entgegenwirkende Gründe nennt er die Verlängerung
der Umschlagszeit des gesellschaftlichen Kapitals, die Verkürzung des Arbeitstages, den
Anstieg der Reallöhne in der Großindustrie, Rentensteigerungen sowie Gewinnsteuererhöhungen. Vgl. ebenda, S. 302 f.
25 Vgl. Tugan-Baranovskij, M. I., Studien ..., a.a.O., S. 211.
26 Vgl. Howard, M. / King, J., Value theory …, a.a.O., S. 236 über Tugan-Baranovskij
(1899).
56
Die Verteilungstheorie
ten Kapitals, insoweit die Profitbildung in Betracht kommt (und nur in
bezug auf diese kann sie gelten), ist also grundlos; der von Marx als konstantes Kapital bezeichnete Teil des Kapitals ist ebensosehr eine Quelle des
Profits wie das variable Kapital. So fällt die gesamte Profittheorie von
Marx in Trümmern zusammen: die ‚Vulgärökonomie’, welche das ganze
Kapital gleichmäßig als eine Quelle des Profits betrachtete, hatte recht.“27
Doch Tugan-Baranovskij ist weit davon entfernt, die Marx’sche Argumentation komplett zu verwerfen, denn sie enthalte einen „gesunden sozialen
Kern“.28 Dieser besteht in dem Hinweis auf die offenkundige Tatsache der
Ausbeutung. Ein Teil der Gesellschaft ist aufgrund der herrschenden
Besitzverhältnisse gezwungen, für einen anderen ohne Gegenleistung zu
arbeiten. Erst dadurch entstehe der Profit als arbeitsloses Einkommen.29
Allerdings irre Marx, diesem gesellschaftlichen Phänomen eine werttheoretische Grundlage geben zu können:
„Der Wertbegriff ist nicht geeignet, den sozialen Inhalt eines bestimmten
Wirtschaftssystems aufzudecken. Das Charakteristische des ökonomischen
Wertbegriffs besteht eben darin, dass darin alle sozialen Momente durch
eine dingliche Maske verschleiert werden. Der Warenfetischismus haftet
diesem Begriffe notwendig an ... Um den sozialen Inhalt des arbeitslosen
Einkommens an den Tag zu legen, dazu bedarf man keiner Werttheorie
zum Ausgangspunkt.“30
Dies habe übrigens auch Ricardo schon eingesehen, der in einem Brief an
McCulloch betonte, dass die Fragen über Rente, Lohn und Profit in keinem
notwendigen Zusammenhang mit der Werttheorie stünden.31
Damit ist sein Programm klar: Das Verteilungsproblem als Ausdruck
sozialer Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse ist von jeder Wert- und
Preistheorie unabhängig. Sowohl die Grenzproduktivitätstheorie als auch die
Marx’sche Mehrwertlehre seien zur Erklärung der funktionellen Einkommensverteilung deshalb einseitig und ungenügend, obwohl beide einen „Kern
