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Gefahrenkognition:
Anwendbarkeit für die Fortbildung der
Polizei ?
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und
Polizeimanagement“
von
Tanja Veljovic
Erstgutachterin
Frau PR`in Katja Kruse
Deutsche
Hochschule
Gründung
Zweitgutachter
Herr POR Udo Tönjann
LAFP NRW
Münster, 30. Juli 2008
der
Polizei
in
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort ..............................................................................................................3
Aufbau der Arbeit..............................................................................................4
1. Begriffe und Erklärungen..............................................................................5
2. Kategorisierung der Masterarbeit in den wissenschaftlichen Kontext ........9
3. Aussagen der Literatur ................................................................................12
3.1 Gefahrenkognition..................................................................................12
3.2 Wahrnehmung........................................................................................14
3.3 Ordnungskategorien...............................................................................15
3.3.1. Repräsentativitäts- Heuristik .............................................................16
3.3.2 Verfügbarkeits- Heuristik ..................................................................17
3.4 Stress .......................................................................................................18
3.5 Lernen.....................................................................................................22
3.6 Gefahrenradar........................................................................................26
4. Das Experteninterview.................................................................................31
4.1 Methodik.................................................................................................31
4.2 Interview- Leitfaden ...............................................................................33
4.3 Aufbau des Interview- Leitfadens..........................................................35
5. Interviews .....................................................................................................39
5.1 Auswertung der Interviews....................................................................39
5.2 „Tit- for- Tat“- Strategie........................................................................66
6. Fazit ..............................................................................................................69
Literaturverzeichnis.........................................................................................73
Internetquellen .................................................................................................76
Anlage 1 ............................................................................................................77
Anlage 2 .......................................................................................................... 139
Erklärung ....................................................................................................... 149
2
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Vorwort
Genauso lange wie es Angriffe gegen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte gibt,
versuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Polizistinnen und Polizisten
diese Angriffe zu untersuchen und auf ihre Vermeidbarkeit hin zu analysieren.
Dadurch kam es immer wieder zu Neuerungen in der Aus- und Fortbildung:
In Nordrhein- Westfalen werden seit 2002 die sog. „Neuen Eingriffstechniken“
trainiert, die die Beamtinnen und Beamten in die Lage versetzen, schneller und
effektiver auf körperliche Angriffe zu reagieren.
Erst im Jahr 2006 wurde im Land Nordrhein- Westfalen die „Integrierte
Fortbildung“ in das „Einsatztraining 24“ überführt, welches zum Ziel hat, die
Zielgruppen ganzheitlich (Taktik, Eingriffstechniken, Schießen/Nichtschießen,
Kommunikation) und damit realitätsnah zu trainieren.
Weiterhin wurde die Ausrüstung ständig verbessert: So wurden persönlich
zugewiesene Schutzwesten in NRW flächendeckend für den Wach- und
Wechseldienst beschafft, die Vollmantelmunition für die Dienstwaffen wurden
durch die Munition „Action 4“ ersetzt, das Pfefferspray hat das alte „Tränengas“
abgelöst und an die Stelle der veralteten Dienstpistole P 6 von Sig Sauer trat eine
zeitgemäße Waffe mit höherer Schusskapazität.
In der Literatur gibt es viele Ansätze, die sich mit dem Verhalten von
Polizeibeamtinnen
und
Polizeibeamten
in
„gefährlichen“
Situationen
auseinandersetzen und dadurch versuchen, Einwirkungsmöglichkeiten zu finden,
das polizeiliche Einschreiten sicherer zu machen.
In dieser Arbeit sollen die verschiedenen Aspekte, die für die polizeiliche
Fortbildung wichtig sind, zusammengetragen werden. So ergeben sich in der
Disziplin Psychologie Ansätze in den Bereichen der Gefahrenkognition, des
Wahrnehmens sowie des Lernens; im Bereich der Sicherheitswissenschaft als
fächerübergreifende Disziplin sind die Stresstheorien von besonderer Bedeutung.
3
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Eine hundertprozentige Sicherheit wird es nie geben, aber dennoch versuche ich
in der Masterarbeit, weitere Ansatzpunkte zur Verbesserung der „Eigensicherung“
für den Wach- und Wechseldienst und die Spezialeinsatzkommandos zu finden
und zu beschreiben.
Die Angaben in der Arbeit beziehen sich ausschließlich auf das Bundesland
Nordrhein-
Westfalen.
In
den
verschiedenen
Länderpolizeien
und
der
Bundespolizei existieren verschiedene Ausbildungswege (mittlerer/ gehobener
Dienst) sowie unterschiedlich strukturierte Fortbildungsorganisationen und –
konzepte. Dadurch sind die Untersuchungsergebnisse dieser Arbeit nur bedingt
auf andere Bundesländer und den Bund übertragbar.
Wenn ich in dieser Arbeit immer wieder von Polizeibeamtinnen und
Polizeibeamten spreche, die die Eigensicherung nicht ernst nehmen oder die sich
nicht nach allen Kräften bemühen, das Bestmögliche aus sich heraus zu holen, ist
mir klar, dass es sich dabei nicht um alle oder den überwiegenden Teil derer
handelt, die in den verschiedenen Sparten der Polizei wirklich gute Arbeit
verrichten. Ich möchte keineswegs diejenigen angreifen, die mit ihrer
Sensibilisierung für die Eigensicherung sich selbst und andere im täglichen Dienst
vor Schaden bewahren. Doch selbst bei diesen besteht die Gefahr, durch
alltägliche Routine und ein gewisses Sicherheitsempfinden, Nachlässigkeiten und
Unaufmerksamkeiten zu erliegen.
Die Ausführungen der Arbeit erklären auch die Menschlichkeit und Normalität
dieser Unaufmerksamkeiten.
Aufbau der Arbeit
Mir ist wichtig, zunächst die Begrifflichkeiten zu erläutern (Kapitel 1), die in
dieser Arbeit häufig vorkommen, aber teilweise unterschiedlich benutzt werden.
Das Kapitel 2 erklärt, in welche wissenschaftliche Disziplin diese Arbeit
einzuordnen ist, bzw. welche Fachbereiche betroffen sind.
In Kapitel 3 werde ich einen Teil der bisherigen Literatur zu den Thematiken
„Wahrnehmung“, „Stress“ und „Lernen“ zusammenführen und diskutieren und
4
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
dabei insbesondere auf den Begriff der Gefahrenkognition von Prof. Dr. HansPeter Musahl, Universität Duisburg- Essen, eingehen.
Musahl beschreibt, dass Menschen in den meisten Fällen, zu 70 Prozent, eine
Situation richtig einschätzen. In 15 Prozent der Fälle werden Situationen als
gefährlich wahrgenommen, obwohl sie es objektiv nicht sind. In den
verbleibenden 15 Prozent wird eine objektive Gefahrenlage als subjektiv
ungefährlich erlebt.1 Dem Gesetz der Logik folgend, ist die Wahrscheinlichkeit
von Unfällen erhöht.
Die Arbeiten von Prof. Dr. Musahl beziehen sich dabei nicht spezifisch auf die
Polizei,
sondern
in
der
Hauptsache
auf
den
Bergbau
sowie
auf
metallverarbeitende Industriebetriebe.
Eine Frage der Masterarbeit ist, wie sich die polizeiliche Fortbildung das Wissen
um Gefahrenkognition nutzbar machen kann, und ob sich daraus Möglichkeiten
zur weiteren Verbesserung der Eigensicherung ergeben.
In Kapitel 4 erläutere ich, warum ich mich für Experteninterviews als Methode
zur wissenschaftlichen Beantwortung der Fragestellungen dieser Arbeit
entschieden habe. Ich stelle den Interview-Leitfaden vor und begründe
abschließend die Notwendigkeit der einzelnen Fragenkomplexe.
Im weiteren Verlauf der Arbeit, in Kapitel 5, fasse ich die Antworten aus fünf
Experteninterviews zusammen. Die vollständigen Abschriften befinden sich als
Anlage 1 im Anhang.
1. Begriffe und Erklärungen
Die nachfolgenden einführenden Erläuterungen dienen zum ersten Verständnis
über häufig gebrauchte Begriffe. Einige werden in späteren Kapiteln ausführlicher
betrachtet.
1
Musahl, H.-P./ Bahners, Fritz, 2007, S. 4
5
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Was hat Eigensicherung mit Arbeitssicherheit zu tun?
„Arbeitssicherheit“ bedeutet unfallfreie Arbeit und ist das Ziel aller Bemühungen
in der Unfallverhütung.
Diese bestehen darin, Gefahren bei der Arbeit weitgehend auszuschalten durch
Gestaltung der Arbeitsmittel, des Arbeitsablaufs, Beherrschung der Tätigkeit und
schließlich auch durch Wecken des Willens der Arbeitenden, selbst ständig auf
sicheres Arbeiten bedacht zu sein.“2
Polizeiliche Eigensicherung ist ein Teil der Arbeitssicherheit.3
Auch andere Berufsgruppen kennen berufsspezifische Eigensicherungen. Diese
Masterarbeit befasst sich aber mit der polizeilichen Eigensicherung, die im
Folgenden schlicht als Eigensicherung bezeichnet wird.
Die Polizeibeamtin und der Polizeibeamte unterliegen, wie andere Arbeitnehmer
auch, den verschiedensten Gefahren. So können sie im Dienst einen Unfall
erleiden, weil sie ohne Fremdeinwirkung stürzen.
Oder sie verletzen sich, weil jemand anderes ihnen durch Zuschlagen einer Tür im
Wachraum die Finger einklemmt.
Alles dies wären Fälle von Arbeitsunfällen, nicht aber von Unfällen durch
Vernachlässigung der Eigensicherung.
Bei der polizeilichen Eigensicherung geht es darum, den Eintritt eines Schadens,
unter anderem durch den Angriff eines oder mehrerer anderer Menschen, zu
verhindern.
Eigensicherung beinhaltet auch technische Aspekte:
So kann eine Schutzweste das sonst möglicherweise tödlich wirkende Geschoss
auf eine schwere Rippenprellung reduzieren. Säurefestes Schuhwerk verhindert
Verletzungen an den Füßen. Ein Schutzschild kann den Wurf eines Pflastersteines
nicht verhindern, aber die Folgen verringern.
Ein anderer Aspekt von Eigensicherung befasst sich mit dem Verhalten der
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten. Ein eigensicherndes Verhalten ist
2
Volkmann, Paul, 1980, S. 9
3
Meier- Welser, C. / Jäger, Joachim, 1983, S. 7
6
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
beispielsweise zu erkennen, wenn eine Polizeibeamtin oder ein Polizeibeamter
einen bestimmten Abstand zu einer aggressiven Person einhält. Eigensicherung
kann sich auch dadurch äußern, dass eine aggressive Person (rechtmäßig)
gefesselt wird.
Eigensicherung ist ferner dann feststellbar, wenn die Polizeibeamtin oder der
Polizeibeamte ein brennendes, stark verqualmtes Haus verlässt, bevor sie oder er
zu Schaden kommt.
Die Beispiele lassen sich fortsetzen.
Der Begriff „Eigensicherung“ wirkt auf den ersten Blick begrenzend auf die
Person, die sich selber, also die eigene Person sichert. Gleichwohl bezieht sich
Eigensicherung im allgemeinen Sprachgebrauch der Polizei aber auch auf die
Sicherung, die die Polizeibeamtin A für den Polizeibeamten B im Einsatz
übernimmt. Man würde A Vernachlässigung der Eigensicherung für B vorwerfen,
wenn sie ihren Kollegen nicht z.B. durch aufmerksame Bereitschaft zum
Einschreiten sicherte.
Oder hat die Bezeichnung ihren Ursprung darin, dass eine Person eigene Maßnahmen
zur Sicherung ergreift, also selbst aktiv handelt?
Der Begriff bleibt verschwommen, und da eine Definition nicht zu finden ist, soll
für diese Arbeit festgestellt werden, dass Eigensicherung das Verhalten einer
Polizeibeamtin oder eines Polizeibeamten ist, das sie oder ihn selbst und andere
vor Gefahren schützt.
Der Schwerpunkt liegt in meiner Arbeit auf Gefahren, die durch andere
Menschen, durch Angriffe, hervorgerufen werden.
So schließt sich die Frage nach dem Gefahrenbegriff an, der aus polizeilicher
Sicht kein Problem darstellen sollte, ist doch immer wieder von Gefahrenabwehr,
der konkreten oder abstrakten Gefahr oder der Gefahr für Leib oder Leben die
Rede.
Gefahr wird beschrieben als Wahrscheinlichkeit, dass ein Schaden irgendeiner Art
eintritt. 4
4
Spoerer, Edgar, 1983, S. 77
7
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Hier wird bereits deutlich, dass es sich nicht um eine allgemein gültige Definition
handeln kann, denn eine Person kann etwas als Schaden empfinden, während eine
weitere Person den gleichen Umstand nicht als Schaden bestimmt. Ebenso kann
die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintrittes unterschiedlich wahrgenommen
und bewertet werden.
Der Gefahrenbegriff hat also eine subjektive Komponente, die bei dieser Arbeit
im Fokus steht.
Gefahren existieren aber auch in objektiver Hinsicht: Wenn ein Lebenssachverhalt
den gemeinsamen Erfahrungen nach zu einem schädigenden Ereignis führt,
obliegt die Einstufung als „gefährlich“ nicht mehr allein dem subjektiven Urteil
einer Person. Der objektive Gefahrenbegriff ist schwer fassbar, wissenschaftlich
kaum gültig und von sehr begrenzter Zuverlässigkeit. Denn rein theoretisch kann
sich aus nahezu jedem Lebenssachverhalt eine Gefahr entwickeln. Es besteht
demnach immer eine Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintrittes.
Wie groß ist aber die objektive, messbare Gefahr?
Messen kann man die Zahl der Unfälle, also die Zahl der Schadenseintritte für
einen definierten Bereich. Beim ordnungsgemäßen Kassieren an einer
Registrierkasse kann man für eine definierte Anzahl von Arbeitsstunden zählen,
wie oft es zu Schäden im Zusammenhang mit der Tätigkeit Kassieren gekommen
ist. Erhebt man zum Vergleich für dieselbe Anzahl von Arbeitsstunden, wie oft es
zu Schäden im Zusammenhang mit der Tätigkeit „Nagel in die Wand schlagen“
kommt, wird vermutlich die Anzahl der Schädigungen oder Unfälle höher sein.
Folglich ist das Hämmern objektiv gefährlicher als das Kassieren, aber völlig
ungefährlich ist das Kassieren auch nicht, lediglich in der nachträglich
erfolgenden Betrachtung für den gemessenen Zeitraum.
Die Wahrscheinlichkeit, dass es zum Schadenseintritt kommt, ist auf eine
unbegrenzte Zeit in der Zukunft nicht auszuschließen. somit nicht gleich Null.
Laut Fremdwörterlexikon handelt es sich bei Kognitionen um Erkenntnisse und /
oder Wahrnehmungen.5 In der Psychologie bezeichnet der Begriff die mentalen
5
http://services.langenscheidt.de/fremdwb/fremdwb.html, Recherchedatum: 08.06.2008
8
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Prozesse
und
Strukturen.
Ebenso
werden
Kognitionen
als
Informationsverarbeitungsprozesse verstanden. 6
Mit einem Beispiel Musahls ist der Begriff verständlich:
Fragt man jemanden danach, für wie gefährlich er das fiktive Ereignis X hält, so
wird dieser eine Vorstellung von der Situation entwickeln und diese danach
einschätzen. Dieses „interne Bild“ entspricht seiner (Ereignis-) Kognition.7
Durch die Frage wird ein Reiz gesetzt, der mit dem, was genau diese Person
bisher kognitiv wahrgenommen und gespeichert hat, abgeglichen, eingeordnet und
zugeordnet wird. Diese Ein- und Zuordnungsprozesse werden in Kapitel 3.3
anhand der Heuristiken erläutert.
Gefahrenkognition wird in der psychologischen Unfallforschung als das
individuelle „Wahrnehmen und Erkennen von Gefahren und Risiken“
verstanden.8
Wahrnehmung ist der komplexe Vorgang von der Informationsaufnahme und
-verarbeitung bis zum Wahrnehmungsurteil als dem Ergebnis dieses Prozesses.9
2. Kategorisierung der Masterarbeit in den wissenschaftlichen
Kontext
Die Unfallpsychologie, mittlerweile zur Freude der Forscherinnen und Forscher
häufiger als
Sicherheitspsychologie
bezeichnet,
steht
nicht
isoliert
als
von
der
u.a.
die
eigenständige wissenschaftliche Disziplin da.
Zunächst
unterscheidet
„Angewandten
man
Psychologie
die
im
„Allgemeine
engeren
Psychologie“
Sinne“,
worunter
Ingenieurspsychologie mit ihrer Teildisziplin „Sicherheitspsychologie“ zu fassen
ist.
Die Sicherheitspsychologie bedient sich der Allgemeinen Psychologie mit ihren
grundsätzlichen Erkenntnissen aus den Bereichen der Wahrnehmung, des Lernens
und der Motivation, sowie der Arbeitspsychologie, welche sich mit Fragen des
6
http://de.wikipedia.org/wiki/Kognition, Recherchedatum: 08.06.2008
7
Musahl, 1997, S. 51
8
Musahl, 1997, S. 102
9
Musahl, 1997, S. 103
9
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Arbeitsverhaltens, der Arbeitsanalyse und den Belastungen und Motivationen der
Arbeitnehmer befasst.10
Die Ingenieurspsychologie, die darüber hinaus als Psychologie der „MenschMaschine-
Systeme“
bezeichnet
wird,
bildet
den
Überbau
für
die
Sicherheitspsychologie.
Der Mensch, dessen Verhalten später im Mittelpunkt der Betrachtung steht, ist
demnach ein Teil eines komplexen Systems „Mensch- Maschine- Organisation“,
das miteinander in Wechselwirkung steht, was aus Abb. 111 schematisch und
verstehbar zu entnehmen ist.
Maschine
Organisation
Mensch
Abbildung 1
Das Schema ist passend für die Industrie und Bereiche, in denen mit Maschinen
umgegangen wird. Die Unfälle in diesen Arbeitszweigen entstehen vielfach durch
die direkte Wechselwirkung zwischen Mensch und Maschine.
Die Organisation Polizei ist bisher nicht in diesem Sinne betrachtet und untersucht
worden, so dass die Abbildung gedanklich erweitert und angepasst werden muss.
Unter Organisation ist dann das „Unternehmen Polizei“ als Arbeitgeber zu
verstehen. Hier werden z.B. Vorgesetzte jeder Ebene erfasst, wenn sie für die
Organisation auftreten. Aus- und Fortbildung sowie selbst Verfügungen und
Erlasse werden ebenfalls eingeschlossen.
10
Musahl, 1997, S. 21
11
Musahl, 1997. S. 23
10
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Zu den Maschinen gehören die Arbeitsgeräte, mit denen Polizeibeamtinnen und
Polizeibeamte umzugehen haben; vom Atemalkoholmessgerät über eine Ramme
bis hin zur Dienstwaffe ist alles enthalten.
Das Feld „Mensch“ beinhaltet alle Menschen innerhalb der Organisation mit ihren
vielfältigen spezifischen Merkmalen, individuellen Leistungen, Fähigkeiten,
Lernprozessen und Erfahrungen. 12
Wenn nun eine Polizeibeamtin oder ein Polizeibeamter in Wechselwirkung mit
der Dienstwaffe einen Schaden/ einen Unfall erleidet, ist die Schnittmenge
Mensch- Maschine das erforderliche Untersuchungsfeld.
Thema dieser Arbeit sind aber Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte, die durch
den Angriff eines anderen Menschen beeinträchtigt werden. Diese Art „Unfall“
scheint man nicht auf den ersten Blick in das Schema einordnen zu können.
Die Gefahrenkognition sowie der Prozess der Wahrnehmung von Gefahren, die
für die einzelne Person individuell sind, stellen einen Schwerpunkt der
Untersuchung dar. Die mögliche Gefahrenunterschätzung kann zu einem Angriff
auf Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte führen. Damit liegt dieser Komplex
ohne Wechselwirkung im Feld „Mensch“.
Für eine Untersuchung der Wechselwirkung zwischen den Polizeibeamtinnen und
Polizeibeamten mit den Angreifern müsste das Schema um einen weiteren Kreis
ergänzt werden, nämlich den, der Personen außerhalb der Organisation
beinhaltete.
Bei der Auswertung der Interviews in Kapitel 5 werden weiterhin Aussagen
getroffen, die die Wechselwirkungen Mensch- Organisation betreffen, z.B. im
Bereich der Aus- und Fortbildung.
Seit ca. 30 Jahren gibt es die noch junge Disziplin der „Sicherheitswissenschaft“.
Laut der Gesellschaft für Sicherheitswissenschaft (GfS), die 1978 gegründet
wurde, handelt es sich dabei um „die Forschung und Lehre von der methodischen
und systematischen Analyse und Kontrolle der Risiken speziell der MenschTechnik-Umwelt-Systeme zum Zwecke der Verringerung der Häufigkeit und
Schwere von Schäden und Verlusten mit risikologischen Strategien.“13
12
Musahl, 1997, S. 24
13
http://www.gfs-aktuell.de/Wir_ueber_uns.html, Recherchedatum: 10.06.2008
11
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Diese Wissenschaft begreift sich als fächerübergreifende Disziplin und hat es sich
u.a. zur Aufgabe gemacht, Fragestellungen zu entwickeln, welche die
Vermeidung und Abwehr von Gefahren und Schäden fördern, und Prozesse im
Hinblick auf diese Fragestellung zu untersuchen.
Ein weiterer Anspruch der GfS ist es, die sicherheitsrelevanten Erkenntnisse und
Erfahrungen zu verbreiten und auszutauschen.
Damit lässt sich diese Arbeit der Sicherheitswissenschaft zuordnen.
Eine Schwierigkeit der Ingenieurspsychologie und Sicherheitswissenschaft ergibt
sich daraus, dass es einen erheblichen Mangel an Daten gibt. Damit ist nicht
gemeint, dass Daten über Unfälle grundsätzlich nicht erfasst würden, sondern,
dass es, statistisch gesehen, wenige Unfälle gibt, die man erfassen und auswerten
kann.
Nimmt man an, dass Sicherheitsarbeit mit all ihren unfallverhütenden
Maßnahmen erfolgreich ist, müsste die empirische Datenbasis immer geringer
werden.14
Fehlende Datenbasen sind auch eine Problemstellung dieser Arbeit, denn bei der
Polizei gibt es derzeit kein einheitliches, behörden- oder gar länderübergreifendes
Meldewesen, welches Angriffe auf Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte
systematisch, valide und auswertbar erfasst.15
3. Aussagen der Literatur
3.1 Gefahrenkognition
Die kurze Erläuterung aus Kapitel 2, (Gefahrenkognition wird in der
psychologischen Unfallforschung als das individuelle „Wahrnehmen und
Erkennen von Gefahren und Risiken“ verstanden.16 ) soll hier vertieft werden.
14
Musahl, 1997, S. 29
15
Vgl. , Kapitel 4/ Methodik dieser Arbeit
16
Musahl, 1997, S. 102
12
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Fest steht, dass Menschen die meisten Situationen richtigerweise als gefährlich
oder eben ungefährlich einstufen. In diesen Fällen stimmt die objektive
Gefahrenlage mit der subjektiven Einschätzung überein. 17
Die Abbildung 218 verdeutlicht dies:
objektive
Gefahr
subjektiv
„gefährlich“
A
B
C
Abbildung 2
Schwierigkeiten gibt es sodann nicht in der gemeinsamen Schnittmenge B,
sondern in den abweichenden Bereichen.
Relativ unproblematisch aus sicherheitswissenschaftlicher Sicht ist die subjektive
Überschätzung der Gefährlichkeit einer Situation, Teilmenge A. Zwar kommt es
in diesem Fall auch zu erhöhter Aufmerksamkeit, ggfls. zu Stress, die
Unfallwahrscheinlichkeit ist aber nicht erhöht. Die negativen Auswirkungen von
Stress führe ich in Kapitel 3.4 aus.
Für die Sicherheitsarbeit relevant ist der Bereich C, wo Gefahren subjektiv negiert
werden, obwohl sie objektiv vorhanden sind.19
Gleichwohl geht es bei der subjektiven Gefahreneinschätzung nicht ausschließlich
um die Verarbeitung von Kenntnissen über objektiv ermittelte Sachverhalte.
Irrationale Momente wie beispielsweise Angst spielen ebenso eine Rolle.20
17
Musahl, H.-P./ Bahners, Fritz, 2007, S. 2
18
Musahl, 1997, S. 30
19
Musahl, 1997, S. 30 f
13
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Das Wissen darum, dass etwas nicht wirklich gefährlich ist, verringert die
dazugehörigen Ängste nicht. Obwohl objektiv betrachtet die Gefahr, bei einem
Flugzeugabsturz ums Leben zu kommen sehr gering ist, hindert Flugangst
trotzdem an der Reise mit dem Flugzeug.
Gefahrenlagen werden durch die Gefahrenkognition interpretiert. Lernprozesse
beeinflussen die Gefahrenkognition und können damit auch Einfluss auf die
Eigensicherung nehmen.21
Wie kommen Menschen zu richtigen oder falschen Einschätzungen? Wie haben
sie diese Kognitionen, diese internen Bilder ausgebildet? Und vor allem, wie kann
man korrigierend auf Fehleinschätzungen Einfluss nehmen?
3.2 Wahrnehmung
Ein neuer Reiz, eine Information, muss erst einmal wahrgenommen werden, um
danach i. S. der Gefahrenkognition eingeordnet werden zu können.
Das, was einer Person zum bewussten und unbewussten kognitiven Abgleich zur
Verfügung steht, muss sie irgendwann vorher einmal wahrgenommen haben.
Die Möglichkeit, Informationen zu verarbeiten ist begrenzt. Der Mensch ist in der
Lage, pro Sekunde drei bis fünf Objekte zu sehen (visueller Kanal), bis zu drei
Wörter zu hören (auditiver Kanal) und taktil drei Einzelinformationen zu
erfassen.22 Im „Arbeitsspeicher“ des menschlichen Gehirns können diese
ankommenden Informationen weiter verarbeitet werden. Drei Verknüpfungen pro
Sekunde sind möglich, die auf das weitere Verhalten Einfluss nehmen.
Die Abgabe der Informationen äußert sich nach dem Verknüpfen in z.B. drei
Handgriffen oder drei Wörtern pro Sekunde.
Dieser Vorgang vom Aufnehmen der ankommenden Informationen über das
interne Verknüpfen und die anschließende Informationsabgabe dauert etwa fünf
Sekunden. Dieser Zeitraum wird als Gegenwartsdauer beschrieben.23
20
Spoerer, Edgar, 1983, S. 78
21
Musahl, / Bahners, 2007, S. 2
22
Ungerer, / Morgenroth, 2001, S. 89
23
Ungerer, 1999, S. 28
14
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Die
eingehenden
Einzelinformationen
Informationsgruppierungen
werden
zusammengefasst.
Das
zu
Bild,
übergeordneten
die
kognitive
Repräsentation eines Ereignisses, ergibt sich also aus der Wahrnehmung und der
internen, individuellen Verarbeitung des Wahrnehmenden. 24
Aufgrund der Vielzahl dessen, was ein Mensch bereits an angelegten
Ordnungskategorien mitbringt, erscheint es erklärbar, warum zwei Menschen die
objektiv gleiche Situation unterschiedlich beschreiben, bewerten und Schlüsse
ziehen.
3.3 Ordnungskategorien
Die wichtigsten Prinzipien, nach denen Menschen interne Ordnungskategorien
anlegen, die zu einer Bewertung der Wahrnehmungen führen, unterliegen der
naiven Logik, den als Heuristiken bezeichneten Problemlösungsmodellen.
Vereinfacht kann man sich unter Heuristik eine simple Faustregel vorstellen, nach
der komplexe Vorgänge beurteilt werden.
Aufgrund ihrer kognitiven Begrenzung neigen Menschen dazu, Dinge so weit wie
möglich zu vereinfachen, um sie überhaupt erst für sich erfassbar zu mache
Solche Heuristiken laufen teilweise vollkommen unbewusst ab, teilweise werden
sie aber auch mehr oder weniger überlegt angewendet.
Gerade durch die unbewussten Vereinfachungen unterliegen Heuristiken aber
vielen Fehlerquellen. Mit dem Wissen um diese Fehlerquellen ist es möglich, das
Verhalten eines Menschen, das zunächst nicht nachvollziehbar erscheint, wieder
verstehbar zu machen. Das Wissen um diese Heuristiken ist für den
Sicherheitswissenschaftler von großer Bedeutung.
Die zwei wichtigsten Heuristiken mit ihren Fehlerquellen werden hier aus diesem
Grund kurz vorgestellt.
24
Musahl, 1997, S. 52
15
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
3.3.1. Repräsentativitäts- Heuristik
Diese Heuristik wird auch als Ähnlichkeits- Klassifikation bezeichnet.
Als Basis nimmt man den geschätzten Grad der Übereinstimmung oder
Ähnlichkeit zwischen einer Stichprobe und einer Grundgesamtheit an.25
Sie ist eine Strategie, bei der die Häufigkeit von Ereignissen anhand ihrer
vorhandenen oder nicht vorhandenen Ähnlichkeit mit anderen Ereignissen
betrachtet wird. Dies führt zu systematischen Verzerrungen bei Schätzurteilen.26
Beispiel:
Eine weibliche Person wird mit folgenden verschiedenen Charaktereigenschaften
beschrieben: Einfühlsam, hilfsbereit, durchsetzungsstark und zuverlässig.
