1 Die Moral und die Linke Moral war keine Kategorie für Karl Marx. Die Moral schlechthin existiert für ihn gar nicht, sondern nur verschiedene moralische Positionen, die historisch und klassenmäßig bedingt sind. Für abstraktes Moralisieren hatte er nur Spott und Verachtung übrig. Marx sah vor allem das materielle Interesse als Triebkraft menschlichen Handelns. Nicht aber irgendwelche in der ideologischen Sphäre angesiedelten Konstrukte. „Erst kommt das Fressen und dann kommt die Moral“, brachte es Bert Brecht auf den Punkt. Karl Marx und Friedrich Engels verwenden folgende Worten, um Ähnliches auszudrücken: „Die Kommunisten predigen überhaupt keine Moral, was Stirner im ausgedehntesten Maße tut. Sie stellen nicht die moralische Forderung an die Menschen: Liebet Euch untereinander, seid keine Egoisten usw.; [...].“1 Was aber tun die Kommunisten und Linken von heute? Die von der KPÖ unterstützte österreichische Präsidentschaftskandidatin Elfriede Awadalla verkündet im TV als zentrale Botschaft, dass sie das „Liebet-Euch-Untereinander“ zum Programm erhoben hat. Sie verrät selbst in Ungarn Flüchtlinge von der Landstraße aufgesammelt zu haben und offenbart damit einen „Liebeskommunismus“, der geeignet ist, Caritas und Diakonie blass aussehen zu lassen. Freilich begibt sich Awadalla damit auch auf dasselbe politische Niveau. Also: Kein Unterschied mehr zwischen christlichen und kommunistischen „Gutmenschen“? Das Verhalten von vielen „Gutmenschen“ – egal welcher Provenienz – ist, von einer bestimmten Warte aus gesehen, zweifellos moralisch integer. Es erzeugt ein wohlig-heimeliges Gefühl, das richtige getan zu haben. Bei Linken lautet daher die neue Heilsbotschaft : Wir lieben uns – Marx hin oder her – doch alle untereinander, woran sich schließlich der kategorische Imperativ knüpft: Seid keine Egoisten. Genau dieser Egoismus aber, das Vertreten der eigenen Interessen, ist Voraussetzung für die Veränderung der Welt, für eine Beseitigung des Kapitalismus. Diesen Anspruch aber hat die Linke aufgegeben: Sie vertritt nur noch eine ethische Läuterung der bestehenden Verhältnisse, sie will einen „menschlicheren“ Kapitalismus. Alexis Tsipras, Chef der bis vor kurzem noch als marxistisch denunzierten griechischen Syriza richtet folgende, sicher sehr moralische Forderung an die (europäische) Welt: „Das Mittelmeer muss aufhören ein Friedhof zu sein und die südeuropäischen Länder Abstelllager für menschliche Wesen. Das Mittelmeer muss wieder zu dem werden, was es war: Eine Wiege der Zivilisation, der 1 K. Marx, F. Engels, Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 229. 2 Verständigung, des Handels und der Menschlichkeit.“ 2 Genauso gut könnte er freilich fordern, Afrika müsse endlich aufhören ein Hungergrab für seine Bewohner zu sein oder die Kapitalisten mögen auf ihre Gewinne verzichten. Tsipras gut gemeinte Postulate sind bisher alle – wie könnte es anders sein? – an einer Wirklichkeit der Interessen zerschellt. Es ist sein Sozialismus einer der Phrasen, sein Kapitalismus einer der Taten. Sowohl Awadalla wie auch Tsipras sind politisch sehr korrekt und entsprechen in hohem Maße den immer wieder urgierten, aber niemals realisierten ethischen Kriterien einer bürgerlichhumanistischen Welt. Aber werden sie auch den für Kommunisten bzw. Marxisten geltenden Kriterien gerecht? Was würden die beiden sagen, wenn man ihnen die nachstehenden Worte von Friedrich Engels entgegen hielte: „’Man glaubt etwas sehr Großes zu sagen – heißt es bei Hegel – wenn man sagt: Der Mensch ist von Natur gut; aber man vergisst, dass man etwas weit Größeres sagt mit den Worten: Der Mensch ist von Natur böse.’ (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts und Vorlesungen über die Philosophie der Religion) Bei Hegel ist das Böse die Form, worin die Triebkraft der geschichtlichen Entwicklung sich darstellt. Und zwar liegt hierin der doppelte Sinn, dass einerseits jeder neue Fortschritt notwendig auftritt als Frevel gegen ein Heiliges, als Rebellion gegen die alten, absterbenden, aber durch die Gewohnheit geheiligten Zustände, und andererseits, dass seit dem Aufkommen der Klassengegensätze es grade die schlechten Leidenschaften der Menschen sind, Habgier und Herrschsucht, die zu Hebeln der geschichtlichen Entwicklung werden [...].“3 Die bösen, egoistischen menschlichen Interessen gehören naturgemäß zu jenen Triebkräften, die Engels hier anspricht. Sie treten in verscheidenen Gestalten auf, laufen einander oft diametral entgegen und prallen schließlich im gesellschaftlichen Raum ungebremst aufeinander. Ein „Liebeskommunismus“ hat mit ihnen nichts zu tun und kann daher im realen Leben auch nichts bewirken. Moralische Appelle an die „Menschlichkeit“ allein müssen ungehört verpuffen. So verhält es sich auch in der sogenannten „Flüchtlingskrise“, die in ihrem Wesen vielmehr eine globale Armutskrise ist. Das Interesse der Herrschenden liegt nun darin, diese Armut unter den Armen dieser Welt in einer Weise aufzuteilen, die ein Implodieren des instabil gewordenen Systems verzögert. Dabei sollen nicht die unerträglichen Verhältnisse der globalen kapitalistischen Ausbeutungsmaschinerie geändert werden. Schon gar nicht an der Peripherie, das würde den Profit gefährden. Daher zwingt 2 3 http://ooe.kpoe.at/article.php/2015042309052816 am 14. März 2016. F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW 21, 287. 3 man die Menschen, die potentielles Kapital darstellen, lieber zur lebensgefährlichen Migration ins Zentrum. Die Werktätigen hier hingegen müssen dann Habe, Jobs und Einkommen mit den Ankömmlingen teilen. Während Besitzenden und Eliten geschont bleiben, trifft das vor allem die untersten sozialen Schichten, die ungelernten Arbeitskräfte. Durch ein Ausspielen der Flüchtlinge gegen die ärmsten Hiesigen aber wird Rassismus erst breit generiert. Es ist eine alte und erfolgreiche Praxis der Herrschenden, die Menschen gegeneinander auszuspielen. Ein Geschäft, das zur zeit Linke und Grüne für sie erledigen. Das gipfelt darin, dass den Einheimischen sogar der Status Proletariat abgesprochen wird und sie zu den Rentiers gezählt werden. So meinte der österreichische Ex-Grünpolitiker Klaus Werner-Lobo in einem Interview: „Das neue Proletariat sind die Migranten...“4 Und was sind dann alle anderen, die im Blaumann hinter den Maschinen stehen? Die gehören, so Werner-Lobo, zu den Privilegierten, weil sie Zugang zu Bildung, Wohnung und Auto haben. Diese „Privilegien“ hat der hiesige Plebs – das ist die moralische Forderung der Linken von Grün bis zur deutschen Linkspartei – also gefälligst zu teilen. Das Teilen liegt nun naturgemäß nicht im Interesse von jenen, denen es abverlangt wird. Noch dazu, wenn es ohnehin nur um die Brosamen von den Tischen der Reichen geht. Letztere bleiben ja mit ihren Vermögen bei jedem Teilen ohnehin außen vor. Es ist also verständlich, dass die sich wehren, denen von ihrem Wenigen genommen werden soll. Ebenso logisch erscheint es, wenn sie Flüchtlingen nicht gerade mit Empathie begegnen. Daran werden moralische Vorhaltungen kaum etwas ändern. Denn die Moral ist, wie Marx und Engels einmal bemerkten, „die Machtlosigkeit in Aktion’. So oft sie ein Laster bekämpft, unterliegt sie.“5 Das Interesse der elenden, deklassierten und hoffnungslosen Flüchtlinge besteht vorerst nur in einem einzigen elementaren Anliegen: Der notdürftigsten Sicherung von Subsistenzmitteln. Das bedeutet oft erbärmliche, teure Wohnverhältnisse sowie Arbeit unter allen Bedingungen und bei jeder Entlohnung. Es muss daraus unweigerlich, was auch Zweck der Übung ist, für alle eine Nivellierung sozialer Standards nach unten folgen. Das erklärt, warum ausgerechnet die österreichische Industriellen-Vereinigung und Angela Merkel für ungebremste Migration eintreten. Sie wollen sich eine neue Arbeiterklasse schaffen, die nicht – wie die alte – an minimale Standards gewöhnt ist. Das erklärt aber keinesfalls, warum Awadalla, Tsipras, die deutsche Linkspartei und Konsorten die Migration bejubeln. 