Diskussion - INWO Schweiz

Werbung
Diskussion der INWO-Lesegruppe über Aristoteles
23. Februar 2007
___________________________________________________________________________
Ist Aristoteles als Erzieher gescheitert?
Die Natur als Vorbild
Bei Aristoteles ist die Natur grundsätzlich gut. Sie hat eine Ordnung und befindet sich
im Gleichgewicht. Eine masslose Bereicherung durch den Menschen, die der Handel mit
Geld ermöglicht, bedeutet hingegen eine Entgrenzung des natürlichen Gleichgewichts.
Die gesellschaftliche Ordnung wird gesetzlich durch den Menschen geregelt und stellt eine
Ergänzung zur natürlichen Ordnung dar. Dem Menschen steht es frei, sich tugendhaft zu
verhalten und die „künstliche“ Ordnung besser oder eben schlechter zu errichten. Die
„natürliche“ Wirtschaft, die Versorgung der Haushalte mit Gütern und Diensten
(Oikonomike), ist für Aristoteles nicht problematisch, weil sie das Mass des dem Menschen
und der Natur Verträglichen nicht überschreitet. Auch das „Gelderwerbswesen“
(Chrematistike), der Tauschhandel mit dem Hilfsmittel Geld, kann gut oder schlecht
ausgeführt werden. Allerdings zeigt Aristoteles ihm gegenüber grosse Vorbehalte, weil die
Gefahr besteht, dass die Bereicherung zum Selbstzweck wird. Masslosen Reichtum und
Gewinnsucht verurteilt Aristoteles als naturwidrig. Wer sich für das „Mehr“ als Zweck seiner
Handlung entscheidet, missachtet das Gesetz der natürlichen Gleichheit und ist deshalb
ungerecht. Der Hauptvorwurf von Aristoteles gegen die Bereicherung ist nicht Gier, sondern
Ungerechtigkeit.
Die Kritik an der Missachtung des natürlichen Gleichgewichts durch die wirtschaftliche
Tätigkeit klingt für unsere Ohren geradezu modern, wenn wir heute um ökologische
Massnahmen ringen, um der Zerstörung der natürlichen Ressourcen durch die globalisierte
Wirtschaft Einhalt zu gebieten. Heute stimmt der Ökonom H.C. Binswanger mit Aristoteles
überein: Die natürlichen Ressourcen sind begrenzt, der Gelderwerb hingegen scheint
unbegrenzt. Dieses Dilemma hat Aristoteles schon zu seiner Zeit erkannt.
Gesellschaftsordnung und „verteilende Gerechtigkeit“
Die Gesellschaftsordnung jener Zeit war „von Natur aus“ gegeben. Es gab Freie und
Sklaven. Die Ansprüche an die Güterversorgung waren für gesellschaftlich
Bessergestellte von Rechts wegen höher als für die unteren Schichten. Darauf beruhte
das wirtschaftliche System.
Ein Haushalt bestand in erster Linie aus einem Hausherren, dessen Frau und einigen Sklaven.
Wenn wir heute an Sklaven denken, haben wir das Bild der ehemaligen schwarzen Sklaven in
Amerika vor Augen. Im antiken Griechenland mag das Leben als Sklave etwas anders
ausgesehen haben. Ein Sklave konnte kein Eigentum haben, er war Eigentum. Dennoch war
er ein Mitglied der Hausgemeinschaft und sass mit den übrigen Familienmitgliedern am
gleichen Tisch. Der Hausherr hatte ihm gegenüber eine Verantwortung wahrzunehmen,
während der Sklave sich nicht selbst um seinen Lebensunterhalt kümmern musste. Zudem war
die damalige Wirtschaft - im Gegensatz zu heute - überschaubar. Ein Hausherr konnte
unmittelbar sehen, wie es seinen Arbeitssklaven ging. Es macht heute den Anschein, als
nähmen die Manager der grossen Konzerne und auch manche Politiker die
Lebensbedingungen der schwächeren Mitglieder der Gesellschaft, etwa der „Working Poors“,
gar nicht mehr wahr. Die Gesellschaft driftet immer mehr auseinander. Man könnte also
vermuten, dass die Sklaven damals vielleicht sogar ein besseres Leben führten als viele
2
heutige Erwerbslose in solchen Staaten, die über keine genügend ausgebauten
Sozialsicherungssysteme verfügen. Diese Leute können sich ebenso wenig Recht verschaffen
wie die zum Vornherein rechtlosen Sklaven im griechischen Stadtstaat.