Welchen Beruf hat diese Frau? Busfahrerin, Krankenschwester, Bibliothekarin
oder Verwaltungsbeamtin,…?
Die Zuordnung erfolgt anhand der Vorstellungen, die man sich von den
verschiedenen Berufsgruppen aufgrund seiner Erfahrungen gemacht hat. Die
meisten würden die genannten Eigenschaften der Krankenschwester zuordnen,
weil dort die Übereinstimmungen mit den eigenen Erfahrungen und Kognitionen
am größten sind.
Fehlerquellen der Repräsentativitätsheuristik27
-
Überschätzung der Vorhersagemöglichkeit: Soll man eine Vorhersage
machen, ob im kommenden Studienjahr die Studierenden alle den
Abschluss schaffen, so wird man sich an den vorherigen Jahren orientieren
und davon ausgehen, dass es zu einem ähnlichen Ergebnis kommen wird.
Statistisch wahrscheinliche Abweichungen werden ausgeblendet.
-
Halo- Effekt: Ein Merkmal überstrahlt die anderen so sehr, dass man sich
nur noch daran orientiert.
25
http://www.finanzpsychologie.com/03354799d00ded101/index.html, Recherchedatum:
20.06.2008
26
http://www.ph-heidelberg.de/wp/grabowsk/lehre/heidelberg/ss03/vlkognition/Logik.PDF,
Recherchedatum: 20.06.2008
27
Musahl, 1997, S. 63
16
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
-
Gültigkeits- Illusion: Selbst, wenn man weiß, dass eine Aufzählung von
vier Eigenschaften nicht ausreicht, um einen Menschen auf einen Beruf
festzulegen (siehe Beispiel), bleibt die Überzeugung, dass die eigene
Zuordnung trotzdem zutreffend ist.
3.3.2 Verfügbarkeits- Heuristik
Urteile
werden
danach
getroffen,
wie
leicht
oder
schwierig
es
ist,
Gedächtnisinhalte abzurufen.28
So kennt jeder den Effekt, dass bestimmte Sachverhalte, die wochenlang in den
Medien eine große Rolle gespielt haben, auf einmal sehr präsent bis überpräsent
erscheinen. Nach etlichen Berichten über „Kampfhunde“, welche kleine Kinder
angreifen, entsteht der Eindruck, dass es unglaubliche Massen dieser gefährlichen
Hunde gibt, die nichts anderes tun als Menschen zu beißen.
Die Ereignisse sind leicht verfügbar.
Fehlerquellen der Verfügbarkeits- Heuristik 29
-
Erinnerbarkeit von Beispielen: Die Aussage, „der X ist ein Choleriker, ein
typischer Widder", zeigt, dass dem Mitteiler die Erinnerung daran fehlt,
dass er schon hunderte "untypische Widder" getroffen hat, die nicht
cholerisch veranlagt waren, und darum glaubt er an die angebliche
Verbindung zwischen dem Charakter und dem Tierkreiszeichen.
-
Nachrichten-
Seltenheit
oder
Nachrichten-
Selektion:
Beispiel
Kampfhund, siehe oben.
-
Vorstellbarkeit: Kann man sich etwas kaum oder nicht vorstellen, weil es
in der eigenen Gedankenwelt noch nie eine Rolle gespielt hat, so wird es
eher ausgeblendet.
28
http://www.finanzpsychologie.com/03354799d00ded101/index.html,
Recherchedatum: 19.06.2008
29
Musahl, 1997, S. 65
17
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Diese Heuristik spielt für die Gefahrenkognition eine besondere Rolle, denn
Gefahren, die nur schwer oder gar nicht vorstellbar sind, werden schnell für nicht
vorhanden oder nur selten auftretend gehalten. 30
Zum Beispiel fällt es Soldaten schwerer, rechtzeitig auf eine gutaussehende Frau
um 23 Jahre zu schießen, selbst wenn sie wissen, dass es sich um eine
Selbstmordattentäterin handelt.31
3.4 Stress
Die verschiedenen Stresstheorien aufzuzählen und zu erläutern, würde den
Rahmen der Arbeit sprengen. Hier soll es vielmehr um eine übersichtliche
Darstellung gehen, wie der Mensch auf Stress reagiert, vor allem aber, wie sich
seine Wahrnehmung im Zustand von Hochstress verändert.
Im Augenblick der Konfrontation mit physischen oder psychischen Belastungen
kommt es zu einer Mobilisierung des gesamten Organismus:
-
Ausschüttung der Hormone Adrenalin, Noradrenalin, Serotonin
-
Erhöhung der Herzfrequenz und des Muskeltonus
-
Verbesserung der Sauerstoffversorgung des Körpers
-
Verbesserung der Blutversorgung von Gehirn und Muskeln 32
Der Organismus wird dadurch auf „Flucht“ oder „Angriff“ vorbereitet. Diese
Mechanismen laufen selbst dann ab, wenn der Stressor, die auslösende Situation,
gar nicht lebensbedrohend ist und Flucht oder Angriff erfolgen müsste.
Menschen reagieren unterschiedlich auf Stress, d. h. die Auswirkungen der o.g.
Mobilisierungen sind verschieden stark und können sich auf mehrere Ebenen
ausdehnen. Die nachfolgenden Symptome stellen die negativen Auswirkungen
von Stress (dem so genannten Disstress oder auch dysfunktionalem Stress) oder
einem Übermaß an Stress dar. Die positiven Auswirkungen, dass Stress (positiver
Stress wird auch als Eustress bezeichnet) auch erst leistungsfähig, aufmerksam,
30
Musahl, 1997, S. 68
31
Ungerer, 2003, S. 49
32
Ungerer/Morgenroth, 2001, S. 85f
18
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
wach macht, werden damit nicht negiert. Sie spielen lediglich eine untergeordnete
Rolle für diese Arbeit.
Kognitive Ebene:
-
Gedanken wie „Pass auf“, Das schaffe ich nie“, „Auch das noch“
-
Blackout (Leere im Kopf)
-
Denkblockaden
-
Gedankenkreisel
-
Konzentrationsstörungen
-
Gedächtnisstörungen
-
Leistungseinbußen
-
Realitätsflucht
-
Wahrnehmungsverschiebungen
Emotionale Ebene:
-
Panik, Ärger, Wut
-
Aggression, Angst
-
Nervosität, Gereiztheit
-
Unausgeglichenheit
Muskuläre Ebene:
-
starre Mimik
-
Fingertrommeln und Muskelzittern
-
Leichte Ermüdbarkeit
-
Zähneknirschen
-
Spannungskopfschmerz, allgemeine Verspannungen
Vegetativ- hormonelle Ebene:
-
trockener Mund, weiche Knie, hervortretende Adern
-
Engegefühl in der Brust
-
Herz- Kreislaufbeschwerden, Herzrasen, Herzstolpern
-
Hoher oder labiler Blutdruck
-
Schlafstörungen, chronische Müdigkeit
-
Übermäßiges Schwitzen, Hautveränderungen
19
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
-
Schwindelanfälle, Atembeschwerden33
Die Auswirkungen auf der kognitiven Ebene zeigen, dass unter Stress die
Denkabläufe zum Teil nur noch eingeschränkt ablaufen, das bedeutet, dass
weitere eintreffende Informationen nicht oder nur noch bedingt verarbeitet werden
können. Unter Stress ist der Mensch folglich weniger aufnahmefähig.
Wenn eine Information, beispielsweise das Messer in der Hand eines
Festzunehmenden, in den Arbeitsspeicher (Kapitel 3.2) der Einsatzkraft dringt,
muss diese Information verarbeitet und bewertet werden. Zeitgleich werden aber
auch die Größe und Statur der Person erkannt, die Handbewegung und die
Bewegungsrichtung der Person müssen ebenfalls visuell wahrgenommen werden.
Damit sind die drei bis fünf möglichen visuellen Sinneseindrücke, die der Mensch
zugleich wahrnehmen kann, erschöpft. Die gestikulierende Frau oder gar eine
zweite bewaffnete Personen werden nicht gesehen.
Die zusätzlichen Sinneseindrücke wie Schreien, Ansprache des Kollegen, werden
über den auditiven Kanal aufgenommen. Wie oben erläutert, werden alle diese
Informationen mit denen abgeglichen, die bereits im Gedächtnis gespeichert sind.
Die nun erfolgende Bewertung lautet „tödliche Gefahr“ und löst bestimmte
Handlungen wie die unmissverständliche Täteransprache bis hin zur Bedrohung
mit der Schusswaffe und der Schussabgabe aus.
Stress verringert aber die Informationskapazität und somit kann es geschehen,
dass die Einsatzkraft nicht wahrnehmen kann, dass die Person mit erhobenem
Messer auf sie zuläuft, weil eine andere Information den Arbeitsspeicher bereits
ausgefüllt hat. Eine Wahrnehmung und Bearbeitung ist erst zeitversetzt möglich.
Stress führt folglich dazu, dass nicht mehr alles wahrgenommen werden kann,
was nötig ist, um eine Situation vollständig zu erfassen. Bekannt ist der Terminus
“Tunnelblick“
aus
dem
Bereich
der
Wahrnehmungsverzerrung
unter
Alkoholeinfluss. Auch bei erheblichem Stress kann es zu diesem Phänomen
kommen. Die betroffene Einsatzkraft fokussiert ihre gesamte Wahrnehmung auf
einen bestimmten Bereich, zum Beispiel die Person mit dem Gegenstand in der
33
http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/STRESS/Stress1.shtml#Typische%20Stressmerkmale,
Recherchedatum: 11.06.2008
20
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Hand, weil dort die Gefahr am größten scheint. Die peripheren Randbereiche
werden nicht mehr gesehen, auch wenn dort gegebenenfalls ein zweiter Angreifer
auftaucht.
Die Informationskapazität kann nicht erhöht werden, demzufolge muss der
dysfunktionale Stress verringert werden, damit mindestens die normale
Verarbeitungskapazität vorhanden bleibt.
Dieses Ziel kann erreicht werden, in dem man Personen stressresistester /
stressfester macht.
Die meisten Menschen reagieren auf unbekannte Situationen mit Stress, so dass
eine Möglichkeit, die Stressresistenz zu erhöhen, darin zu finden ist, möglichst
viele Situationen bekannt zu machen.
Untersuchungen haben ergeben, dass Personen, die über spezifische Kenntnisse
verfügten, die für eine Gefahrensituation von Bedeutung waren, mit deutlich
weniger Stress reagierten als andere. 34
Der erfahrene Bombenentschärfer, der gelernt hat, Zündmechanismen zu
erkennen und um die Beschaffenheit bestimmter Sprengstoffe weiß, der gelernt
hat, dass er in der Lage ist, eine Bombe zu entschärfen, reagiert mit weniger
Anspannung und Stress auf eine zu entschärfende Bombe als der Berufsanfänger
oder gar ein Laie. Der Profi wurde während seiner Ausbildung und danach in
seinem Berufsleben mit gleichen oder ähnlichen Situationen vertraut gemacht und
weiß, dass er sie bewältigen kann. Seine Informationsverarbeitungskapazität wird
nicht verringert.
In geübten Standardsituationen kommt es durch die Bekanntheit der Gefahren zu
weniger stressbedingten Ausfällen.35
Zudem sind durch Drill erworbene Funktionen weniger stressanfällig als andere.36
Durch vielfache Wiederholung eines Ablaufs, z.B. des Nachladens einer Waffe,
wird
dieser
Vorgang
Bearbeitungskapazität
im
automatisiert
Gehirn.
Es
abrufbar;
werden
er
beansprucht
dadurch
keine
Ressourcen
im
Arbeitsspeicher freigehalten. Handlungen werden erst dann automatisiert, wenn
sie mehrere hundert Mal, je nach individueller Konstitution, abgelaufen sind.
34
Füllgrabe, 2002, S. 143
35
Ungerer, 2007. S. 88
36
Ungerer, in: Eigensicherung in der polizeilichen Praxis, 2001, S. 31
21
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
3.5 Lernen
Wenn Menschen sich ihre verschiedenen Ordnungskriterien schaffen, dann tun sie
dieses auch aufgrund ihrer spezifischen Sozialisation und Erfahrungen. Bilder von
Erfahrungen werden zusammen mit den dazugehörigen Empfindungen im
Gedächtnis gespeichert und bei Bedarf wieder zur Verfügung gestellt.
In der Psychologie geht man davon aus, dass Verhalten nicht zufällig geschieht,
sondern dass es das Resultat einer individuellen Lerngeschichte sowie aktuell
vorliegenden Bedingungen ist.37
Unter den aktuell vorliegenden Bedingungen sind neben den äußeren Umständen
einer Situation auch die individuellen Merkmale der handelnden Person wie zum
Beispiel ihr persönlicher Stresslevel, die Tagesform etc zu verstehen.
Mit einem lerntheoretischen Ansatz ist es möglich, das Verhalten der
Polizeibeamtinnen und der Polizeibeamten so zu modifizieren, dass sie weniger
sicherheitswidriges und mehr sicherheitsförderndes Verhalten zeigen.
Musahl
erwähnt,
dass
Sicherheitspsychologie
nur
wenige
miteinander
Autoren
verknüpft
bisher
haben.
38
Lerntheorien
Um
sich
und
der
Zusammenhänge bewusst zu werden, müssen einige Grundbegriffe der
Lerntheorien klar sein.
Ich werde hier nur die gängigen Prinzipien erläutern, die für das weitere
Verständnis relevant sind. Eine ausführliche Vertiefung aller Lerntheorien ist für
diese Arbeit weder zielführend noch erforderlich.
Am Bekanntesten dürften die Theorien der klassischen Konditionierung von Ivan
Petrowitsch Pawlow, die der operanten Konditionierung nach Burrhus Frederic
Skinner und das Lernen am Erfolg nach Edward Lee Thorndike sein.
Das klassische Konditionieren wird von vielen direkt mit dem „Pawlowschen
Hund“ verbunden. Anhand dieser Versuchsanordnung ist die klassische
Konditionierung gut nachvollziehbar:
37
Undeutsch, 1983, S. 95
38
Musahl, 1997, S. 165
22
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1. Ein Hund verbindet nichts mit dem Läuten einer Glocke, die Glocke ist ein
neutraler Reiz.
2. Ein Hund zeigt bei einer Futtergabe als natürliche Reaktion Speichelfluss.
3. Bei jeder Futtergabe hört der Hund die Glocke läuten.
4. Der Hund lernt, das Klingeln mit der Futtergabe zu verbinden.
5. Der Hund zeigt deutlichen Speichelfluss auch ohne Futtergabe, wenn er
das Läuten der Glocke hört.
6. Aus dem Speichelfluss ist eine bedingte Reaktion geworden.
Die klassische Konditionierung liefert wenig Beschreibungen zum kognitiven/
schulischen Lernen, spielt aber indirekt eine Rolle, wenn man beispielshalber an
Emotionen denkt, die durch klassische Konditionierung entstanden sind.
Die von Pawlow entwickelte Lerntheorie ist nicht in der Lage, die Entstehung
neuer Verhaltensweisen zu erklären, die bisher nicht im Verhaltensrepertoire eines
Individuums waren. Mittels der klassischen Konditionierung ist es lediglich
möglich, ein bereits vorhandenes Verhalten zu steuern, in dem es bei Reizen
gezeigt wird, auf das es zuvor nicht gezeigt wurde.
Skinner entwickelte die Theorie des operanten Konditionierens, wobei
insbesondere das Reaktionslernen von Bedeutung ist.
Hier geht es um das Entstehen und Verändern von freiwillig ausgelöstem
Verhalten aufgrund von Reizen, die dem Verhalten folgen.
Das
operante
Konditionieren
Auftretenswahrscheinlichkeit
besteht
von
in
Verhalten
der
Beeinflussung
durch
der
bestimmte
Verhaltenskonsequenzen.
Damit etwas als Verstärkung wirkt, muss der Lernende sein Verhalten direkt mit
der Verstärkung verbinden. Bei einer Verstärkung kommt es immer zu einer
Häufung des Verhaltens, egal ob die Verstärkung positiv oder negativ ist.
(Positive und negative Verstärkung: siehe unten)
Bei der Bestrafung geht es umgekehrt darum, dass ein gezeigtes Verhalten nach
der Reizgebung weniger häufig gezeigt wird.
23
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Von Belang ist das Wissen, dass auch soziale Anerkennung als Verstärkung gilt
wie auch im Bereich der Bestrafung soziale Ablehnung einsetzbar ist.
Positive Verstärkung
Beispiel: Ein Kind räumt sein Zimmer auf und erfährt durch Lob eine positive
Konsequenz. Das Kind verbindet das Lob oder auch eine Belohnung mit dem
Aufräumen und wird es in der Folge öfter tun. Einem gezeigten Verhalten folgt
eine positive Konsequenz, die der Lernende auch unmittelbar mit dem Verhalten
in Korrelation setzen kann.
Das Verhalten „Zimmer aufräumen“ wurde positiv verstärkt.
Negative Verstärkung
Speziell die negative Verstärkung ist für das Sicherheitsverhalten von Bedeutung.
Hier
wird
ein
Verhalten
dadurch
verstärkt,
also
seine
Auftretenswahrscheinlichkeit erhöht, weil ein erwarteter aversiver Reiz, die
erwartete negative Konsequenz, ausbleibt.
Beispiel: Studentinnen und Studenten wissen, dass Gespräche untereinander im
Unterricht zu einer negativen Ansprache durch die Dozentin oder Dozenten
führen. Wird nun dieses Verhalten gezeigt, der erwartete Tadel bleibt aber aus,
kommt es in der Folge dazu, dass die Studentinnen und Studenten dieses
Verhalten häufiger zeigen.
Das Verhalten „im Unterricht reden“ wurde negativ verstärkt.
Man fühlt sich durch die Folgenlosigkeit der Handlungsweise bestätigt.
Bei Ängsten spielt negative Verstärkung ebenfalls eine große Rolle. Bei Flugangst
wird das Fliegen vermieden. In der Folge kommt es nicht zu der erwarteten
Panikattacke. Das Vermeidungsverhalten wird negativ verstärkt, in seinem
Auftreten gestützt.
Bestrafung durch aversive Reize
Dem aufgetretenen Verhalten folgt eine Bestrafung durch einen aversiven Reiz,
der dem Lernenden unangenehm sein muss.
24
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Beispiel: Eine Schülerin oder Schüler stören den Unterricht, die Lehrerin oder der
Lehrer reagieren mit der Erteilung einer zusätzlichen Hausaufgabe oder dem
Umsetzen des Störenfriedes.
Das gezeigte Verhalten „Unterricht stören“ wird in der Folge der Bestrafung
zukünftig vermieden, die Verhaltenshäufigkeit wird gesenkt.
Bestrafung durch Verlust / indirekte Bestrafung
Dem aufgetretenen, unerwünschten Verhalten folgt die Entziehung eines positiven
Reizes. Das gezeigte Verhalten wird seltener.
Beispiel: Ein Kind benutzt Schimpfworte, dafür darf es seine allabendlich
ausgestrahlte
Lieblingssendung
im
Fernsehen
nicht
anschauen.
Auch
„Liebesentzug“ gilt als indirekte Bestrafung, wenn dadurch ein Verhalten
vermindert werden soll.
Thorndike fügte den Konditionierungstheorien im Laufe seiner Arbeiten den
Begriff des „Lernens am Erfolg“ hinzu.
Dadurch brachte er die Lernenden mit ihrer subjektiven Wahrnehmung wieder
stärker in den Mittelpunkt der Theorien. Das heißt, die Lernenden erfahren nach
ihrem Verhalten auch ohne äußerlichen Einfluss eine Befriedigung/Verstärkung.
Der Verstärker/ die Bestrafung von außen bleibt aus, stattdessen beurteilen die
Lernenden, oft unbewusst, anhand ihrer Wertvorstellungen ihr Handeln selbst und
entscheiden autonom, ob sie ihr Verhalten als Erfolg bewerten oder nicht.
Diese drei Ansätze decken einen großen Teil dessen ab, wie der Mensch lernt und
wie sich sein Verhalten verfestigt.
Nicht außer acht gelassen werden darf aber, dass der Mensch auch ein Wesen der
Vernunft ist, welches durch Einsicht lernen kann.
Zum Abschluss dieser Übersicht über einige Prinzipien der Lerntheorien möchte
ich kurz auf die Problematik des „situativen Lernens“ hinweisen.
Dieser Ansatz stützt sich auf die Beobachtung, dass etwas, das in einer
bestimmten Situation (Schule oder Seminar) erlernt und dort auch angewandt
wurde, in einem anderen Kontext nicht angewendet werden kann.
25
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Es kommt nicht zu einem Transfer des schulisch Erlernten in den Alltag.
Eine Frage zur Fortbildung der Polizei liegt an dieser Stelle auf der Hand:
Können die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten Handlungen, die sie in der
Fortbildung erlernt und auch gezeigt haben, im täglichen Dienst anwenden?
Kommt es zu einem Transfer des Wissens aus dem Trainingsgeschehen in die
Echtlage?
Dieser Problematik wird in der Fortbildung entgegengewirkt, indem die Trainings
möglichst praxisgerecht und realitätsnah konzipiert und durchgeführt werden
(siehe dazu Kapitel 5, Auswertung der Interviews)
3.6 Gefahrenradar
Füllgrabe hat den Begriff des Gefahrenradars genutzt, um damit einen Zustand der
Wachsamkeit und Aufmerksamkeit zu beschreiben, welcher einen Menschen in
die Lage versetzt, Gefahren in seinem Umfeld wahrzunehmen.39
Sind
Polizeibeamtinnen
und
Polizeibeamte
wachsam
und
aufmerksam,
beobachten sie die Umgebung. Stehen sie einer Person gegenüber, wird diese
visuell in jeder Bewegung verfolgt. Über den auditiven Kanal werden in dieser
Wachsamkeit Geräusche wahrgenommen und gegebenenfalls in einen Kontext
gebracht, der „Gefahr“ bedeutet. So kann der Ruf eines Männernamens in der
dunklen Umgebung einer Person, die gerade kontrolliert wird, auch bedeuten,
dass eine weitere Person sich der Kontrolle nähert und den Festgehaltenen mit
Namen kennt. Spätestens jetzt müsste sich der Gefahrenradar der einschreitenden
Kräfte auch auf das weitere Umfeld der Kontrollörtlichkeit ausweiten.
Der Gefahrenradar wird als die Fähigkeit beschrieben, mit entspannter
Aufmerksamkeit alle Reize (optisch, akustisch, olfaktorisch,…) wahrzunehmen
und diese sehr schnell hinsichtlich möglicher Gefährlichkeit zu bewerten. Dabei
wird aber gleichzeitig erwähnt, dass es keine voreilige subjektive Deutung geben
darf.
Die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, die diesen Gefahrenradar in einer
Einsatzsituation einsetzen, müssen zwei konträre Fehler vermeiden:
39
Füllgrabe, 2002, S. 109 ff
26
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Weder darf permanent mit Anspannung oder Angst reagiert werden noch dürfen
Informationen zu früh als belanglos ausgeblendet werden. 40
Das Wissen um die Relevanz eines Gefahrenradars führt nicht dazu, dass
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte in die Lage versetzt werden, einen solchen
zu entwickeln. Füllgrabe schildert eher abstrakt, was den Gefahrenradar ausmacht.
Er spricht vom Einnehmen bestimmter Geisteshaltungen, die eine klare,
umfassende und unvoreingenommene Sichtweise auf die Situation und Personen
ermöglichen sollen. So einleuchtend die Beschreibungen auch sind, einen
konkreten Hinweis zur Umsetzung gibt es nicht.41
In den Aussagen zur Wahrnehmung (Kapitel 3.2) habe ich geschildert, dass der
Mensch mit seinen begrenzten kognitiven Fähigkeiten lediglich einen Teil seiner
Umwelt überhaupt wahrnehmen kann. Füllgrabe fordert nun, dass alle Reize
erfasst werden müssen, um sie danach schnell auf Gefährlichkeit zu überprüfen.
Hier stoßen Polizeibeamtinnen und
Polizeibeamte auf eine nicht erfüllbare
Aufgabe. Zum einen ist es ihnen nicht möglich, alle Reize aufzunehmen.
Weiterhin unterliegt die erwünschte objektive, aber sofort stattfindende
Bewertung ebenfalls den menschlichen Grenzen. Je schneller die Bewertung
erfolgen muss, desto eher ist sie belastet von eigenen Erfahrungen und wird nach
den geschilderten Heuristiken (Kapitel 3.3) eingeordnet. Um eine schnelle
Deutung der aufgenommenen Reize zu ermöglichen, schaltet sich das
Unterbewusstsein ein, das Reize blitzschnell mit dem Gedächtnisspeicher auf
Bekanntheit oder Ähnlichkeit abgleicht.
Je objektiver die Einschätzung also werden soll, desto mehr Zeit kann sie kosten.
Je länger die Einschätzung dauert, desto länger hat auch eine Situation Zeit, sich
weiter zu entwickeln, möglicherweise auch in Richtung erhöhter Gefährlichkeit.
Füllgrabes Forderungen sind in dieser Beschreibung nur bedingt anwendbar.
Polizeiliche Einsatzlagen sind oftmals geprägt von dem Anspruch, dass prompte
Entscheidungen gefällt werden. Gerade deswegen wird Polizeibeamtinnen und
Polizeibeamten in der Aus- und Fortbildung eine große Vielfalt von
Trainingssituationen angeboten.42 So kann eine Fülle von erlebten Situationen mit
40
Füllgrabe, 2002, S. 109 ff
41
Füllgrabe, 2002, S. 111 ff
42
Siehe dazu Kapitel 5, Auswertung der Interviews
27
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
den dazugehörigen Handlungsmöglichkeiten im Gedächtnis gespeichert und
abrufbar gemacht werden.
In den weiteren Beschreibungen zum Gefahrenradar macht Füllgrabe deutlich,
dass es in erster Linie darum geht, eine gesunde Aufmerksamkeit zu entwickeln
und auch scheinbar harmlose Situationen, Personen, Gegenstände genau zu
beobachten.
Ein
so
beschriebener
Gefahrenradar
ist
notwendig
und
wünschenswert, wenn auch offenbar nur individuell vorhanden. Wie aber kann
man Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, die diesen Gefahrenradar erkennbar
nicht haben, helfen und konkrete Anleitungen geben, einen solchen zu
entwickeln?
Diejenigen, die keinen unbewussten, automatisch ablaufenden Gefahrenradar
haben, sollten in Trainings die Möglichkeit bekommen, dieses Defizit selber
festzustellen. Erst bei Erkennen des Defizits können die Betroffenen versuchen,
sich in bestimmten Situationen bewusst auf das genaue Beobachten ihrer
Umgebung zu konzentrieren.
Das Prinzip des Gefahrenradars wird in der Literatur auch von Schmalzl und
Jedamczik aufgegriffen; hier finden sich auch konkrete Anleitungen zur
Umsetzung.43 Sie beschreiben, dass es keinesfalls reiche, einige Hinweise zu
beachten, um einen ausreichenden Gefahrenradar zu entwickeln. Vielmehr stellen
sie die Bereitschaft der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten in den
Vordergrund, lebenslang aus Erfahrungen, insbesondere negativen, zu lernen.
Eigenes Handeln sowie persönliche Einstellungen, die zu einem bestimmten
Verhalten führen, müssten immer wieder überprüft werden. Im weiteren Verlauf
werden
Eigenschaften
Selbstgefälligkeit
wie
aufgezählt,
Unaufmerksamkeit,
die
diesem
Gleichgültigkeit
professionellen
und
Verhalten
entgegenstehen. Diese Eigenschaften werden zwar nicht expressis verbis, aber
durchaus zwischen den Zeilen auch in den Experteninterviews, insbesondere der
Experten K. und W., genannt.
Schmalzl und Jedamczik beschreiben konkrete Übungen, die die gelassene
Wachsamkeit ausprägen sollen, beispielsweise das „flexible Beobachten“, d.h.
43
Schmalzl / Jedamczik, 2003, S. 42
28
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
man fixiere bewusst eine Person oder einen Gegenstand nur kurz, um danach den
Fokus der Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken. 44
Weiterhin stellen sie dar, dass feste Denkmuster unabdingbar und wichtig seien,
aber nicht dazu führen dürften, neben diesen Mustern keine Situation zuzulassen,
die sich außerhalb dieser „Schubladen“ bewegt. Die einzelne Polizeibeamtin, der
einzelne Polizeibeamte wird in die Pflicht genommen, sich selber immer wieder
zu zwingen, genau darauf zu achten, ob etwas abweichend zu den bekannten
Mustern ist.
Wenn die Autoren den Perspektivwechsel erwähnen, setzen sie wiederum die
Eigeninitiative der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten voraus.
Wenn man sich der Lage des Anderen, des potentiellen Angreifers, bewusst ist,
und erkennt, dass dieser vielleicht existentielle Ängste mit der Preisgabe seiner
Identität an die Polizei vermutet, fällt es zum einen leichter, mit dieser Person
umzugehen. Zum anderen kann man sich aber auch eher einen Angriff vorstellen
und im Vorfeld geeignete Maßnahmen treffen, diesen zu verhindern.