von Wahrheit“ enthalten.32 Produktivitäts- und Ausbeutungsgesichtspunkte
27 Tugan-Baranovskij, M. I., Theoretische Grundlagen …, a.a.O., S. 187 f.
28 Ebenda, S. 189.
29 Vgl. ebenda, S. 189 ff.
30 Ebenda, S. 191 f.
31 Vgl. ebenda, S. 205.
32 Ebenda, S. 203.
Tugan-Baranovskijs „soziale Theorie der Verteilung“
57
sowie der Kampf sozialer Klassen um ihren Anteil müssten gleichermaßen
berücksichtigt werden, um die Aufteilung des Gesamtprodukts auf die
verschiedenen Gesellschaftsklassen zu erklären.33
Die Trennung von Preis- und Verteilungsproblem hält Tugan-Baranovskij
in seiner eigenen „sozialen Verteilungstheorie“ somit dadurch aufrecht, dass
er der Meinung ist, nicht Werte, sondern Produkte werden verteilt. Für die
Profitbildung bedeutete das dann:
„Zuerst muß ein Überschuß an Produkten da sein; es müssen mehr Produkte in der Gesellschaft erzeugt werden als es für die Erhaltung der gesellschaftlichen Produktion nötig ist. Der Mehrwert ist offenbar eine bloße
Folge des Mehrprodukts.“34
Auch sei jede Verteilungstheorie streng von Tausch- und Produktionsphänomenen zu scheiden:
„Das Problem der Verteilung ist also ein Problem sui generis, das mit den
Problemen der Produktion und des Austausches nicht zusammenfällt.“35
Die spezifische Aufgabe der Verteilungstheorie bestehe darin, die Beziehungen zwischen den einzelnen Einkommensarten aufzudecken, in welche das
gesellschaftliche Gesamtprodukt zerfällt. Und da dies durch die drei sozialen
Klassen der Lohnarbeiter, Kapitalisten und Grundbesitzer geschaffen werde,
ist die Verteilung ein gesellschaftliches Phänomen, welches insbesondere
durch soziale Ungleichheit charakterisiert ist. Deshalb dürfe im Unterschied
zu Tausch und Produktion nicht das individuelle Werturteil den Ausgangspunkt der Analyse bilden sowie von den Wechselwirkungen der sozialen
Gruppen abstrahiert werden. Die Verteilung sei eine historische und keine
logische Kategorie.36 Von diesem methodologischen Standpunkt ausgehend,
versucht Tugan-Baranovskij nun, die einzelnen Einkommen zu erklären.
Der Rente als Folge des auf politischer Gewalt beruhenden Großgrundbesitzes muss insofern eine Sonderstellung eingeräumt werden, als deren Höhe
sich nicht durch den sozialen Kampf der gesellschaftlichen Klassen bestimmt, sondern nach der Differenzialrententheorie Ricardos. Damit ist sie in
33 Vgl. ebenda, S. 202 sowie 205.
34 Tugan-Baranovskij, M. I., Soziale Theorie der Verteilung, Berlin 1913, S. 23.
35 Ebenda, S. 9.
36 Vgl. ebenda, S. 8 ff.
58
Die Verteilungstheorie
erster Linie von den natürlichen Bedingungen der landwirtschaftlichen
Produktion und weniger von den sozialen Machtverhältnissen innerhalb der
Gesellschaft abhängig. Deshalb hat das Hauptaugenmerk der sozialen
Verteilungstheorie auf dem Einkommen der Arbeiter und der Kapitalisten zu
liegen.37
In der Lohnfrage kommt Tugan-Baranovskij zu folgendem Ergebnis:
„Vom Standpunkte der sozialen Theorie der Verteilung wird die durchschnittliche Lohnhöhe in einer bestimmten Gesellschaft durch zwei Faktoren bestimmt: durch die Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit, welche
die Menge des gesellschaftlichen Produktes, das zwischen verschiedenen
sozialen Gruppen zu verteilen ist, feststellt, und durch die soziale Macht
der arbeitenden Klasse, welche die Quote des gesellschaftlichen Produkts,
über welche die Arbeiterklasse verfügen kann, festsetzt.“38
Die Höchstgrenze des Lohns wird von der Arbeitsproduktivität determiniert,
die Untergrenze vom physiologischen Existenzminimum. Das tatsächliche
Niveau ergibt sich nun aus dem Kampf der Arbeiter mit den Unternehmern,
d.h. ihrer jeweiligen sozialen Stärke. Die Macht der Arbeiterklasse steigt
dabei z.B. mit der Erhöhung ihres Organisationsgrades (Gewerkschaften), der
Einführung einer Arbeiterschutzgesetzgebung oder Arbeiterversicherung,
aber auch durch eine wohlgesonnene öffentliche Meinung oder die direkte
Einmischung des Staates aus politischen Gründen.39
Alles, was dagegen die soziale Macht der Kapitalisten steigere, etwa die
Bildung von Kartellen, erhöhe deren Anteil am gesellschaftlichen Einkommen. Dieser Profit sei historisch bedingt und könne nur deshalb entstehen,
