22.11.07 Autopoietische soziale Systeme - staff.uni

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Wi ntersemester 07/08
Zusammenfassung zur
Vorlesung: "Soziale Kommuni kation"
PD Dr. Udo Thiedeke
Autopoietische soziale Systeme
22. 1 1 .07
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Vorlesung: "Soziale Kommuni kation"
Autopoietische soziale Systeme
22. 1 1 .07
Programm:
1 ) Ei nleitung
2) Perspektivwechsel soziologischer Theoriebi ldung
3) Grundlagen ei ner Theorie autopoietischer sozialer Systeme
4) Zusammenfassung
1 ) Ei nleitung
- Bislang war der Paradigmenwechsel hi n zu sich sel bstorganisierenden und -reproduzierenden Systemen auf ei ner grundlegenden, al lgemei nen Ebene erläutert worden.
- I n der Soziologie geht es al lerdi ngs nicht um Organismen oder i nformatische Syste-
me (etwa Computerprogramme), sondern um die Sel bstorganisation von Kommuni -
kation und die sozialen Systeme, die sich aufgrund von sozialer Kommuni kation aus-
formen und weiter erhalten.
- Wie wi r i n der zweiten Vorlesung dargestel lt hatten, sol l Kommuni kation hier als Unterscheidungsprozess von Unterscheidungen, nicht als ' Übertragungs-' oder 'Austauschprozess' von I nformationen behandelt werden.
- Es geht also um Systeme, die sich aufgrund von Unterscheidungen, an die Unter-
scheidungen, d. h. si nnhafte Bedeutungen, anschl ießen, als eigenständige Zusammenhänge ausformen.
- Diese Übertragung des Autopoiesis-Konzepts auf soziale Sinnsysteme sol l i m Mittel -
punkt der heutigen Vorlesung stehen. Wi r machen jetzt also ei nen ' Schritt' i n die So-
ziologie hi nei n.
2) Perspektivwechsel soziologischer Theoriebi ldung
- Die Theorie autopoietischer sozialer Systeme wurde von dem Soziologen Ni klas Luhmann ausformul iert.
- Luhmann wurde am 08. Dezember. 1 927 i n Lüneburg geboren. Ab 1 946 studierte er
i n Frei burg Jura. Ab 1 949 war Luhmann zehn Jahre lang als Verwaltungsbeamter i n
Niedersachsen tätig. Privat widmete er sich i n dieser Zeit aber bereits dem Studium
von Theorien, las Bel letristi k und legte den ' Grundstei n' sei nes berühmten "Zettel kastens". 1 960-61 wi rd er zum Studium der Verwaltungswissenschaften und Soziolo-
gie beurlaubt. Er studiert i n diesem Jahr bei dem Soziologen Talcott Parsons i n Har-
vard und wi rd durch dessen Handlungssystemtheorie (siehe erste Vorlesung WS. 06/
07) zu eigenen theoretischen Publ i kationen angeregt.
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Von 1 962-65 war Luhmann am Forschungsi nsitut der Verwaltungshochschule i n
Speyer tätig. Dort wurde er von Hel mut Schelsky ' entdeckt' , promovierte und habi l itierte auf dessen Anregung. Von 1 966-68 war er Abtei lungsleiter an der Sozial -
forschungsstel le Dortmund. Von 1 968-93 war er Professor an der neugegründeten
Fakultät für Sozi ologie der Universität Bielefeld. 1 998 starb Luhmann i n Oerl i nghau-
sen an Krebs.
- Obwohl von Parsons angeregt, überni mmt Luhmann nicht dessen strukturfunktional istischen Ansatz.
- Luhmann fragt viel mehr, wie ei ne soziale Ordnung und damit Strukturen überhaupt
entstehen und bestehen können und auf welches soziale Fundamental problem ei ne
solche Ordnung ei ne Lösung sei n könnte. Wei l Luhmann also zuerst nach den Funk-
tionen und dann nach den Struktuerergebnissen fragt, nennt man diesen Ansatz
auch "funktionalstrukturalistisch".
[siehe zu den Unterschieden der Ansätze von Parsons und Luhmann Fol ie 1 ]
- Soziale Systeme erschei nen so als kybernetische Ei nheiten, die i hre eigene I dentität
gegen ei ne Umwelt bewahren, i ndem sie deren Komplexität für sich reduzieren.
- I n den 1 980er Jahren wi rd angesichts der Frage, wie soziale Sysyteme das ma-
chen, die Frage der kybernetischen Sel bststeuerung mit dem Autopoiesis-Konzept
verbunden und zur Frage radi kal isiert, wie Systeme gegenüber i hrer Umwelt i hre ei -
gene Geschlossenheit produzieren und reproduzieren und wie sie dabei Umweltveränderungen verarbeiten, d. h. , 'selektive Offenheit' herstel len.