In einem Aufsatz zu „Gefahrenbewußtsein und Gefahrenerkennung“ schreibt
Spoerer45 im Zusammenhang mit den Gefahren des Straßenverkehrs ebenfalls,
dass es nicht reiche, allgemein vor Gefahren zu warnen und zu fordern, man solle
einen Gefahrenradar ausbilden. Vielmehr müssten konkrete Hinweise ergehen,
wie beispielsweise auf die Hände des Gegenübers zu achten. Erst das
Gefahrenbewusstsein macht Gefahrenabwendung möglich.
Um auf Gefahren hinzuweisen, sei es besser, gegenständliche Erklärungen zu
geben, statt allgemein „Vorsicht“ zu fordern. Sein Beispiel bezieht sich auf den
Straßenverkehr: Effektiver sei es, bei starkem Regen darauf hinzuweisen, dass ab
Tempo 80 km/ h Aquaplaning möglich sei, statt allgemein zu bleiben und zu
vorsichtigem Fahren aufzufordern.
Insgesamt ist festzustellen, dass ein Gefahrenradar immens (überlebens-) wichtig
ist. Dieser beruht jedoch auf individuellen Fähigkeiten und der Motivation zur
44
Schmalzl / Jedamczik, 2003, S. 43
45
Spoerer, 1983, S. 80
29
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Eigensicherung der einzelnen Polizeibeamtin und des einzelnen Polizeibeamten.
In der Aus- und Fortbildung ist es möglich, den Teilnehmerinnen und
Teilnehmern die Bedeutung und Wichtigkeit nahe zu bringen, so dass eine
persönliche Bereitschaft entsteht, die Trainings auch zur Ausbildung, Ausprägung
und Weiterentwicklung eines Gefahrenradars zu nutzen.
Die persönliche Einschätzung, dass ein Gefahrenradar notwendig ist, obliegt
jedoch in letzter Konsequenz der einzelnen Polizeibeamtin und dem einzelnen
Polizeibeamten.
Ausbilder,
Trainer
und
Führungskräfte
sind
bei
entgegenstehendem Willen trotz angewandten psychologischen Prinzipien und
Erwachsenenpädagogik nur bedingt in der Lage, die innere Überzeugung zur
Entfaltung eines Gefahrenradars zu schaffen.
Ergänzend dazu ist festzustellen, dass der Grundsatz „Erst Gefahrenbewusstsein
macht
Gefahrenabwendung
möglich“
bei
der
Konzeption
von
Ausbildungsmodulen und Trainings oberste Priorität genießen muss. Dadurch
kann Teilnehmerinnen und Teilnehmern vor Augen geführt werden, wie
verletzbar sie ohne Gefahrenradar sind.
Das Prinzip „ Vom Konkreten zum Abstrakten“ bedeutet für die Erstellung von
Seminaren, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zunächst auf konkrete
mögliche Gefahrenmomente (z.B. bei einer PKW-Kontrolle ein abrupter Griff des
Fahrzeugführers
ins
Handschuhfach)
hingewiesen
werden.
Im weiteren
Seminarverlauf sollten sie durch aufbauende Trainings in die Lage versetzt
werden, gemäß des situativen Lernens (siehe Kapitel 3.5) auch dann ein
Gefahrenmoment zu erkennen, wenn der Griff unter den Sitz erfolgt bzw. der
Beifahrer ins Handschuhfach greift.
Es ist Aufgabe der einzelnen Polizeibeamtin und Polizeibeamten, eigeninitiativ
dafür Sorge zu tragen, einem Angriff rechtzeitig und angemessen begegnen zu
können. Es handelt sich quasi um eine „Bringschuld“ der Polizeibeamtinnen und
Polizeibeamten, nicht um eine Bringschuld der Trainerinnen und Trainer, der
Vorgesetzten oder der Organisation.
30
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
4. Das Experteninterview
4.1 Methodik
Experteninterviews bieten eine konkurrenzlos dichte Datengewinnung gegenüber
zeitaufwendigeren Beobachtungsstudien und quantitativen Untersuchungen wie
Fragebögen.
Experten können stellvertretend für eine Vielzahl zu befragender Akteure
interviewt werden.46
Im konkreten Fall bestand keine Möglichkeit, einen repräsentativen Teil der
eigentlichen Zielgruppe, nämlich Angehörige des Wach- und Wechseldienstes als
Teilnehmerinnen oder Teilnehmer der Fortbildung in den Behörden bzw.
Angehörige der SEK- Kommandos als Teilnehmer der SEK- spezifischen
Fortbildung per Fragebogen zu interviewen, so dass auf Experteninterviews
zurückgegriffen wurde.
Wer ist überhaupt Experte?
In der Literatur werden diesbezüglich widersprüchliche Meinungen vertreten.
So variieren die Aussagen von der Annahme, dass nur Akademikerinnen und
Akademiker als Expertinnen und Experten bezeichnet werden dürfen 47 bis hin zu
der Möglichkeit, jeden Menschen als Expertin und Experten für sein eigenes
Leben zu bezeichnen.48
Die Auflösung dieser Frage ist für meine Arbeit insofern relevant, als dass ich
Trainerinnen und Trainer der polizeilichen Fortbildung als Experten bezeichne.
Zur Klärung tragen Bogner und Menz bei:
„Die Frage, wer als Experte in methodischer Hinsicht zu gelten hat, muss also
immer in Relation zum konkreten Handlungsfeld, in dem der Experte agiert, und
46
Bogner / Menz, 2005, S. 7
47
Pfadenhauer, 2005, S. 122
48
Flick, 2007, S. 215
31
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
in Hinsicht auf das Untersuchungsspektrum der empirischen Erhebung
beantwortet werden.“49
Folgerichtig sind Trainerinnen und Trainer der polizeilichen Fortbildung durch
ihre mehrere Wochen andauernde Zusatzausbildung zu Themenbereichen wie
„Methodik und Didaktik“, „Kommunikation“, „Taktik“, Eingriffstechniken“,
„Schießen / Nichtschießen“ und vielen mehr als Expertinnen und Experten für ihr
Handlungsfeld anzuerkennen. Sie verfügen über Spezialwissen, was sie von
anderen Mitgliedern ihrer Berufsgruppe in dieser Hinsicht deutlich abhebt.
Des Weiteren sind Trainerinnen und Trainer selbst vor ihrer Trainertätigkeit in der
Zielgruppe gewesen und können daher auch auf eigene Erfahrungen
zurückgreifen. Sie nehmen täglich durch Mitteilungen der Teilnehmerinnen oder
Teilnehmer zur Kenntnis, in wie weit es zu Gefahrensituationen im Dienst
gekommen ist und haben daher zusätzlich einen guten Überblick über die
Erfahrungen der Teilnehmerinnen oder Teilnehmer.
Durch ihre Zusatzausbildung werden einige spezifische Fragen überhaupt erst
möglich. So geht es bei einigen Interviewfragen um lerntheoretische und
wahrnehmungspsychologische
Theorien, die mit Nicht- Fachleuten nur
eingeschränkt erörtert werden könnten.
Ich habe mich entschieden, zwei Trainer eines Spezialeinsatzkommandos (SEK),
zwei Trainer der Fortbildungsstelle einer Kreispolizeibehörde und einen Trainer
eines Ausbildungsinstitutes zu befragen.
Dieser Entscheidung liegt zum einen das Wissen zugrunde, dass in
Spezialeinsatzkommandos die Anzahl der Trainings und die Trainingsintensität
höher sind als bei den übrigen „Zielgruppen“.
Zum anderen habe ich die Hypothese aufgestellt, dass Einsatzlagen von Kräften
der Spezialeinsatzkommandos im Gegensatz zur „normalen Polizei“ kaum bis gar
nicht unterschätzt werden. Zum Aufgabenkatalog der Spezialeinheiten gehören
genau die Einsatzanlässe, für die aufgrund ihrer besonderen Gefährlichkeit
speziell ausgebildete und ausgerüstete Polizeieinheiten zur Bewältigung
erscheinen müssen.
Es gäbe in diesem Fall keine Lage, in der es aufgrund einer Unterschätzung der
Gefährlichkeit zu einem Angriff gegen SEK- Beamte kommen könnte.
49
Bogner / Menz, 2005, S. 46
32
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Durch die unterschiedlichen Aufgabenbereiche der Zielgruppen der Trainer und
deren Zugehörigkeit zu den verschiedenen Zielgruppen, erwarte ich in
Teilbereichen der Antworten auch entsprechend verschiedenartige Aussagen.
4.2 Interview- Leitfaden
1. Vorstellung der eigenen Person
2. Vorstellung des Themas
3. Erklärung, warum die Trainerin/ der Trainer Experte zu diesem Thema ist
4. Daten zur Person
Name (wird nicht bekannt gegeben, nur zur Nachvollziehbarkeit)
Alter
Dienstalter
Werdegang (wichtige Stationen), jetzige Dienststelle
Trainerin/ Trainer seit wann?
Für welche Zielgruppe? (SEK, Wach- und Wechseldienst)
Mit welcher Ausbildung? (IF- Trainer, ET 24- Trainer, fachdidaktische
Ausbildung?)
5. Einführende Leitfragen:
5.1. In welchen Lagen (Anhalten von Pkw, Festnahme, Familienstreit, etc.)
kommt es Ihrer Erfahrung nach zu Gefahrensituationen für Polizeibeamtinnen
und Polizeibeamte? (bezogen auf die zu trainierende Zielgruppe)
5.2. Sind es die Lagen oder immer wiederkehrende gleiche Rahmenbedingungen
in unterschiedlichen Lagen, die gefährlich sind?
5.3. Wie werden diese Lagen von den Kolleginnen und Kollegen eingeschätzt?
Werden die Gefahrenmomente überhaupt als solche erkannt?
5.4. Handelt es sich dabei um Situationen, die die Kolleginnen und Kollegen als
„plötzlich“ , „überraschend“, „wie aus dem Nichts“ erleben?
33
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
6. Trainingsorientierte Leitfragen:
6.1. Handelt es sich dabei um Situationen, die so oder so ähnlich schon
Bestandteil
der
Trainings
waren?
(komplexe
Lagentrainings,
Sequenztrainings,…)
6.2. Was wird wie oft in welcher Form trainiert? (ET 24 für WuW)
6.3. Wie wird auf sicherheitswidriges Verhalten reagiert?
6.4. Wie wird auf sicherheitsförderndes Verhalten reagiert?
(positive Verstärkung/ negative Verstärkung/ Bestrafung)
6.5. Theorieanteile/ Praxisanteile
7. Sonstige Fragen:
7.1. Wird im Training auf die Problematik „Wahrnehmung unter Stress“
eingegangen?
7.2. Wie kann man Teilnehmerinnen und Teilnehmer Ihrer Meinung nach
stressresistenter machen?
7.3. Was verstehen Sie unter dem Begriff „Angst“?
7.4. Welche Auswirkungen kann Angst auf die Kolleginnen und Kollegen haben?
(im Training/ in der Echtlage)
7.5.Macht Angst aufmerksam/ lähmt sie / treibt sie zu Höchstleistungen an?
8. Gefahrenkognition
8.1. Über Beinahe- Angriffe/ „Glück- gehabt“- Situationen sollte umfassend
berichtet werden. So nimmt man wahr, dass auch 08/ 15- Situationen
Gefahren bergen und kann im Sinne der Verfügbarkeitsheuristik in eigenen
Erlebenssituationen darauf zurückgreifen.
8.2.Wird das in Ihrer Dienststelle so gemacht?
8.3. Erfahren alle von solchen Situationen oder nur die engsten Kolleginnen und
Kollegen?
8.4. Erfährt man etwas aus anderen Dienststellen?
8.5. Wie könnten Sie sich einen anonymisierten Austausch über solche
Situationen vorstellen?
8.6. Wie wichtig schätzen Sie einen solchen Austausch ein?
8.7. Wie ist Ihre Einschätzung, dass Kollegen ein solches Angebot annähmen?
34
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
4.3 Aufbau des Interview- Leitfadens
Mit den Interviews soll ein Überblick darüber gewonnen werden, inwieweit die
polizeiliche Fortbildung bereits mit dem Thema „Gefahrenkognition“ vertraut ist,
möglicherweise ohne es zu wissen.
Der wissenschaftliche Anspruch, hier: der psychologisch- sozialwissenschaftliche
Anspruch, wird bei der Fortbildung, meiner Annahme nach, nur zum Teil erfüllt.
Insbesondere deswegen ist es interessant zu erfragen, inwieweit trotz fehlenden
theoretischen Wissens nach Prinzipien der Gefahrenkognition gearbeitet wird, d.h.
inwieweit das Erfahrungswissen einen ähnlichen Stellenwert einnimmt wie die
wissenschaftlichen Befunde und damit zur Professionalisierung der polizeilichen
Aus- und Fortbildung beigetragen wird.
Ein weiteres Ziel besteht darin, herauszufinden, ob es auch bei der Polizei die von
Musahl beschriebenen unterschätzten Situationen gibt, in denen es in letzter
Konsequenz tatsächlich gefährlich wird.
Die Interviews wurden offen mittels Diktiergerät aufgezeichnet. Im Anhang
finden sich die vollständigen Sinnabschriften. Persönliche Daten, die einen
Rückschluss auf die Person ermöglichen, liegen der Arbeit nicht bei. Sie spielen
für die Fragestellung keine Rolle.
Sofern persönliche Daten wie Dienstalter / Alter / Werdegang wichtig erscheinen,
werden sie anonymisiert wiedergegeben.
Die Ziffern 1- 3 dienen der Einstimmung auf das Interview. Der Experte
(nachfolgend E) und die Interviewerin (nachfolgend I) sollen sich gegenseitig
kennen lernen. Bei der Vorstellung des Themas (Ziffer 2) werde ich nur mit
wenigen Worten erläutern, welches Ziel das Interview hat. Bei einer zu weit
gestreuten
Information
über
Inhalte
der
Gefahrenkognition
wäre
eine
Beeinflussung der Experten nicht ausgeschlossen. Dies wird den Interviewten
aber aus Gründen der Fairness transparent gemacht.
Dieser Teil ist für die Auswertung uninteressant und ist nicht Bestandteil der
Sinnabschriften.
Die Warm- up- Phase endet mit den persönlichen Angaben zur Person des E
(Ziffer 4).
35
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Bei den einführenden Leitfragen unter Ziffer 5 erfrage ich, inwieweit die
persönlichen
Erfahrungen
mit
Angriffen
gegen
Polizeibeamtinnen
und
Polizeibeamte mit objektivem Datenmaterial übereinstimmen.
Hier ergibt sich die Schwierigkeit, dass das zugrunde liegende Datenmaterial zum
Teil 16 Jahre alt ist.
So hat Jäger letztmalig 1992 Daten nach einem einheitlichen Kriteriumskatalog
erfasst und ausgewertet.50 Einem Auswahlkriterium zufolge wurden nur die
Angriffe erfasst, die zu einer mehr als siebentägigen Dienstunfähigkeit führten.
Nach dieser Studie der Polizei- Führungsakademie von Jäger, kommt es mit
Abstand am häufigsten auf öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen zu Angriffen
auf Polizeibeamtinnen oder Polizeibeamte. Die offenbar „gefährlichste“ Situation,
d.h. die polizeiliche Maßnahme, bei der die Angriffe am häufigsten erfolgten, ist
der Studie nach die (vorläufige) Festnahme.51
Mit der Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsens „Gewalt
gegen Polizeibeamte und -beamtinnen“
52
in den Jahren 2000 bis 2003 sollte das
Defizit der Nichterfassung seit 1992 kurzfristig behoben werden. Allerdings
wurde die Datensammlung mit Abschluss der Studie ebenfalls eingestellt.
Demnach gibt es in Deutschland keine einheitlich erhobenen, aktuellen Daten zu
Angriffen auf Polizeibeamtinnen oder Polizeibeamte.
Das Erfahrungswissen der Expertinnen oder Experten erfährt durch diesen
Umstand eine besondere Aufwertung. Die Trainerinnen und Trainer der Behörden
bekommen regelmäßig Durchschriften von Strafanzeigen wegen „§ 113 StGBWiderstand
gegen
Vollstreckungsbeamte“
zugeleitet
und
erfahren
über
Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Angriffen.
Stimmen heute noch Datenmaterial und Erfahrungswissen überein? Gibt es
Abweichungen? In einer weiteren Untersuchung müssten zunächst aktuelle Daten
erhoben werden, um dann abgleichen zu können, inwieweit Veränderungen
vorliegen.
50
Jäger, 1994
51
Jäger, 1994, S. 10 f
52
http://www.kfn.de/Forschungsbereiche_und_Projekte/Abgeschlossene_Projekte/Gewalt_gegen_
Polizeibeamte_und_-beamtinnen.htm, Recherchedatum: 04.06.2008
36
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Die Frage 5.2 folgt dem Wunsch, Rahmenbedingungen zu erfahren, die offenbar
„angriffsunterstützend“ sind. Zu denken wäre beispielsweise an Alkoholisierung
des Angreifers, oder ähnliches.
Mit der Fragestellung in 5.3 sollen Hinweise darauf erlangt werden, ob, wie
Musahl in seinem Buch beschreibt53, auch bei der Polizei die Unfälle im Sinne
von Angriffen dort geschehen, wo die Gefahr nicht erkannt oder unterschätzt
wird.
Laut der Studie des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsens
erleben 80 % der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten den Angriff als
überraschend.54 Die letzte Frage unter Punkt 5 soll den Experten Gelegenheit
geben, ihre stellvertretenden Erfahrungen mitzuteilen und, wenn möglich, auch
Erklärungsansätze aufzuzeigen.
Mit der ersten Frage des Komplexes Nr. 6 „trainingsorientierte Leitfragen“ wird
der Übergang von Erfahrungen bei Echtlagen zum Training/ der Fortbildung
deutlich. Wie nah ist die polizeiliche Fortbildung dem polizeilichen Alltag
gekommen? Ebenso hier wie mit der zweiten Fragestellung möchte ich einen
Überblick über die Trainingsmöglichkeiten/ -arten und der praktischen
Umsetzung gewinnen.
Die
nächsten
beiden
Punkte
verlangen
konkrete
Aussagen
zum
Rückmeldeverhalten bei guten und/ oder „schlechten“ Trainings. Wie wird mit
fehlerhaftem Verhalten umgegangen? Gemäß der Annahme Musahls, dass
negative Verstärkung sicherheitswidriges Verhalten fördert 55, wird mit der
Beantwortung der Fragen deutlich, in wie weit Trainings im schlimmsten Fall
durch Verzicht auf negative Rückmeldung sogar sicherheitswidriges (=
eigengefährdendes) Verhalten fördern können.
Wie hoch sind die Anteile der theoretisch vermittelten Lerninhalte? Wie oft wird
praktisch geübt?
53
Musahl, 1997, S. 216
54
Ohlemacher/ Rüger/ Schacht, 2001, S. 28
55
Musahl, 1997, S. 164 ff
37
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Die sonstigen Fragen unter Ziffer 7 beschäftigen sich im Schwerpunkt mit der
Thematik „Stress“.
Trainerinnen und Trainer erfahren in ihren Ausbildungen theoretisch und
praktisch, wie Stress auf den Menschen wirkt. Die biochemischen Prozesse sind
zunächst bei jedem Menschen gleich, die Auswirkungen jedoch unterschiedlich.
Im Extremfall führt hoher Stress zu Erscheinungen von Wahrnehmungsstörungen
bis zur Handlungsunfähigkeit.
Wie werden die Teilnehmerinnen oder Teilnehmer auf solche Situationen
vorbereitet?
Der Begriff „Angst“ ist offenbar stark negativ gefärbt. Füllgrabe widmet ein
ganzes Kapitel der Überschrift „Die Vermeidung von Angst“.56 Er beschreibt
Angst als das Gefühl der Hilflosigkeit, welches dazu führt, sich von der Situation
überwältigen zu lassen.
Allerdings ist der Begriff Angst nicht allgemeingültig definiert. Laut Meyers
Lexikon handelt es sich in der allgemeinen Psychologie um einen:
„Affekt oder Gefühlszustand, der im Unterschied zur Furcht einer unbestimmten
Lebensbedrohung entspricht. Angst steht oft in Zusammenhang mit körperlichen
Erscheinungen, besonders an den Atmungsorganen und am Herzen, auch an den
Verdauungs- und Harnorganen. Als Krankheitszeichen ohne erkennbare
körperliche Krankheit kommt Angst u. a. bei neurotischen Störungen, z. B.
Phobie, vor.“57
Bei dieser Beschreibung fällt die Nähe zu Stress deutlich auf. Wie also
beschreiben Trainerinnen oder Trainer diesen Begriff, was verstehen sie darunter?
Folgen sie Füllgrabe in der Ansicht, dass Angst vermieden werden muss, oder
kann Angst auch „gesund“ sein, in dem man durch das Angstgefühl eine
Gefahrensituation erkennt, als solche einschätzt und angemessen handelt? Auch
Flucht ist im konkreten Einzelfall eine angemessene, bewusste Handlung.
Das Interview führt im letzten Fragenkomplex zur Untersuchungsfragestellung
hinsichtlich der Gefahrenkognition zurück. Musahl hat in Untersuchungen
56
Füllgrabe, 2002, S.136 ff
57
http://lexikon.meyers.de/meyers/Angst, Recherchedatum: 04.06.2008
38
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
festgestellt, dass die Arbeitssicherheit erheblich gesteigert werden konnte, wenn
Arbeiter über die objektive Gefährlichkeit ihrer Tätigkeit informiert wurden. Dazu
gehörte es auch, über „Beinahe- Unfälle“ aufzuklären, so dass den Arbeitern
deutlich wurde, dass es oft nur von Glück, Zufall oder rechtzeitigem Eingreifen
abhing, dass es zu keiner Unfallfolge kam.
Die richtige Einschätzung der Gefährlichkeit einer Tätigkeit trägt also zum
sicherheitsfördernden Verhalten bei. 58
Mit
den
Fragestellungen
soll
erschlossen
werden,
inwieweit
dieser
Informationsfluss auch bei der Polizei dazu führen könnte, der Eigensicherung im
Alltag größere Beachtung zu schenken.
5. Interviews
5.1 Auswertung der Interviews59
Die Interviews 160 und 261 wurden mit Trainern geführt, die der Führungsstelle
eines Spezialeinsatzkommandos (SEK) in NRW angehören.
Beide waren vorher Mitglieder im Kommando, kennen also auch Interna der
Zielgruppe.
Die Interviews 362 und 463 wurden mit Trainern der Fortbildungsstelle einer
Landratsbehörde in NRW geführt.
Diese waren zuvor beide im Wach- und Wechseldienst tätig, bevor sie über eine
mehrwöchige Ausbildung zu Trainern geschult wurden.
Das fünfte Interview64 wurde mit einem Kursleiter geführt, der in der
Hauptaufgabe
für
die
Ausbildung
der
Kommissaranwärterinnen
58
Musahl, 1997, S. 93 f
59
Alle folgenden Zeilenangaben beziehen sich auf die Interviewabschriften in Anlage 1.
60
Zeile 1 - 307
61
Zeile 308 – 666
62
Zeile 667 – 1105
63
Zeile 1106 – 1503
39
und
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Kommissaranwärter verantwortlich ist. Vorher gehörte es zu seinem Bereich, die
regionale Fortbildung für Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte aus den Behörden
zu konzipieren und durchzuführen. Vor seiner Verwendung bei dem
Ausbildungsinstitut war er als Kriminalbeamter tätig.
Zu den einführenden Fragen 5.1 bis 5.4:
Mit der Frage 5.1 sollte festgestellt werden, inwiefern sich die Erfahrungen der
Experten mit dem objektiven, aber veralteten Zahlenmaterial decken.
Die SEK- Trainer gaben an, dass sie grundsätzlich immer Einsätze wahrzunehmen
haben, in denen mit einer hohen Gefährlichkeit gerechnet werden muss.65
Dennoch konnte hier festgestellt werden, dass es Situationen gibt, die durch ihre
Plötzlichkeit eine höhere Brisanz zeigen als Einsätze, die lange vorbereitet werden
können.66
Interessant war die Einschätzung der SEK-Trainer für den Wach- und
Wechseldienst, der offenbar gerne Messertäter unterschätze und sich dadurch in
Situationen begebe, die von großer Gefährlichkeit seien.67
Bei den Trainern der Behörde wurde auf diese Frage eher mit der eigenen
Einstellung als mit einem rückblickenden Erfahrungswert geantwortet. Hiernach
dürften keinerlei Einsätze als ungefährlich eingestuft werden. Die Eigensicherung
sollte
immer,
unabhängig
vom
Einsatzanlass,
mit
oberster
Priorität
wahrgenommen werden.68
Dass es sich hierbei eher um persönliche Ansprüche und um Wunschdenken
handelt als um die Realität, wird in den Interviews 3 und 4 insgesamt deutlich.
Die Diskrepanz wurde in Interview 3 auch in Worte gefasst. 69 So würden
Kollegen in vielen Fällen Gefahren von vorn herein nicht mit ins Kalkül ziehen.
64
Zeile 1504 - 1913
65
Zeile 4-8
66
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67
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68
Zeilen 670, 671/ 676- 677 und Zeilen 1109- 1113
69
Zeile 684 ff
40
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Im fünften Interview wurde auf die Frage eine konkrete Antwort gegeben.
Danach komme es in Fällen von Streitigkeiten und in Einsätzen, bei denen
Alkohol eine Rolle spiele, eher zu gefährlichen Situationen als in anderen.70
Die Frage, ob es Einsatzanlässe mit besonders hohem Gefahrenpotential gebe,
konnte nicht, bzw. nur unzureichend beantwortet werden.
Bei allen Antworten spielte die Verfügbarkeitsheuristik eine beachtliche Rolle:
Einsätze, in denen es bekanntlich eher zu Gewalttätigkeiten kommt, werden eher
benannt als selten vorkommende Einsätze, in denen Gewalt nicht regelmäßig eine
Rolle spielt.
In der anknüpfenden Frage 5.2 ging es darum, ob es Rahmenbedingungen gebe,
die einen Einsatz gefährlich machen.
Alle Befragten hatten Schwierigkeiten, sich solche vorzustellen. Teilweise wurden
mögliche Rahmenbedingungen wie Alkoholisierung, Dunkelheit, etc. vorgegeben,
um darzustellen, was man sich darunter vorstellen könnte.
Insbesondere Alkohol wurde entweder initiativ oder auf Nachfrage genannt.71
In einem Fall wurden besonders gefährliche Gegenstände wie Brandbeschleuniger
oder Handgranaten aufgezählt.72
Dunkelheit wurde als verstärkende Rahmenbedingung eher abgelehnt.73
Weder ein Wochentag noch bestimmte Uhrzeiten waren für die Experten als
Rahmenbedingung für erhöhte Gefährlichkeit vorstellbar, obwohl ihnen Aussagen
zu Untersuchungen mitgeteilt wurden, die dieses belegen.74
In den Interviews 4 und 5 wurde das Verhalten der Einsatzkraft als
Rahmenbedingung genannt.75 In beiden Fällen herrschte Übereinstimmung, dass
die Einstellung, die Einsatzphilosophie, der Polizeibeamtin/ des Polizeibeamten
ein wichtiger Faktor ist.
70
Zeile 1507 f
71
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72
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74
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75
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41
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Mit den Fragen 5.1. und 5.2 konnte insgesamt nicht festgestellt werden, ob es
Übereinstimmungen oder Veränderungen mit den Daten von Jäger oder der KFNStudie gibt. Die Antworten der Experten erfolgten nicht im Überblick über die
Zielgruppe, sondern eher aus eigenen Erfahrungen heraus. Erinnerungen an
gesichtete Anzeigen oder andere Fremdansichten spielten eine zu geringe Rolle,
als dass sie bemerkbar mit einbezogen worden wären.
Um auf diese Fragen Auskunft geben zu können, sind also weitere Erhebungen
über Fragebögen oder ein spezifisches Meldewesen von Nöten.
In Kapitel 3 wurde mit der Abbildung 2 die Problematik verdeutlicht, dass
objektive
Gefahren
nicht
immer
mit
der
subjektiven
Einschätzung
übereinstimmen. Die Frage 5.3 sollte ergründen, in wie weit Polizeibeamtinnen
und Polizeibeamte des „normalen“ Dienstes sich der Gefahrensituationen bewusst
sind. Die gleiche Frage wurde den Trainern des SEK gestellt, weil ich hier eine
Ungleichheit vermutete. Die Hypothese „Beim SEK werden Lagen seltener in
ihrer Gefährlichkeit unterschätzt“ sollte mit den Antworten erhärtet werden.
Bei allen Antworten wurde „Erfahrung“ als Faktor genannt, der zur Einschätzung
einer Situation beiträgt.
Ein SEK- Trainer schilderte, dass die stattfindenden Einsatzbesprechungen dazu
beitrügen, alle am Einsatz beteiligten Kräfte auf die Gefahrenlage einzustimmen.
Zusätzlich würde sich aber jeder einzelne ein persönliches Bild von dem Einsatz
machen, der ihn erwartete. Diese Einschätzung träfe jeder aufgrund seiner
persönlichen Erfahrung. 76
Die persönlichen Erfahrungen entstehen durch die individuellen Wahrnehmungen
und Lernprozesse. Die Heuristiken als Ordnungskategorien helfen dabei, den
neuen, noch unbekannten Sachverhalt einzuordnen und greifbar zu machen.