weil das kapitalistische Wirtschaftssystem dadurch gekennzeichnet ist, dass
die Produktionsmittel nur einem Teil der Gesellschaft gehören, welche damit
in die Lage versetzt werden, sich ein Quantum des gesellschaftlichen
Produktes anzueignen. Er entsteht also aus Ausbeutung.40 Was die Höhe des
arbeitslosen Einkommen betrifft, so wird sie analog dem Lohn bestimmt: Sie
ist abhängig von der gesellschaftlichen Arbeitsproduktivität sowie der
37 Vgl. ebenda, S. 24 ff.
38 Ebenda, S. 43. Hervorhebungen im Original.
39 Vgl. ebenda, S. 43 ff.
40 Vgl. ebenda, S. 55 sowie 58 ff.
Struves variierende Positionen
59
sozialen Macht der Kapitalistenklasse.41 Doch nun wird Tugan-Baranovskij
inkonsequent, denn er wollte ja Anteile am Produkt ermitteln:
„Diese beiden Faktoren bestimmen die Höhe des Profits als einer bestimmten Wertsumme.“42
Dies brachte ihm von seinen Kritikern den Vorwurf der Willkürlichkeit ein43
und mag einer der Gründe sein, warum sein Lösungsvorschlag unter den
russischen Nationalökonomen auf einmütigen Widerstand stieß.44
1.3.3 Struves variierende Positionen
Struve folgte zunächst der Meinung Tugan-Baranovskijs, dass die Mehrwertwertlehre Marx’ aufgrund der Betonung der Ausbeutung zwar eine
methodische Bedeutung habe, jedoch nicht als Grundlage einer Theorie der
Verteilung fungieren könne:
„Ich denke, dass ..., während man unerschütterlich an der soziologischen
Theorie der Mehrarbeit festhält, der ökonomischen Theorie des Mehrwertes
entsagen und überhaupt die gesamte ökonomische Lehre Marx’ kritisch
überprüfen sollte.“45
Dieser Schluss sei eine notwendige Folge der Ablehnung des „naturalistischen“ Wertbegriffs Marx’, welcher sich mit den gesellschaftlichen Grundla-
41 Vgl. ebenda, S. 75 ff.
42 Ebenda, S. 78. Kursivschreibung hinzugefügt.
43 So etwa von Dmitriev und Struve: „Woher man plötzlich eine Wertsumme nimmt, die
sogar bestimmt ist (wodurch?), wenn kein einziges der oben erwähnten und den Profit
determinierenden Momente in irgendeiner Beziehung zum Wert stand, bleibt ein
Rätsel.“ (Dmitriev, V. K., Novyj russkij …, a.a.O., S. 107; siehe Kapitel 2.3.5, S. 239)
„Seine ganzen Ausführungen wollen beweisen, dass in dem wirtschaftlich-rationellen
Produktionsprozess ein Mehr an Wert geschaffen wird ... und im nötigen Augenblick
verwandelt sich dieser Mehrwert in ein Mehrprodukt.“ (Struve, P. B., Ėkonomičeskaja
sistema M. I. Tugan-Baranovskago ⟨Das ökonomische System M. I. Tugan-Baranovskijs⟩, in: Russkaja Mysl', I (1910), S. 123 f.; so zitiert in Seraphim, H.-J., Neuere
russische …, a.a.O., S. 144)