- Für die Sozologie hat das Konzept autopoietischer Sozialer Systeme ei nschneidende
Folgen. General isierter Motivverdacht, Ideologiekriti k oder die Gewissheit soziales
Verhalten zu durchschauen, werden i n Frage gestel lt. Auch wi rd die subjektzentrierte
und transzendental aufgeladene Soziologie verabschiedet. Luhmann hält fest, was
mit der autopoietischen Perspektive aufgegeben wi rd:
"Natürl ich das Subjekt und al les das, was dem ' Menschen' zugemutet oder ange-
dichtet wi rd, wenn verlangt wi rd, man sol le i hn als ' Subjekt' beachten. Natürl ich jede
transzenentaltheoretische Position; denn i hr gegenüber muß man fragen, ob die Unterscheidung von transzendental und empi risch sel bst transzendental ist oder empi risch, was i n beiden Fäl len i n ei ne Paradoxie führt. Ferner auch die Vorstel lung, der
Mensch sei (. . .) ei ne beobachtungsunabhängig gegebene Ei nheit. Und schl ießl ich, für
die Soziologie am schmerzl ichsten, jede kategoriale (. . .) Verwendung des Handlungbegriffs, die nach übl ichem Verständnis zwangsläufig auf ei n si nngebendes Subjekt
verweist. " (Hervorhebung i m Origi nal , 1 987: 309)
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- Die neue soziologische Theoriebi ldung setzt sich also kritisch mit bestehenden Theorien der Soziologie ausei nander und entwickelt neue Positionen.
[vgl . Fol ie 2]
- Die Theorie autopoietischer sozialer Systeme ist i n i hrem soziologischen Deutungs-
anspruch universal (sol l also für jede Form von Sozial ität von der Zweierbeziehung bis
zur Gesel lschaft und für jede historische Entwicklungstufe anwendbar sei n) , wi rd
aber auch sel bstreferent als wissenschaftl iche Theorie gesehen, die, wei l sie (sozi al -)-
wissenschaftl ich beobachtet, i mmer nur begrenzten Zugang zur Welt hat.
- Da sie an zentraler Stel le danach fragt, wie sich ' Ei nheit als Differenz' begreifen lässt,
ergeben sich neue soziologische Fragen und Problemstel lungen.
[vgl . Fol ie 3]
3) Grundlagen ei ner Theorie autopoietischer sozialer Systeme
- Für die Theorie autopoietischer Systeme ergeben sich folgende Ansatzpunkte:
1 ) Autopoietische soziale Systeme entstehen, wenn si nnhafte Unterscheidungsopera-
tionen (Kommuni kationen) sel bsteferent anei nander anschl ießen.
2) Kann ei n solcher Zusammenhang von Unterscheidungen entstehen (System) ,
dann grenzt er sich von al len anderen Unterscheidungsmögl ichkeiten (Umwelt) ab.
Es ist ei ne System-/Umwelt-Differenz entstanden.
3) Ei n solches System kann nicht mehr al le Unterscheidungsmögl ichkeiten real isieren
(als Elemente relationieren) . Zwischen System und Umwelt gi bt es also ei nen Unter-
schied i m Ausmaß der Komplexität.
4) Systeme, die auf dem Unterscheiden von Unterscheidungen (Sel bstbeobachtung) ,
basieren, si nd Si nnsysteme. Sie erzeugen i hre Elemente durch Nutzung sel bst oder
verwerfen sie durch Nichtnutzung und können dies wieder als Unterscheidungen
protokol l ieren (Sel bstbeschrei bungen) . Dabei lassen sich, je nach den verwendeten
Si nnelementen, zwei Typen von Si nnsystemen unterscheiden.
a) Psychische Systeme, die i hre Sel bstbeobachtung und Sel bstbeschrei bung auf Re-
flexionsfähigkeit, d. h. , auf die Grundunterscheidung von Bewusstsei n/Nichtbewustsei n stützen. Das Letztelement i hrer Unterscheidungen si nd Gedanken.
b) Soziale Systeme, die i hre Sel bstbeobachtung und Sel bstbeschrei bung auf Hand-
lungsfähigkeit, d. h. , auf die Grundunterscheidung von Wahrnehmung/Nichtwahrnehmung stützen. Das Letztelement i hrer Unterscheidungen si nd Kommunikationen.
[vgl . Fol ie 4]
5) Die Strukturen des Si nnsystems si nd die von i hm i m Unterscheidungsprozess ausgeprägten Si nnrelationen. Es kommt dabei zu ei ner Konditionierung (Abweichungs-
verstärkung) der weiteren Relationsmögl ichkeiten und so zu weiterer Strukturbi ldung
(ist ei nmal ei n Gedanke gefasst oder ei n Thema angesprochen, dann beei nflusst das
die weitere Gedanken- und/oder Themenwahl , sie ist dann weniger bel iebig) .
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4) Zusammenfassung
- Mit der Theorie autopietischer sozialer Systeme fi ndet ei ne weitreichende Neuorientierung der soziologischen Model l bi ldung von Sozial ität statt.
[siehe schematisch Fol ie 5]
- Hieraus resultieren folgende Grundannahmen:
1 ) Diese soziologische Theorie kann weder ontologisch noch transzendental argumentieren.