Zu einer Unterschätzung käme es aber nicht, da grundsätzlich alle Lagen, zu
denen ein SEK hinzugerufen würde, gefährlich seien.
Im zweiten Interview wurde eine Unterschätzung deutlich verneint.77
Diese beiden Aussagen untermauern die aufgestellte Hypothese.
76
Zeile 34 - 39
77
Zeile 367 f
42
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Die Trainer der Landratsbehörden erleben ihre Zielgruppe anders:
Hier würden Lagen unterschätzt, und selbst in brisanten Einsätzen glaubten die
Einsatzkräfte, dass ihnen schon nichts geschehen werde.78
Auch hier wurde geschildert, dass die Einschätzung der Gefährlichkeit schon mit
dem Bekanntgeben des Einsatzstichwortes erfolge.
Mit dem Stichwort „Randalierer“ verknüpften die meisten eher eine Gefahr, so
dass sie in der Folge diesen Einsatz weniger unterschätzten.
Zu Unterschätzungen komme es eher bei harmlosen Anlässen wie der
Routinekontrolle einer Person.79
Aufschlussreich war die Antwort im Interview Nr. 5: Herr W. unterschied
zwischen den Auszubildenden und den Angehörigen der Behörden. Die
Anwärterinnen und Anwärter hätten noch keinerlei Erfahrungen, die sie in einer
Situation dazu verleiteten, diese zu unterschätzen. Sie wüssten um ihre Defizite
im Umgang auch mit alltäglichen Situationen, alles sei erstmal neu.
Bei der Zielgruppe der Angehörigen der Behörden, die zur regionalen Fortbildung
kämen, sei das ganz anders. Hier decken sich die Aussagen mit den Erfahrungen
der Experten in den Interviews 3 und 4.
Als Erkenntnis ergibt sich, dass Angehörige einer Organisationseinheit, die
ausschließlich zu dem Zweck existiert, gefährliche Einsätze wahrzunehmen,
Gefahren nicht unterschätzen.
Angehörige der „normalen Polizei“ (hier können Aussagen für den Wach- und
Wechseldienst, den Beamtinnen und Beamten der Kriminaldienststellen und der
Verkehrsdienste getroffen werden) neigen dazu, Einsätze zu unterschätzen, wenn
nicht von Beginn an durch ein Einsatzstichwort oder eigene Erfahrungen eine
besondere Brisanz anzunehmen ist.
Auszubildende haben keinerlei oder kaum praktische Diensterfahrung und haben
kaum eigene Vorstellungen, auf die sie zurückgreifen können. Für sie ist jede
Trainingslage neu und unbekannt, eine Unterschätzung findet hier eher nicht statt.
78
Zeile 748 ff
79
Zeile 1148 ff
43
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Die Beantwortung der letzten Frage aus diesem Themenkomplex war
überraschenderweise nicht einheitlich.
Als konsequente Folge der oben bestätigten und gefestigten Hypothese bestand
die Erwartung, dass SEK- Beamte nicht von Geschehnissen überrascht würden
oder Angriffe als unvermittelt und plötzlich erlebten.
Beide SEK- Trainer gaben aber an, dass es sehr wohl Momente gebe, in denen
sich Kräfte von einem Geschehen überraschen ließen.80 Aber diese Überraschung
wirke sich nur minimal aus und führe in keinem Fall dazu, dass Kollegen
handlungsunfähig würden.81
Die drei übrigen Experten bestätigten in diesem Fall die Aussage der KFNStudie: Kolleginnen und Kollegen würden vielfach überrascht und zum Teil derart
geschockt, dass es zu einer Handlungsunfähigkeit komme.82
In Interview 3 schilderte der Experte Herr K. das „too- late- Syndrom“. Er
bezeichnete damit eine verspätete Bewertung, die Zeit koste und in letzter
Konsequenz zu einer Verletzung oder Tötung führen könne.
Das Beispiel des Herrn K. erscheint einleuchtend und wird aus diesem Grunde
hier wiedergegeben:
„Jemand geht mit dem recht starren Bild, es könne schon nichts passieren, in eine
Situation. Der Täter zieht eine Waffe. Der Kollege sieht das zwar, aber es passt
überhaupt nicht zu dem, was er im Kopf hat. Wenn er dann endlich zu der neuen
Bewertung kommt, dass er hier primär bedroht wird, hat er schon wertvolle Zeit
verschenkt, er ist in seiner Reaktion blockiert gewesen und in der Folge kassiert er
den ersten Treffer.“
Das Auseinandersetzen mit der Situation in der Situation führt zum „too- lateSyndrom“.83
Bei Ungerer wird das „too- late- Syndrom“ als amerikanischer Begriff für eine
fehlende Vorauskalkulation genannt.84 Jede Kultur hat ihre bestimmten
Vorstellungen und Tabus, wodurch es zu mentalen Barrieren kommt. So passiert
es auch in deutschen Krisenstäben, dass Tod und gewollte Vernichtung eher
80
Zeilen 50 und 380
81
Zeile 385
82
Zeile 745 ff; Zeile 1171 ff; Zeile 1587 ff
83
Zeile 757 – 764
84
Ungerer, 2003, S. 48 f
44
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
schlecht
vorstellbar
sind.
Dieses
gedankliche
Hindernis
ist
mit
der
Verfügbarkeitsheuristik zu erklären. Wir können uns noch immer, trotz der
terroristischen Anschläge seit dem 11.09.2001, nicht gut vorstellen, dass
Menschen bewusst und gewollt die Vernichtung anderen Lebens planen. Diese
Denkweise gehört nicht in die demokratische westeuropäische Welt. Mittlerweile
werden diese fremden Muster nicht mehr negiert, und die außergewöhnlichen
Lagen werden in den Stäben der Polizei sehr wohl vorgedacht. Hier wird dem
„too- late- Syndrom“ bewusst entgegengesteuert, und es werden Checklisten für
den Einsatz bei terroristischen Anschlägen erstellt.
Es bleiben aber auch unterhalb der Schwelle eines terroristischen Angriffes
Beispiele, wo die mentale Barriere, bedingt durch das Leben und Erleben der
eigenen Kultur, so hoch ist, dass bestimmte Situationen zu spät als Gefahr
bewertet werden. Das bekannte Verhaltensmuster „Ich schlage keine Frau, weil
sie sowieso schwächer als ich und damit keine Gefahr ist“ kann zu erheblichen
Verzögerungen in der Reaktion führen, wenn Angriffe auf einmal von Frauen
ausgehen.
Mit dem Begriff „too- late- Syndrom“ wird anschaulich erklärt, was durch eine
falsche Gefahrenkognition geschehen kann.
Die gedankliche Vorarbeit, das rechtzeitige Auseinandersetzen mit der Situation,
wurde in Interview 5 in einem anderen Zusammenhang erwähnt und auch hier als
von erheblicher Bedeutung hervorgehoben. 85
Herr W. schilderte eindrucksvoll, dass er seinen Studenten mit auf den Weg gebe,
sich frühzeitig damit auseinander zu setzen,
lebensbedrohlichen Situation verhalten wollten.
wie sie sich in einer
86
Zu den trainingsorientierten Fragen 6.1 bis 6.5:
Bei den trainingsorientierten Leitfragen 6.1 und 6.2 ging es darum, zu erfragen,
welche Zielgruppe wie trainiert wird und wie die Trainings auf die Echteinsätze
vorbereiten.
85
Zeile 1742- 1752 und 1614 ff
86
Zeile 1742- 1746
45
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Die Antworten sind erwartungsgemäß weit gefächert. Das Konzept des
Einsatztraining 24 (nachfolgend ET 24) für die Behörden, welches im Jahr 2006
eingeführt wurde, werde ich an dieser Stelle ausführen. 87
Der entsprechende Erlass des Landes Nordrhein - Westfalen ist in Anlage 2 zu
finden.
Gemäß der überholten Erlasslage mussten alle Polizeibeamtinnen und
Polizeibeamte in jedem Kalenderjahr dreimal zum Schießtraining. Die Trainings
unterschieden sich dabei in Art und Umfang für die verschiedenen Zielgruppen.
Weiterhin galt die Verpflichtung, einmal in drei Jahren an mindestens 24 Stunden
Grundtraining teilzunehmen. In den „Grundtrainings“, welche in jeder Behörde
anders
gestaltet
waren,
mussten
taktische
Komponenten
ebenso
wie
Einsatzkommunikation als Bestandteile auftauchen.
Das ET 24 hingegen sieht 24 Stunden Training pro Jahr für die Beamtinnen und
Beamten der Basis- Organisationseinheiten (BOE) vor.
Diese 24 Stunden werden auf vier Module mit jeweils sechs Stunden verteilt.
Diese Module werden von den BOE`en gemeinsam als Gruppe durchlaufen,
während vorher Beamtinnen und Beamte aus verschiedenen Dienststellen und
unterschiedlichen Arbeitsbereichen zusammen Seminare besuchten.
Vor dem ersten Modul treffen sich Trainer und Leiter der BOE, und der L/ BOE
trägt vor, welche Ziele er für seine BOE in diesem Jahr verfolgt. In den meisten
Fällen teilt er mit, dass es in einer bestimmten Situation zu bestimmten Defiziten
gekommen ist, die er im ET 24 trainiert wissen will.
Anhand der formulierten Ziele werden die Trainingsmodule konzipiert.
Im ersten Modul werden die Eingriffstechniken trainiert, die für den weiteren
Ablauf von Bedeutung sind. Die BOE nimmt an diesem Training gemeinsam mit
ihrem Vorgesetzten teil.
Im zweiten Modul werden bestimmte vorgegebene Standards, die im Modul 1
trainiert wurden, anhand so genannter Qualitätssicherungsbögen bei den
Teilnehmern abgeprüft. Bei Nichtbestehen soll nachtrainiert werden. Weitere
87
siehe auch Interview 3, Zeile 783- 810
46
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Konsequenzen werden nicht beschrieben, außer dass der Vorgesetzte die
gezeigten Leistungen in keinem Fall zu Beurteilungszwecken heran ziehen darf.
Im dritten Modul werden die erlernten Techniken in einem ganzheitlichen
Lagentraining in einen realistischen Kontext gebracht und noch einmal vertiefend
geübt. Damit wird der Problematik vorgebeugt, dass erlernte Sequenzen aus
Übungssituationen nicht in den polizeilichen Alltag transferiert werden können.
Das vierte Modul steht zum Schießen/ Nichtschießen zur Verfügung: Diese sechs
Stunden können je nach logistischer Kapazität auch in 3 x 2 oder 2 x 3 Stunden
geteilt werden.
Im Schießtraining muss von jeder Beamtin und jedem Beamten einmal pro Jahr
eine landeseinheitliche Übung (LÜHT 2) mit der Pistole ( P 99 ) geschossen und
bestanden werden. Bei einigen Beamtinnen und Beamten muss die Übung
zusätzlich mit der Maschinenpistole absolviert werden.
Nichtbestehen führt zu Wiederholungstrainings, die nicht mehr im Rahmen der
sechs Stunden abgeleistet werden müssen.
Dauerhaftes Nichtbestehen führt gemäß Erlass ET 24 dazu, dass die Beamtin/ der
Beamte bis zum Bestehen der Übung die Berechtigung zum Führen der
Dienstwaffe verliert.
Nach meinem Wissen ist es bisher zu keinem solchen Fall gekommen. In einem
Fall kam es zu fünfmaliger Intensivbeschulung. Im Jahr danach bestand derselbe
Beamte die Übung beim ersten Mal ohne Beanstandungen.88
Die Fortbildung hat sich demnach mit der Einführung und Umsetzung des
Konzeptes ET 24 verändert:
-
mehr Grundlagentrainings pro Einsatzkraft innerhalb eines Jahres
-
Überprüfung der Trainer in Gegenwart des Vorgesetzten, ob Erlerntes
umgesetzt werde kann (Modul 2)
-
Gemeinsames Training der Angehörigen einer Dienststelle/ einer BOE
-
Weniger Schießtraining: sechs Stunden, in denen Zeit für die
Durchführung der LÜHT geschaffen werden muss
88
Konsequenzen bei Nichterfüllung der Übung
Aussage des Experten K. für den Bereich einer Landratsbehörde
47
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Bei den Spezialeinsatzkommandos sehen die Fortbildungskonzepte anders aus.
Nach Bestehen eines Eignungstestes durchlaufen die Bewerber eine einjährige
Einführungsfortbildung, die bei einer zentralen Dienststelle, der Fortbildungsstelle
für Spezialeinheiten, durchgeführt wird.
In dieser Einführungsfortbildung werden die Bewerber mit den Standards des
Spezialeinsatzkommandos vertraut gemacht. Daneben wird größter Wert auf
körperliche Fitness gelegt.
Nach der Einführungsfortbildung werden die Polizeibeamten dem Kommando
zugeordnet, für welches sie sich beworben haben. Von den Bewerbern, die den
Einstellungstest
bestanden
haben,
schaffen
es
weniger
als
50%,
die
Einführungsfortbildung erfolgreich abzuleisten und anschließend tatsächlich in
das Kommando zu kommen.
Im Kommando ist vorgesehen, dass immer trainiert wird, wenn kein Einsatz ist.
Die
Trainings
haben
unterschiedliche
Schwerpunkte
(Sport,
Schießen,
Häuserkampf, Eingriffstechniken, Fast- Roping, etc.) und werden zum Teil
selbständig in den Kommandos durchgeführt.
Die Trainingsintensität und die Stundenanzahl sind demgemäß überhaupt nicht
mit dem ET 24 vergleichbar.
Die
Kommissaranwärterinnen
und
Kommissaranwärter
werden
im
fachpraktischen Teil der Ausbildung durch das LAFP NRW mit den Grundlagen
der Eingriffstechniken, der einsatzbegleitenden Kommunikation, dem Einsatz
ihrer Führungs- und Einsatzmittel, etc. vertraut gemacht. Diese Zielgruppe hat
während des ersten Aufenthaltes beim LAFP noch keinen praktischen
Diensteinsatz hinter sich, Vorkenntnisse sind allenfalls rudimentär vorhanden,
beispielsweise durch eine Schießausbildung bei der Bundeswehr.
Zum
Ende
der
Ausbildung
kommen
die
Auszubildenden
zu
einem
Abschlusspraktikum ein weiteres Mal in die Ausbildungsinstitute. Zu diesem
Zeitpunkt haben sie bereits erste Erfahrungen in den Behörden gesammelt.
In
den
einzelnen
Modulen
werden
die
Kommissaranwärterinnen
und
Kommissaranwärter zunächst mit einzelnen Techniken konfrontiert. Im weiteren
48
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Verlauf werden die Übungen ganzheitlicher und kompakter. Es werden nicht
mehr einzelne Segmente geübt, sondern bereits erlernte Segmente sollen in
praxisorientierten Lagentrainings umgesetzt werden.
Die Antworten der Interviews geben die Ausführungen zum Teil wieder.
In der Frage 6.2 wurde auch danach gefragt, wie trainiert würde, um zu erkennen,
in wie weit der praktische Alltag auch im Training angekommen ist.
In den Spezialeinsatzkommandos werden nicht, wie man vermuten könnte, nur die
Situationen geübt, in denen es zum schlimmsten Fall kommt. Ein wichtiger
Aspekt ist, die Trainingslagen nicht vorhersehbar zu machen. An einem
Trainingstag kann es also in der gleichen Ausgangslage zu unterschiedlichen
Verläufen kommen:
Die Grundaufgabe besteht darin, einen als gewalttätig bekannten Straftäter in
einer Wohnung festzunehmen. Bei einigen Übungsdurchläufen lässt sich der Täter
ohne Gegenwehr festnehmen und reagiert auf verbale Ansprachen, bei anderen
Durchläufen greift er die einschreitenden Kräfte mit einem Messer an, bei wieder
einem anderen Durchgang eröffnet der Täter das Feuer mittels FX- Waffen.89
Exkurs:
Bei den FX- Waffen handelt es sich um Waffen, mit denen Geschosse aus
gefärbter Seife verschossen werden. In NRW trainieren die Spezialeinheiten seit
vielen Jahren mit diesen Systemen. Ab dem Jahr 2002 wurden die FX- WaffenSysteme
auch
für
die
Fortbildungsstellen
der
Behörden
beschafft.’
Das Seifengeschoss verlässt die umgebaute Pistole mit einer Energie von 3,5
Joule. Trotz der geringen Energie kann es bei Treffern zu erheblichen
Verletzungen kommen (Auge, Kehlkopf,..) weshalb das Training nur mit
entsprechender Schutzkleidung zulässig ist.
Ein Treffer auf eine ungeschützte Körperstelle kann einen schmerzhaften Reiz
auslösen und ein Hämatom hervorrufen.
Bei den Waffen handelt es sich immer um Umbauten der Waffen, die von der
Zielgruppe auch benutzt werden. Dadurch wird der Umgang mit der Waffe in
Stresssituationen trainiert.
89
Zeile 59 ff
49
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Das FX- Waffen- Training kann unter bestimmten Voraussetzungen auch gemäß
des Erlasses ET 24 als Schiesstraining gewertet werden.
In der Landratsbehörde werden Situationen aus dem täglichen Dienstgeschehen
zur Trainingsgrundlage gemacht. 90 Dies erfolgt zum einen dadurch, dass der
Leiter der BOE mitteilt, was für einen Bereich er mit seiner BOE trainieren
möchte. Dieser Wunsch entsteht aus der Feststellung heraus, dass es in diesem
Bereich zu Defiziten gekommen ist, die in den Trainings aufgearbeitet werden
sollen.
Zum anderen erfragen die verantwortlichen Trainer Einsätze, in denen es brisant
wurde, und versuchen, diese in den Trainings nachzustellen.
Es werden also Konstellationen geübt, wie sie in der Realität bereits
vorgekommen sind.
Übereinkunft herrschte bei der Aussage, dass es unmöglich sei, alles in allen
Varianten zu trainieren. Es blieben immer Lücken, da nicht jedes erdenklich
mögliche Verhalten eines Täters oder potentiellen Angreifers vorgedacht werden
könne.
Mit den Fragen 6.3 und 6.4 wurde erfragt, wie in den Trainings auf
sicherheitswidriges und sicherheitsförderndes Verhalten reagiert wird.
Dabei war insbesondere entscheidend, wie mit sicherheitswidrigem Verhalten
umgegangen wird.
Das Prinzip der negativen Verstärkung könnte, hier angewendet, taktisches
Fehlverhalten unterstützen und fördern.
In allen drei Bereichen (Ausbildung / Behördentraining / SEK- Training) wird den
Teilnehmerinnen und Teilnehmern zurückgemeldet, wie sie sich in den
Übungssituationen verhalten haben.
Dabei schildern die Trainer den Teilnehmern ihre Beobachtungen, es wird auf
Gutes und weniger Gutes hingewiesen.
Die Teilnehmer haben die Möglichkeit, ihr Verhalten zu erklären, wenn sie
anderer Meinung sind.
90
Zeile 1207 ff
50
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Im Interview 1 (SEK- Trainer) wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass jedes
kritische Verhalten aufgegriffen werde. Auch würden die einzelnen Kollegen
namentlich angesprochen. Es ginge nicht um Schuldzuweisungen sondern darum,
durch konstruktive Kritik das Verhalten im Training und dadurch in der Echtlage
zu verbessern.91
Dieser Ablauf im SEK wurde durch Herrn R. bestätigt.92 Auch die konkrete
Nachfrage, ob in Einzelfällen eine negative Rückmeldung unterbleibe, wurde
verneint.93
Im Spezialeinsatzkommando scheint die negative Verstärkung, die zu einer
Häufung einer taktisch problematischen oder fehlerhaften Verhaltensweise führen
würde, nicht ausgeübt zu werden.
Um richtiges Verhalten zu fördern wird es positiv verstärkt. Hier spielt die
Ansprache des sicherheitsfördernden Verhaltens auch in der Gruppe eine
ausschlaggebende Rolle. Als positiver Reiz wirkt die Anerkennung durch die
Trainer und damit auch der Gruppe.
Verhalten, das als kritisch oder falsch eingeschätzt wird, wird immer
angesprochen. Diese Ansprache wirkt als negativer Reiz. Das Verhalten wird
dadurch weniger häufig gezeigt.
Der Begriff „Bestrafung“ ist negativ belegt. Erst nach weiteren Erklärungen
wurden auch negative Konsequenzen als Bestrafung benannt.
Diese gibt es jedoch in verschiedenen Formen:
Gruppendruck, fehlende Anerkennung, sichtbare und/ oder schmerzhafte Treffer
durch FX- Munition, „Straf“- Aufgaben wie Liegestütze.
Ein
belangvoller
Unterschied
zwischen
den
Spezialeinheiten
und
den
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten in den übrigen Organisationseinheiten
wurde in beiden Interviews mit den SEK- Trainern initiativ benannt:
Die Beamten dort haben keine gültige Zusage, bis zum Erreichen der Altersgrenze
im SEK bleiben zu können. Das Verweilen im Kommando ist eng mit den
Leistungen verknüpft, die alle erbringen müssen.
91
Zeile 109- 112
92
Zeile 392- 403
93
Zeile 405 f
51
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Bei Leistungsabfällen wird zwar die Chance zur Verbesserung gegeben; bleibt es
aber beständig bei schlechten Leistungen, oder sinkt die Stressfestigkeit über
einen nicht mehr überschaubaren Zeitraum, müssen die Beamten damit rechnen,
dass sie das Kommando verlassen müssen.94
Ein Spiegelbild dessen bei den „normalen“ Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten
existiert nicht.
Mit dem Erlass ET 24 wurde erstmals versucht, Konsequenzen für nicht erbrachte
Leistungen im Training aufzuzeigen. Für den Bereich des Schießens wird deutlich
gesagt, dass das Nichtbestehen der LÜHT 2 dazu führt, dass die Berechtigung
zum Führen der Dienstwaffe erlischt.
Bei Bekanntgabe des Erlasses im Jahr 2006 wurden Bedenken geäußert:
Gemäß der PDV 350 (Wachdienstordnung) müssen die Beamtinnen und Beamten
des Wach- und Wechseldienstes eine Dienstwaffe führen. Würde aus dieser
Zielgruppe jemand die Berechtigung zum Führen der Dienstwaffe verlieren,
dürfte er, in weiter gedachter Konsequenz, auch keinen Streifendienst mehr
versehen. Die Frage, ob dieser Beamte dann gegebenenfalls ein Dienstvergehen
begangen
haben
könnte
(Pflicht
zur
Aufrechterhaltung
der
eigenen
Leistungsfähigkeit) oder der Dienstherr verpflichtet werden könnte, für diesen
Fall eine angemessene Stelle zu schaffen, ist bisher nicht beantwortet.
Die Befürchtung einiger, dass es Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten geben
werde, welche die Übung absichtlich nicht bestehen würden, um aus dem
Schichtdienst heraus zu kommen, ist nicht erfüllt worden.
In den Fortbildungsstellen der Behörden wird den Teilnehmerinnen und
Teilnehmern der Trainings ebenfalls über „Feedbacks“ mitgeteilt, wo die
begleitenden Trainer Stärken und insbesondere Schwächen gesehen haben.
Die Schwächen werden konkret benannt, und auch hier haben die Trainierenden
die Möglichkeit, dazu Stellung zu nehmen.
Herr K., von der Fortbildungsstelle einer Landratsbehörde, machte ebenfalls
deutlich, dass kein Fehlverhalten unkommentiert bliebe95, so dass auch in der von
ihm trainierten Teilgruppe das von Musahl vermutete Konzept der negativen
94
Zeile 127 ff und 408 ff
95
Zeile 895 f
52
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Verstärkung nicht zum Tragen kommt. Allerdings bezog er diese Aussage
vornehmlich auf seine eigene Arbeit als Trainer.
Die Darlegung des Herrn M., dem zweiten Interviewpartner dieser Behörde,
verlief bis auf eine geringe Abweichung96 so ähnlich, dass anzunehmen ist, dass
die Feststellung, dass Fehlverhalten nicht unkommentiert bleibt, zumindest für
diese Fortbildungsstelle zutreffend ist.
Der Kursleiter Herr W. beantwortete diese Frage für sich und seine
Trainerkollegen, mit denen er schon Trainings durchgeführt hat, und bekundete
gleichermaßen, dass man als Trainer Fehler auch dann anspräche, wenn man es
bereits vorher mehrfach getan habe. 97
Somit kann abgeleitet werden, dass negative Verstärkung in der Aus- und
Fortbildung bei vorbildlichem Trainerverhalten keine Rolle spielt, wenn es darum
geht, ein fehlerhaftes oder gefährliches Verhalten abzustellen.
Im Interview mit Herrn M. wurde aber sehr wohl von negativer Verstärkung in
den Dienstgruppen gesprochen.98 Danach verzichteten Kolleginnen und Kollegen
in einigen Fällen untereinander auf Rückmeldungen, die auf ein Verhalten folgen
müssten, welches nicht eigensicherungsgerecht war.
Die Gründe dafür sind vielfältig:
-
Der junge, unerfahrene Beamte möchte dem älteren, erfahrenen einen
Fehler nicht vorhalten.
-
Der Dominanz und Kritikunfähigkeit ausstrahlende Beamte verbittet sich
eine Beanstandung.
-
Rahmenbedingungen
stehen
der
professionellen
Eigensicherung
kontraproduktiv gegenüber. So steht die Aufforderung, allein möglichst
viele PKW in kurzer Zeit anzuhalten, dem Anspruch entgegen, dass bei
einer PKW- Kontrolle zwei Beamtinnen oder Beamte jeweils ein Fahrzeug
gemeinsam anhalten, um sich gegenseitig zu sichern.
Bei den täglichen Arbeitsabläufen in den Organisationseinheiten spielt negative
Verstärkung demnach eine Rolle.
96
Zeile 1267-1268
97
Zeile 1793 f
98
Zeile 1287- 1301
53
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Fehlverhalten, Verhalten, welches im Sinne der Eigensicherung nicht optimal ist,
wird nicht gern und nicht häufig angesprochen. Der aversive Reiz des
Kritikgespräches bleibt aus. Damit wird das Verhalten, welches eigentlich
weniger häufig bis gar nicht gezeigt werden sollte, verstärkt.
Musahls Vermutung, dass negative Verstärkung der Arbeitssicherheit entgegen
steht, wird bestätigt.
Mit den folgenden Abbildungen 3 und 499 wird der Ablauf noch einmal illustriert:
Was ist die Folge sicheren Verhaltens?
Gefühl der Sicherheit
„Nichts“
Anstrengung
Zeitverlust
Verärgerung
Sicherheitsabstand wird
von anderen Fahrern als
„Lücke“ genutzt
Einhaltung des
Sicherheitsabstands hat
Auffahrunfall verhütet
Bestätigung des
sicheren Verhaltens
Keine Bestätigung des
sicheren Verhaltens
Misserfolg
Tendenz zur
Wiederholung
Keine Tendenz zur
Wiederholung
Änderung des sicheren
Verhaltens
Keine Bildung von
Gewohnheit
Erfolg
Bestätigung
Bildung sicherer
Gewohnheit
Festigung des
sicherheitswidrigen
Verhaltens
Bildung
sicherheitswidriger
Gewohnheiten als
Normalverhalten
Abbildung 3
99
Schmidt, Peter, 1983, S. 30
54
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Was ist die Folge sicherheitswidrigen Verhaltens?
Unfall
Beinaheunfall
Bequemlichkeit
Zeitgewin
Achtungserfolg
„Nichts“
Auffahrunfall als Folge
zu geringen
Sicherheitsabstandes
Kein Auffahrunfall obwohl
Sicherheitsabstand zu
gering
Misserfolg
Kein Misserfolg
Bestätigung des
Verhaltens
Änderung des
Verhaltens
Keine Änderung des
Verhaltens
Tendenz zur
Wiederholung
Tendenz zur sicheren
Gewohnheit
Weiter
sicherheitswidriges
Verhalten
Sicherheitswidrige
Gewohnheit
Abbildung 4
Das Beispiel bezieht sich auf sicheres Verhalten im Straßenverkehr, ist aber
denkbar
einfach
auf
die
Eigensicherung
im
täglichen
Dienst
von
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten zu übertragen.
In Abbildung 3 wird nach der Folge sicheren Verhaltens gefragt. Als sicheres
Verhalten ist zum Beispiel das Anhalten eines Pkw durch ein Streifenteam zu
bezeichnen, wenn eine bestimmte Sicherungsstellung100 eingenommen wird und
im Verlauf der Kontrolle eine Beamtin oder ein Beamter die Beobachtung der
Personen aufrecht erhält. Die Einsatzkräfte vermuten ihr sicheres Verhalten als
Ursache für das Ausbleiben von Übergriffen, ihr sicheres Verhalten wird dadurch
bestätigt. Es kommt zu einer Häufung des sicheren Verhaltens und zur
Ausbildung einer sicheren Gewohnheit.
Nimmt das eingesetzte Team keine Auswirkung ihres Verhaltens bewusst wahr,
wird das Verhalten nicht verstärkt.
100
Sicherungsstellung „Pkw“ aus dem Leitfaden 371
55
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Nimmt das Einsatzteam das Einnehmen der Sicherungsstellung „Pkw“ als
Anstrengung wahr, und es kommt außerdem zu einer Rüge der Führungskraft,
weil zu wenige Kontrollen durchgeführt wurden, wird das sichere Verhalten des
Teams bestraft und in der Folge weniger häufig gezeigt. Um nicht wieder einen
Misserfolg zu erleben, entscheidet sich das Team zukünftig für Einzelkontrollen.
