Cahiers de recherches médiévales et humanistes Journal of medieval and humanistic studies 25 | 2013 Le droit et son écriture Die Reflexion des Denkens auf sich selbst und das Neuheitsbewusstsein der Neuzeit Arbogast Schmitt Éditeur Classiques Garnier Édition électronique URL : http://crm.revues.org/13098 ISSN : 2273-0893 Édition imprimée Date de publication : 30 juin 2013 Pagination : 281-294 ISSN : 2115-6360 Référence électronique Arbogast Schmitt, « Die Reflexion des Denkens auf sich selbst und das Neuheitsbewusstsein der Neuzeit », Cahiers de recherches médiévales et humanistes [Online], 25 | 2013, Online erschienen am: 30 Juni 2016, abgerufen am 08 November 2016. URL : http://crm.revues.org/13098 ; DOI : 10.4000/ crm.13098 Ce document est un fac-similé de l'édition imprimée. © Cahiers de recherches médiévales et humanistes Die Reflexion des Denkens auf sich selbst und das Neuheitsbewusstsein der Neuzeit Abstract : In a revolution in the interpretation of Aristotle in the late Middle Ages, the individual object underwent a reinterpretation: from a confusum to an omnimode determinatum, that is to say, a well-determined thing. This activity of thought is therefore often interpreted as a reflection on the conditions of representation of the individual object that has been conceived as a whole. In contrast, in the Platonic-Aristotelian tradition predating Duns Scotus, philosophers sought to understand the activity of thought via a reflection on the conditions of discrimination and differentiation. Familiarity with this kind of selflegitimation disappeared from philosophical discussion around the time of the rise of Nominalism, leading to the prejudicical view that modernity began with the overcoming of the naivety of antiquity (and of the Middle Ages, which were held to be just as naive) through the discovery of ‘thought itself’. The aim of this essay is to demonstrate that ‘Reason’ is not an invention of Modernity, but rather that, during the Modern period, a new conception of ‘Reason’ has been developed such that it becomes more useful to see these as, in fact, two different forms of rationality. Résumé : C’est à la fin du Moyen Âge que l’interprétation aristotélicienne d’un objet individuel comme confusum évolue vers le concept d’omnimode determinatum, à savoir d’une chose bien définie et déterminée. Toute contribution spécifique de la pensée consisterait alors à une réflexion sur les conditions de la représentation d’un objet individuel compris dans son intégralité parfaite. Par contre, la tradition platonico-aristotélicienne avant Duns Scot cherchait à montrer que l’activité de la pensée consistait à déterminer les conditions de la capacité à distinguer et différencier. C’est au plus tard avec le nominalisme que n’est plus connue l’idée d’une raison d’être autonome de la pensée, approche qui commence à disparaître des discours philosophiques. Surgira cependant le préjugé que les temps modernes l’auraient emporté sur une Antiquité naïve (et sur un Moyen Âge naïf à son tour également) par la découverte de la pensée propre et autonome. Le but de cet article est de démontrer, en présentant certaines caractéristiques fondamentales de ces deux formes de rationalité, que l’âge moderne n’a pas développé « la pensée », mais une autre façon de penser. Das Neue der Neuzeit liegt im Sinn einer bis heute verbreiteten Auffassung in einer Wende des Denkens, das sich von einer Orientierung an der äußeren Ordnung des Kosmos umwendet zu einer Orientierung an der inneren Evidenz der eigenen Denkakte. Wie massiv diese Neuorientierung an der inneren Evidenz der eigenen Denkakte schon die Diskurse des 14. Jahrhunderts prägt, hat Anneliese Maier eindringlich und in umfassender philologisch-historischer Aufarbeitung der Cahiers de Recherches Médiévales et Humanistes, 25, 2013 Journal of Medieval and Humanistic Studies 282 Arbogast SCHMITT relevanten Texte schon in den sechziger Jahren gezeigt1. Hans Blumenberg hat auf diesen Ergebnissen Anneliese Maiers aufbauend seine Konstruktion der ‘Legitimität der Neuzeit’ vorgelegt2. Inzwischen ist die historische Richtigkeit der Auffassung, die Antike und das Mittelalter seien in diesem Sinne erkenntniskritisch naiv gewesen, in nahezu allen Einzelmomenten durch eine Vielzahl von Einzelforschungen erschüttert ; damit ist aber freilich nicht bestritten, dass es dieses Bewusstsein in der Neuzeit gegeben hätte ; vielmehr perpetuiert sich dieses in der beharrlichen Präsenz seiner Interpretationstopoi bis in die jüngste Forschung3. Wenn etwa die Auflösung der mittelalterlichen Feudalhierarchien in einzelne Territorialstaaten beschrieben wird – mit der zunächst theoretischen Fundierung des gesamten Staatskonzepts in der souveränen Freiheit des Einzelnen und der institutionellen, staatlichen Absicherung dieser Freiheit –, dann gibt es kaum eine Darstellung, die nicht als Voraussetzung dieser Neuerungen die Destruktion des mittelalterlichen Weltbildes und seiner Hierarchie der Wissenschaften benennt. Der Deduktion aus obersten Prinzipien des Seins musste, so liest man immer wieder, die subjektive Evidenz der eigenen Denkakte entgegengesetzt sein, bevor der Freiheitsanspruch der Einzelperson ein politischer und juristischer Anspruch werden konnte. Bevor es zu einer modernen, marktwirtschaftlich orientierten Ökonomie kommen konnte, bedurfte es nicht nur der spätmittelalterlichen Stadtentwicklung, der Übertragung der Haushaltungskunst auf den Landeshaushalt usw., es bedurfte vor allem der Bestreitung einer hierarchischen Seinsordnung und, daraus abgeleitet, der Bestreitung einer relativen Wertbestimmung der einzelnen Dinge in ihrem Gebrauchswert und einer ihnen gemäßen Ordnung der Bedürfnisse, weil man glaubte, jetzt endlich darauf bestehen zu können und zu sollen, dass jeder selbst seine eigene Vernunft gebrauchen und daher für sich selbst beurteilen könne, was für ihn nützlich ist. Ohne die Wende zur subjektiven Innerlichkeit gebe es nicht die Auflösung der antik-mittelalterlichen Werte- und Güterordnung in der Ethik und deren Neufundierung in der Selbstbestimmung des Individuums. Auch in den Naturwissenschaften sei es die Wende der Vernunft oder ‘des Beobachters’ auf sich selbst, die das leitende Kriterium für das Bewusstsein, über eine radikal neue Form von Wissenschaftlichkeit zu verfügen, bilde. Hier ist es das Experiment, das zum Inbegriff dieses Neuen in der neuzeitlichen Naturwissenschaft wurde. Empirische Denkhaltungen gab es bekanntlich auch in der Antike, man braucht nur an die Stoa, den Epikureismus und den Skeptizismus zu erinnern, in einzelnen Disziplinen, zum Beispiel in der Medizin, der Astronomie, der 1 Vgl. v.a. die in die Sammelbände von Anneliese Maier, Ausgehendes Mittelalter : Gesammelte Aufsätze zur Geistesgeschichte des 14. Jahrhunderts, I-II, Roma, Edizioni di Storia e Letteratura, 1964-67, aufgenommenen Arbeiten. 