2) Sozial ität lässt sich als sel bstorganisierender und -reproduzierender (autopoieti scher) systemischer Zusammenhang erfassen.
3) Wenn sich Sozial ität als autopoietische Systembi ldung beobachten lässt, dann
unterscheidet sie sich von den betei l igten I ndividuen.
4) Soziale Systeme und psychische Systeme (I ndividuen) bi lden sich als Si nnsysteme aufgrund der Unterscheidung von Unterscheidungen (Sel bstbeobachtung) .
5) Die Grundunterscheidung bezieht sich bei psyischen Systemen auf Reflexionsfähigkeit bei sozialen Systemen auf Handl ungsfähigkeit.
6) Letztelement der Unterscheidung ist bei psychischen Systemen der Gedanke, bei
sozialen Systemen die Kommuni kation.
7) Für die Bi ldung und den Erhalt autopoietischer Systeme ist i hre System-/UmweltDifferenz konstitutiv.
8) Psychische und soziale Systeme si nd wechselseitig fürei nander Umwelt, wei l sich
die ei nen durch Gedanken, die anderen durch soziale Kommuni kation sel bst produzieren und reproduzieren.
Literatur
Luhmann zum Autopoiesiskonzept in der Soziologie:
Ni klas Luhmann, 1 987: Autopoiesis als soziologischer Begriff, i n: Hans Haferamp, Michael
Schmid (Hrsg.): Si nn, Kommuni kation und soziale Differenzierung: Beiträge zu Luhmanns
Theorie sozialer Systeme. Frankfurt/M. S. 307-324.
Allgemein zu den Neuerungen im Theoriekonzept:
Gábor Kiss, 1 990 (oder andere Ausgabe): Grundzüge und Entwickl ung der Luhmannschen
Systemtheorie. 2. Aufl . Stuttgart. S. 75- 1 02.
Vorlesung: "Soziale Kommuni kation"
Autopoietische soziale Systeme
Fol ie 1
Systemtheoretische Ansätze bei Parsons und Luhmann i m Verglech
Handl ungssystemtheorie
Theorie autopoietischer
Theoriedesign:
strukturfunktional istisch
funktionalstruktural istisch
Leitunterscheidung:
I nput/Output
System-/Umweltdifferenz
Problemfassung:
Strukturerhalt
Strukturerzeugung
Systemtyp:
offenes System
geschlossenes System
Reproduktionsmodel l :
Al lopoiesis
Autopoiesis
(Parsons)
(entropisch)
sozialer Systeme (Luhmann)
(negentropisch)
Vorlesung: "Soziale Kommuni kation"
Autopoietische soziale Systeme
Fol ie 2
Wandel soziologischer Perspektiven i n der Theorie
autopoietischer sozialer Systeme
alte Perspektive
neue Perspektive
Subjektivität
Autonomie
transzendentaltheoretische
Unterscheidungsproblem von
Position
Theoieebenen
Unabhängigkeit von
Zi rkularität der
kategorialer Handlungsbegriff
sel bstreferentiel ler Handl ungsbegriff
Objekt und Relation
Bedi ngungen
Vorlesung: "Soziale Kommuni kation"
Autopoietische soziale Systeme
Fol ie 3
Neue Fragestel l ungen i n der Theorie autopoietischer sozialer Systeme
1 ) Kann Sei n auf Differenz aufbauen?
2) Wie können sich stabi le Formen bewähren?
3) Wie wi rd das systemi nterne Bi ld der Umwelt mit externen Verhältnissen
synchronisiert?
4) I n welchem Verhältnis stehen autopoietische Operationen und Sel bstbeobachtungen?
Vorlesung: "Soziale Kommuni kation"
Autopoietische soziale Systeme
Fol ie 4
Die Differenzierung von Si nnsystemen
Si nnsysteme
Relationierung:
Sel bstbeobachtung (Unterscheidungen, die
Si nndifferenz:
Unterscheidung/Nichtunterscheidung
Letztelement:
Beobachtung
unterschieden werden)
Psychische Si nnsysteme
Soziale Si nnsysteme
Relationierung:
Reflexion des Sel bst
Reflexion von
Si nndifferenz:
Bewusst/Nichtbewusst
Wahrnehmung/
Letztelement:
Gedanke
Kommuni kation
Handlungsfähigkeit
Nichtwahrnehmung
Vorlesung: "Soziale Kommuni kation"
Autopoietische soziale Systeme
Fol ie 5
Veränderungen i n der Model l bi ldung von Sozial ität
1 ) Handlungstheorie
I ndividuum
Intension
sozialen
Sozial ität
Ordnung von
Interessen
Handelns
I ndividuum
Intension
sozialen
Handelns
2) I nteraktionismus
I ndividuum
Symbolische
Reflexion des
Sozial ität
Symbolische
Wechselwirkung
Selbst
I ndividuum
Symbolische
Reflexion des
Selbst
3) Theorie autopioietischer sozialer Systeme
Sozial ität
I ndividuum
Psychisches
System
Selbstreferente
Kommunikation
als soziales
I ndividuum
Psychisches
System
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