Dieses Verhalten führt zu einer höheren Anzahl angehaltener Pkw, damit zu mehr
Verwarnungen und zu Lob vom Vorgesetzten, was als Erfolg und Bestätigung
empfunden wird. Hiermit wird das sicherheitswidrige Verhalten verstärkt, somit
gefestigt und langfristig zur Gewohnheit.
Bei der Abbildung 4 wird sicherheitswidriges Verhalten als Voraussetzung
angenommen. Um bei dem oben genannten Beispiel zu bleiben: ein Einsatzteam
führt Kontrollen von PKW einzeln ohne Absicherung durch. Als eine mögliche
Folge kommt es wegen der fehlenden Sicherung zu einem Angriff (Spalte 1).
Dieser offensichtliche Misserfolg des sicherheitswidrigen Verhaltens führt, so die
Theorie, zu einer Änderung des Verhaltens, im Idealfall zur Entwicklung einer
sicheren Gewohnheit.
Die negative Verstärkung findet sich in Spalte 2: Es erfolgt keine Reaktion auf
das sicherheitswidrige Verhalten, es kommt zu keinem Misserfolg. Es besteht
keine
Notwendigkeit,
das
Verhalten
zu
ändern.
Somit
wird
weiter
sicherheitswidriges Verhalten gezeigt.
Wie sicherheitswidriges Verhalten positiv verstärkt wird, ist der Spalte 3 zu
entnehmen: Die einzeln vorgenommenen Kontrollen können zu einer deutlich
erhöhten Anzahl kontrollierter PKW führen, die Wahrscheinlichkeit, Verstöße
festzustellen ist damit ebenfalls erhöht. Eine Vielzahl ausgesprochener
Verwarnungen, Zahlkarten oder positiver Alkoholkontrollenkontrollen wirkt als
Erfolg innerhalb der Dienstgruppe und wird durch den Vorgesetzten honoriert.
(Dies sollte voraussetzen, dass dem Vorgesetzten das sicherheitswidrige
Verhalten seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht bekannt ist.) In der Folge
kommt es zu Wiederholungen des sicherheitswidrigen Verhaltens, eine
sicherheitswidrige Gewohnheit bildet sich aus.
56
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
In
den
Interviews
3-5
(ohne
SEK) wurde
das
Medium Video als
Rückmeldemöglichkeit gleichermaßen positiv hervorgehoben.
Die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten tun sich offenbar schwer damit, eine
verbale kritikhaltige Rückmeldung zu akzeptieren. Teilweise werden Ausflüchte
und Erklärungen gesucht, teilweise sogar geleugnet, dass man etwas
Kritikwürdiges getan habe.
Die Experten äußerten sich dankbar für die Möglichkeit der Videorückmeldung:
dabei werden Trainings oder Trainingssequenzen aufgezeichnet und nach einer
minimalistischen verbalen Rückmeldung werden die Aufnahmen zusammen
angeschaut. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer können sich selber agieren
sehen und erkennen gemachte Fehler selbständig. Beim Nachtrainieren werden
diese erkannten Fehler deutlich seltener gemacht. Die Akzeptanz dessen, was sie
mit eigenen Augen gesehen haben, ist größer als das Vertrauen in die Aussage der
Trainer.
Die Frage 6.5 zum Anteil der Theorie- und Praxisanteile in der Fortbildung ist in
Teilen der übrigen Fragestellung bereits beantwortet worden. Abschließend kann
hier festgehalten werden, dass die theoretischen Parts in den Trainings außer in
der Ausbildung gering gehalten werden. Die Trainer sind zwar immer auch in der
Lage, Fragen zu beantworten, die sich in ethischer oder rechtlicher Hinsicht
während einer Übung ergeben, die rein theoretische Vermittlung von
Rechtsinhalten ist aber eher zu vernachlässigen.
Zu den Fragen 7.1 bis 7.5:
Unter dem Fragenkomplex 7 wurden die Themen Stress, Wahrnehmung unter
Stress und Angst behandelt. Insbesondere bei dem Begriff Angst herrschte eine
diffuse Annäherung an den Begriff vor.
Den Experten war erwartungsgemäß bekannt, wie sich Stress auf die
Wahrnehmung auswirken kann und inwieweit die Teilnehmerinnen und
Teilnehmer unter Stress geraten.
57
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Übereinstimmend wurde mitgeteilt, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer
zunächst eher stressfrei, im weiteren Verlauf aber auch unter Stress trainierten.
Weiter wurde unterschieden in Trainings, wo bereits der Einsatzanlass der Übung
als Stressor wirke wie bei Häuslicher Gewalt oder Lagen, in denen durch
bestimmte akustische oder optische Reize erst Stressoren entstehen.
Alle Experten erklärten, dass es auch Ziel der Trainings sei, den Beamtinnen und
Beamten zu ermöglichen, sich selber unter Stress zu erleben.
So können, wie in Kapitel 3.4 beschrieben, unterschiedliche körperliche und/ oder
kognitive Symptome auftauchen. Haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer
möglicherweise noch nie diese Symptomatik am eigenen Leib gespürt, und sie
geraten das erste Mal während eines Echteinsatzes unter Hochstress, so können
diese Symptome, weil sie unbekannt sind, wiederum den Stress verstärken.
Die meisten Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten sind im Laufe ihrer
Ausbildung oder auf Seminaren mit der Problematik „Wahrnehmen unter Stress“
konfrontiert worden. Oft ist ihnen demgemäß theoretisch bekannt, dass es zu
Einschränkungen kommen kann. Dennoch ist das theoretische Wissen kein Ersatz
für die selber erlebte Einschränkung.
Die Bedeutung von körperlicher Fitness wurde von den SEK- Trainern deutlich
stärker betont als von den übrigen Experten 101, wobei diese auf Nachfrage auch
angaben, dass eine gewisse körperliche Grundfitness als Baustein zur
Stressresistenz beitrage 102.
Regelmäßiger Sport trägt bekanntermaßen dazu bei, dass negative Auswirkungen
von Stress erst später auftreten als bei untrainierten Personen. Die Stressfestigkeit
von sportlichen Personen ist höher als bei unsportlichen. Wer fit ist, ist aber nicht
automatisch weniger anfällig für Stress, er ist lediglich in der Lage, diesen besser
zu bewältigen.
Jede Art von Sport trägt zum Stressabbau bei, da die im Körper frei gewordenen
Stresshormone durch körperliche Aktivität wieder abgebaut werden können.
101
Zeile 85 ff
102
Zeile 1025 ff; Zeile 1379 ff
58
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Insbesondere durch Ausdauersport wird ein positiver Effekt auf das HerzKreislauf- System ausgeübt, die Lunge kann mehr Sauerstoff aufnehmen, der
Blutdruck wird stabilisiert.
Ein geübtes Sportlerherz ist auch nach einer erheblichen Anstrengung schnell in
der Lage, wieder ruhig und langsam zu schlagen.
Der SEK- Beamte, der, mit Ausrüstung wie Schutzweste, Helm, Schild und
Ramme in der fünften Etage angekommen, schnell wieder ruhig atmen kann und
einen niedrigen Puls hat, hat mehr Kapazitäten frei, um das zu bewältigen, was
auf ihn zukommt.
In den Spezialeinsatzkommandos spielt Sport eine erhebliche Rolle und gehört
zum täglichen Dienst dazu, wenn nicht ein Echteinsatz die Kräfte bindet.
Den Beamtinnen und Beamten der Behörden stehen dagegen pro Monat zwei
Stunden zur Verfügung, in denen Dienstsport gemacht werden kann.
Umgerechnet ergeben sich also 30 Minuten pro Woche.
Die Beamtinnen und Beamten haben natürlich die Pflicht, sich fit zu halten,
müssen dies dann aber in ihrer Freizeit tun.
Während der Sport bei SEK- Beamten richtigerweise Bestandteil des Dienstes ist,
gehört er für die Beamtinnen und Beamten des Wach- und Wechseldienstes, der
Kriminalinspektionen, der Verkehrsdienste etc. nicht automatisch dazu.
Über den Sporterlass sollen nun verstärkt auch diese Kräfte in die Pflicht
genommen werden, sich körperlich fit und damit leistungsfähig und stressstabil zu
erhalten.
Die Antworten auf die Frage, was die Experten unter „Angst“ verstehen, waren
vielfältig.
Von der spontanen Äußerung, keiner sollte Angst haben 103, bis hin zu der
Feststellung, Angst sei auf jeden Fall vorhanden, keiner könne dies bestreiten104,
wurde ein breites Spektrum aufgezeigt.
In den Interviews konnte herausgearbeitet werden, dass jede Polizeibeamtin und
jeder Polizeibeamte Ängste kennt. Die Symptome, die durch Angst hervorgerufen
103
Zeile 185
104
Zeile 489 ff
59
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
werden, entsprechen den Stresssymptomen, denn Stress ist zunächst die
natürliche, automatische Reaktion auf eine mögliche Gefahr.
Demgemäß werden Körper und Geist in einen „Alarmzustand“ versetzt, der es
möglich macht, besser zu reagieren. Erst wenn die Angst übermächtig wird,
kommt es zu Einschränkungen wie unter erheblichem dysfunktionalem Stress.
Die Experten benutzten den Begriff „Respekt“105, um den positiven Aspekt von
Angst darzustellen. So sei Respekt vor jedem Einsatz notwendig, um diesen
Einsatz nicht zu unterschätzen.
Zu große Angst wurde mit dem Begriff „Panik“ belegt. In Panik seien keine
logischen Handlungen mehr möglich, der Geist blockiere, Handlungsunfähigkeit
sei das Resultat.
Diese Art von Angst wurde übereinstimmend als negativ bewertet.
Generell wurde Angst aber nicht ausschließlich als negatives Gefühl erfasst,
sondern auch als Gefühl, das zu einem Menschen dazu gehört. Dieses Gefühl
kann in brisanten Einsatzsituationen als Warnung aufgenommen werden und
dadurch zu mehr Aufmerksamkeit zwingen.
Die Begriffe Angst und Furcht konnten gut voneinander getrennt werden. So stellt
sich Furcht immer bezogen auf bestimmte Personen, Objekte oder Situationen dar,
während Angst eher unspezifisch ist. Mittlerweile haben sich Begriffe wie
„Flugangst“ oder „Angst vor großen Plätzen“ derart etabliert, dass sie, obwohl
falsch, zum Sprachgebrauch dazugehören.
In der Literatur wird Angst ebenfalls meistens als negativ bewertet. Füllgrabe
schreibt sogar, dass es falsch sei, Angst positiv zu bewerten. Wer Angst positiv
bewerte und dankbar dafür sei, weil es ihn in Alarmbereitschaft versetze, der habe
den Begriff nicht erfasst.106 Diese eher polemische Auseinsandersetzung kann nur
unter Fachleuten geführt werden. Der Gebrauch der Begrifflichkeiten unter Laien
im Alltag ist aber verbreiteter und damit ausschlaggebend.
105
U.a. Zeile 511
106
Füllgrabe, 2002, S. 140
60
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Wenn also selbst die Experten innerhalb der Polizei unterschiedliche Sichtweisen
zu dieser Thematik haben, muss davon ausgegangen werden, dass noch weitere
Auslegungen in der Zielgruppe existieren. Dieses sollte immer berücksichtigt
werden, wenn mit diesen Schlagworten umgegangen wird.
Respekt vor einer Situation, einer Person oder einem Einsatzanlass ist geeignet,
eine Unterschätzung der Gefährlichkeit zu verhindern. Wenn dann objektive und
subjektive Gefahr deckungsgleich sind, oder die Gefährlichkeit subjektiv höher
eingeschätzt wird als sie tatsächlich ist, kommt es gem. Abb. 1, Seite 11, nicht zu
einer gesteigerten Unfall, bzw. Angriffswahrscheinlichkeit.
Zu den Fragen 8.1 bis 8.7:
Im letzten Fragenkomplex sollten Möglichkeiten erarbeitet werden, wie man bei
der Polizei über „Beinahe- Unfälle“ oder „Beinahe- Angriffe“ berichten könnte,
um die Eigensicherung zu verbessern.
Der extrem hohe Nutzen, nämlich Sicherheit für die eingesetzten Kräfte, sollte,
wie ich vermutete, ein so großer Anreiz sein, dass eventuelle kleine
Unannehmlichkeiten nicht ins Gewicht fallen sollten.
Die Beantwortungen waren realistisch, aber entgegengesetzt. Bevor hier die
detaillierte Auswertung erfolgt, sei kurz zusammengefasst:
Die Experten halten es nicht für möglich, über eine anonym nutzbare IntranetPlattform über taktisches Fehlverhalten zu berichten, dass beinahe zu einem
Angriff geführt hätte.
Im Einzelnen ergaben sich folgende Erklärungen:
Alle Experten gaben an, dass sie sich als Teilnehmer und/ oder Leiter eines
Seminars mit anderen über Sachverhalte austauschten, die sie in der
Vergangenheit erlebt hätten. Durch diesen Austausch würden Thematiken
transparent gemacht und gegebenenfalls Problemstellungen aufgetan und erörtert.
In einem SEK werden die beteiligten Kräfte auch an der Nachbereitung des
Einsatzes beteiligt, so dass dort ein Austausch stattfindet.107 Je nach Standortgröße
107
Zeile 251 ff
61
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
ist es durch die Durchmischung eines Kommandos auch üblich, dass Kollegen
eines anderen Kommandos von aufgetretenen Fehlern oder Problemstellungen
erfahren und davon profitieren. 108
In den Behörden steuern auch die Fortbildungsstellen diesen Austausch in ihren
Seminaren. Dort berichten sie, ohne Angaben, die Rückschlüsse auf beteiligte
Personen zulassen, von Einsätzen, in denen es zu einer erhöhten Gefährdung oder
zu einem Angriff kam.109
Der bisherige Berichtsfluss beruht ausschließlich auf persönlicher Initiative.
Ein strukturierter Austausch, der über das zufällige Zusammentreffen von
Lehrgangsteilnehmern hinausgeht, existiert bisher, nach Aussagen der Befragten,
nicht.
Der Vorschlag, einen strukturierten Informationsaustausch anzustreben, kam bei
allen Experten positiv an.
Ein Experte des SEK schilderte, dass es regelmäßige Treffen der Fortbilder von
SEK`s gäbe. Dort würde man sich auch über Ländergrenzen hinweg zu Trainings
verabreden. Hier gebe es durchaus die Möglichkeit, einen Tagesordnungspunkt
einzubauen, indem innerhalb eines strukturierten Erfahrungsaustausches auch
oder insbesondere über Fehler diskutiert werde und diese zum Nutzen anderer
transparent gemacht würden.110
Die Leiter der Spezialeinheiten treffen sich ebenso regelmäßig. Auf diesen
Veranstaltungen
gibt
es
einen
ausgewiesenen
Tagesordnungspunkt
„Einsatzgeschehen“, den man als Einsatzleiter durchaus nutzen könnte, um
problematisch verlaufene Einsätze zu erläutern.
Hier käme es aber immer auf die Persönlichkeit des Einsatzleiters an, was und wie
viel er auf dieser Ebene anderen preisgeben wolle.
Erste Bedingung für das Schildern einer Gefährdung, die jedoch nicht zu einem
Schaden geführt hat, ist das Erkennen der Gefährdung. Wenn eine Polizeibeamtin
oder ein Polizeibeamter das positive Ergebnis eines Einsatzes als Bestätigung für
108
Zeile 562 ff
109
Zeile 1454 ff und 1845 ff
110
Zeile 619 ff
62
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
ihr oder sein Handeln nimmt, auch wenn nur durch Glück nichts passiert ist, ist
kein Bewusstsein für Fehler oder riskante Situationen vorhanden.111
Weiterhin werden Fehler oft billigend in Kauf genommen, um zu einem
Einsatzerfolg zu gelangen („solange es gut geht und der Beförderung dient“).112
Offensichtlich ist die Fehlerkultur innerhalb der Polizei nicht geprägt von dem
Grundsatz, dass man aus Fehlern lernen kann. Vielmehr stehen Befürchtungen im
Vordergrund, dass einem Fehler Konsequenzen folgen müssten.
Dies muss so sein bei einem Verhalten, dass strafrechtliche Relevanz zeigt, denn
polizeiliches Handeln muss rechtsstaatlich überprüfbar sein und bleiben; die
Überprüfbarkeit darf nicht zugunsten eines Lerneffektes zurückstehen.
Handeln und Verhalten, welches offensichtlich, auch ohne Prüfung eines
Staatsanwaltes, keinerlei strafrechtliche Konsequenzen nach sich zieht, könnte
folglich transparent gemacht werden.
Der Umgang mit Fehlern innerhalb der Polizei scheint problematisch, wie man
auch aus dem Rückmeldeverhalten der Trainingsteilnehmer schließen kann. Viele
geben nicht gern einen Fehler zu und versuchen, sich für ihr Verhalten zu
rechtfertigen. Des Weiteren haben viele Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte die
Befürchtung, dass ein zugegebener Fehler sie in einem schlechten Licht vor
Kolleginnen und Kollegen sowie vor Vorgesetzten dastehen lassen und zu
Nachteilen führen könnte. Die befürchteten Nachteile könnten sich in reduzierter
sozialer Anerkennung und sogar in einer schlechteren Leistungsbeurteilung
bemerkbar machen.113
Ein Interviewpartner gab an, dass er sehr wohl aus den Fehlern anderer lernen
könnte, und somit die gleichen Fehler nicht selber machen müsste.114
Allerdings befürchtete er, dass viele zu Überheblichkeit neigten und die Fehler
anderer für sich ausschlössen („mir wäre das nicht passiert,…“).115
Im Gegensatz dazu steht die Aussage eines weiteren Experten, welcher das eigene
Erleben von Fehlern höherwertig betrachtet als Erfahrungen aus zweiter Hand.116
111
Zeile 645 f
112
Ohlemacher/ Rüger/ Schacht, 2001, S. 32
113
Zeile 661 ff
114
Zeile 1077 ff
115
Zeile 1092
63
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Als Möglichkeit zu einem strukturierten Erfahrungsaustausch böte sich im
Zeitalter des Inter- und Intranets eine Intranetplattform an, die, aufgebaut wie ein
Forum oder ein Wiki, einen behördenübergreifenden Informationsaustausch, auch
anonym, ermöglichte. Unter einem Wiki (hawaiisch für „schnell“) versteht man
eine Sammlung von Webseiten, die von Nutzern gelesen und auch online
bearbeitet werden können.117
Obwohl also ein Austausch wünschenswert und erstrebenswert ist, stehen der
Einrichtung einer Intranet- Plattform viele vermutete Nachteile entgegen.
Über eine Intranetplattform könne keine wirkliche Anonymität zugesichert
werden, insbesondere nicht bei den SEK`s, die sehr genau wissen, welches
Kommando welchen Einsatz wahrgenommen hat.118
Die oben beschriebene Fehlerkultur behindert ebenfalls einen Intranet- Austausch.
Über das Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten
NRW (LAFP NRW) werden Foren im Intranet der Polizei NRW betrieben:119
-
Ein Forum für die geschlossene Benutzergruppe aller Trainerinnen und
Trainer des Landes NRW. Hier werden nur entsprechend fortgebildete
Trainerinnen und Trainer auf Anfrage freigeschaltet. Diese haben die
Möglichkeit, Themen zu eröffnen, sich über bestehende Themen
auszutauschen und Anfragen an andere Nutzer zu stellen. Dieses Forum
wird so gut wie nicht genutzt!
-
Ein
Forum
für
die
geschlossene
Benutzergruppe
der
Fahrsicherheitstrainerinnen und –trainer des Landes NRW. Auch hier wird
ein neues Mitglied erst auf Anfrage freigeschaltet. Der letzte Eintrag in
diesem Forum war von Dezember 2007.
116
Zeile 1488 ff
117
http://de.wikipedia.org/wiki/Wiki, Recherchedatum: 19.07.2008
118
Zeile 291 ff
119
http://pol1.lafp.polizei.nrw.de; Recherchedatum: 10.07.2008 über KPB Wesel
64
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
In beiden Fällen wird die Möglichkeit, sich behördenübergreifend, landesweit
über bestehende Konzepte, Ansprechpartner, Schwierigkeiten, etc. auszutauschen,
nicht oder nur sehr wenig genutzt.
Dem Kursleiter Herrn W. war das Forum völlig unbekannt, obwohl er zur
freischaltbaren Zielgruppe gehört.
Mit den Experten der Landratsbehörde sowie Herrn W. wurde erörtert, was für
Gründe es geben könnte, dass Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte eine
Intranetplattform nicht oder zu wenig nutzen würden.
Als Argument wurde zum Einen das Schlagwort „Reizüberflutung“ gebracht.120
So hätten die Kolleginnen und Kollegen bereits die Möglichkeit, sich über eine
Intranetseite über gefährliche Gegenstände oder Verstecke für Waffen zu
informieren.121 Zudem würden besondere Erkenntnisse über die Führungsstellen
an die Beamtinnen und Beamten gesteuert. Die Fortbildungsstellen druckten die
eingestellten Fotos oftmals aus und hängten sie an eine Infotafel im
Dienstgebäude.
So entstehe nicht der Eindruck, dass Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte sich zu
wenig informieren könnten.
Eine weitere Aussage, die eher zu Lasten der Polizeibeamtinnen und
Polizeibeamten geht, ist die zweimalige Feststellung, dass sich wohl eher die
informierten, die sowieso sensibel mit dem Thema Eigensicherung umgingen, und
die, bei denen es notwendig wäre, sich wenig um Informationen bemühten.122
Nur einmal wurde erwähnt, dass es auch ein Mehraufwand in der Alltagsarbeit
wäre, so ein Forum durch das Schreiben eigener Beiträge und das Lesen anderer
Beiträge mit Leben zu füllen. Dieser Mehraufwand wurde zwar kritisch
betrachtet,
aber
trotzdem
als
eines
der
Hauptargumente
gegen
Intranetplattform vermutet.123
120
Zeile 1466
121
Diese Intranetseite war am 10.07.2008 abgeschaltet. Recherche über KPB Wesel
122
Zeile 1495 – 1500 und Zeile 1874 - 1883
123
Zeile 1891 ff
65
eine
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten sind offensichtlich eher dann an
Eigensicherung interessiert, wenn sie für sich selber eine Betroffenheit erkennen
können. Eine persönliche Betroffenheit kann nicht nur durch eigenes Erleben,
sondern auch durch das Erleben einer bekannten Person entstehen, bzw. einer
Person, bei der man bestimmte Ähnlichkeiten zu sich selber feststellt.
Immer, wenn es zu einem Angriff auf eine Polizeibeamtin oder einen
Polizeibeamten gekommen ist, wird das Thema Eigensicherung verstärkt in den
Mittelpunkt des eigenen Tuns und Handelns gerückt.
Eine
neue
Intranetplattform
zu
erstellen,
ist,
den
übereinstimmenden
Ausführungen der Experten zufolge, nicht zweckmäßig. Sie würde nicht oder nur
wenig genutzt, der tatsächliche Nutzen, ob durch das Erfahren gefährlicher
Umstände Situationen weniger unterschätzt würden, wäre nicht messbar.
Der Aufwand, ein weiteres Forum zu erstellen, landesweit über dessen Existenz
und Sinn zu informieren und dieses Forum zu pflegen und zu betreuen, ist
erheblich. Der Nutzen scheint gering und nur für Einzelne vorhanden. Inwieweit
man
gegebenenfalls
die
Sicherheit
und
damit
Gesundheit
einzelner
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamter aber gegen den Aufwand aufrechnen darf,
ist auch eine Frage der Ethik. Um hier zu einer abschließenden Aussage zu
kommen, müssten die Meinungen von erheblich mehr Betroffenen ins Kalkül
gezogen werden.
5.2 „Tit- for- Tat“- Strategie
Der Interviewpartner Herr W. erwähnt die „Tit- for- Tat“- Strategie als Gegensatz
zur Deeskalationsstrategie.124 Die erstgenannte Strategie wurde auch von den
Interviewpartnern 3 und 4 in den Nachgesprächen zum Interview genannt. Aus
diesem Grund werde ich erläutern, um was es sich dabei handelt und den Begriff
der Deeskalation klarstellen:
Die Wendung „Tit for Tat“ bedeutet übersetzt „wie du mir, so ich dir“. Es soll ein
bestimmtes Verhalten beschreiben, welches man in der Interaktion mit einem oder
mehreren Beteiligten anwendet, um zum Erfolg zu kommen.
124
Zeile 1543 ff
66
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Konkret bedeutet es in einer polizeilichen Einsatzlage, dem Gegenüber zunächst
freundlich gegenüber zu treten, solange dieser auch freundlich ist. Ändert sich das
Verhalten des Anderen, und dieser wird aggressiv, muss darauf sofort angemessen
reagiert werden. Angemessen heißt in diesem Fall, dass nicht weiter mit
Freundlichkeit geantwortet wird, sondern sofort unmissverständliche Grenzen und
mögliche Konsequenzen aufgezeigt werden. Reagiert der Interaktionspartner
darauf, nimmt sich zurück und wird wieder ruhiger, muss die handelnde
Einsatzkraft ebenfalls wieder zu einem freundlicheren Tonfall zurückfinden.
Die Strategie geht also von einer grundsätzlichen Freundlichkeit aus, die
erforderlichenfalls aussetzen kann. Sie zeigt sich versöhnlich, macht eine erneute
Kooperation möglich und ist für das Gegenüber berechenbar.
Dass es einen Band der Schriftenreihe der Polizei- Führungsakademie mit dem
Titel „Deeskalation - Ein Begriff voller Missverständnisse!?“125 gibt, zeigt
deutlich, dass es sogar in der Führung der Polizei Schwierigkeiten gab und
vielleicht noch gibt, mit diesem Begriff umzugehen.
Im Interview 5 beschrieb Herr W., dass Deeskalation bedeute, auch dann noch
freundlich zu sein, wenn das Gegenüber bereits unkooperativ und/ oder aggressiv
sei.126 Diese
Aussage zeigt deutlich, wie der Begriff „Deeskalation“
missverstanden werden kann.
Zunächst sollte unterschieden werden in das Ziel „Deeskalation“ und
„deeskalative Maßnahmen“.127 Das Ziel ist mit verschiedenen Mitteln, auf
verschiedenen Wegen zu erreichen. Es soll erreicht werden, dass ein Konflikt
beigelegt wird. Über die Art und Weise der Zielerreichung, die einzelnen Schritte,
wird damit nichts ausgesagt.
Deeskalative Maßnahmen dagegen umfassen freundliches Verhalten, das
Vermeiden von Provokationen durch übermäßiges Zeigen starker Polizeikräfte
oder
deren
Ausrüstung,
das
Differenzieren
zwischen
friedlichen
Demonstrationsteilnehmern und denen, die die Versammlung von innen heraus
stören wollen, etc. Sie sollen, wie andere Maßnahmen auch, dem Ziel
„Deeskalation“ dienen.
125
Schriftenreihe der Polizei- Führungsakademie, 4/ 96, siehe auch Fußnote 124
126
Zeile 1547 ff
127
Schmalzl, Deeskalation, 1996, S. 16 ff
67
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Wenn alle beteiligten Konfliktparteien das Ziel haben, einen Konflikt zu
minimieren oder wenigstens zu stabilisieren, dann sind die o.g. Maßnahmen
geeignet, das Ziel zu erreichen.
Ist aber eine Partei nicht gewillt, das Ziel mit zu tragen oder hat gar
gegensätzliche Ziele, will vielleicht den gewalttätigen Verlauf einer Versammlung
erreichen, dann sind deeskalative Maßnahmen denkbar ungeeignet, das Ziel der
Konfliktminderung zu erreichen. Solches Verhalten wird oft als Schwäche der
Polizei gewertet und verstärkt möglicherweise gar die Bereitschaft zur Gewalt.
Das Zeigen starker Kräfte, die Helme und Schilde tragen, kann hingegen durchaus
dazu beitragen, potentielle Störer von ihrem Vorhaben abzubringen. Damit führen
auch Maßnahmen, die man nicht als deeskalativ ansehen würde, zum Ziel der
Deeskalation.
Selbst Wissenschaftler stolpern über diesen Begriff und lehnen Deeskalation als
Taktik gegen Bedrohungsszenarien strikt ab, weil sie lebensgefährlich sei.
Deeskalieren sei in den letzten Jahrzehnten das Allheilmittel, die Leitlinie
jedweden Handels der Einsatzkräfte gewesen und hätte zu frustrierten
Einsatzkräften, Misserfolgen und tödlich verlaufenen Einsätzen bei Polizei und
Militär geführt.128
Offenbar ist die Differenzierung in Deeskalation als Ziel und deeskalativen
Maßnahmen nicht allgemein bekannt. Aus diesem Grund wird Deeskalation
regelmäßig abgelehnt und für ein Zeichen von Schwachheit gehalten.