44 Vgl. Želesnov, V. J., Rußland, a.a.O., S. 173.
45 Struve, P. B., Protiv ortodoksii, a.a.O., S. 178. Hervorhebungen im Original.
60
Die Verteilungstheorie
gen seiner Lehre nicht vertrage.46 Darüber hinaus dürfe man, wie Marx das
tat, das soziologische Problem der Ausbeutung nicht mit dem ökonomischen
Problem des Wertes vermengen, denn beide haben nichts miteinander zu tun:
„Mehrwert würde auch ohne die einzelnen Warenwerte existieren: er ist
völlig von den Erscheinungen des Verkehres unabhängig, er setzt nur
Mehrarbeit und Aneignung des Produktes durch Nichtproduzenten (Ausbeuter) voraus. Dass er Wert genannt wird, stiftet gar kein reales Verhältnis
zwischen ihm und den wirklichen Warenwerten.“47
„Für die Theorie der sozialen Ausbeutung ist der Begriff des Wertes nutzlos.“48
Die Verteilung beruht also auch für Struve auf Ausbeutung. Der Marx’sche
Ausbeutungsbegriff ist jedoch zu eng gefasst. Denn Ausbeutung sei ein
Problem der Zurechnung des gesellschaftlichen Produkts (!) auf die einzelnen
Produktionsfaktoren. Sie basiere deshalb nicht allein auf menschlicher
Arbeit:
„Das gesamte gesellschaftliche Produkt ... ist ausschließliches Produkt der
Arbeit nur in dem Sinne, dass seine Schöpfung der Arbeit sozial
,zugerechnet’ wird ... Es ist von den Kritikern von Marx richtig darauf
hingewiesen worden, dass die Arbeit der Tiere ganz in dem gleichen Sinne
wie die Arbeit der Menschen Mehrprodukt schafft. Dass aber die Menschen
dieses Mehrprodukt den Tieren nicht ‚zurechnen’, hängt daran, dass die
Menschen die Tiere ‚ausbeuten’. Dementsprechend kann mit gutem Grunde
gesagt werden, dass jede ‚Ausbeutung’ der Menschen durch die Menschen
(inklusive des Kapitalismus) darin besteht, dass die Menschen von ihresgleichen als Tiere behandelt werden. Der Begriff der Ausbeutung hat seinen Inhalt zunächst in der Aneignung von Gütern, an deren Produktion
( = Schöpfung) die ausgebeuteten Produktionsfaktoren (Menschen, Pferde,
Maschinen, Bodenkräfte u.s.w.) mitgewirkt haben. Der Inhalt dieses Begriffes als einer sozialwirtschaftlichen Kategorie ist durch den Begriff der
sozialen Zurechnung gegeben. Ausbeutung im sozialen Sinne liegt überall
vor, wo Nichtproduzenten auf Grund eines Herrschaftstitels Arbeitsprodukte sich aneignen.“49
46 Vgl. ebenda, S. 179. Zur näheren Erläuterung der Struve’schen Position siehe 1.2.3,
S. 44 f.
47 Struve, P. B., Besprechung …, a.a.O., S. 728.
48 Ebenda, S. 729.
49 Ebenda, S. 728 f. Hervorhebungen im Original.
Struves variierende Positionen
61
Berücksichtige man den Umstand, dass es keinen objektiven Unterschied
zwischen der Ausbeutung verschiedener Produktionsfaktoren gebe, dann
verliere die Mehrwerttheorie Marx’ endgültig ihre Berechtigung. Nicht nur
habe sie nichts mit der Verteilungstheorie zu tun, sie sei darüber hinaus auch
imaginär, wie man laut Struve am „Gesetz vom tendenziellen Fall der
Profitrate“ sehen könne.50
Dieses Gesetz sei nämlich „offensichtlicher Unsinn“51, da es auf einer
Antinomie beruhe und darüber hinaus der Realität widerspreche. Denn was
bedeuten die in der Profitrate enthaltenden Größen für die Gesellschaft?
Struve meint, dass der im gesellschaftlichen Mehrprodukt verkörperte
Mehrwert (M) das Reineinkommen der Gesellschaft bezeichnet, durch dessen
Höhe das Wachstum der gesellschaftlichen Arbeitsproduktivität gemessen
wird, wenn man es in Relation zum gesamten Kapitaleinsatz (C + V)
betrachtet. Andererseits sei die Zunahme des konstanten Kapitals (C) ein
technisch-ökonomischer Ausdruck für die wachsende Produktivität der
gesellschaftlichen Arbeit, wie das Marx auch selbst entwickelt hat.52 Der
Widerspruch sei nun nicht mehr zu übersehen und könne folgendermaßen
formuliert werden:
„1) Das Überschussprodukt bzw. Reineinkommen der Gesellschaft,
durch dessen Höhe man die Produktivität der gesellschaftlichen
Arbeit misst, fällt progressiv im Verhältnis zum gesamten gesellschaftlichen Kapital.
2) Dieses Fallen wird verursacht von einer progressiven Zunahme des
konstanten Kapitals, d.h. eines Faktums, welches die technischökonomische Basis des Wachstums der gesellschaftlichen Arbeitsproduktivität bildet.“53
Diese Antinomie konnte nur zustande kommen, weil Marx als Quelle des
Mehrwerts (des Mehrprodukts) allein die lebendige Arbeit angesehen habe.54
Damit berücksichtige er aber die gesellschaftliche Arbeitsproduktivität nur
ungenügend, denn:
50 Vgl. ebenda, S. 729 und 732.
51 Struve, P. B., Osnovnaja antinomija …, a.a.O., S. 300.
52 Vgl. ebenda, S. 299 und 301.
53 Ebenda, S. 299 f.
54 Vgl. ebenda, S. 300.
62
Die Verteilungstheorie
„In der kapitalistischen Gesellschaft muss jeder Kapitalteil unabhängig von
seiner Form die gleichen ‚Früchte’ im gleichen Zeitraum hervorbringen.“55
Das bedeutet aber, dass die Profitrate ein Ausdruck für die Produktivität der
Arbeit ist. Und falls diese im Zuge der kapitalistischen Entwicklung steige,
müsse auch die Profitrate wachsen:
„Die Profitrate im Sinne Marx’ sollte mit der Entwicklung der Produktivität
der gesellschaftlichen Arbeit nicht fallen, sondern steigen, weil diese Profitrate nichts anderes als eine Kennziffer für das Wachstum der gesellschaftlichen Arbeitsproduktivität ist.“56
Daraus folgt für Struve notwendig die „Fehlerhaftigkeit der mechanischen
Arbeitswerttheorie“. Denn der Mehrwert werde eben nicht nur von lebendiger Arbeit geschaffen, sondern vom gesamten gesellschaftlichen Kapital, d.h.
M ist nicht nur eine Funktion von V, sondern von C + V. Er geht sogar noch
einen Schritt weiter und behauptet, dass das Wachstum des Mehrwertes bzw.
des Mehrprodukts „in bedeutend stärkerem Maße“ von der Zunahme des
konstanten als von der des variablen Kapitals abhänge.57
Die Ablehnung des „Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate“ bedeute jedoch keineswegs, dass die absolute Höhe des Profits nicht abnehmen
könne. Denn der Profit sei eine „soziale Kategorie“ und müsse aus dem
Klassenkampf um die Anteile am Sozialprodukt erklärt werden:
„Der Profit ist der Anteil der kapitalistischen Unternehmer am gesellschaftlichen Mehrprodukt. Der Umfang dieses Anteils bestimmt sich nicht mechanisch, sondern hängt von den sich historisch verändernden gesellschaftlichen Beziehungen ab, vor allem von der Konkurrenz zwischen den Kapitalisten selbst sowie von der relativen Höhe des Arbeitslohns ... Der Profitanteil verringert sich von zwei Seiten her: Von der eigenen Konkurrenz der
Kapitalisten untereinander und dem wirtschaftlichen Aufstieg der Arbeiterklasse. Kraft des Einflusses dieser Faktoren fällt der Profitanteil, ungeachtet
dessen, dass die Profitrate im Sinne Marx’ ... und entgegen Marx steigt.“58
Unter dem Eindruck des bisher Ausgeführten betont Struve, dass es somit
fatal wäre, die Marx’sche Arbeitswertlehre auf die Verteilung des gesell55 Ebenda, S. 302.
56 Ebenda.
57 Vgl. ebenda, S. 302 f.
58 Ebenda, S. 303.
Struves variierende Positionen
63
schaftlichen Produktes unter die sozialen Klassen anwenden zu wollen.
Genauso wie Tugan-Baranovskij verweist er auf den Brief Ricardos an
McCulloch und empfiehlt, Wert- und Verteilungsproblem streng voneinander
zu trennen. Die Frage der Verteilung sei eine der Aneignung des gesellschaftlichen Mehrprodukts und damit eine soziologische. Nur eine „soziale
Verteilungstheorie“ wäre in der Lage, Ursache und Höhe der einzelnen
Einkommenskategorien aufzudecken.59
Auf diese Weise gelangt Struve zu den gleichen Einsichten wie TuganBaranovskij. Im Unterschied zu Letzterem hat er aber nicht versucht, eine
eigene ökonomische Lösung des sozialen Verteilungsproblems zu entwickeln. Im Gegenteil ist er in der Folgezeit der Meinung, dass eine Verteilungstheorie überhaupt nicht aufgestellt werden kann, weil es sich um ein
dynamisches und darüber hinaus um ein „ideographisches“ Problem handele.