2 Vgl. v.a. die grundlegende Konzeptformulierung in H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1966. 3 S. zum Folgenden Verf., Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität, Stuttgart/Weimar, J. B. Metzler, 2008, v.a. S. I-VII, 1-66. Die Reflexion des Denkens auf sich selbst 283 Musiktheorie gab es große empirische Schultraditionen4. Weshalb kann sich dann die Erfahrungswissenschaft etwa eines Francis Bacon (1561-1626) als eine völlig neue Wissenschaft verstehen ? Die Antwort Bacons ist : Die Empirie der Alten sei lediglich auf eine experientia vaga gegründet gewesen. Eine experientia vaga ist eine Anschauung der Dinge, wie die Wahrnehmung gerade auf sie trifft, ex occursu rerum tantum. Dem setzt Bacon die vom Verstand kontrollierte, gesteuerte, zielgerichtete, eben die experimentelle Erfahrung entgegen, die den Mangel an Wissenschaftlichkeit ausgleicht, dem die bloße Anschauung verhaftet bleibt5. Für ein historisch korrektes Verständnis des Verhältnisses dieses neuen Methodenbewusstseins zur vorhergehenden scholastisch-aristotelischen Tradition ist allerdings besonders zu beachten, dass die Kritik an einer unmethodisch geübten Empirie nicht die primäre Stoßrichtung der Kritik ist, sondern erst eine abgeleitete. Eine Kontrolle der Empirie durch Ratio und Intellekt hatte schon Platon zum Beispiel im siebten Buch der Politeia gefordert und hatte zur Bewältigung dieser Aufgabe das System einer universalen Mathematik, das später von Boethius sogenannte Quadrivium mit den Disziplinen der Arithmetik, Geometrie, Musiktheorie und Astronomie, entwickelt6. Dieses System war aber auf apriorische Voraussetzungen, auf nur begrifflich erfassbare Sachverhalte gegründet. Erst die Überzeugung, gerade diese Voraussetzungen seien rational nicht beweisbar, sondern seien im Grunde nichts als Hypostasierungen letztlich aus der Anschauung gewonnener Begriffe zu idealen Gegenständen, entwertet diese alte Empiriekritik. Die Wirkungsmächtigkeit dieser Überzeugung kann man daran ermessen, dass sie vom 14. Jahrhundert an bis in die Gegenwart – etwa, um einige beliebig herausgegriffene Namen zu nennen : von Bradwardine, Buridan, Leonardo Bruni, Lorenzo Valla, Giordano Bruno, Descartes, Locke, Hume, Kant, Hegel bis hin zu Hans Blumenberg – in substantieller Gleichheit ausgedrückt wird. So formuliert etwa Hans Blumenberg7 : « Das Licht, in dem Landschaft und Dinge standen, die das Leben der Griechen umgaben, gewährte allem die Klarheit und schon optisch unfragwürdige Präsenz, die dem Zweifel an der dem Menschen offen gehaltenen Zugänglichkeit der Natur erst spät und erst aus der Erfahrung des Denkens mit sich selbst Raum gab ». Auch Blumenberg also vertritt die These, in der Antike, 4 Eine solche Form wissenschaftlicher Methode ist bei Platon freilich Gegenstand einer eindringlichen Kritik ; vgl. zum Beispiel die Kritik an einer empiristischen Astronomie in Politeia 529a, 9ff. 5 Vgl. The Works of Francis Bacon I, Novum Organum, ed. by J. Spedding et al., London, G. Routledge and Sons, 1858, S. LXXXII und 70. Einen Ansatz zu einer historisch-kritischen Revision dieses neuen Wissenschaftsverständnisses versuche ich aufzuweisen in Vf., « Kritische Anmerkungen zum neuzeitlichen Wissenschaftsbegriff aus der Sicht des Altphilologen », Gymnasium, 98, 1991, S. 232-54. 6 Vgl. Platon, Politeia 522e1-535a1 ; vgl. dazu Vf., Denken und Sein bei Platon und Descartes. Kritische Anmerkungen zur ‚Überwindung’ der antiken Seinsphilosophie durch die moderne Philosophie des Subjekts, Heidelberg, Universitatsverlag Winter, 2011, v.a. S. 127ff. ; zum Platonischen Mathematikverständnis s.v.a. die grundlegende Arbeit von G. Radke, Die Theorie der Zahl im Platonismus. Ein systematisches Lehrbuch, Tübingen/Basel, Francke, 2003. 7 Vgl. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, op. cit., S. 211. 284 Arbogast SCHMITT insbesondere in der ‘klassischen’ griechischen Antike, habe man noch glauben können, in der sinnlichen Wahrnehmung (=Anschauung) zugleich das allgemeine, intelligible Wesen der Welt anzuschauen. Ähnlich wie die spätmittelalterlichen Nominalisten und Naturphilosophen vertritt auch Blumenberg noch die Auffassung, die antike Philosophie habe es versäumt, vor der Betrachtung der Welt das Instrument, mit dem wir diese Welt untersuchen, den Verstand selbst, einer kritischen Analyse zu unterziehen, vielmehr sei sie von der Unmittelbarkeit der Entsprechung von Sache und Erkanntem (unkritisch) ausgegangen. Angesichts der ungebrochenen Valenz dieses Vorurteils nimmt es nicht Wunder, dass seine historische Genese nur unzureichend geklärt ist. Dennoch sollte angesichts einer Flut einschlägiger Texte aus Antike und Mittelalter über das Denken selbst und über eine methodisch gesicherte Wissenschaftstheorie – mindestens seit den Zweiten Analytiken des Aristoteles – daran kein Zweifel sein, dass dieses Vorurteil jedenfalls in der Hinsicht ein Vorurteil sein muss, als es die völlige Neuheit der Reflexion des Denkens auf sich selbst behauptet. Die adäquate Frage muss daher eigentlich nicht sein, wie es zur Entdeckung der Selbsttätigkeit und Eigengesetzlichkeit der Vernunft und damit zur Entdeckung von Subjektivität, Individualität, Innerlichkeit, sittlicher Selbstverantwortlichkeit, Perspektivität, Geschichtlichkeit usw. gekommen ist, sondern in welcher Weise und mit welchen Akzentverschiebungen es im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit dazu gekommen ist, dass eine veränderte Auffassung von dem, was Denken ist, den Eindruck und Anschein erzeugt hat, als handle es sich hier um die Entdeckung von etwas absolut Neuem, zuvor überhaupt nicht Dagewesenem, durch das alles Vorhergehende überwunden und außer Kraft gesetzt sei. Es geht also um nichts weniger als um die Frage, ob es berechtigt und legitim ist, auch in Antike und Mittelalter – wenn auch vielleicht in einem von dem uns gewohnten erheblich abweichenden Sinn – von einem Wissen um die spontanen Leistungen des Denkens, von Subjektivität, von unverwechselbarer Individualität, von inkommensurablem Charakter usw. zu sprechen, oder ob es sich dabei um intime und originäre Entdeckungen der Neuzeit handelt, zu denen es zuvor überhaupt keine Entsprechungen oder nur Vorstufen und uneigentliche Vorformen gegeben habe. Dass die Fragestellung immer noch aktuell ist, möchte ich exemplarisch an einem Beitrag aus dem Band Die Renaissance und die Entdeckung des Individuums in der Kunst von 1998 belegen, der mit der Feststellung beginnt8 : « Es scheint unabweisbar, dass die Entstehung und Entwicklung des selbständigen Bildnisses mit der Entstehung und Entwicklung des Individuums zusammenhängt. [...] Der Austritt der Menschen aus dem christlichen Ordo des Mittelalters, die nominalistische Bestimmung des individuellen Falles auch am Menschen findet ihren Ausdruck im Porträt. Auf selbständigen Bildnistafeln vor allem zeigt sich der Mensch als das, was er mühsam geworden ist : ein unverwechselbares Individuum ». Wer auch nur einen kurzen Blick auf die Forschungsliteratur zur Entstehung von Individualität in der europäischen Geistesgeschichte geworfen hat, wird die Behauptung, der Mensch sei erst in der Renaissance ein unverwechselbares 8 Vgl. M. Warnke, « Individualität als Argument », Die Renaissance als erste Aufklärung II : Die Renaissance und die Entdeckung des Individuums in der Kunst, hg. von E. Rudolph, Tübingen, Mohr Siebeck, 1998, S. 1-13. Die Reflexion des Denkens auf sich selbst 285 Individuum geworden, kaum für unabweisbar halten. Denn je nach gewähltem geschichtlichen Ausschnitt findet man seit « dem neuen Menschenbild » der Odyssee, in der sich der Mensch aus dem übergreifenden Ordnungs- und Gemeinschaftsgefüge der Ilias zu lösen beginne9, über die frühgriechische Lyrik10, die Tragödie11, den Hellenismus12, über die römisch-sentimental-subjektive Lyrik gegenüber der griechisch-objektiven Lyrik, über die christliche Innerlichkeit und die Anrufung des Einzelnen durch Gott bei Augustinus über das frühe oder hohe Mittelalter13, über Shakespeare14 bis hin zur Aufklärung und zur Romantik immer neu die Behauptung, gerade hier sei zum ersten Mal die Entdeckung von Individualität zu belegen. Ich verweise auf diese Konfusion in der Forschung nicht, um die jeweilige Einzelforschung, die oft sorgfältig und gut gemacht ist, zu diskreditieren, sondern nur, um daran ein zunächst plausibles Argument zu gewinnen für die These, dass es zumindest der Prüfung würdig ist, in unterschiedlichen historischen Kontexten lediglich mit unterschiedlichen Auffassungen von derselben Sache, also etwa von Individualität, von Denken, von Subjektivität, von Geschichtlichkeit usw. zu rechnen, statt immer wieder neu eine radikale Emergenz beweisen zu wollen. So führt der Weg von vielen Aspekten immer auf die eine zuerst zu klärende Grundfrage, auf die Frage nach dem Verhältnis der angeblich antik-mittelalterlichen Seinsordnung, in die die Menschen eingebunden und von der sie abhängig gewesen seien, zu der vermeintlich neuen kritisch erworbenen methodischen Verfügung des Denkens über sich selbst und der damit gewonnenen Freiheit und Souveränität des Subjekts. Auch für die alte Erkenntnistheorie gilt, was für die alten Individualitätsvorstellungen wahrscheinlich ist : Es gibt nicht etwa keine Erkenntnistheorie in der Antike – Erkenntnistheorie verstanden als Reflexion auf die Leistungen und Kriterien, die das Denken aus sich selbst hat –, sondern lediglich eine andere Form von Erkenntnistheorie. Der Genauigkeit halber sei gleich hinzugesetzt : Natürlich gibt es auch in der Antike nicht nur eine Form der 9 Vgl. etwa H. Fränkel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. Eine Geschichte der griechischen Epik, Lyrik und Prosa bis zur Mitte des fünften Jahrhunderts, Nachdruck der 3., durchges. Aufl., München, Beck, 1976, S. 94-103. 10 Vgl . B. Snell, « Das Erwachen der Persönlichkeit in der frühgriechischen Lyrik », in ders., Die Entdeckung des Geistes, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1980, S. 56-81. 11 Vgl. B. Snell, Aischylos und das Handeln im Drama, Leipzig, Dieterich, 1928 (Philologus, Suppl. Bd. 20,1). 12 Vgl. z.B. V. Groenbech, Der Hellenismus, Lebensstimmung, Weltmacht, übers. von Christiane Boehncke-Sjoenberg, Göttingen, Vandenhoeck, 1953. Auch Albin Lesky beschreibt in seiner großen Geschichte der griechischen Literatur, Bern/München, Francke Verlag, 19713, S. 785, das Besondere und Neue des Hellenismus damit, dass « sich nun das Individuum aus den traditionellen Bindungen gelöst » habe. 13 Vgl. z.B. B. K. Vollmann, « Die Wiederentdeckung des Subjekts im Hochmittelalter », Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, I, hg. von R. Luzius Fetz, R. Hagenbüchle und P. Schulz, Berlin-New York, Walter de Gruyter, 1998, S. 380-93. 14 Vgl. jetzt wieder D. Schwanitz, « Das Subjekt und Hamlets Vaters Geist », Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, op. cit., S. 692-712. 