Als Fazit meiner Recherchen und aus eigener Diensterfahrung möchte ich das Ziel
Deeskalation deutlich als eigensicherndes Ziel dargestellt wissen: Die Absicht
jeder Einsatzkraft sollte es sein, den akuten Konflikt zu bewältigen, zu
minimieren oder zu stabilisieren bzw. eine Situation nicht erst eskalieren zu
lassen. Mit welchen Maßnahmen, deeskalativ oder sehr offensiv, dieses Ziel
erreicht wird, ist abhängig von den Gegebenheiten des Einsatzes und auch den
individuellen kommunikativen Fähigkeiten der eingesetzten Polizeibeamtinnen
und Polizeibeamte. Wird der Ausbruch eines Konfliktes verhindert, wird im
Regelfall auch die Ausübung von Gewalt verhindert, bei der Einsatzkräfte zu
Schaden kommen können.
128
Ungerer, 2007, S. 59
68
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Folgt man den Erklärungen von Schmalzl, stellt man fest, dass die Tit- for- TatStrategie nichts Unbekanntes oder Neues für die Polizei ist. Auch Maßnahmen,
die nach dem „Wie du mir, so ich dir“ - Prinzip durchgeführt werden, sind ein
Mittel, um zur Deeskalation beizutragen.
Sämtliches Handeln der Polizei muss auf Deeskalation ausgerichtet sein, das
entspricht ihrer rechtsstaatlichen Aufgabe. Damit ist nicht die politische
Auseinandersetzung und Lösung von Problemen wie Castor- Transporten, RechtsLinks- Demos, „unerwünschten“ Staatsbesuchen oder die Ausrichtung des G8Gipfels gemeint. Hier ist die polizeiliche Einsatzabwicklung vor Ort zwar
gehalten, eine Eskalation des Konfliktes zu verhindern, die Lösung des
grundsätzlichen Problems obliegt aber dem Staat.
6. Fazit
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Aus- und Fortbildung der
Polizei NRW wissenschaftlich fundiert arbeitet und dem hohen Anspruch an gut
ausgebildete Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte gerecht wird. Sowohl
Ausbilderinnen und Ausbilder sowie Trainerinnen und Trainer werden über einen
Zeitraum von bis zu 12 Wochen geschult und auf ihre neuen Aufgaben
vorbereitet.
Sie werden durch die Vermittlung der Fachdidaktik und Methodik der
Erwachsenenbildung in die Lage versetzt, diese Kenntnisse in die Konzeption und
Durchführung
von
Seminaren
und
Lehrgängen
einzubringen.
Die
Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhalten die Möglichkeit, vom Leichten zum
Schweren, vom Konkreten zum Abstrakten, in einer blamagefreien Zone zu üben
und zu lernen.
Die Anforderungen an Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte, auch unter hohem
Stress
einsatzfähig
zu
bleiben,
fließt
durch
die
Erfahrung
mit
der
Stressproblematik in die Übungen mit ein. Stress wird langsam gesteigert, und
somit wird die Möglichkeit geschaffen, stressresistenter für den Einsatz zu
werden.
Die Aussage Ungerers soll hier noch einmal dargestellt werden:
69
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
In einer geübten Standardlage gibt es bekannte Gefahren, Bedrohungsmomente
werden (wieder-) erkannt. Durch die Trainings und die Erfahrung kann diese Lage
abgearbeitet werden, ohne dass es zu Ausfällen durch Stress kommt.
Die außergewöhnliche Lage ist geprägt von unbekannten Bedrohungsszenarien,
von denen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten noch nie etwas gehört haben,
geschweige denn, dass sie eine solche Situation im Training erlebt haben. Sie
haben keine Erfahrung im Umgang mit der Lage und damit keinerlei
Bewältigungsstrategie.
In dieser Lage entsteht Hochstress, der zur Hilflosigkeit führt.129
So werden sowohl in den Spezialeinsatzkommandos wie auch in den
Fortbildungsstellen der Behörden Situationen geübt, die nicht nur dem praktischen
Alltag entsprechen, sondern deutlich darüber hinaus gehen. Um über ein sicheres
Verhaltensrepertoire verfügen zu können, müssen die Polizeibeamtinnen und
Polizeibeamtem also möglichst viele und unterschiedliche Lagen kennen und im
Training erleben.130
Orthodoxerweise ist es für ein ausgeprägtes Verständnis der Eigensicherung und
der Motivation
dazu problematisch,
dass viele Polizeibeamtinnen
und
Polizeibeamte noch keine Situation erlebt haben, in denen sie angegriffen worden
sind.
Der ärgste Feind der Sicherheitsarbeit ist die Realität, denn die Angriffe bleiben,
statistisch gesehen, eine Seltenheit.131 An dieser Tatsache orientieren sich aber die
Mitarbeiterinnen
und
Mitarbeiter
vielfach.
Der
Verfügbarkeitsheuristik
entsprechend werden Angriffe, die einem selber drohen, verneint oder zumindest
nicht als allgegenwärtig drohend empfunden. Es besteht somit keine
Notwendigkeit, die Sicherheitsarbeit in der Fortbildung als persönlich wichtig in
das eigene Verhaltensrepertoire aufzunehmen. Wenn Trainerinnen und Trainer
Situationen schildern, die irgendwann einmal zur Verletzung einer Polizeibeamtin
oder eines Polizeibeamten geführt haben, dann beschwören sie damit in erster
Linie die Reaktion, dass auf die Einmaligkeit dieser konkreten Lage, die schlechte
129
Ungerer, 2007, S. 88 ff
130
Meier- Welser/ Jäger, 1983, S. 8
131
Musahl, 1997, S. 101
70
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Einsatzabwicklung der Kollegen oder andere Umstände hingewiesen wird, die
deutlich macht, dass man selber ganz anders in dieser Situation gehandelt hätte.
In diesem Zusammenhang stellt sich ein höheres Dienstalter mit der damit
verbundenen langjährigen Erfahrung gleichzeitig als Chance sowie als Risiko dar.
Hat es in der Dienstzeit keine erlebten Angriffe gegeben und wird der tägliche
Dienst zur Routine im negativen Sinn, überwiegt das Risiko. Hier besteht die
Gefahr, dass die Einsatzkraft sich in falscher Sicherheit wiegt. Die Chance kann
aber ungleich größer sein: Mehrjährige Diensterfahrung bedeutet eine Vielfalt an
erlebten Real- und Trainingslagen; die Wahrscheinlichkeit, in einer völlig
unbekannten Lage agieren zu müssen, nimmt ab. Kommt nun das Bewusstsein für
die Wichtigkeit eigensichernden Verhaltens hinzu, wirkt dies nicht allein auf diese
Polizeibeamtin, diesen Polizeibeamten, sondern kann für jüngere Kolleginnen und
Kollegen Vorbildcharakter haben.
Vorgesetzte sollten in der Lage sein, sicheres Verhalten zu erkennen, zu
honorieren und weiter zu fördern. Führungskräfte tragen diesem Umstand
Rechnung, indem sie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht nach der Anzahl
ausgesprochener Verwarngelder beurteilen (siehe S. 54 ff dieser Arbeit).
Die Weiterentwicklung der Fortbildung in den letzten Jahren hat dazu geführt,
dass sich Einsatztrainings etabliert haben, die sich an schwierigen, gefährlichen,
sogar lebensbedrohlichen Situationen orientieren. 132
In der Ausbildung wird neben der Vermittlung von fachlicher auch soziale
Kompetenz gelehrt, was sich u.a. mit Kommunikationstrainings in der zentralen
und dezentralen Fortbildung fortsetzt.
Schmalzl weist 2003 zu Recht darauf hin, dass die Vermittlung von „situativer
Handlungskompetenz“
oder
auch
„Einsatzkompetenz“
noch
einen
untergeordneten Stellenwert einnimmt. In dem Begriff der Einsatzkompetenz geht
beispielsweise der Begriff „Gefahrenradar“ auf.
Meiner Erkenntnis nach tut die Organisation „Polizei“ alles dafür, dass ihre
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter möglichst sicher arbeiten können.
132
Schmalzl, Einsatzkompetenz, 2003, S. 41
71
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Von einer Ausstattung mit persönlich zugewiesenen Schutzwesten über neue
Waffen bis hin zu guter Dienstbekleidung bleiben wenige Wünsche offen. (Ein
Wunsch ist seit vielen Jahren die Ausstattung mit Digitalfunk.)
Auch wurde und wird meines Wissens nach ausreichend Gelegenheit gegeben, an
den Trainings der zuständigen Fortbildungsstelle teilzunehmen. In Einzelfällen
kann es beispielsweise durch Krankheit, Umsetzung/ Urlaub dazu kommen, dass
die Vorgaben des ET 24 nicht eingehalten werden können und eine Teilnehmerin
oder ein Teilnehmer in einem Jahr nicht die erforderlichen 24 Stunden trainiert.
Hierbei handelt es sich aber um vereinzelte Fälle.
In
den
Experteninterviews
und
weiteren
informellen
Gesprächen
mit
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten wurde erschreckenderweise angeführt,
dass es offenbar immer wieder auch Einsatzkräfte gebe, die Fortbildung für
überflüssig hielten und nur deswegen hingingen, weil es Pflicht sei. Selbst die
Anwesenheit von Vorgesetzten im Modultraining des ET 24 führe in einigen
berichteten Fällen nur zur oberflächlichen Teilnahme an den Trainings. Wenn
Trainerinnen und Trainer oder Vorgesetzte nicht anwesend seien, werde wieder
für
sich
erklärt,
dass
man
diese
Trainings
für
nicht
notwendige
Zeitverschwendung halte.
Hier stoßen die Organisation und auch die betroffenen Fortbilderinnen und
Fortbilder an eine Grenze, die sie nicht überwinden können. Erwachsene lernen in
den Bereichen am besten, aus denen sie für sich selber einen Nutzen ziehen
können.
Natürlich
versuchen
die
Trainerinnen
und
Trainer,
im
Sinne
der
Erwachsenenbildung alles dafür zu tun, die Motivation dieser Kolleginnen und
Kollegen für Eigensicherung auszuprägen. Aber nur wenn es ihnen gelingt, die
Einsicht für deren Nutzen zu fördern, wird es langfristig zu einer
Einstellungsänderung kommen.
72
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
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76
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Anlage 1
Interview Nr. 1, 12. Juni 2008
Experte: Herr B., Fortbilder der Führungsstelle eines Spezialeinsatzkommandos in
Nordrhein- Westfalen
Persönliche Daten:
Name:
Herr B.
Alter:
40 Jahre
Bei der Polizei seit:
1983
Beim Spezialeinsatzkommando seit:
1992
Abschrift der Kassetten 1 und 2:
1 I: In welchen Lagen kommt es deiner Erfahrung nach zu Gefahrensituationen für
2 die Kollegen (Anm. der Autorin: gemeint sind Angehörige des SEK)?
3
4 E: Grundsätzlich sind unsere Einsätze ja sowieso in einem Bereich, wo die Gefahr
5 immer da ist. Was den positiven Effekt hat, dass wir mit Eigensicherung ganz
6 anders umgehen. Wir gehen gut vorbereitet, gut ausgestattet, gut geschützt und
7 gegenseitig gesichert bei allen Lagen vor. Weil bei uns der Gefahrenpunkt ja
8 immer da ist.
9
10 I: Gibt es bestimmte Rahmenbedingungen, die eine Situation noch gefahrvoller
11 machen, als sie sowieso schon ist? Zum Bespiel Alkoholisierung?
12 E: Also, wenn man eine Lage reinbekommt, dann interpretiert die jeder einzelne
13 für sich noch mal etwas anders. Wenn ich zum Beispiel einen Zugriff bei
14 Zigarettenschmuggel habe, habe ich vielleicht eher Täter, die beim Zugriff
15 versuchen zu flüchten, und im Bereich Organisierte Kriminalität denkt man, dass
16 die Leute schon eher bewaffnet sind, also nicht flüchten, sondern eher zur Waffe
17 greifen.
18
19 I: Das sind dann Erfahrungen, die man in dem Bereich gemacht hat?
77
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
20
21 E: Ja, klar. Das sind Erfahrungswerte, die man im Lauf der Jahre macht und die
22 immer wiederkehren.
23
24 I: Sammelt ihr diese Erfahrungswerte? Wie werden die weitergegeben?
25
26 E: Die werden nicht schriftlich gesammelt, sondern wir machen vor jedem Einsatz
27 eine Einsatzbesprechung, wo die Lage vorgestellt wird und wo auch im Vorfeld
28 Gefahrenpunkte angesprochen werden. Da werden dann die Erfahrungen, die die
29 älteren Kollegen seit Jahren gemacht haben, weitergegeben und vor bestimmten
30 Sachen speziell gewarnt.
31
32 I: Du hast gesagt, jeder schätzt die Lage für sich selber ein,…
33
34 E: Ja, das ist ja ganz natürlich, dass jeder für sich eine eigene Einschätzung macht.
35 Es wird schon eine Einschätzung vorgegeben in der Einsatzbesprechung, und
36 jeder Einsatz für uns ist gefährlich oder kann gefährlich werden, und darum sollte
37 jeder schon mit dem nötigen Ernst und Gewissenhaftigkeit an den Einsatz ran
38 gehen. Aber je nachdem, was ich für eine Täterklientel habe, schätze ich das
39 persönlich für mich auch noch wieder ganz anders ein.
40
41 I: Gibt es Gefahrenmomente, in denen Kollegen sich davon überraschen lassen,
42 die sie als sehr plötzlich erleben?
43
44 E: Nee, wenn ich mich gewissenhaft mit dem Einsatz beschäftige und mich
45 vorbereite, werde ich von der Einsatzlage nicht überrascht. Vielleicht von der
46 Intensität des Täterverhaltens, aber grundsätzlich sollte ich mich auf den „worst
47 case“ vorbereitet haben. Das ist natürlich nicht immer leicht, weil selbst die
48 jungen Kollegen haben schon Einsatzerfahrungen gemacht und denken dann,
49 okay, das geht jetzt hier locker von statten, und wenn natürlich was Gravierendes
50 passiert, dann kann es natürlich sein, dass man da auch mal überrascht wird.
51
52
78
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
53 I: Spielt ihr das in euren Trainings auch durch? Du sprichst vom "worst case“;
54 versucht man im Training sich wirklich auch aufs Schlimmste vorzubereiten?
55
56 E: Unsere Taktiktrainings sind so aufgebaut, dass wir schon ein gemischtes
57 Training machen. Wir spielen nicht nur „worst case“- Situationen oder
58 hochkomplizierte Lagen durch, wir machen von allem etwas. Wir machen auch
59 Grundlagentrainings: z.B. macht man beim Häuserkampf ein paar ganz normale
60 Durchgänge, wo man ganz normal jemanden festnimmt, aber dann beim dritten,
61 vierten Durchgang greift der Täter auch mal zur Waffe und schießt, so dass man
62 in ein Feuergefecht gerät. Das wird natürlich auch trainiert.
63
64 I: Also ihr trainiert z.B. die Grundsituation „Festnahme eines Täters in einem
65 Gebäude“, aber mit unterschiedlichen Durchgängen, so dass auch jeder
66 Teilnehmer die Grundsituation auch mal unterschiedlich erlebt. So nach dem
67 Motto: es gibt nicht den Standard, dass es immer gut geht oder der Täter hat
68 immer eine Waffe.
69
70 E: Genau davon wollen wir ja auch wegkommen. Wir wollen einsatzreale
71 Trainings machen, und da kann es nicht sein, dass wir nur hochkomplizierte
72 Sachen üben, die draußen vielleicht einmal in drei Jahren vorkommen. Genauso
73 wenig wäre es richtig, ausschließlich die 08/ 15 Situationen durchspielen. Wir
74 mischen das durch, so dass die Teilnehmer vorher nicht wissen, was jetzt kommt.
75 Das ist realitätsnäher. Es kann ja auch passieren, dass aus einer ganz banalen
76 Sache ein hochkompliziertes Ding wird.
77
78 I: Was wird wie oft in welcher Form trainiert?
79
80 E: Wir trainieren immer, wenn wir nicht im Einsatz sind. Das Training ist sehr
81 vielfältig- das bedeutet, dass wir nicht nur Taktiktrainings machen. Wir haben
82 Schießtraining, Eingriffstechniken, Kletterausbildung, Abseilen, Fast- Roping83 Ausbildung. Fast jeder im Kommando hat seine Spezialfunktion, wo er sich dann
84 auch noch weiterbilden muss, also der Tag ist schon voll.
79
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
85 Sport kommt natürlich auch noch dazu. Sport ist auch dafür da, dass man sich
86 physisch soweit fit macht, dass man, wenn man dann im Einsatz ist, auch
87 psychisch gut arbeiten kann.
88 Komischerweise wohnen unsere Täter immer im obersten Stockwerk, niemals im
89 Erdgeschoß, und ich muss mit der ganzen Ausrüstung, mit Ramme, Schild u.s.w.
90 in den fünften Stock laufen, rammen, und dann muss ich so ruhig sein, der Puls
91 muss soweit unten sein, dass ich vernünftig arbeiten kann, die Situation
92 wahrnehmen kann, auch noch einen vernünftigen Schuss ansetzen könnte,…
93 Dafür ist Sport da, nicht nur zum Lückenfüllen. Das hat schon seinen
94 Hintergrund.
95
96 I: Wie meldet ihr im Taktiktraining zurück?
97
98 E: Wir bereiten grundsätzlich jeden Durchgang nach, das bedeutet, dass nach dem
99 Durchgang alle Beteiligten zusammenkommen, es wird kurz drüber gesprochen,
100 was gut war, wo wir Knackpunkte erkannt haben. Die Akteure, die Fortbilder, die
101 Multiplikatoren, der Kommandoführer, alle Beteiligten können und sollen sich
102 beteiligen.
103
104 I: Und wenn ihr feststellt, da war ein Knackpunkt zu erkennen, der im Ernstfall
105 dazu führen könnte, dass ein Einsatz in die Hose geht oder richtig gefährlich
106 wird? Beispielsweise Deckung nicht genutzt, Kollegen nicht richtig gesichert, wie
107 wird etwas nachbereitet, das schief gelaufen ist?
108 E: Grundsätzlich kann ja jeder Knackpunkt den Einsatzerfolg gefährden.
109 Deswegen wird jedes kritische Verhalten angesprochen. Auch namentlich, bei uns
110 müssen alle kritikfähig sein.
111 Es geht nicht darum, eine Person schlecht zu machen, sondern immer nur darum,
112 die Sache nach vorne zu bringen. Dann müssen alle Fehler angesprochen werden.
113 Manchmal sind es ja auch keine Fehler, sondern nur unterschiedliche Sichtweisen,
114 dass der Einzelne das anders gesehen hat als der Außenstehende, aber trotzdem
115 muss drüber geredet werden, weil es ja nicht nur den einzelnen weiterbringt,
116 sondern die ganze Gruppe, die zuhört, weil die natürlich auch aus den Fehlern von
117 anderen lernen kann.
118
80
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
119 I: Wie funktioniert das in der Gruppe?
120
121 E: Rückmeldungen in der Gruppe sind gewünscht. Nicht jeder kann alles sehen.
122 Und innerhalb der Gruppe nimmt man auch anders wahr als als Außenstehender.
123
124 I: Wenn jemand immer wieder Fehler macht, hat man da auch einfach irgendwann
125 mal keine Lust mehr, zurückzumelden?
126
127 E: Nein, das gibt es nicht. Fehler werden solange angesprochen, bis sie
128 ausgemerzt sind. Ganz konsequent. Und wenn ich jemanden habe, der absolut
129 neben der Spur läuft, mit dem kann ich ja keinen Einsatz fahren. Wenn es nach
130 mehreren Trainings immer wieder dazu kommt, aus welchen Gründen auch
131 immer, dass jemand nicht die Leistung bringt, die er im Kommando aber bringen
132 muss, dann muss man sich konsequenterweise auch von dem Mann trennen.
133
134 I: Das passiert auch tatsächlich?
135
136 E: Das passiert. Es ist auch nicht so, dass man, wenn man einmal im Kommando
137 ist, automatisch immer dabei bleibt.
138 Wir haben auch durch diese hohen Ansprüche Nachwuchsschwierigkeiten. Oft ist
139 es nicht mal die Hälfte von denen, die nach bestandenem Auswahlverfahren auch
140 die
einjährige
Einführungsfortbildung
durchhalten.
Da
sind
sicherlich
141 verletzungsbedingte Ausfälle dabei, die können dann ein Jahr später wieder
142 einsteigen. Aber es wird dabei auch ausgesondert.
143
144 I: Selbst wenn mal also schon einige Zeit im Kommando ist, kann es also
145 passieren, dass jemand gehen muss, weil seine Leistungen nicht mehr gut genug
146 sind?
147
148 E: Genau. Da kann man sich nicht zurücklehnen und glauben, jetzt könne man
149 bleiben, bis man die Altersgrenze erreicht.
150
81
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
151 I: Sowohl während der Ausbildung als auch später bei der Fortbildung spielt
152 Lernen mittels positiver Verstärkung eine Rolle. Wie ist es mit „Bestrafung“, also
153 im lerntheoretischen Sinne?
154 Da heißt Bestrafung, dass auf ein Verhalten, dass man nicht verstärken will, ein
155 negativer Reiz folgen muss.
156
157 E: Wenn mit Bestrafung auch negative Konsequenzen gemeint sind, dann ja, auf
158 jeden Fall. In der Ausbildung wird es zum Beispiel bestraft, wenn jemand beim
159 Schießen Patronen auf den Boden fallen lässt. Dieser Fehler wird gezählt, und
160 hinterher muss die ganze Gruppe versuchen, mittels Liegestütz oder ähnlichem
161 das Fehlerkonto wieder leer zu machen.
162 Im Kommandotraining wird über Kritikgespräche „bestraft“ oder auch durch den
163 Täter, der einen taktischen Fehler ausnutzt und darstellt, dass er denjenigen hätte
164 erschießen können.
165
166
167 I: In euren Trainings wird auch viel Stress aufgebaut. Wie macht ihr das?
168
169 E: Wir versuchen, realitätsnah zutrainieren. Mittlerweile haben wir ja auch FX170 Waffen, damit kann man schon mehr Stress erzeugen als beim Schießen auf
171 Pappscheiben. Und auch im Training wird alles das mitgeschleppt, was man auch
172 im Echtfall dabei hat.
173
174 I: Wie kann man die Kollegen für den Echtfall stressresistenter machen?
175
176 E: Zum einen gehört die körperliche Fitness dazu. Wie ich schon gesagt habe,
177 muss man auch noch einen guten Puls haben und Luft bekommen, wenn man im
178 5. Stock vor der Tür steht. Also Sport ist dazu ganz wichtig. Und in den Trainings
179 üben wir vieles, was so oder ähnlich auf die Kollegen zu kommen kann. Dann
180 haben sie diese Situationen schon mal erlebt und es ist nichts Unbekanntes mehr.
181 Das bringt auch Ruhe rein und erzeugt dadurch weniger Stress.
182
183
184 I: Was verstehst Du unter dem Begriff „Angst“?
82
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
185 E: Das ist ein großer Begriff. Angst sollte keiner von uns haben, aber sich mit
186 möglichen Szenarien vorher beschäftigen, darüber nachdenken, was passieren
187 kann, das sollte man schon. Davor sollte man auch Respekt haben, aber keine
188 Angst. Wenn ich Angst habe, dann blockiere ich mich.
189
190
191 I: Angst lähmt?
192
193 E: Angst lähmt, ja. Aber es ist schon so, dass man Respekt haben sollte. Wenn
194 man über die ganzen Sachen nachdenkt, die geschehen können, dann geht
195 natürlich der Puls hoch, wenn man vor einer Tür steht. Aber das würde ich nicht
196 als Angst bezeichnen. Vielleicht mal als mulmiges Gefühl. Der Puls wird höher,
197 man ist konzentrierter, man ist bei der Sache.
198
199 I: Passiert das nicht auch, wenn man Angst hat?
200
201 E: Ja schon, aber Angst ist das für mich nicht. Angst bedeutet für mich, nicht
202 mehr richtig einsatzfähig zu sein, gebremst und gelähmt zu sein.
203 I: Passiert so etwas im Training oder im Einsatz? Dass jemand nicht mehr
204 einsatzfähig ist, weil er Angst hat?
205 E: Das habe ich bei uns noch nicht erlebt. Dass einer aus dem Einsatzgeschäft
206 rausgenommen werden musste, weil er nicht mehr richtig funktionierte. Das
207 glaube ich nicht. Die ganze Ausbildung ist auch so aufgebaut, dass man die Leute
208 langsam an die schweren Lagen heranführt. Auch später in den Trainings
209 trainieren wir vom Leichten zum Schweren. So können sich die Kollegen an die
210 Situationen gewöhnen. Angst gibt es da dann nicht mehr.
211 Und man wird auch im Laufe der Jahre ruhiger. Je mehr man dann erlebt hat,
212 desto mehr kennt man auch. Ich kann mich an meine Anfangszeit erinnern, wo ich
213 auch mit Herzklopfen vor der Tür gestanden habe und mich gefragt habe, was
214 gleich wohl passiert. Das nimmt im Laufe der Jahre durch die Erfahrung ab.
215
216 I: Durch die Erfahrung, weil man gelernt hat, die Lagen zu bewältigen oder
217 dadurch, dass man schon viele solcher Lagen erlebt hat und dabei nichts passiert
218 ist?
83
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
219
220 E: Wahrscheinlich beides, wobei der zweite Punkt wieder sehr gefährlich ist. Man
221 kommt dann wieder in diesen Routinebereich rein. Wenn man dann aber geistig
222 so fit ist, dass man sich vor Augen hält, was passieren könnte, dann geht es auch
223 wieder.
224
225 I: Je mehr Erfahrung man hat, desto ruhiger wird man, desto eher kann man auch
226 immer wieder während des Einsatzes Szenarien vordenken, aber gleichzeitig
227 schleicht sich eben dadurch die Gefahr der Routine ein.
228
229 E: Solange ich da geistig dabei bleibe und weiter denke, kommt keine Routine
230 auf. Erst, wenn ich abschalte und sage, ich mache hier nur meinen eigenen Part,
231 dann bleibe ich nicht offen für unvorhergesehene Entwicklungen.
232
233
234 I: Prof. Dr. Musahl hat festgestellt, dass Menschen ihre Arbeit für subjektiv
235 ungefährlich halten, obwohl es immer wieder zu Unfällen kommt, die Tätigkeit
236 also objektiv gefährlich ist. Dann wurde fortlaufend über geschehene Unfälle,
237 aber auch über „Beinahe- Unfälle“ berichtet. Das führte dazu, dass die Arbeiter
238 ihre Tätigkeit nun auch aus eigener Sicht als gefährlich wahrnahmen und die
239 Unfallzahlen sanken.
240 Wird bei euch über „Glück- gehabt“- Situationen oder Situationen berichtet, in
241 denen es nur noch Zufall war, dass nichts passierte?
242
243 E: Das passiert ja auch bei uns, dass im Einsatz mal nicht alles optimal
244 abgearbeitet wird. Diese kleinen Fehler werden dann oft von den eigenen Leuten
245 wieder ausgebügelt. Im Training ist es auch so, dass jeder alles machen muss. Das
246 heißt, dass nicht namentlich festgelegt wird, wer was zu machen hat, sondern man
247 hat es auf die Position festlegt. Wenn also der zweite Mann eigentlich nach links
248 gehen müsste, geht aber nach rechts, dann muss der nächste so flexibel sein, dass
249 er die jetzt fehlende linke Position besetzt. Nicht starr auch nach rechts gehen.
250 Jeder muss also die Fehler des anderen ausgleichen.
251 Das sind aber auch Mängel, die in der Nachbereitung bearbeitet werden, das
252 bedeutet, es wird mit allen Beteiligten besprochen.
84
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
253 Auch wenn Fehler gemacht wurden, die der Täter dann glücklicherweise nicht
254 ausgenutzt hat, da wird drüber gesprochen.
255
256 I: Das wird dann im Kommando, bzw. mit den beteiligten Personen besprochen.
257 Aber würde das auch im gesamten Standort publik gemacht? Vielleicht
258 anonymisiert?
259
260 E: Nein, in erster Linie läuft das nur bei den Einsatzkräften. Nicht nur unter den
261 zweien, die vielleicht beteiligt warten, dann schon mit allen Beteiligten, aber nicht
262 im kompletten Dienststellenrahmen.
263 Es sei denn, es ist etwas Gravierendes passiert, dann würde die ganze Dienststelle
264 an der Nachbereitung beteiligt oder aber man würde die Problematik in der
265 gesamten Dienststelle thematisieren. Aber normale taktische Fehler, die passiert
266 sind, bleiben im Kommandorahmen.
267
268 I: Jetzt soll es ja nicht darum gehen, jemanden an den Pranger zu stellen und
269 öffentlich bloßzustellen, geschweige denn darum, ihm die Schuld dafür zu geben,
270 dass der Einsatzerfolg gefährdet wurde, weil er einen Fehler gemacht hat. Aber
271 könnte man es anonym verbreiten, welches Verhalten dazu geführt hat, dass es
272 nur noch Glück war, dass nichts passiert ist? Dann könnten doch andere daraus
273 lernen und diesen Fehler gar nicht erst machen.
274
275 E: Ja, zum Teil läuft so was auch. Es treffen sich ja immer wieder Leute aus
276 verschiedenen Kommandos und Standorten auf Lehrgängen. Und da wird auch
277 über die Einsätze und die Erfahrungen berichtet. Es findet schon ein interner
278 Erfahrungsaustausch statt. Da wird auch offen, zwar anonym, über Mängel und
279 Fehler gesprochen. Ein Einsatz wird vorgestellt, es wird über die Vorgehensweise
280 berichtet, es wird über Probleme informiert und wie man damit umgegangen ist.