Dennoch war das antike Griechenland bestimmt kein Paradies. Seit jeher wird ein Weltbild
von denjenigen erstellt, die am meisten davon profitieren. Darüber hinaus wird alles dafür
getan, dieses Weltbild den weniger Privilegierten einzuprägen. Aristoteles’ Überlegungen zu
den gesellschaftlichen Verhältnissen sind philosophischer Natur und müssen nicht dem
alltäglichen Erleben der Menschen entsprochen haben. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir
die Schriften eines privilegierten Philosophen lesen, welcher der obersten gesellschaftlichen
„Kaste“ angehörte. Im antiken Griechenland gab es das Modell einer „verteilenden
Gerechtigkeit“, wonach jeder aufgrund seiner geburtlichen Stellung bestimmte Bedürfnisse
haben durfte, deren Befriedigung sein Recht war. Natürlich waren es die Freien, die
untereinander entschieden, was sie und alle anderen brauchten. Es war ein Einverständnis
zwischen den Patriarchen, nicht zwischen den einzelnen Mitgliedern eines Haushalts.
Es stellt sich die Frage, ob das Staats- und Wirtschaftssystem nach Aristoteles funktioniert
hätte, wenn es nur Freie gegeben hätte. Unsere Antwort lautet: Vermutlich nein, denn die
Gesellschaft stützte sich einerseits auf die Sklaven und anderseits die Frauen, die zwar Freie
waren, jedoch keine Bürgerrechte besassen und dem Hausherren ausdrücklich unterstellt
waren. Die dienende Funktion der Überzahl der Gesellschaftsmitglieder wird bei Aristoteles
entschieden zu wenig gewürdigt.
Hauswirtschaft und Stellenwert der Wirtschaft
Der Ansatz ist einfach: Wenn sich alle wohl fühlen, dann geht es allen gut. Die
Wirtschaft diente der Bedarfsdeckung. Um Ungleichheiten bei Mangel auf der einen
Seite und Überfluss auf der anderen auszugleichen, gab es den Tausch.
In der griechische Polis beruhte die Versorgung mit Gütern im Wesentlichen auf der
Subsistenzwirtschaft. Geld spielte noch kaum eine Rolle. Es war als Mittel zum Zweck für
den Tauschhandel da. Die Geldwirtschaft war kein Selbstzweck. Zumindest stellte Aristoteles
diesen ethischen Grundsatz auf.
Die Wirtschaft war bei Aristoteles auf das Überleben des Staates ausgerichtet. Die damalige
Dimension der Wirtschaft kann man allerdings kaum mit den heutigen Verhältnissen
vergleichen. Ebenso wenig hat der griechische Stadtstaat, die Polis, mit einem heutigen
Nationalstaat gemein. Es war eher eine Stadt als ein Staat, ein wirtschaftlich und
gesellschaftlich in sich lebensfähiger Organismus. Der Handel sollte die Autarkie des
Haushalts und auch des Staates gewährleisten, der nach Aristoteles’ Sicht die übergeordnete
Instanz aller Haushalte darstellte. Die Autarkie hatte einen hohen Stellenwert, weil sie
Freiheit und Unabhängigkeit bedeutete. Das heisst, dass auch das lokale Handwerk dadurch
gestützt wurde. So, wie die Gesellschaft zu der Zeit in den griechischen Stadtstaaten
eingerichtet war, funktionierte dieses System - solange jeder Staat hauptsächlich für sich
wirtschaftete.
Das griechische Ideal war es, ein Leben ohne Arbeit in philosophischer Betrachtung zu
verbringen. Zuoberst in der gesellschaftlichen Hierarchie standen die Aristokraten, die es sich
leisten konnten, ohne selbst Hand anzulegen und die alltäglichen Sorgen bewältigen zu
müssen, sich „tugendhaft“ und in „Musse“ der Philosophie hinzugeben. Zum mittleren Stand
gehörten etwa die Soldaten sowie die Sklavenaufseher („Manager“), welche die Arbeitsgänge
3
eines Haushalts koordinierten. Allgemein kann man sagen, dass die Menschen, die mit der
Erzeugung der wirtschaftlichen Güter direkt zu tun hatten und körperliche Arbeit verrichteten,
also Bauern und Handwerker, gesellschaftlich auf der untersten Stufe standen. Was für ein
Unterschied zur Auffassung von späteren ökonomischen Theoretikern wie Adam Smith und
Marx, welche die Arbeit als Grundlage der Volkswirtschaft sehr hoch bewerteten!
Alexander der Grosse
Aristoteles war der Erzieher von Alexander dem Grossen. Zur Zeit des Wirkens von
Aristoteles begab sich dieser auf ausgedehnte Eroberungskriegszüge.
Auch Kriege haben eine wirtschaftliche Relevanz. Bei Aristoteles lesen wir jedoch nichts
darüber, wie Alexander der Grosse seine Feldzüge finanzierte. Aus anderen Quellen ist
bekannt, dass der Kriegszug mit einem Vorrat an Nahrungsmitteln und Ausrüstung begonnen
wurde, welcher für die Truppen gerade über zwei bis drei Tage gereicht hätte. Man stelle sich
vor, Amerika würde heute unter diesen Voraussetzungen seine Invasionen durchführen!