4 5 Der Standard vom 13. März 2016. K. Marx, F. Engels, Die heilige Familie, MEW 2, S. 213. 4 Es geraten also scheinbar, von den Profiteuren gut inszeniert, die gegensätzlichen Interessen des ansässigen und zugewanderten Proletariats aneinander. Dabei verhält es sich in Wirklichkeit gar nicht so: Beide haben objektiv dieselben Interessen, nämlich die Überwindung von Verhältnissen, die aus ihnen elende Wesen machen: Solche, die jeden Tag um die Arbeit zittern oder den Tod riskieren, um der hoffnungslosen Heimat zu entkommen. Wenn 62 Plutokraten genau soviel besitzen wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung wird klar, auf welchen Wegen und auf wessen Kosten die globale Armut zu beseitigen ist. Nicht „caritas“ zu predigen, ist daher die Aufgabe von Marxisten und Kommunisten. Vielmehr besteht sie darin, unablässig die Notwendigkeit des Umstoßens aller bestehenden Verhältnisse darzulegen und auch zu betreiben. Allerdings ist das nicht einfach: Die Menschen in Europa spüren instinktiv, dass die Flüchtlinge bedrohlich für sie sind, dass sie als Konkurrenz instrumentalisiert werden. Dass sich ihre wahren Interessen gegen andere richten, erkennen sie nicht so leicht. Aber auch jenen, die in Bewegung geraten sind, ist nicht bewusst, dass sie Teil einer gigantischen Armutsbewegung sind. Sie wollen nicht in ihren Heimatländern gegen korrupte Eliten und Imperialismus aufbegehren, sie möchten individuelle Lösungen für sich und ihre Familien. Es ist ihnen noch nicht klar, dass es die auch in Europa nicht wirklich gibt. Während die „Liebet-Euch-Alle“-Bewegung ihnen wenigstens partiell Schutz und Wärme vorgaukelt, also Illusionen befördert, sind Marxisten der Wahrheit verpflichtet: Sie haben zu vermitteln, dass es ohne Kampf ums Ganze nicht gehen wird. Das „Liebet-Euch-Untereinander“ vernebelt die Welt nur noch stärker. Es suggeriert, dass es genügt, allein die Einstellung, das Bewusstsein, zu verändern. Die reale Welt richtet sich dann schon nach den philanthropischen Idealen in den Köpfen. Marx merkte dazu an: „Der Bewusstseinskritiker bildet sich [...] ein, dass seine moralische Forderung an die Menschen, ihr Bewusstsein zu verändern, dies veränderte Bewusstsein zustande bringen werde, […].“ 6 Dass aber selbst wenn das glückt, nichts erreicht ist erklären folgende seiner Worte: „Die Forderung das Bewusstsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, d.h. es vermittelst einer anderen Interpretation anzuerkennen.“7 Konkret wird – oder wurde – eine kapitalistische Welt, die den ärmsten keine andere Wahl als Flucht lässt, in eine humane Willkommensgesellschaft uminterpretiert und als solche anerkannt. Nur vor dem Hintergrund eines idealistischen Liebeskommunismus wird Migration zu einem geheiligten Wert an sich. Sie ist aber in Wahrheit brutal erzwungen und gerät zumeist allen 6 7 K. Marx, F. Engels, Deutsche Ideologie, MEW 3, 232-233. K. Marx, F. Engels, Deutsche Ideologie, MEW 3, 20. 5 Beteiligten zum Nachteil: Die Herkunftsländern verlieren wesentliche Teile des Humankapitals, die Alten und Schwachen bleiben dort alleine. Die Migranten selbst begeben sich auf eine oft lebensgefährliche Odyssee. Angekommen in Europa sind sie erst wieder mit Not und Elend konfrontiert. Im Ankunftsland aber dient Migration als Werkzeug, um soziale Standards zu demontieren und Konflikte unter den Deklassierten zu schüren. Migranten und eingesessene Werktätige zählen dabei beide zu den Verlieren. Sie stehen dann trotz aller wirkunslosen, weil sich an den Interessen blamierenden „Liebet-Euch-Untereinander“-Beteuerungen der Kulturlinken gegeneinander und nicht miteinander.