281 Wenn die Kollegen so was dann hören, bringen sie es mit in den eigenen Standort
282 und so wird es rumgetragen und verbreitet.
283 Aber einen strukturierten Austausch gibt es nicht.
284
285 I: Wenn es möglich wäre, eine Intranetplattforn nur für SEK- Kräfte einzurichten,
286 wo anonym, mit einem Nicknamen, ohne hinterlegte Echtdaten, über solche
85
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
287 Glück- gehabt- Situationen berichtet werden könnte, meinst Du, dass so etwas
288 genutzt würde.
289
290 E: Ich weiß nicht. Ich fürchte nicht. Ich glaube nicht, dass es angenommen würde.
291 Diese Anonymität wäre einfach bei uns nicht gewährleistet. Die Standorte wissen
292 schon, wo welcher Einsatz gefahren wird, und damit wäre auch klar, in welchem
293 Kommando was passiert wäre.
294 Wir sind zwar eine „Gesellschaft“, in der schon recht offen mit Fehlern
295 umgegangen wird, auch standortübergreifend, aber ich glaube nicht, dass solche
296 Plattformen angenommen würden. Man stellt sich ja selber in einem schlechten
297 Licht dar. Und über die Lagebilder sind immer Rückschlüsse möglich, damit
298 würde wohl eher nicht offen und ehrlich über eigene Mängel und Fehler berichtet.
299 Da ist es schon gut, so wie es jetzt ist: wenn Fehler gemacht werden, spricht es
300 sich ohnehin rum, auch über den eigenen Standort hinaus. Dadurch können die
301 anderen Einsatzkräfte auch davon profitieren, in dem sie den gleichen Fehler nicht
302 machen.
303 Aber eine Plattform, in der Fehler eingestellt werden, würde meiner Meinung
304 nach nicht funktionieren.
305
306 I: Ich danke Dir für Deine offenen Worte und dafür, dass Du Dir Zeit für dieses
307 Interview genommen hast.
86
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Interview Nr. 2, 12. Juni 2008
Experte: Herr R., Fortbilder der Führungsstelle eines Spezialeinsatzkommandos in
Nordrhein- Westfalen
Persönliche Daten:
Name:
Herr R.
Alter:
45 Jahre
Bei der Polizei seit:
1981
Beim Spezialeinsatzkommando seit:
1992
Abschrift der Kassetten 3 und 4:
308 I: Gibt es bei euch im SEK bestimmte Lagen, die eine besondere Gefährlichkeit
309 beinhalten? Oder bestimmte Lagen, in denen es immer wieder dazu kommt, dass
310 Kollegen verletzt werden?
311
312 E: Die ad- hoc- Lagen. Unser großer Vorteil ist, dass wir normalerweise 100%
313 vorbereitet in den Einsatz gehen. Bei ad- hoc- Einsätzen gibt’s aber nicht immer
314 die Möglichkeit, alle Dinge abzuwägen, alle Möglichkeiten zu berücksichtigen, so
315 wie bei einer Langzeitlage oder bei einem entsprechend vorgeplanten Einsatz.
316 Zum Beispiel: morgen früh, 06:00 Uhr, Stubendurchgang. Da kann ich aufklären,
317 habe genügend Informationen. Das habe ich bei ad- hoc- Lagen nicht.
318 Schwierig sind Einsatzlagen mit psychisch kranken Gewalttätern, weil die
319 Reaktionen sehr schwer vorhersehbar sind. Das kann man schlecht kalkulieren.
320 Das ist ein Feld, wo ein großes Gefahrenpotenzial vorherrscht. Da ist zudem auch
321 das Spannungsfeld „das ist ja nur ein psychisch Kranker“ und z.B. dessen
322 abnormer Bewaffnung. Und es ist immer auch die ethische Frage, inwieweit ich
323 gegen einen Kranken Gewalt einsetzen darf.
324 Aus Gesprächen mit dem Wach- und Wechseldienst weiß ich, dass auch
325 Messertäter immer wieder stark unterschätzt werden. Der wird in der
326 Gefährlichkeit gar nicht so wahrgenommen. Viele Kollegen unterschätzen diese
87
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
327 Waffe „Messer“ und meinen, sie hätten doch mit der eigenen Waffe und
328 Pfefferspray die bessere Bewaffnung.
329 Gerade in der Nachbetrachtung von Einsätzen stellen wir fest, dass der Wach- und
330 Wechseldienst häufig selber agiert und versucht, die Lage zu lösen.
331
332 I: Könnte ein Messer ein Faktor sein, der unabhängig vom Einsatzanlass dazu
333 führt, dass eine Lage gefährlich ist?
334
335 E. Ja, Messer, ein psychisch Kranker. Das sind schon Bedingungen, die eine Lage
336 gefährlich machen.
337 Ich muss aber über die 16 Jahre, die ich jetzt dabei bin, auch feststellen, dass die
338 Hemmschwelle der Täter eine andere geworden ist. Heute hat man mehr
339 Handgranaten, Brandbeschleuniger, USBV im Einsatz.
340 Gerade selbst gebastelte Laborate, die noch nicht einmal vom Täter zielgerichtet
341 eingesetzt werden können, sind natürlich zusätzliche Gefahrenquellen. Und noch
342 mal: die Hemmschwelle sinkt.
343
344 I: Rahmenbedingungen, die einen Einsatz gefährlich machen, können also
345 bestimmte Waffen, Brandbeschleuniger, Beteiligung von psychisch Kranken sein.
346 Was ist mit anderen Ethnien?
347 E: Klar, es gibt da einfach Erfahrungswerte. In Sachen islamistischer Gewalt/
348 Aktivität haben wir es eh kaum mit Deutschen zu tun. Die Einsatzlagen in dieser
349 Richtung häufen sich aber bisher nicht, als das wir da jetzt schon wirklich etwas
350 zu sagen könnten. Gott sei Dank hatten wir die Lage wie Madrid bei uns noch
351 nicht.
352
353 I: Ich denke jetzt auch an osteuropäische Täter,..
354
355 E: …die sind eher im Bereich der Gewalttaten zuhause. Hier müssen wir
356 feststellen, dass sich diese Täter bei Festnahmen mit einer ganz niedrigen
357 Hemmschwelle auch eher mal gegen die Kräfte wenden als andere. Andere
358 Tätergruppen zeigen häufiger Fluchtverhalten, was für uns weniger ein
359 gefährliches Problem darstellt.
88
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
360 I: Du sagtest gerade, dass im Wach- und Wechseldienst häufig Messertäter
361 unterschätzt werden. Gibt es auch in den Kommandos Situationen, die
362 unterschätzt werden?
363
364 E: Eine Unterschätzung ist vielleicht denkbar. Beispielsweise, wenn man weiß,
365 dass ein Täter eine Kurzwaffe hat, der hat dann aber plötzlich eine Langwaffe.
366 Aber eigentlich hat man die Situation dann nicht unterschätzt, weil man diese
367 Information nicht hatte. Insofern glaube ich nicht, dass Situationen unterschätzt
368 werden.
369
370 I: Gibt es Situationen, Angriffe, die Einsatzkräfte als plötzlich und überraschend
371 erleben?
372
373 E: Ich erinnere mich an eine Lage, interessanterweise mit einem psychisch
374 kranken Täter, den wir insgesamt dreimal festgenommen haben. In den letzten
375 beiden Lagen ist es dem Mann gelungen, auf Kollegen einwirken zu können.
376 Einmal auf den Helm und einmal auf die Hand. Es kam in beiden Fällen nicht zu
377 Verletzungen. Wir sind auf den Einsatz vorbereitet gewesen, aber trotzdem war
378 man noch überrascht, weil er eine Sichel auf einen Besenstiel montiert hatte.
379 Irgendwann ist die Nähe so groß, wenn man kurz vor der Festnahme ist, dann ist
380 man natürlich noch einen Moment überrascht. Man steht vor der Tür, man
381 erwartet auch ein Messer und auf einmal steht der mit so einer Lanze da.
382
383 I: Wie wirkt sich die Überraschung dann aus?
384
385 E: Es ist minimal und führt auf keinen Fall zu Handlungsunfähigkeit. Die
386 Kollegen schalten ja nicht von Null auf Hundert.
387
388
389 I: Wie wird beim Training zurückgemeldet, wenn ihr z.B. Häuserkampf übt?
390
391 E: Nach jedem Durchgang kommen die Beteiligten zusammen, der Ausrichter des
392 Trainings äußert seine Wahrnehmung, und die Akteure können Stellung dazu
393 nehmen. Wenn etwas Gravierendes aufgefallen ist, wird es angesprochen und die
89
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
394 gleiche Situation wird noch mal geübt, solange bis der Durchgang taktisch
395 zufriedenstellend war.
396 Bei komplexen Lagen ist es so, dass wir nach der kompletten Übung in der großen
397 Runde zusammenkommen. Da sind alle dabei, die an der Übung beteiligt waren.
398 Der Hauptausrichter hat sich während des Trainings viele Notizen gemacht und da
399 wird auch wirklich Fraktur gesprochen. Da werden die Dinge so angesprochen,
400 wie sie sich zugetragen haben, da wird nichts beschönigt.
401 Da wird Tacheles gesprochen, egal ob einer 2 oder 10 Jahre dabei ist. Mist ist
402 Mist. Es bleibt bei sachgerechter Kritik, nicht ehrverletzend, aber es wird nichts
403 klein geredet.
404
405 I: Was ist, wenn jemand immer und immer wieder, trotz Ansprache, den gleichen
406 Fehler macht? Wird man da nicht müde, immer wieder dasselbe zurückzumelden?
407
408 E: Nein, diejenigen werden schlicht und einfach ausgesondert. Wenn sich bei
409 bestimmten Dingen taktische Mängel ergeben, dass also eine Taktik überhaupt
410 nicht oder nicht mehr beherrscht wird, dann ist es auch egal, wie lange der
411 Kollege schon hier ist. Er wird schon auf seine Defizite hingewiesen, dann gibt es
412 eine Probezeit, besser Beobachtungszeit, eine Zeit der Nachbesserung. Aber
413 irgendwann stellt man fest, dass keine Möglichkeit der Verbesserung sichtbar
414 wird. Wenn dann auch noch die Eigengefährdung oder Gefährdung anderer
415 Kollegen durch dieses taktische Fehlverhalten sehr hoch eingeschätzt werden,
416 dann muss da die Reißleine gezogen werden. Dann müsste der Kollege das
417 Kommando verlassen.
418 Da gibt es also niemanden, der fortlaufend schlechte Leistung bringen kann.
419
420 I: Ihr arbeitet also mit positiver Verstärkung. Und das System der „Bestrafung“
421 spielt eine Rolle, d.h. wenn ein nicht erwünschtes Verhalten gezeigt wird, folgt
422 eine negative Ansprache oder unmittelbar im Training wird eine Deckung nicht
423 genutzt, als Strafe folgt der Treffer durch FX- Munition.
424
425 E: Das wird auch schon als negativ erlebt, wenn ich als Einsatzbeamter getroffen
426 werde. Es gibt Situationen, wo ich eine exponierte Stellung habe, wo die Gefahr
427 einfach da ist, dass ich getroffen werde. Es gibt aber auch Situationen, wo ich
90
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
428 einfach zu tumbig war und dann getroffen werde. Bestrafung im Sinne der
429 Sozialkontrolle ist es auch, wenn einer mit einem total befleckten Anzug aus der
430 Übung kommt, und alle anderen haben saubere Overalls ohne Farbmarkierungen,
431 das empfindet man auch als Bestrafung. Aber nicht so negativ, dass man dadurch
432 an den Pranger gestellt würde. Gravierende, wirklich schwere taktische Fehler,
433 z.B. Tunnelblick, da wird auch entsprechend drauf reagiert. Vielleicht auch mehr
434 als in anderen Bereichen der Polizei, ganz sicher sogar.
435 Andere Fehler, Unachtsamkeiten, werden thematisiert und beobachtet, im
436 Hinblick auf die Frage, ob es eine einmalige Sache war oder nicht. Insgesamt darf
437 sich hier kein Mitarbeiter sicher sein, dass er hier eine Lebensanstellung oder
438 zumindest eine sichere Verwendung für die nächsten zehn Jahre hat.
439
440 I: In den Kommandos muss sich ja einer auf den anderen blind verlassen. Meldet
441 sich das Kommando auch selbstständig zurück, wenn etwas nicht in Ordnung
442 war?
443
444 E: Es erfolgen unmittelbare Rückmeldungen. Wenn im Einsatz etwas droht, schief
445 zu laufen, dann wird das unmittelbar zurückgemeldet. Nicht durch den
446 Einsatzleiter oder Kommandoführer, sondern sofort von dem, der es feststellt.
447 Auch in Übungen wird das so gehandhabt, wenn Übungsleitung/ Fortbilder nicht
448 dabei sind. Das kann auch mal ganz einfach ablaufen, indem einer den anderen
449 nach einem FX- Treffer fragt: „Na, was ist los? Bist Du tumbig gewesen?“ Das
450 reicht dann schon.
451
452 I: Es wird aber kein Fehler, kein falsches Verhalten unkommentiert gelassen.
453
454 E: Nein, das gibt es bei uns nicht. Wenn etwas bemerkt wird, wird es auch
455 angesprochen.
456
457
458 I: Stress spielt eine große Rolle, du hast gerade schon den Tunnelblick
459 angesprochen. Wie wird das Thema Stress in die Trainings integriert?
460
91
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
461 E: Durch die Übungsanlage glauben wir, dass wir zu einem frühen Zeitpunkt,
462 dahin kommen, wo der Teilnehmer nicht mehr zwischen Echtlage und Übung
463 unterscheidet. Durch die realitätsnahe Darstellung und einfach auch durch das
464 Einspielen von Situationen. Da kann sich der Einzelne nicht lange verstellen im
465 Sinne von „Ach, das ist ja jetzt eine Übung“ oder „das ist jetzt die Echtlage“. Da
466 erzeugen wir ganz schnell realitätsnahe Übungen.
467 Wir hoffen, durch diesen Realitätsbezug auch Stressstabilität für den Einsatz
468 herzustellen.
469
470 I: In den Übungen wird dann der „worst case“ trainiert, der dann hoffentlich
471 niemals eintritt?
472
473 E: Ja, aber wenn er denn eintritt, dann hat man das schon mal erlebt. Man hat ein
474 Handlungsmuster parat. Es gibt da ja verschiedene Möglichkeiten: Drilltraining
475 oder viele verschiedene Alternativen üben oder die Übung so schwer, so
476 hochkomplex zu gestalten, dass die Einsatzlage hinterher sogar etwas da drunter
477 liegt. Aber natürlich kann man niemals alles durchspielen und vorbereiten.
478
479 I: Und wie bekommt man es hin, dass die Einsatzkräfte stressresistenter werden?
480
481 E: Wir versuchen schon mit dem Auswahlverfahren Leute zu bekommen, die eine
482 gewisse
Stressfestigkeit
mitbringen.
Spätestens
aber
in
der
483 Einführungsfortbildung bei der FSE in Bork, wird ganz schnell festgestellt, ob die
484 Personen stressresistent sind oder ein hohes Maß an Stressfestigkeit haben.
485 Wenn man nach der Fortbildung in den ersten Echteinsatz kommt und steht vor
486 der Tür, dann ist es auch ganz normal, dass der Puls höher wird, dann ist das auch
487 mehr Stress als in der Übungslage. Das geht jedem so. Da sagt man demjenigen
488 schon hinterher, dass er angespannt war, dass er gequalmt hat, das wird für alle
489 reflektiert, dadurch wird der Jüngere aber auch integriert.
490 Wir trainieren aber auch deswegen sehr viel, damit hinterher die Echtlage gar
491 nicht mehr als die herausragende Situation gilt. Es sollte eher so sein, dass die
492 Kollegen durch die vielen Trainings eine ähnliche Situation erkennen, abgleichen,
493 das gelernte Handlungsmuster anwenden. Gestern Übung, heute Einsatz, das
494 Erregungsmoment ist dann einfach nicht mehr so hoch,
92
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
495
496 I: Was verstehst du unter dem Begriff „Angst“?
497
498 E: Angst ist absolut vorhanden. Oder ein wesentliches Merkmal eines jeden, gehe
499 ich mal von aus. Wer erzählt, er hätte noch nie Angst gehabt, das möchte ich mal
500 bezweifeln. Es wird dann ein Problem, wenn das Angstgefühl lähmt, ich muss es
501 einfach ausblenden. Es gibt ja verschiedene Ängste, ich zum Beispiel habe zwei
502 kleine Kinder, da habe ich schon Angst, dass ich mal nicht mehr nach Hause
503 komme. Das ist eine Angst, die latent da ist, die ich aber bei der Arbeit
504 wegblende. Die Grundangst ist vielleicht da, aber die Angst im Einsatzfall oder im
505 konkreten Moment ist nicht da. Zumindest sollte sie dann nicht mehr da sein. Erst
506 recht darf sie nicht dazu führen, dass sie lähmt. Wenn das eine lähmende Angst
507 ist, dann ist es auch ein Problem.
508
509 I: Macht Angst auch aufmerksam?
510
511 E: Vielleicht ist der Begriff Respekt besser. Angst ist doch schon eher negativ
512 besetzt und Angst kann halt auch lähmen.
513
514
515 I: Prof. Dr. Musahl hat festgestellt, dass Menschen ihre Arbeit für subjektiv
516 ungefährlich halten, obwohl es immer wieder zu Unfällen kommt, die Tätigkeit
517 also objektiv gefährlich ist. Dann wurde fortlaufend über geschehene Unfälle,
518 aber auch über „Beinahe- Unfälle“ berichtet. Das führte dazu, dass die Arbeiter
519 ihre Tätigkeit nun auch aus eigener Sicht als gefährlich wahrnahmen und die
520 Unfallzahlen sanken.
521 Wird bei euch über „Glück- gehabt“- Situationen oder Situationen berichtet, in
522 denen es nur noch Zufall war, dass nichts passierte?
523
524 E: Ich kenne schon Situationen, in denen man einfach nur noch Glück gehabt hat.
525 Wenn man diese Situationen realisiert als „Glücksfall“, ist man schon einen
526 Schritt weiter. Wenn man aber sagt, das Ergebnis stimmt, der Weg dahin war eben
527 von Glück geprägt, ich ignoriere das aber, dann habe ich schon ein Problem.
93
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
528 Ich glaube schon, dass bei uns auch realisiert wird, wenn nur noch Glück oder
529 Zufall gezählt hat. Klar gehört auch manchmal Glück dazu. Wo eben kein Glück
530 dazu gehören darf, das ist das handwerkliche Arbeiten. Einsatzerfolg kann ja von
531 vielen Dingen abhängen, aber im Prinzip muss ich bei handwerklichem Arbeiten
532 nicht auf Glück bauen, dann hab ich ein Problem, dann hab ich einen Fehler
533 gemacht. Ich glaube schon, dass das auch hier Realität ist.
534
535 I: Ja, dass das im eigenen Kommando transportiert wird. Aber auch darüber
536 hinaus? Also, würde es auch ein anderes Kommando im eigenen Standort
537 erfahren, so nach dem Motto, oh, da ist was schief gelaufen…
538
539 E: Ja, im eigenen Standort ja. Wir sind ein relativ kleiner Standort, was die
540 Personzahl angeht. Dadurch haben wir eine große Vermischung von Gruppen. In
541 den Standorten, die die Maximalzahl weitestgehend erreicht haben, arbeiten die
542 Kommandos die Einsätze etwas autarker ab. Wir mischen recht viel, d.h. aus allen
543 drei Einsatzkommandos wird eine Einsatzgruppe zusammengestellt. Insofern ist
544 bei uns so eine Durchmengung, dass schon die meisten Kräfte Fehler
545 mitbekommen.
546 Ich glaube, für diesen Standort sagen zu können, dass wir offen damit umgehen
547 und nicht, von Corpsgeist getrieben, Dinge verschwiegen werden.
548 Was ich schon manchmal feststelle, dass so eine Transparenz zwischen den
549 Standorten im Lande nicht immer gegeben ist. Oder zumindest nicht immer
550 gleichmäßig gegeben ist. Wenn Einsatzleiter sich zum Erfahrungsaustausch
551 treffen, ist es natürlich davon abhängig, ob der einzelne Einsatzleiter seinen
552 Einsatz preisgibt und wie er ihn letztendlich darstellt.
553 Ich würde mir zum Beispiel wünschen, dass man insgesamt übers Land und sogar
554 darüber hinaus mal guckt, wo es Einsatzlagen gab, in denen sich Probleme
555 ergeben haben, um einfach auch davon zu lernen und einfach auch den Kollegen
556 mit auf den Weg zu geben, da ist was gewesen, da hätten wir noch intensiver
557 vorbereiten müssen, das war jetzt wirklich ein Glücksfall im klassischen Sinne.
558 Da würde ich eigentlich noch erwarten, dass man sich da noch intensiver
559 austauscht, mit allen Schwierigkeiten.
560
561 I: Okay, du hast gesagt, im Standort selber, funktioniert das halbwegs…
94
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
562 E: Ich würde sagen gut, im Standort hier funktioniert das gut. Klar, dass mal das
563 ein oder andere untergeht, dass nicht jeder einzelne Beamte von jeder Situation
564 alles erfährt, das kann ich jetzt auch nicht unterschreiben, aber insgesamt ist hier
565 schon eine gute Transparenz.
566
567 I: Aber dass es jetzt so einen strukturierten Austausch, standortübergreifend, gibt
568 würdest du dir schon wünschen?
569
570 E: Ja, absolut.
571
572 I: Die Möglichkeit, eine anonyme Plattform im Intranet, zu so einem Austausch
573 einzurichten,…könntest du dir vorstellen, das würde genutzt?
574
575 E: Nein! Ich glaube auch einfach, weil alle Sachen in Schriftform, die so
576 hinterlegt sind, da hat man die Schwierigkeit, im Einzelfall, weil es ja häufig auch
577 komplexe Dinge sind, die kann man ja vielleicht gar nicht so darstellen. Davon
578 mal abgesehen: die Rückverfolgbarkeit, wenn ich weiß, welches Kommando in
579 der Einsatzlage da war, dann ist das ja auch nicht mehr anonym.
580
581 I: Gut, aber im Wach- und Wechseldienst wäre das mit der Rückverfolgbarkeit
582 wahrscheinlich nicht so gegeben.
583
584 E: Wenn ich jetzt so einen Fehler nehme, wie: im entscheidenden Moment hatte
585 ich meine Waffe nicht durchgeladen, …..
586
587 I: Das würde ich doch nicht nach außen tragen wollen, oder?
588
589 E: Den würde man sicherlich nicht nach außen tragen wollen, aber wenn das
590 tatsächlich, da bin ich ganz sicher, wenn das zu einem Misserfolg geführt hat,
591 oder das Bestandteil einer Situation war, die gravierend war, dann würde man das
592 auch nach außen tragen. Die Frage ist natürlich, wenn das nicht gravierend für den
593 Einsatzfall war, es ist aber im Standort passiert, dann würde ich ja nicht irgendwo
594 und überall erzählen, dass da einer seiner Waffe unterladen hatte.
595
95
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
596 I: Wie könntest du dir so einen strukturierten Austausch denn vorstellen?
597
598 E: Hmm, da hab ich auch schon drüber nachgedacht. Im Prinzip versuchen wir,
599 einfach im Hause eine Transparenz herzustellen. Die Fortbilder sollen bei den
600 Einsatznachbereitungen immer dabei sein, um mit zu hören, wie ist es im Einsatz
601 gelaufen, vielleicht auch Fehlerquellen zu erkennen, wo ist es unrund gelaufen,
602 wo sind auch positive Dinge, natürlich um einfach auch eine Rückmeldung zu
603 haben. Im Prinzip könnte das schon die Plattform sein, die Fortbilder des Landes.
604 Dass die eben regelmäßig einen Austausch pflegen, im Sinne von Bewerten von
605 Einsatzlagen, die sie vielleicht selber nicht all erlebt haben, aber sie können davon
606 berichten, dass….es da und da Knackpunkte gegeben hat. Das wäre für mich ein
607 Forum, wo eben auch Praktiker mit dabei sind, die den anderen das auch
608 entsprechend mitteilen.
609
610 I: Ich glaube auch, dass Fortbilder deutlich machen können, dass es ihnen um eine
611 andere Art von Fehlerkultur geht. Es geht eben nicht darum, dem X vorzuwerfen,
612 was er falsch gemacht hat, sondern den Fehler des X darzustellen, damit der Y ihn
613 nicht auch noch macht. Ohne Schuldzuweisung im Nachhinein.
614
615 E: Ganz genau.
616
617 I: Gibt es das schon, dass die Fortbilder sich regelmäßig treffen?
618
619 E.
Wir
treffen
uns
regelmäßig,
aber
eigentlich
um
Jahrestaktiken
620 durchzusprechen. Also weniger, um Einsatzlagen nachzubereiten.
621 Es gibt verschiedene Foren, wir sind selber zum Beispiel im XXX- Verbund (die
622 bestimmten Bundesländer, die Standorte X und Y), da kann ich auf jeder
623 Fortbildertagung meine Einsätze vorstellen. Das werden sicherlich auch mal
624 Einsatze vorgestellt, wo man auch eingesteht, dass man da Glück gehabt hat.
625 Das war ein oder zweimal im Jahr. Da hätte ich mit Zeitverzug schon die
626 Möglichkeit zu sagen, uns ist das und das passiert.
627 Auf Landesebene gibt es eigentlich zu diesem speziellen Thema eigentlich kein
628 Forum. Oder zumindest keinen eigenen Termin, sagen wir so. Obwohl wir uns
629 schon, wie gesagt, zweimal jährlich treffen. Aber ein eigenes Forum, so nach dem
96
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
630 Motto: wir schmeißen mal alle Einsätze in eine Pott, wir stellen mal alle Einsätze
631 vor, die vielleicht von der Norm abweichen, gibt’s nicht.
632 Gleichwohl haben die Leiter SE bei jeder Leiter SE- Tagung auch einen
633 Tagesordnungspunkt „Einsatzgeschehen“, da könnte sicherlich auf diesem Wege
634 auch was transportiert werden.
635
636 I: Für mich ist aber dann die Frage, wie viel kriegt Führung tatsächlich mit? Was
637 wird alles vorher gefiltert? Einiges, was im Kommando passiert, kriegt vielleicht
638 noch gerade der Fortbilder mit, aber einiges bleibt auch im Kommando.
639 Ich glaube, es wäre nicht schlecht, wenn man die Führung da einfach mal raushält.
640 So offen und so deutlich wie im Kommando gesprochen wird, redet man doch
641 eher nicht mit dem Vorgesetzten außerhalb des Kommandos.
642
643 E: Da stimme ich dir zu. Ich wollte nur sagen, dass es auf dieser Ebene eine
644 Austauschmöglichkeit gibt.
645 Ich glaube, dass es in der allgemeinen Polizei gar nicht immer so realisiert wird,
646 wenn man einfach nur Glück gehabt hat. Oder das es auch verdrängt wird.
647 Ich glaube, dass es bei uns schon eher realisiert wird.
648 Es hat ja auch Einsatzlagen gegeben, die nicht optimal umgesetzt wurden, wo die
649 Nachbereitung suboptimal war und
wo dann auch Mitarbeitern erstmal das
650 vertrauen entzogen wurde, klar. Weil da vielleicht dann auch eine mangelnde
651 Offenheit war.
652
653 I: Das scheint ein Problem in der Polizei insgesamt zu sein, diese Fehlerkultur:
654 Es wird immer rückwirkend einer Person ein Fehler vorgeworfen, der ist dann
655 schuld, statt zu sagen, okay, du hast einen Fehler gemacht, und wie können andere
656 davon in der Zukunft profitieren und wie kann man davon lernen, wie kann man
657 damit umgehen.
658
659 E: Ja, das müsste man vertreten, der Meinung bin ich auch. Aber es hat ja immer
660 auch zwei Seiten, vielleicht kann ich einen bestimmten Fehler gar nicht
661 preisgeben, weil ich mit erheblichen Repressalien rechnen müsste. Es gibt halt
662 welche, die sofort nach einem Fehlgriff sagen: Danke, das war`s.
97
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
663 Je nach Verhältnis mit der Führung, kann es auch schon mal eher dazu kommen,
664 lieber einen Fehler zu verschweigen.
665
666 I: Ich danke Dir dafür, dass Du mir einen Einblick in eure Arbeit ermöglicht hast.
98
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Interview Nr. 3, 13. Juni 2008
Experte: Herr K., Trainer (Integrierte Fortbildung, Einsatztraining 24,
Fahrsicherheitstrainer) bei der Fortbildungsstelle einer ländlichen KPB in
Nordrhein- Westfalen
Persönliche Daten:
Name:
Herr K.
Alter:
42 Jahre
Bei der Polizei seit:
1991
Bei der Fortbildungsstelle seit:
2004
Abschrift der Kassetten 4 und 5:
667 I: In welchen Lagen kommt es deiner Erfahrung nach zu Gefahrensituationen für
668 die Kollegen?
669
670 E: Ich bin der Meinung, dass es grundsätzlich in jeder Lage zu
671 Gefahrensituationen kommen kann.
672 Die Lage alleine ist dabei die eigentliche Reizsetzung.
673 Es ist egal, in welcher Lage ich Kontakt zu einer Person habe, ob beim Anhalten
674 eines Fahrzeuges oder in einem Fall von häuslicher Gewalt. Es geht um den
675 Kontakt mit einer anderen Person.
676 Ich muss in jeder Situation damit rechnen, dass der Einsatzverlauf eine Richtung
677 nimmt, die gefährlich wird.