Des Weiteren bedinge nicht die Gliederung der Gesellschaft in Klassen den
Verteilungsmechanismus, wie Tugan-Baranovskij annahm, sondern die Verteilung führe die Klasseneinteilung herbei.60 Nur auf dem Wege statistischer
Untersuchungen seien Verteilungsfragen zu beantworten sowie generelle
ökonomische Tendenzen festzustellen:
„Nur die statistische Bearbeitung der primären Voraussetzungen einer kritisch aufgebauten und kritisch durchgeführten ‚Buchhaltung’ kann die
Antwort auf eine Reihe von Fragen geben, die sich die politische Ökonomie stellt und die sie bisher deduktiv zu lösen bestrebt war.“61
Im Vordergrund des Interesses habe die Preisbeobachtung zu stehen, denn
nur aus der Preisbildung lassen sich die Einkommen den Produktionsfaktoren
zurechnen. Praktisch sei das Zurechnungsproblem ein rein kalkulatorisches:
„Die Kalkulation kennt nur Preise: Sie geht von Preisen aus und gelangt
stets zu Preisen. Nichts außer Preisen! – Dies ist die Losung der Kalkulation und dies muss auch die Losung der ganzen realistischen oder empiri-
59 Vgl. ebenda, S. 304 f.
60 Vgl. Struve, P. B., Ėkonomičeskaja sistema …, a.a.O., S. 120, 122, 125; so dargestellt
in Seraphim, H.-J., Neuere russische …, a.a.O., S. 143 f.
61 Struve, P. B., Ėkonomičeskaja sistema …, a.a.O., S. 122; so zitiert in ebenda, S. 143,
Fn. 6.
64
Die Verteilungstheorie
schen politischen Ökonomie sein, soweit sie eine theoretische Wissenschaft
ist und sich mit den konkreten Erscheinungen beschäftigt.“62
Struves Hang zum Empirismus haben wir bereits im vorigen Kapitel kennen
gelernt. Was die Einkommensverteilung betrifft, so führte er zu einem
methodologischen Wandel: Betrachtete Struve sie um 1900 als ein eigenständiges, von jeder Wert- und Preistheorie unabhängiges Phänomen, so sei sie
nun nichts weiter als eine methodische Fiktion. Die Preisbildung könne die
Einkommen hinreichend erklären:
„Der Prozess der Einkommensbildung ist keine Verteilung, sondern ein
Prozess der Preisbildung, und die Einkommen sind nicht Teile eines vorher
gegebenen Ganzen, sondern nur sich aus Preisen bildende Geldgrößen,
deren Addition das ergibt, was man gesellschaftliches Produkt oder gesellschaftliches Einkommen nennt.“63
Diese Sichtweise brachte Struve schließlich dazu, den Kapitalzins allein als
Preiserscheinung zu begreifen, welcher sich ähnlich der Agio-Theorie aus der
unterschiedlichen Wertschätzung eines Gutes zu verschiedenen Zeitpunkten
ergibt, jedoch in umgekehrter Richtung.64 Denn Struve geht im Gegensatz zu
Böhm-Bawerk von einer Höherschätzung der Zukunftsgüter aus.
„Der Zins wird ... durch die prospektive, stets optimistische Wertung zukünftiger Güter im Verhältnis zu den gegenwärtigen erklärt.“65
Dies folgt aus seinem Kapitalbegriff: Nicht Zwischenprodukte, sondern
Einkommen sind Kapital. Es ist ein Vermögensfaktor und wird nur gebildet,
um zukünftige Einkommen erzielen und damit Güter kaufen zu können.
Alles, was konsumiert, in der Produktion verbraucht oder vernichtet wird,
stellt kein Kapital dar. Nur weil künftige Einkommen höher geschätzt werden
als gegenwärtige oder vergangene, kommt es überhaupt zur Kapitalbildung
und damit zum Zins.
62 Struve, P. B., Chozjajstvo i cena ⟨Wirtschaft und Preis⟩, Čast' 2, St. Peterburg /
Moskva 1916, S. 53; so zitiert in ebenda, S. 180.
63 Struve, P. B., Chozjajstvo i cena, Čast' 2, a.a.O., S. 56; so zitiert in Paškov, A. I. u.a.,
Istorija ..., a.a.O., tom III, čast' 1, S. 197.
64 Vgl. zum Folgenden Seraphim, H.-J., Neuere russische …, a.a.O., S. 175 ff. über
einen Artikel Struves aus dem Jahr 1917.
65 So zitiert ebenda, S. 176.
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