286 Arbogast SCHMITT Erkenntnisauffassung, sondern viele, es gibt aber vor allem einen Hauptunterschied, das ist der Unterschied zwischen der platonisch-aristotelischen Tradition und den hellenistischen Traditionen. Es lässt sich zeigen, dass die spätmittelalterliche Aristoteles-Interpretation von sich aus Positionen erreichte, die eine große innere Affinität zu den hellenistischen Philosophien hatte. Diese Affinität wurde in der Neuzeit auch früh bemerkt – und sie ist es, die zur Neuentdeckung ‘der Antike’ in der Renaissance führte. Diese Antike der Renaissance ist daher vor allem eine hellenistisch-römische Antike, in deren Licht dann auch Platon und Aristoteles uminterpretiert wurden. Ihre Rezeption ist es auch, die das Bewusstsein der Neuheit zunächst gegenüber dem Mittelalter und später gegenüber jeder Art von Vergangenheit radikalisierte. Den Weg, der dahin geführt hat, möchte ich – so konzis wie möglich – vorführen : In der Überzeugung der akademischen und peripatetischen Philosophien der Antike beginnt das methodische Wissen des Denkens über sich selbst mit dem vorsokratischen Philosophen Parmenides15. Die Hauptsätze der Philosophie des Parmenides demonstrieren gleich die ganze Schwierigkeit, die die Moderne mit der sogenannten Seinsphilosophie der Antike und des Mittelalters hat. Parmenides behauptet nämlich, es gebe nur einen Weg, auf dem Erkenntnis möglich sei, und der laute16 : Es ist, und es ist unmöglich, nicht zu sein. Und er ergänzt diesen Grundgedanken um den weiteren17 : Es ist dasselbe, was gedacht werden und sein kann. Um die Logik des Gedankens deutlicher zu machen, kann man auch übersetzen : Nur das, was ist, kann gedacht werden. Im Sinn eines Seinsbegriffs, der nach der nominalistischen Wende gebildet ist, sind diese Sätze entweder nichts als Tautologie, oder sie sind falsch. Im Verständnis Kants etwa enthalten die Grundbedeutungen des Seinsbegriffs entweder die Existenzbehauptung, die bloße Setzung von etwas im Bewusstsein, oder die Behauptung der kopulativen Verbindung mehrerer Vorstellungen oder Begriffe zu einem Urteil. Setzt man die erste der beiden Bedeutungen ein, teilt uns Parmenides mit, dass es nur das gibt, was es gibt. Sollte Parmenides schon die zweite gemeint haben, hat er sie noch nicht richtig verstanden, wollte dann aber vielleicht sagen, dass das Seiende mit unserem Urteil von ihm übereinstimmen müsse. Inzwischen wissen wir aber durch eine Reihe wichtiger Untersuchungen, zum Beispiel von Charles H. Kahn oder Uvo Hölscher18, dass Sein von Homer bis ins 4. S. zum Folgenden genauer : Verf., « Parmenides und der Ursprung der Philosophie », in Emil Angehrn (Hg.), Anfang und Ursprung. Die Frage nach dem Ersten in Philosophie und Kulturwissenschaft, Berlin/New York, Walter de Gruyter, 2007, S. 109-40. 16 Vgl. Parmenides, Fragm. B 2 und 3, in Die Fragmente der Vorsokratiker 1 (=VS I), griech. und dt. von H. Diels, hg. von W. Kranz, Berlin 1960, S. 231. 17 Ebd. 18 Vgl. C. H. Kahn, The Verb ‘Be’ in Ancient Greek, Dordrecht/Boston, Reidel, 1973 ; U. Hölscher, Der Sinn von Sein in der älteren griechischen Philosophie, Heidelberg, Winter, 1976. Hölscher arbeitet schärfer als Kahn heraus, dass ‘sein’ als ‘etwas sein, zu einem Etwas verbunden sein’ der fundierende Seinsbegriff und nicht nur ein mögliches Seinsverständnis neben anderen ist. Dass dieser Seinsbegriff eine erkenntnistheoretische Begründung hat, versuche ich in Zur Erkenntnistheorie bei Platon und Descartes [Anm. 11] zu zeigen. 15 Die Reflexion des Denkens auf sich selbst 287 Jahrhundert bei den Griechen eine spezifische Bedeutung hatte : Sein heißt nämlich hier immer : etwas sein, etwas Bestimmtes sein. Dass dieser Seinsbegriff nicht nur ein aus historischen Bedingungen der Griechen heraus erklärbarer Begriff ist, sondern eine rationale Begründung hat, ja sogar auf ein Grundprinzip der Rationalität hinführen kann, sieht man, wenn man ihn in die parmenideische Argumentation einsetzt. Denn jetzt lautet sie : Was etwas ist, ist, und es ist unmöglich, überhaupt nicht etwas zu sein, denn nur was etwas, etwas Bestimmtes, ist, kann gedacht werden. Von dem, was nicht in irgendeiner Hinsicht etwas ist, vom gänzlich Unbestimmten, gibt es, wie Parmenides ergänzt, weder Erkenntnis noch Sprache.19 Diese Grundeinsicht des Parmenides gibt Platon in dem Satz wieder : το ον γνωστον20, nur was etwas Bestimmtes ist, ist erkennbar. Er nennt sie vielleicht einfältig und simpel, aber sicher21 , und auch Aristoteles sagt von ihr, sie sei die sicherste aller Erkenntnisse, weil man sie vor jeder konkreten Einzelerkenntnis immer schon mitbringe und jeden Beweis am Ende auf sie zurückführe ; denn nur, wenn sich etwas als etwas, das nicht zugleich es selbst und nicht es selbst ist, erfassen lasse, kann es als erkannt gelten22. So ist diese Einsicht Grundlage der Formulierung des Widerspruchsaxioms geworden. Das Verständnis und die Anwendung dieses Axioms haben aber viele Tücken, die in der Phase zwischen Parmenides und Platon auch vielfältig erprobt worden sind und die zu einem guten Teil auch für die Kritik an einer auf das Widerspruchsprinzip gegründeten Rationalität verantwortlich sind, die in der Neuzeit von etwa Lorenzo Valla, Petrus Ramus über Descartes, Kant, Nietzsche immer wieder geübt worden ist und die auch für die Kritik an dem Identitätsdenken, den « großen Erzählungen » der Moderne insgesamt durch die Post- oder zweite Moderne mit ursächlich sind. Die Geschichte des Aufstiegs und Verfalls des Widerspruchsprinzips ist leider noch nicht geschrieben. Mit den spezifisch logischen Problemen seiner Anwendung setzte sich Platon vor allem in seinem Dialog Euthydemos auseinander, an den Aristoteles seine Sophistici Elenchi, die Widerlegungen der sophistischen Scheinargumentationen, unmittelbar anschloss23. Für die Wirkungsgeschichte bis ins hohe Mittelalter wichtiger noch wurde ein anderer Nachweis Platons, der Nachweis, dass die Erkenntnismaxime, dass nur Seiendes, nur Bestimmtes gedacht werden könne, keineswegs inhaltlich leer, gar nur analytisch und tautologisch ist, dass sie vielmehr eine fortschreitend erweiterbare Fülle von Implikationen enthält, aus der sich in methodischer Folge ein ganzes Wissenschaftssystem ableiten lässt. Platon legt diese Einsicht in seinem Dialog Vgl. Parmenides B2 (VS I) [Anm. 16]. Vgl. Platon, Politeia 478b3. 21 Vgl. Platon, Phaidon 100b5-e2. Zur Auslegung der Stelle vgl. Vf., Die Bedeutung der sophistischen Logik für die mittlere Dialektik Platons, Diss. Würzburg 1974, S. 207ff. 22 Vgl. Aristoteles, Metaphysik 1005b8-34. Vgl. dazu z.B. H. A. Zwergel, Principium contradictionis. Die aristotelische Begründung des Prinzips vom zu vermeidenden Widerspruch und die Einheit der ersten Philosophie, Meisenheim am Glan, A. Hain, 1972. Auch bei Platon findet sich die Formulierung des Widerpruchsaxioms als Prinzip rationaler Argumentation, vgl. z.B. Timaios 52c ; Politeia 436e8-437a2 ; 523b9-524d6. 