Ländereien wurden erobert und alle Edelmetallschätze geplündert. Man schmolz die Schätze
ein und prägte in Windeseile Münzen, mit denen Alexander der Grosse seine
Eroberungsfeldzüge fortsetzte.
Alexander der Grosse war Makedonier. Er unterwarf die griechischen Stadtstaaten, Persien
(mit seiner damaligen Ausdehnung bis Indien) und Ägypten. Da Alexander grosse
Hochachtung vor der griechischen Kultur hatte, fand über weite Teile der eroberten
Landmasse eine Hellenisierung statt. Aristoteles selbst müsste sich eigentlich gegen diese
expansiven Feldzüge ausgesprochen haben, die so gar nicht seiner Ethik entsprachen. Sein
Begriff von der Tugend, der den zentralen Wert in seinen Schriften ausmacht, beruhte auf
dem Masshalten in allen Belangen. Alexander der Grosse jedoch eroberte mit einer
beispiellosen Masslosigkeit.
Tugendbegriff
Das Ziel des Individuums, wie auch des Lebens in einem Stadtstaat war die
Glückseligkeit, die auf einem vortrefflichen, tugendhaften Charakter beruhte. Wie
könnte man Aristoteles’ Begriff der „Tugend“ in die heutige Zeit übersetzen? Ist damit
die „Ethik“ des Verhaltens angesprochen?
„Die Wirtschaft der Zukunft ist ethisch, oder sie ist gar nicht“, schreibt ein Sozialethiker in
der heutigen Zeit und meint damit „Masshalten“. Würde man heute in der Schweiz
Massnahmen einführen, um die Tugendhaftigkeit im aristotelischen Sinn zu befördern,
würden die Bürgerinnen und Bürger Sturm laufen. Die propagierten Ideale und der tägliche
grassierende Egoismus in der Wirtschaft stehen im krassen Widerspruch zum aristotelischen
Tugendbegriff. Bei Aristoteles vergeht sich jemand an Tugend und Gemeinschaft, wenn er
der Begierde so weit nachgibt, dass sie das Notwendige übersteigt. Die heutige Wirtschaft
hingegen lebt davon, dass die Leute mehr und grössere Bedürfnisse haben, als es das
Lebensnotwendige erforderlich macht. Wird nicht die Unersättlichkeit durch die Möglichkeit,
mit Geld allein nahezu unendlich viel Geld zu verdienen, zusätzlich angestachelt? Dann wäre
es ein prüfenswertes Gegenmittel, den Zins- und Zinseszinsmechanismus abzuschaffen. Die
Wirtschaft stützt sich heute darauf ab, immer neue Bedürfnisse zu wecken, die dann
unbedingt befriedigt werden müssen. Allerdings haben sich wohl auch im antiken
Griechenland nicht alle gemäss den aristotelischen Vorgaben verhalten. Es muss auch damals
4
schon wirtschaftliche Exzesse gegeben haben, sonst hätte sich Aristoteles nicht veranlasst
gesehen, dieses Phänomen in seinen Schriften anzuprangern.
Das von Aristoteles vertretene ethische Verhalten ist heute reine Privatsache –
selbstverständlich mit grosser Wirkung auf das Wirtschaftsleben. Zuvorderst ist persönliche
Integrität gefragt, welche man (wie es im Sozialismus versucht wurde) eben nicht staatlich
verordnen kann. Unsere Gesellschaft muss diese Integrität kollektiv durch die Zeiten hindurch
irgendwann verloren haben, sonst hätte sich die Dynamik der Wachstumswirtschaft, die eine
innere Haltung der Unersättlichkeit voraussetzt, niemals etablieren können. Wir denken, es ist
in erster Linie die Aufgabe der Erziehung, im Besonderen auch der Selbsterziehung, die
Sensibilität für ein „ethisches“ Verhalten zu fördern. Dafür wiederum braucht es geeignete
Vorbilder.
Hier schliesst sich der Kreis: Aristoteles war Erzieher, er war auch der Erzieher Alexander des
Grossen. Darf man demnach die These aufstellen, Aristoteles sei bei der Erziehung des
späteren Eroberers und der Vermittlung seiner „Tugendlehre“ grandios gescheitert? – Oder
überwog bei Aristoteles vielmehr die Begeisterung für die eigene hochstehende Kultur, die
mittels der Eroberung all den Barbaren beigebracht werden sollte? Dr. Michael Rist, unser
Referent zu Aristoteles, besteht darauf: Dieser Philosoph half durch sein Wirken wesentlich
mit, eine reiche und differenzierte Kultur in die entferntesten Winkel dieser Welt zu tragen.
Sabine Heusser Engel
13. März 2007
Herunterladen