23 Vgl. Vf., Die Bedeutung der sophistischen Logik für die mittlere Dialektik Platons, op. cit., S. 19ff. 19 20 288 Arbogast SCHMITT Parmenides dem alten, noch einmal nach Athen gekommenen Parmenides selbst in den Mund. Tatsächlich hat Parmenides wichtige begriffliche Vorarbeit geleistet, mit dem, was ihn Platon sagen lässt, wäre er aber wohl überfordert gewesen. Was Platon in den neun sogenannten Hypothesen des Parmenides vorführt24, ist nichts Geringeres als der Versuch, in streng systematischem Fortschreiten der Reihe nach die Begriffe reflexiv aufzuweisen, die man braucht, um zu verstehen, warum etwas überhaupt etwas ist. Platons Grundgedanke ist : Wenn man weiß und sich darüber sicher ist, dass man etwas nur dann erkennen kann, wenn man es als ein Etwas erfassen und festhalten kann – Platon und Aristoteles beschreiben diesen Grundakt des Denkens auch mit dem Begriff des Unterscheidens (κρινειν) –, wenn man also nur das erkennen kann, was sich unterscheiden, das heißt als ein bestimmbarer Unterschied identifizieren lässt, dann kann und muss man weiterfragen, ob es rationale Kriterien dafür gibt, an denen man kontrollieren kann, ob das, was man erkannt zu haben meint, tatsächlich eine unterscheidbare Bestimmtheit hat. Schon zu Beginn des siebten Buchs der Politeia hat Platon darauf verwiesen, dass man zwar in jeder wissenschaftlichen Disziplin andere Gegenstandskriterien habe – ob etwas Stein, Pflanze, Lebewesen, Zahl, Figur usw. ist –, dass allen diesen Disziplinen aber, ja sogar jedem technischen Vorgehen gemeinsam sei, dass ihr Gegenstand überhaupt ein Gegenstand, eben ein bestimmtes Etwas sein müsse. Die Kriterien des Etwas-Seins sind also gemeinsame Kriterien allen Wissens, weshalb Platon die Wissenschaft von diesen Kriterien eine κοινη µαθηµατικη επιστηµη, lateinisch eine communis mathematica scientia oder mathesis universalis, nennt25. Platon entwickelt im siebten Buch des Staats auch gleich das System, in dem diese Kriterien entfaltet werden, es ist das später von Boethius sogenannte Quadrivium mit den Teildisziplinen Arithmetik, Geometrie, Musiktheorie und Astronomie26. Um dieses System verstehen zu können, brauche man – so Platon27 – nur die ganz geringe Fähigkeit, eins, zwei, drei unterscheiden zu können. Tatsächlich beginnen die Hypothesen des Parmenides mit einer Erklärung der Möglichkeit, einen Begriff von Zahl zu erfassen. Der Weg dahin beginnt mit einer Erklärung der Begriffsbildung des Etwas-Seins. Schon um nur dies zu verstehen, warum überhaupt etwas ein Etwas ist, braucht man und gebraucht man, wenn auch in der Regel implizit und ohne explizite Kenntnis, eine ganze Reihe zunächst hoch abstrakter Begriffe. Die letzte, unverzichtbare Verständnisvoraussetzung ist nach Platon28, dass ein Etwas auf jeden Fall ein Eines, eine Einheit sein muss. Ein Etwas ist also immer ein Etwas. Unter einem Etwas versteht man zwar auch wieder etwas Eines, aber man versteht unter dem Begriff ‘ein Etwas’ nicht dasselbe wie unter dem Begriff der Einheit, den man Vgl. Vf., Denken und Sein bei Platon und Descartes, op. cit. Zur Interpretation des platonischen Parmenides vgl. v.a. J. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin, Stuttgart, Teubner, 1992, S. 265ff. 25 Vgl. das Analogon dazu bei Aristoteles im Konzept einer ‘ersten Philosophie’. Vgl. P. Merlan, From Platonism to Neoplatonism, The Hague, M. Nijhoff, 1968. 26 Vgl. Platon, Politeia 522e1-535a1. 27 Vgl. Platon, Politeia 522c5-6. 28 Zum Folgenden vgl. Platon, Parmenides 142b5ff. 24 Die Reflexion des Denkens auf sich selbst 289 meint, wenn man fragt, was denn genau und nur unter Einheit begriffen werden muss. Also ist der Begriff ‘ein Etwas’ eine von der Einheit selbst zu unterscheidende Einheit, von dem Etwas-Sein und Eines-Sein Teile sind. Demnach benötigt der Begriff des einen Etwas auch die Begriffe Ganzheit und Teil zu seinem Verständnis. Ganzheit und Teil kann man nicht verstehen, wenn nicht die Teile als je mit sich identisch, aber als voneinander und vom Ganzen verschieden gedacht werden, als Teile eines Ganzen aber als miteinander gleich. Also sind Begriffe von Einheit, Ganzheit, Teil, Identität, Verschiedenheit, Gleichheit Grundbegriffe des Verständnisses jedes Gegenstandes, sofern er irgendwie ein Etwas eins soll. Vor allem in der zweiten Hypothesis des Parmenides29 führt Platon vor, wie in der Kombination dieser obersten Begriffe des Etwas-Seins überhaupt bereits ein Begriff von Zahl vorgebildet ist. Denn wenn man zum Beispiel die Zahl ‘eins’ gebraucht, meint man ja nicht einen Tisch oder einen Baum, sondern einfach eine Einheit. Man meint aber auch nicht den Begriff der Einheit selbst, sondern man bildet den Begriff einer vom Begriff der Einheit verschiedenen, je bestimmten Einheit, die damit durch ihre jeweilige bestimmte Form von Einheit verschieden, durch ihr Einssein aber gleich mit dem Begriff der Einheit selbst ist. Da dieser Begriff der Zahleinheit bereits aus Begriffen der Einheit, Ganzheit, des Teils, des Identischen, Verschiedenen, Gleichen usw. zusammengesetzt ist, lässt er eine Unterscheidung dieser Momente auch in sich selbst zu, und das ergibt die verschiedenen Synthesenarten der Zahl : gerade, ungerade, gerade mal gerade usw., vollkommene Zahlen, überteilige Zahlen usw. Betrachtet man ferner nicht die einzelnen aus diesen Synthesen entstehenden Zahlbegriffe, sondern setzt die synthetisierten Zahlen zueinander in Relation, entstehen alle möglichen rational bestimmbaren Verhältnisse, das heißt die Musiktheorie. Betrachtet man die Zahlen nicht in ihrer Bestimmtheit durch je verschiedene Einheiten, sondern jeweils als eine so oder so bestimmte ganze Einheit, entstehen Begriffe von zusammenhängenden Größen, mit Anfang, Mitte und Ende usw., das heißt die Geometrie. Werden diese Größen als bewegte betrachtet, entsteht die Astronomie30 . Da diese Wissenschaften mit ihren Inhalten rein apriorisch erzeugt werden, haben sie keine unmittelbare empirische Bedeutung und beanspruchen sie auch nicht. Platonisch gesehen ist es verfehlt anzunehmen, es gebe exakt parallele Linien oder etwa die Himmelskörper bewegten sich auf exakten Kreisbahnen, wie zum Beispiel Galilei noch meinte. Das heißt aber nicht, dass diese Wissenschaften keine Relevanz für empirische Forschung hätten. Ihre Relevanz liegt darin, dass sie im einzelnen das bestimmt Erkennbare ausweisen und dadurch ermöglichen, das weniger Bestimmte als Abweichung davon zu begreifen. Hätte man keinen Begriff vom rechten Winkel, könnte man auch keinen Begriff vom stumpfen und spitzen Winkel bilden, sondern es gäbe nur ein konfuses Durcheinander von beliebig angesetzten Winkelgraden. Hätte man keinen Begriff von Gerade und Kreis, könnte Vgl. Platon, Parmenides 142b3-144a9. Die wissenschaftstheoretische Bedeutung des Quadriviums ist immer noch ungenügend erforscht, von den meisten relevanten Texten liegen nicht einmal neue Ausgaben und Übersetzungen vor. Wichtig zum Verständnis des Konzepts des Quadriviums im Rahmen der artes liberales ist Radke, Theorie der Zahl, op. cit. ; s. v.a. auch I. Hadot, Arts libéraux et philosophie dans la pensée antique, Paris, Études augustiniennes, 1984. 29 30 290 Arbogast SCHMITT man auch nicht begreifen, was eine Spirale oder noch komplexere oder ungleichmäßigere Linien sind. Diese Kriterienfunktion des exakt Erkennbaren (weil Bestimmten) für das weniger exakt Erkennbare und Bestimmbare war der eigentliche Grund, warum man es in Antike und Mittelalter nicht für möglich hielt, beliebige Einzelforschungen zu treiben. Immer musste das Einzelne der bestimmten Einheit zugeordnet werden, zu der es gehörte, die einzelne medizinische Behandlung ins Gesamte der Funktion des menschlichen Lebens, die einzelne Himmelsbewegung ins Gesamte des astronomisch Möglichen, die einzelne physikalische Erscheinung in den Ursachenzusammenhang der Physik usw. eingeordnet werden. Es war genau dieser Zwang der Einordnung der Einzelbeobachtungen ins System, gegen den die Naturphilosophen des 14. Jahrhunderts revoltierten, und sie konnten dies nur deshalb tun, weil mit der nominalistischen Aufwertung des Einzeldinges zu einem vollendet Seienden die Einsicht in die Unbestimmtheit des Empirischen als grundlos entwertet war. Wenn aus dieser Revolte der Vorwurf mangelnder experimenteller Empirie gegen Antike und Mittelalter entstand, so nicht, weil man dort überhaupt nicht oder nur blinde, rational nicht kontrollierte Empirie betrieben hätte – genau diese an rationalen Kriterien sich orientierende Empirie war ein wichtiges Ziel des Wissenschaftssystems der artes liberales –, sondern weil man die Empirie nicht zur ausschließlichen Basis des Wissens gemacht hatte. Bevor ich den Versuch mache, den Übergang zu diesen ‘Revolutionen’, in denen der mittelalterliche Ordo des Wissens in die neuzeitliche Pluralität überführt wurde, zu skizzieren, möchte ich wenigstens eine kurze Zwischenbilanz ziehen : Wie immer man im einzelnen das System der antik-mittelalterlichen mathesis universalis beurteilen muss – und hier gibt es sicher vieles, was kritischer Diskussion bedarf –, es ist auf keinen Fall ein erkenntnistheoretisch naives System, sondern es ist gegründet auf den reflexiven Aufweis, dass das Unterscheiden der Grundakt des Denkens ist, und auf eine Analyse der inneren, rationalen Voraussetzungen des Unterscheidenkönnens als solchem. Das bedeutet aber auch, dass die mittelalterliche Seinsordnung, die die Neuzeit auflöst, nicht einfach etwas nur durch Autorität und Offenbarung Vorgegebenes war. Interessanterweise waren der Anlass der sukzessiven Destruktion dieses Systems nicht diese theologischen Implikate – sie wurden auch von den Scotisten und selbst von den Ockhamisten akzeptiert ; lediglich die Weise des Zugangs zur Theologie wurde von ihnen vom Intellekt in einen sich nicht mehr rational begründenden Glauben verlegt. Anlass, nicht der einzige, aber wohl der maßgebliche für die philosophische Destruktion dieses Systems einer apriorischen Begründung der Rationalität war vielmehr eine bestimmte Konsequenz über das Verhältnis von Denken und Anschauung, das sich aus diesem platonisch aristotelischen Rationalitätsbegriff ergab. Wenn der Grundakt des Denkens als ein Unterscheidungsakt begriffen wird, dann hat man keinen Anlass, eine Kluft zwischen der Wahrnehmung oder anderen Formen unmittelbaren, noch nicht bewusst verarbeiteten Erkennens und dem bewussten Denken anzunehmen. Auch das Erfassen von Tönen, Farben, Gerüchen etc. gilt dann als ein Unterscheidungsakt, der von dem einen Unterscheidungsvermögen bzw. der von uns vermittels unseres einen Die Reflexion des Denkens auf sich selbst 291 Unterscheidungsvermögens vollzogen wird. Der Unterschied der Wahrnehmung von der Rationalität im strikten Sinn liegt lediglich darin, dass das allgemeine Unterscheidenkönnen eingeschränkt wird, wenn es sich vermittels eines Wahrnehmungsorgans vollzieht. Das Auge kann eben nur Farbe und Form unterscheiden, und so lange und so weit man sich beim Erkennen auf das Auge stützt, bindet man sich auch an die Defekte des Auges, das zum Beispiel trotz rationaler Belehrung die Sonne immer klein sehen wird. Im Unterschied zu diesem einheitlichen Begriff des Denkens, bei dem lediglich zwischen einer mehr oder weniger eingeschränkten und einer freien Verfügung über das eigene Unterscheidungsvermögen differenziert wird, liest man etwa bei Kant, es gebe zwei Stämme unseres Gemüts, nämlich die Rezeptivität der Sinnlichkeit, durch die uns Gegenstände gegeben, und die Spontaneität des Verstandes, durch die Gegenstände gedacht werden31. Einer der ersten und jedenfalls einer der wirkungsgeschichtlich effektivsten Schritte auf diese Zwei-Stämme-Lehre hin, in der das Denken nur noch der Spontaneität des Verstandes zugewiesen wird, ist von Duns Scotus gemacht worden32. Im Zug einer Auseinandersetzung mit dem Anfang der aristotelischen Physik und ihrer Deutung durch die mittelalterliche Kommentartradition, vor allem durch Avicenna, entwirft Scotus eine neue Interpretation der ihm nicht mehr einleuchtenden traditionellen Auslegung der aristotelischen Behauptung, die Wahrnehmung sei abstrakt und konfus. Aristoteles war zu der Auffassung, die Wahrnehmung sei noch abstrakt, eben deshalb gekommen, weil er ihr bereits eine aktive und das heißt auch subjektive Erkenntnisleistung zusprach33. Aristoteles meint damit nicht nur, dass die Inhalte der direkten Wahrnehmung : rot, grün, süß, sauer, trocken, feucht usw. an Einzelgegenständen unterschiedene allgemeine Qualitäten sind, er meint im ersten Kapitel der Physik vor allem das, was wir heute am ehesten unter Gegenstandswahrnehmungen verstehen. Da für Aristoteles die subjektive Aktivität mit ihren möglichen Überformungen durch das Denken bereits auf der Ebene der Wahrnehmung einsetzt, muss man nach Aristoteles strikt unterscheiden zwischen dem Einzelding, das man in der Wahrnehmung vor sich hat, und dem, was man aufgrund einer Wahrnehmungsunterscheidung von ihm weiß. Der Gegenstand, auf den man sich in der Wahrnehmung bezieht, ist natürlich ein Einzelgegenstand und enthält alle seine Differenzen in konkreter Ganzheit. Der Wahrnehmung ist dieser Gegenstand aber nicht sofort mit allen seinen Eigenschaften gegeben, sondern sie erfasst von ihm zuerst nur einen ersten, noch undifferenzierten Unterschied, das heißt seine eher markanten Züge, die er mit vielen ähnlichen Gegenständen gemeinsam hat ; in diesem Sinne ist die Wahrnehmung abstrakt. Wer zum ersten Mal fremde Menschen sieht, fremde Musik hört, erfasst nicht deren individuelle Züge, sondern bleibt auf vage Allgemeinheiten beschränkt. In komplizierteren Analysen zeigen die Aristoteles-Kommentatoren, dass dies nicht nur von der Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft B 33. Vgl. Vf., « Anschauung und Denken bei Duns Scotus », in ders. u. Gyburg Radke-Uhlmann (Hgg.), Philosophie im Umbruch, Stuttgart, Steiner, 2009, S. 79-104. 33 Vgl. Vf., « Das Universalienproblem bei Aristoteles », 800 Jahre Averroes, hg. von A. Khoury, Heidelberg 2001. 31 32 292 Arbogast SCHMITT Anfangswahrnehmung, sondern in gewisser Weise von der Gegenstandswahrnehmung überhaupt gilt. Denn mit dem anfänglichen Erkennen ist eben der Anfang des Unterscheidens gemeint. Wer zum Beispiel den Gegenstand eines Bildes – etwa des sterbenden Sokrates – erfassen möchte, wird eher einen sitzenden oder liegenden Menschen als einen Sterbenden ‘sehen’ und eher einen Sterbenden als Sokrates und eher Sokrates als seine spezifische CharakterDarstellung und eher die barocke oder romantische Darstellungsweise als die Darstellungsweise gerade dieses oder jenes Malers usw., weil die ersteren Unterschiede jeweils eine geringere Differenzierungsleistung voraussetzen. Bei diesem Fortschreiten vom Abstrakten zum Individuellen und Eigentümlichen helfen aber die besseren Augen nicht, sondern es muss der Wahrnehmung der Verstand zu Hilfe kommen. So deuten es auch die antiken und mittelalterlichen Kommentatoren, benützen aber zur Erklärung ein Beispiel, das nahelegt, der Weg von der Abstraktheit der Wahrnehmung zur Eigentümlichkeit der rationalen Unterscheidung sei ein Weg von undeutlicher zu deutlicher Wahrnehmung34. So wie man Sokrates aus der Ferne zuerst nur als ein Lebewesen überhaupt, dann erst als Menschen, dann als Griechen und zuletzt erst als Sokrates erkenne, so sei der Unterschied von Wahrnehmung und Denken im Allgemeinen. Diesen Vergleich nimmt Duns Scotus beim Wort und versteht den Weg von der Anschauung zum Denken als einen Weg von einer konfusen, dunklen, undeutlichen zu einer klaren und deutlichen Vorstellung35. Da Aristoteles auch noch gelehrt hatte, die direkte Wahrnehmung sei sicher und vollziehe sich in einem Zusammenwirken von Wahrnehmung und Intellekt36, hat Duns Scotus alle Stücke für eine völlig neue Deutung beisammen : Die Anschauung (d.h. eine zugleich sinnliche und intellektuelle Wahrnehmung) erfasse den Gegenstand in einem Akt zugleich mit allen seinen Eigenschaften (simul totum). Die Seele besitze diesen Wahrnehmungsgegenstand aber zunächst nur in einer dunklen und konfusen Weise und müsse ihn sich erst mit Hilfe des abstrahierenden Denkens vergegenwärtigen, repräsentieren. So kommt Duns Scotus zu einer strikten Scheidung zwischen einer cognitio intuitiva sensitiva, die unmittelbar, ohne jede Beteiligung des subjektivurteilenden Denkens und sicher ist, und einer cognitio abstractiva, die das ihr von der cognitio intuitiva Gegebene verarbeitet37. Damit hat Duns Scotus nicht nur die Basis gelegt für die Position, die Ockham mit zwingender Konsequenz aus seinem Ansatz abgeleitet hat, dass nämlich die abstrakten Begriffe des Verstandes nur subjektive, mentale Entitäten sind, er hat auch die Position fast der ganzen späteren Aufklärungsphilosophie vorbereitet, die daraus, dass der Verstand das ihm Gegebene sich mit seinen Mitteln erst vergegenwärtigen muss, den Schluss gezogen hat, dass wir dann die Dinge nicht Vgl. z.B. : Philoponi in Aristotelis Physicorum tres priores Commentaria (Commentaria in Aristotelem Graeca CAG] XVI, ed. H. Vitelli, Berlin, Reimer, 1887, S. 11, 12ff.). 35 Vgl. z.B. : Duns Scotus, Ord.Id27q1-3n72 und Ord.Id2p1q1-2n18 ; Ord.Id3p1q1-2n69ff. ; Lect.Id3p1q1-2n66-67 und Ord.IVd1q2n2 [Anm. 24]. 36 Vgl. Aristoteles, De Anima B6 418a7-16 ; vgl. auch : B12, 424a17ff. 37 Zur cognitio intuitiva und cognitio abstractiva vgl. S.J. Day, Intuitive Cognition, a Key of the Significance of Later Scholastics, St. Bonaventure/New York, The Franciscan Institute, 1947. 34 Die Reflexion des Denkens auf sich selbst 293 so erkennen, wie sie uns in der Wahrnehmung gegeben waren und wie sie wirklich sind, sondern immer nur so, wie wir sie uns verdeutlichen, das heißt wie sie uns – als vorgestellte – erscheinen. Frappierenderweise hat diese von Duns Scotus neu begründete AristotelesAuslegung, wie oben bereits erwähnt, eine große Affinität zu den philosophischen Positionen der antiken hellenistischen Schulen der Stoa, des Epikureismus und der Skepsis. Das hat man sehr schnell auch bemerkt, und so kommt es zu einer intensiven Neurezeption dieser Schulen, die dadurch noch verstärkt wird, dass die frühe italienische Renaissance vor allem eine Rückwendung zur eigenen Vergangenheit im klassischen Rom suchte, dessen kulturelle Positionen gerade von diesen hellenistischen Schulen geprägt waren. Ein markantes und für das Selbstverständnis der Neuzeit fundierendes Beispiel für diese Art der Entdeckung war die Wiederentdeckung (sc. durch die erste lateinische Übersetzung des Grundrisses der pyrrhonischen Skepsis) des Sextus Empiricus in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Was die philosophischen Hauptpositionen der antiken Skepsis und die Strategien ihrer Begründung angeht, war aus Sextus kaum und auf keinen Fall revolutionär Neues zu gewinnen. Das alles war dem Mittelalter aus Augustinus und Cicero hinlänglich bekannt. Dass die vor allem philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Neuinformationen durch Sextus dazu hinreichten, Sextus zu dem göttlichen Sextus und zum Vater der modernen Philosophie zu stilisieren, liegt daran, dass skeptisches Denken zu dieser Zeit philosophisch rehabilitiert war, so dass die antike Skepsis als Bestätigung der eigenen Positionen empfunden werden konnte38. Die Wiederentdeckung der Antike in der Renaissance war daher nicht die Wiederentdeckung der Antike überhaupt, sondern es war ein Ausspielen der hellenistisch-römischen Antike gegen die neuplatonisch-aristotelische und damit zugleich arabisch-jüdisch geprägte Antike des Mittelalters. Dass dann auch Platon und Aristoteles – der wahre Aristoteles gegen den falschen scholastischen – an diese neue Antike adaptiert wurden, steht auf einem anderen Blatt. Für die Zuendeführung unseres Themas bleibt leider nur noch wenig Raum, ich muss mich daher auf Hinweise beschränken, ohne das Behauptete zu belegen : Mit der Scheidung zwischen der undeutlichen – in späterer Terminologie : unbewussten – Gegebenheit der Sinnesgegenstände in rezeptiver Wahrnehmung und der bewusst spontanen Repräsentation des Gegebenen durch den Verstand erscheint als die eigentliche Aufgabe einer Erkenntniskritik die reflexive Analyse der Art und Weise, wie der Verstand die ihm undeutlich gegebenen Sinnesdaten ordnet. Eine solche Erkenntniskritik haben die platonisch-aristotelische Antike und das Mittelalter nicht geleistet. Sie gelten deshalb als erkenntnistheoretisch und überhaupt naiv (es ist kein Zufall, wenn Aristoteliker in der Neuzeit immer wieder den Namen Simplicius, ‘der Einfältige’, bekommen). Den Aspekt, dass aus aristotelischer Perspektive gerade diese neue Position als naiv gelten müsste, weil sie die Subjektivität der Wahrnehmung nicht reflektiert, können wir nicht weiter verfolgen. So wird der Gegensatz, der zwischen der cognitio intuitiva sensitiva mit ihrer sinnlich unmittelbaren, naiven Rezeptivität und der cognitio abstractiva mit ihrer reflexiv spontanen Aktivität liegt, zum Signum des Unterschieds von antik und modern und gibt diesem Unterschied damit den Charakter eines totalen Umbruchs, Vgl. R. H. Popkin, The History of Scepticism from Erasmus to Spinoza, Berkeley, University of California Press, 1979, S. 18ff. 38 294 Arbogast SCHMITT eben des Bruchs von einer rezeptiven, naiven, abhängigen zu einer bewussten, freien, souveränen Denkweise, und lässt diese neue Denkweise so als eine radikal neue Denkweise erscheinen. Es ist aber eine systemimmanente Konsequenz dieser neuen Erkenntnisauffassung, dass der zunächst als einmalig angenommene Bruch zwischen Antike und Moderne sich in geschichtlicher Beschleunigung wiederholt und perpetuiert. Anders als in der artes-liberales-Tradition mit ihrer Suche nach Kriterien, die erlauben, gemachte Unterschiede festzuhalten und zu ergänzen, liegt bei dieser Ordnung von sinnlichem Material durch abstrakte Bewusstseinshinsichten jedes Mal ein Bruch zwischen einem unbewusst gegebenen Ganzen und dem vom Denken beleuchteten Ausschnitt vor, und dieser Ausschnitt ist in der Weise, in der er gedacht wird, jedes Mal absolut neu. Die Wende von der Nicht-Bewusstheit zur Bewusstheit der Spontaneität des eigenen Inneren, die von der Sache her nur eine einmalige Wende sein kann und deren Einmaligkeit, ja Einzigkeit in vielen Texten hervorgehoben wird, wird daher überaus häufig zugleich als das intime Kriterium sehr vieler sachlich wie geschichtlich divergierender Wenden ausgegeben und erscheint immer neu als die jetzt erst mögliche ‘eigentliche’ Wende, z.B. bei der ‘Entdeckung’ der Perspektive in der Kunst, in der Astronomie, in der Erkenntnistheorie, sodann bei der ‘Entdeckung’ des Experiments in den Naturwissenschaften, des Schöpferischen in der Kunst, der moralischen Selbstbestimmung, der Geschichtlichkeit, aber auch des linguistic turn (sofern Sprache nicht mehr als weltabbildend, sondern weltkonstituierend verstanden wird), der Systemtheorie (‘Beobachter des Beobachters’)39, des New Historicism (nicht zufällig beruft sich Hayden White für seine Bewusstseins-Tropen auf Vico)40 usw. ; es gilt außerdem diese permanente Wiederholung radikaler Wenden als das Charakteristikum eines modernen Geschichtsverständnisses überhaupt : das Bewusstsein « was gestern gültig war, gilt heute nicht mehr », d.h. das Bewusstsein der Inkommensurabilität der Gegenwart gegenüber jeder Vergangenheit, das ursprünglich nur Ausdruck des Bewusstseins der Differenz der Moderne gegenüber der Antike war, ist, wie Hans Robert Jauß gezeigt hat, in zunehmender Beschleunigung modernes Alltagsbewusstsein gegenüber jeder Vergangenheit geworden41. Arbogast Schmitt Philipps-Universität Marburg Vgl. N. Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1992. Vgl. H. White, Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktische. Studien zur Typologie des historischen Diskurses, übers. von B. Brinkmann-Siepmann und Th. Siepmann, Einleitung von R. Koselleck, Stuttgart, Klett-Cotta, 1991 ; vgl. auch ders., Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism, Baltimore/London, John Hopkins University Press, 1978. 41 Vgl. H. R. Jauß, « Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität », in ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1979, S. 11-66, vgl. ähnlich H. Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt am Main 1975. Vgl. dazu auch F. Jameson, The Seeds of Time, New York/Chichester, Columbia University Press, 1994, S. 18, der zu Recht betont, dass eine permanente Veränderung selbst einen statischen Charakter bekommt, der eigentliche Veränderungen überhaupt nicht mehr zulässt. 39 40