678 Ich muss immer auf Eigensicherung ausgerichtet sein und alle Antennen wachsam
679 auf Empfang haben.
680
681 I: Meinst Du, es gibt Lagen, die typischerweise von den Kollegen unterschätzt
682 werden?
683
684 E: Ich glaube, dass die Kollegen vielfach überhaupt nicht damit rechnen, dass
685 etwas passieren könnte. Das Gefahrenradar ist überhaupt nicht auf Empfang. Es
99
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
686 ist ja auch über viele Jahre immer gut gegangen. Dabei ist es egal ob zwei oder
687 fünf oder 15 Jahre. Es kommen ja auch neue Generationen nach, die von dem
688 Erfolg der Älteren lernen. Also haben selbst junge Kollegen den Erfahrungswert
689 „es ist noch immer gut gegangen“ von den dienstälteren Kollegen für sich
690 übernommen. Daraus folgt, dass die Kollegen annehmen, diesen Bereich
691 vernachlässigen zu können. Das ist meine Einschätzung, wie es dazu kommt, dass
692 Eigensicherung vernachlässigt wird.
693
694 I: Gibt es bestimmte Rahmenbedingungen, die eine Situation noch gefahrvoller
695 machen, als sie sowieso schon ist? Parameter in verschiedenen Einsätzen, die
696 immer wieder kehren und offenbar eine Gefahr bedeuten? Zum Bespiel
697 Alkoholisierung?
698
699 E: Auslöser, dass Polizei überhaupt tätig werden muss, ist natürlich die Lage.
700 Irgendwo ist was passiert, Polizei muss erscheinen.
701 Aber dieses ganze Drumherum, was dann insbesondere zwischenmenschlich
702 passiert, oder was von dem Gegenüber ausgeht, das wären für mich
703 Rahmenbedingungen.
704 Dadurch kommt erst die Gefährlichkeit, die Brisanz in die Lage.
705
706 I: Was ist mit Dunkelheit, schlechten Sichtverhältnissen? Führen solche
707 Bedingungen dazu, dass Kollegen eher angegriffen werden oder dass sie
708 wachsamer werden?
709
710 E: Ich glaube nicht, dass das einen Unterschied macht. Die Kollegen im
711 Streifendienst arbeiten rund um die Uhr: Möglicherweise rechnen sie im
712 Frühdienst eher weniger mit einer gefährlichen Situation. Der Tag hat gerade erst
713 begonnen, es ist hell, aus dem normalen Tagesablauf heraus rechnet man
714 vielleicht ansatzweise weniger damit. Dabei ergeben Erhebungen, von denen ich
715 mal gehört habe, das genaue Gegenteil. Danach war es genau im Frühdienst
716 vermehrt zu Angriffen auf Polizisten gekommen. Deshalb versuche ich, genau
717 dieses Phänomen zu erklären.
718
100
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
719 I: Es gibt einige Untersuchungen, von Jäger (PFA)
oder auch dem
720 Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachen (KFN), die haben ergeben,
721 dass die meisten Angriffe auf Polizeibeamte am Wochenende zur Nachtzeit
722 erfolgten. Allerdings wurde dort nur das als Angriff erfasst, was zu einer
723 mehrtägigen Dienstunfähigkeit des Beamten geführt hat.
724
725 E: Am Wochenende sind einfach mehr Leute unterwegs, es werden sowieso mehr
726 Einsätze gefahren, die Leute trinken mehr Alkohol, bzw. auch die, die in der
727 Woche keinen Alkohol trinken, greifen dann mal dazu. Daraus könnte resultieren,
728 dass es da zu einer Häufung kommt.
729 Für mich hat das aber an der Stelle keine Auswirkungen auf die
730 Eigensicherungsmotivation der Kollegen, nach dem Motto: „Oh, jetzt ist
731 Wochenende, jetzt muss ich raschelig werden“. Also entweder ich hab´s
732 gefressen, dass ich immer aufmerksam bin, immer gesund nach Hause kommen
733 will, im Sinne von Eigensicherung also meine Sinne geschärft habe oder ich habe
734 das nicht. Wenn ich diese Tatsachen ignoriere, verdränge, für mich konstatiere,
735 dass ich Eigensicherung nicht brauche, weil meine Waffe die Kommunikation ist,
736 dann wird es für mich eher gefährlich.
737 Diese Kollegen haben einfach nicht für sich erschlossen, dass es heute Nacht,
738 heute im Spätdienst, heute im Frühdienst sein könnte, dass sie ihre Waffe
739 einsetzen müssen.
740 Da ist ihnen die Waffe eher lästiger Ballast, den sie nicht wirklich brauchen
741
742 I: Dann müssten die Kollegen Angriffe vermutlich als sehr plötzlich und
743 überraschend erleben?
744
745 E: Ja, das knüpft für mich alles aneinander an. Ich denke, dass die Kollegen völlig
746 blauäugig in die Situation reingehen, überhaupt nicht damit rechnen, dass etwas
747 passieren könnte.
748 Die schätzen die Lagen als nicht wahrscheinlich gefährlich [es ist nicht
749 wahrscheinlich, dass es gefährlich ist] ein, weiterhin kommt der Gedanke dazu, es
750 wird schon nichts passieren, und ich kann doch nicht ständig damit rechnen und
751 darauf ausgerichtet sein, dass jetzt was passiert. Als ob sie in anderen Bereichen
752 etwas aufgeben müssten, wenn sie diese Gedanken hätten.
101
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
753 Die Kollegen haben hier schon eine falsche Bewertung getroffen, an der sie aber
754 sehr festhalten. Und dann kommt es zum „Too-Late-Syndrom“. Dabei handelt es
755 sich um eine verspätete Bewertung, die Zeit kostet und in letzter Konsequenz zu
756 einer Verletzung/Tötung führen kann.
757 Ich gebe Dir ein Beispiel: Jemand geht mit dem recht starren Bild, es könne schon
758 nichts passieren, in eine Situation. Der Täter zieht eine Waffe. Der Kollege sieht
759 das zwar, aber es passt überhaupt nicht zu dem, was er im Kopf hat. Wenn er dann
760 endlich zu der neuen Bewertung kommt, dass er hier primär bedroht wird, hat er
761 schon wertvolle Zeit verschenkt, er ist in seiner Reaktion blockiert gewesen und
762 in der Folge kassiert er den ersten Treffer.
763 Das Auseinandersetzen mit der Situation in der Situation führt zum „Too-Late764 Syndrom“.
765 Die Auseinandersetzung MUSS vorher geschehen.
766
767 Weiterhin
hat
Ungerer
(Anm.
der
Verfasserin:
Dietrich
Ungerer,
768 Sicherheitswissenschaftler) so genannte „kulturellen Nischen“ angesprochen.
769 Das beste Beispiel ist, dass sich jemand absolut nicht vorstellen kann, dass jemand
770 mit einer Waffe in die Kirche geht. Aus seiner eigenen Sozialisation heraus geht
771 das gar nicht, denn in seiner frühkindlichen Prägung hat er schon erfahren, dass
772 sogar die Revolverhelden im Wilden Westen beim Kirchgang ihre Waffen
773 abgelegt haben.
774
775 Wenn Kollegen mir sagen, dass sie sich ja nicht auf alles voll konzentrieren
776 könnten, ohne dass dann dabei etwas anderes, z. B. sicherer Umgang mit der
777 Waffe , darunter leide, dann ist das für mich ein ganz eindeutiger Hinweis darauf,
778 dass sie untrainiert oder zuwenig trainiert sind.
779
780
781 I: Zum Training: was wird wie oft in welcher Form trainiert?
782
783 E: Wir sind jetzt im zweiten Jahr des Einsatztraining 24, und ich denke, dass wir
784 es sehr gut umsetzen.
785 Et 24 bedeutet, dass jeder Kollege/Kollegin mit Außendienstanteilen (also der
786 Streifendienst, Bezirksdienst, Angehörige der Kommissariate, Verkehrsdienst) 24
102
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
787 Stunden im Jahr mit der BOE (=Basisorganisationseinheit) zum Training kommen
788 muss.
789 Anfang des Jahres werden mit den Leitern der BOE`s Trainigsinhalte und –ziele
790 abgesprochen. Die Gruppe wird dann im Modul 1 (ETM 1), in sechs Stunden, mit
791 Grundlagentrainings an die Materie herangeführt. Im nächsten Modul (ETM 2)
792 wird
zunächst
das
Gelernte
wiederholt
und
danach
mit
den
793 Qualitätssicherungsbögen abgeprüft. Nach bestimmten Kriterien wird festgestellt,
794 ob jemand die erforderlichen Standards erfüllt. Erfüllt er sie nicht, darf er
795 nachtrainieren und die „Prüfung“ wiederholen. Im dritten Modul (ETM 3) kommt
796 es zu einer ganzheitlichen Übung, in der die einzeln gelernten Sequenzen
797 miteinander verbunden werden müssen.
798 Die Theorie spielt für uns kaum noch eine Rolle. Wenn der Leiter BOE
799 Bedrohungslagen trainieren will, ist es seine Aufgabe, den Kollegen z.B. die BAO
800 Bedrohungslage vorher zu erklären. Will er Amok trainieren, muss er den
801 Kollegen den Amok- Erlass vorstellen.
802 Wenn natürlich im Training Fragen auftauchen, erklären wir selbstverständlich.
803 Dabei gilt aber: so viel wie nötig, so wenig wie möglich!
804
805 Es gibt dann noch das vierte Modul (ETM 4) mit sechs Stunden, in dem
806 geschossen werden muss. Wir haben diese sechs Stunden in zwei mal drei
807 Stunden aufgeteilt, damit wenigstens noch zweimal im Jahr geschossen wird.
808 Einmal pro Jahr müssen die Kollegen die LÜHT P 99 und einige auch die LÜHT
809 MP 5 erfüllen. Dabei handelt sich um die landeseinheitliche Übung zur
810 Feststellung der Handhabungs- und Treffsicherheit.
811
812 Insbesondere beim Schießen stelle ich echte Defizite fest.
813 Die Kollegen sind vor 2 Jahren ausführlich, mehrere Stunden lang im Umgang
814 mit der neuen Dienstwaffe beschult worden. Aber einige kommen zum Training
815 und wissen nicht einmal mehr, wo sich der Magazinhaltehebel befindet.
816 Auch bei denen, die meinen, sie kommen gut zurecht, stellen wir fest, dass es zu
817 Handhabungsdefiziten kommt, sobald ein bisschen Stress in die Übungen kommt.
818 Mittlerweile starten wir mit Handhabungsübungen, die manchmal noch belächelt
819 werden. Wenn wir und auch die Teilnehmer aber sehen, dass es nach wenigen
103
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
820 Durchgängen schon zu sicherem Umgang mit der Waffe kommt, dann halten wir
821 das gerne aus.
822 Insgesamt glaube ich, dass wir es durch das ET 24 schaffen, dass die Leute öfter
823 trainieren, öfter wiederholen. Und je mehr Wiederholungen erfolgen, desto
824 sicherer wird ein Verhalten.
825 Beim Schießen ist es anders. Nach der alten Erlasslage mussten die Kollegen
826 dreimal im Jahr zum Schießen. Klar, wir könnten theoretisch aus den sechs
827 Stunden auch sechs mal eine oder drei mal zwei Stunden machen, aber das ist
828 praktisch und logistisch nicht umsetzbar, zumal ja einmal auch die LÜHT
829 geschossen und bestanden werden muss. Also haben wir die Kollegen zum
830 Schießen nur noch zweimal im Jahr da.
831
832 I: Werden in den Trainings auch Situationen trainiert, die die Teilnehmer so oder
833 ähnlich auch im täglichen Dienst erleben?
834
835 E: Dass man 100% genau das trainiert, was dann mal in der Realität passiert, geht
836 nicht. Irgendwo wird es immer Nuancen geben, die sich anders darstellen, anders
837 entwickeln.
838 Mir fällt gerade eine Rückmeldung von Teilnehmern ein, die einen heftigen
839 Widerstand hatten. Einsatzanlass war eine Trunkenheitsfahrt, der Fahrer wurde
840 ermittelt und zuhause angetroffen und zwecks Blutprobenentnahme zur Wache
841 gebracht. Auf der Wache leistete der Täter Widerstand und trotz vorher trainierter
842 Eingriffstechniken waren die Kollegen nicht in der Lage, den Mann zu fixieren.
843 Keiner hätte gewusst, was er denn nun machen sollte und zu guter Letzt haben sie
844 ihn alle gemeinsam nach alter Väter Sitte zu Boden gerungen.
845 Die Technik war nicht verinnerlicht, sie konnten damit nicht umgehen. Das
846 passiert aus meiner Sicht deswegen, weil zu wenig trainiert wird.
847 Die Trainingshäufigkeit ist nicht da und wenn sie da ist, wird sie nicht
848 angenommen. Die Kollegen haben offenbar nicht den Anspruch, dass sie die
849 Techniken für den Fall X wirklich beherrschen wollen, und nutzen Angebote dann
850 nicht so, wie es möglich wäre.
851 Das zielt in Richtung der inneren Einstellung ab: Wenn ich 25 mal eine Technik
852 halbherzig trainiere, weil ich sie meiner Meinung nach sowieso niemals brauche,
853 dann nützen auch diese 25 Wiederholungen nichts.
104
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
854
855 Mit ET 24 sind wir jetzt schon einen Schritt weiter, und vor allem: wir Trainer
856 werden nicht müde, die Kollegen immer wieder neu zu motivieren und jeden da
857 abzuholen, wo er steht.
858
859 I: Wie meldet ihr in den Trainings zurück?
860
861 E: Beim Schießtraining ist es so, dass der Erlass auch „Lagenschießen“ erlaubt.
862 Genau das machen wir auch, im Moment mit dem Schwerpunkt auf
863 Videokonserven, die ganz gut rüberkommen. Da ist nur jeweils ein Team auf dem
864 Schießstand, der Rest bleibt draußen. Die Lage wird trainiert und dann melden die
865 Trainer zurück, was sie gesehen haben. Dabei wird auf Knackpunkte
866 eingegangen, die verbesserungswürdig sind. Das Team kann also völlig
867 blamagefrei agieren und auch bei der Rückmeldung muss sich niemand schämen.
868
869 I: Und bei den Trainings, wo die ganze Dienstgruppe zusammen trainiert?
870 Insbesondere der DGL als Vorgesetzter ist ja dabei.
871
872 E: Der DGL kennt seine Leute sowieso, das ist unproblematisch. Manchmal ist es
873 ein Problem, dass die Leute zwar zu einer Dienstgruppe gehören, aber auf
874 unterschiedlichen Wachen Dienst machen. Da entwickelt sich immer mal wieder
875 eine Gruppendynamik, da bilden sich Kleingruppen und ich habe das Gefühl, die
876 stehen dann schon in Konkurrenz zueinander.
877 Aber wir werden auch positiv überrascht. Manchmal guckt man auf die
878 Teilnehmerliste, macht eine Teilnehmeranalyse und stellt fest, dass Leute dabei
879 sind, die man in vorherigen Trainings schon mal destruktiv oder unmotiviert
880 erlebt hat. Dann findet das Training statt und gerade die, die man im Fokus hatte,
881 arbeiten unglaublich gut mit und tragen zu einem gelungenen Training bei. Den
882 umgekehrten Fall kenne ich allerdings auch.
883 Aber es ändert nichts an unseren Rückmeldungen. Wir versuchen immer wieder
884 klarzumachen, dass wir eine blamagefreie Zone haben wollen, in der es um
885 Weiterentwicklung geht und nicht darum, jemanden vorzuführen, weil er Fehler
886 macht.
887 Die meisten nehmen das auch an, ich habe noch nichts Gegenteiliges gehört.
105
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
888
889 I: Wie wird konkret auf taktisches Fehlverhalten reagiert?
890
891 E: Wir gehen da sofort rein, bedeutet, es kommt zu einer konsequenten
892 Intervention. Im Bereich, wo irgendetwas nicht läuft, wird es angesprochen,
893 nachtrainiert, wir lassen sie auch ihre eigenen Varianten ausprobieren, und zum
894 Schluss sollen sie ihre Verbesserungen auch spüren und erkennen.
895 Da wird nichts so stehen gelassen, wenn es gefährlich ist. Ist da einer, der sich
896 nicht so verhält, wie es sein sollte, er steht zum Beispiel total ungedeckt irgendwo,
897 dann zeigen wir ihm das an entsprechenden Beispielen auf, es wird nachtrainiert,
898 wie er es besser machen kann und er soll es dann selbst erleben, dass es auch
899 wirklich besser ist.
900
901 I: Wird auch mal nicht zurückgemeldet? Dass man irgendwann feststellt, der oder
902 die kann oder will nicht anders, und verliert selber irgendwann die Lust daran,
903 jemanden immer und immer wieder auf seine Fehler hinzuweisen?
904
905 E: Auch in dem Bereich kann ich nur für mich sprechen: wir haben diese
906 Schwierigkeiten, glaube ich, nicht wirklich. Wir haben es immer geschafft, die
907 Teilnehmer zu motivieren, vernünftig mitzuarbeiten.
908 Klar, Du hast immer mal wieder eine Ausnahme dabei, die einfach gar nicht will.
909 Aber das sind so wenige Ausnahmen, dass es nicht ins Gewicht fällt.
910 Ich kann mir für mich nicht vorstellen, dass ich Fehler, die ich erkenne, einfach
911 unkommentiert stehen lasse. Es kann natürlich sein, dass im Trainingsablauf der
912 Fehler nicht unmittelbar bei Auftreten angesprochen wird, sondern erst hinterher,
913 wenn der Durchgang beendet ist und die Rückmeldung beginnt. Wir trainieren so,
914 dass sich ein Fehler nicht verfestigt. Dass nicht der falsche Ablauf einer Technik
915 so oft geübt wird, dass sich dort auf einmal der Automatismus einstellt.
916 Wenn es zum Beispiel um Eingriffstechniken geht, da wird so viel auf einmal
917 gefordert an Bewegungsabläufen, dass ich bei den ersten paar Malen den größten
918 Wert auf die Schrittstellung lege. Erst wenn das klappt, kann ich daraufhin
919 arbeiten, dass das Gewicht auf dem hinteren Bein liegt und erst, wenn das
920 einigermaßen klappt, kann ich den nächsten Schwerpunkt legen. Dann hieße das
921 natürlich, dass zunächst ein Fehler auch mehrfach gemacht wird, bevor er weg
106
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
922 trainiert werden kann. Aber auch hier gilt: je öfter die Kollegen auch diese
923 Bewegungsabläufe üben, desto besser wird es mit der Zeit. Wieder geht es um
924 Wiederholungen, die Sicherheit bringen.
925
926 I: Positives Verhalten wird verstärkt und negatives Verhalten wird bestraft?
927
928 E: Ja, wenn ich falsches Verhalten feststelle, schaue ich genau hin, um zu
929 erkennen, wo genau der Fehler liegt, gehe konsequent rein und daran wird
930 trainiert. Es soll sich auf keinen Fall etwas Falsches festsetzen.
931
932 I: Mit der Einführung von FX- Waffen für die Trainings habe ich den Eindruck
933 gewonnen, dass ein „Ruck“ durch die Fortbildung gegangen ist. Rückmeldungen
934 erfolgen mit diesem Medium auch unmittelbar in der Situation und zwar in Form
935 von Schmerz oder zumindest einem sichtbaren Farbfleck auf der Kleidung.
936
937 E: Ja, das ist so. Du kannst natürlich mit einem Körpertreffer durch FX, der
938 definitiv durch fehlende Deckung entstanden ist, einen höhere Einsicht erzeugen
939 als durch viele Worte. Das eigene Erleben spielt eine große Rolle.
940
941
942 I: Wie wird im Training auf die Problematik „Wahrnehmung unter Stress“
943 eingegangen?
944
945 E: Wir gehen auf jeden Fall darauf ein. Wir sehen zum Beispiel im Training
946 Kollegen, die in einer Situation einfach nicht reagieren. Von außen betrachtet,
947 fragt man sich dann, warum der denn nichts tut.
948 Gestern beispielsweise, beim Amoktraining, hatte das einschreitende Team
949 Kontakt zu dem Täter. Wir erwarten, dass das Team, wie gelernt, dem Täter
950 nachsetzt, aber es verharrte regungslos. Es erfolgten weitere Reizsetzungen durch
951 hörbare Schüsse, schreiende Opfer. Ganz klar, hier war Stress, absoluter
952 Hochstress sichtbar, vielleicht auch Angst.
953
954 I: Du bringst das Stichwort „Angst“. Schlägt dieser Stress irgendwann in Angst
955 um ?
107
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
956
957 E: Ja, Stress schlägt in Angst um und es kommt zu einer Handlungsunfähigkeit.
958 Angst macht handlungsunfähig, Angst kann sensibilisieren, Angst ist in geringer
959 Dosierung gut.
960 Aber Angst kann auch dazu führen, und so habe ich gestern gesehen, dass daraus
961 eine Handlungsunfähigkeit resultiert. Angst, selbst erschossen oder getroffen zu
962 werden. Die ist vielleicht bei jedem latent immer da.
963
964 I: Ja, aber macht Angst nicht auch aufmerksam/ wachsam?
965
966 E: Die Wahrnehmung ist geschärft, ich bin angriffs- oder fluchtbereit, ja.
967 Bis zu dem Zeitpunkt, wo es dazu kommt, dass die Gefahr als so gegenwärtig, so
968 groß und als nicht zu bewältigen empfunden wird, und das schlägt sich dann in
969 anderem Verhalten nieder, z.B. der Handlungsunfähigkeit.
970 Die Intensität der Angst entscheidet darüber, ob es gut oder schlecht ist, wachsam
971 macht oder aber blockiert und lähmt.
972 Angst hat ja teilweise die gleichen Symptome wie Stress, also erhöhter Puls,
973 Adrenalin, Herzklopfen, Temperatur steigt,…
974 Angst hat sicher jeder von uns mal in einem gewissen Maß.
975 Die Frage ist auch, ob mein Gegenüber meine Angst bemerkt. Ich denke, wenn er
976 sie bemerkt, wird die Situation dadurch wiederum gefährlicher, weil er es als
977 Schwäche ansieht.
978 Wer in welcher Situation Angst in welcher Intensität erlebt, das ist sehr
979 individuell.
980
981 I: Wie wäre es mit dem Begriff „Respekt“, wenn man den positiven Aspekt von
982 Angst beschreiben will?
983
984 E: Ja, das scheint mir objektiver und neutraler zu sein. Angst ist doch immer
985 negativ bewertet. Wenn ich Respekt habe, erkenne ich sehr wohl Gefahren an,
986 aber ich selber stehe der Situation neutraler, offener für das, was sich entwickelt
987 gegenüber. Und ich komme nicht in den Zustand, dass ich blockiere und nicht
988 mehr handeln kann. Ein gesundes Maß an Misstrauen und Respekt führt dazu,
108
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
989 dass ich alle meine Antennen ausfahre und entsprechend gerüstet bin für die
990 Situation.
991 Aber ob man Angst dadurch ausschließen kann, das vermag ich nicht zu sagen.
992 Ich glaube, dass jeder Polizist auch immer mal wieder darüber nachdenkt, dass er
993 vom Dienst nicht mehr nach Hause kommen könnte. Aber das spielt eine
994 untergeordnete Rolle, das wird eher weggedrängt. Wäre die Lebensangst immer
995 allgegenwärtig, könnte keiner mehr Dienst machen.
996
997 I: Wie kann ein Training dazu beitragen, die Kollegen stressresistenter zu
998 machen?
999
1000 E: Durch das Trainieren außergewöhnlicher Lagen. Vielfach wird von den
1001 Kollegen ja gefordert, sie wollen realitätsnah trainieren. Das sind dann die
1002 „Einfach- Lagen“ wie das Vollstrecken eines Haftbefehls, ohne dass es zu
1003 irgendeiner Gefährdung der eingesetzten Kräfte kommt.
1004 Das sollte genau nicht erfolgen!
1005 Ich brauche auf jeden Fall eine Reizsetzung. Ich muss Situationen trainieren, die
1006 auch Ressourcen freisetzen. Wenn ich diese außergewöhnlichen Lagen trainiere
1007 und erkenne, dass ich sie meistern kann, dann bin ich auch in der Verfassung,
1008 unterhalb dieser Schwelle Lagen zu bewältigen.
1009
1010 Standards
müssen
dabei
durchbrochen
werden,
und
es
müssen
1011 Bewältigungsstrategien entwickelt werden. Standards durchbrechen bedeutet, dass
1012 die Kollegen lernen, dass es nicht für die Lage X das perfekte Vorgehen Y gibt,
1013 sondern dass man flexibel auf das reagieren muss, was passiert. Und dabei muss
1014 man sich alle Optionen geistig offen halten.
1015 Teilnehmer erwarten manchmal, dass sie eine starre, universell einsetzbare
1016 Handlungsempfehlung von uns bekommen. Genau das geht eben nicht, davon
1017 müssen wir weg.
1018 Natürlich gibt es Empfehlungen, in welchen Situationen welches Verhalten Erfolg
1019 versprechender ist. Aber wenn die Reallage minimal von der Trainingslage
1020 abweicht, kann ein minimal verändertes Verhalten optimaler sein als das vorher
1021 empfohlene.
1022
109
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1023 I: Sport als Mittel, um stressresistenter zu werden?
1024
1025 E: Jein, eher allgemeines Wohlbefinden. Ein allgemein guter Körperzustand sollte
1026 schon sein. Klar, ein gut trainierter Sportler kommt bei Stress auch nicht so
1027 schnell auf Puls wie ein fettleibiger, untrainierter Kollege. Aber das ist für mich
1028 nur ein Baustein zu der mentalen Stressrestistenz.
1029 Wenn ich körperlich fit bin, bin ich insgesamt leistungsfähiger und das gehört
1030 dann schon zu dem Komplex Stress.
1031
1032 Ich würde sagen, dass wir in den Trainings teilweise durch Reizsetzungen
1033 (Akustik,
Schüsse,
Dunkelheit,
unbekannte
Örtlichkeit,
unerwartete
1034 Lageentwicklung) so ein hohes Stressniveau erzeugen, dass die Teilnehmer dann
1035 in einer Reallage immer noch unterhalb dieses Levels bleiben und agieren. Sie
1036 haben so etwas dann schon einmal erlebt und es kommt nicht völlig unvermittelt.
1037
1038
1039 I: Prof. Dr. Musahl hat festgestellt, dass Menschen ihre Arbeit für subjektiv
1040 ungefährlich halten, obwohl es immer wieder zu Unfällen kommt, die Tätigkeit
1041 also objektiv gefährlich ist. Daraufhin wurde fortlaufend über geschehene Unfälle,
1042 aber auch über „Beinahe- Unfälle“ berichtet. Das führte dazu, dass die Arbeiter
1043 ihre Tätigkeit nun auch aus eigener Sicht als gefährlich wahrnahmen und die
1044 Unfallzahlen sanken.
1045 Wird bei euch über „Glück- gehabt“- Situationen oder Situationen berichtet, in
1046 denen es nur noch Zufall war, dass nichts passierte?
1047
1048 E: Früher kamen bei den Seminaren Teilnehmer aus unterschiedlichen Bereichen
1049 zusammen. Da kam es dann auf dem Flur oder auch zwischen den Übungen
1050 immer wieder zu einem Erfahrungsaustausch. Je nach Gruppe wurde da auch
1051 offen über so etwas berichtet.
1052 Jetzt bei ET 24 ist ja immer die Truppe zusammen, die auch zusammen Dienst
1053 macht, das heißt, der Erfahrungsaustausch wird schon sehr eingeschränkt.
1054 Klar, wenn in unserer Behörde etwas sehr Gravierendes passiert ist, wo dann
1055 wirklich nur noch Glück den Erfolg ausgemacht hat, dann transportieren wir
110
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1056 Trainer das. Anonym natürlich. Wir sprechen Situationen an und die werden dann
1057 auch teilweise weiter multipliziert.
1058
1059 I: Erfährt man denn etwas aus anderen Behörden?
1060
1061 E: Wenig. Nur über persönliche Kontakte.
1062
1063 I: Kannst Du Dir eine Form des anonymisierten Austausches, z.B. via Intranet
1064 vorstellen?
1065
1066 E: Ich glaube, das funktioniert nicht. Wir kriegen die Situationen nicht raus. Die
1067 Kollegen gehen nicht offen und ehrlich damit um. Und deswegen kämen wir gar
1068 nicht dahin, dass wir auf diese Erkenntnisse zurückgreifen könnten. Ich glaube,
1069 auch wenn es sicher wünschenswert wäre, wir kriegen das nicht hin.
1070 Noch nicht einmal für alle Mitarbeiter der Behörde.
1071 Meine Befürchtung wäre auch, dass die Kollegen das eher aus Neugierde lesen
1072 würden als aus Gründen der Eigensicherung.
1073 Die Kollegen wollen doch auch nicht preisgeben, wenn etwas unrund gelaufen ist.
1074 Und dann kann doch jemand Rückschlüsse auf den ziehen, der es geschrieben hat,
1075 und dann geht es durch die ganze Behörde, wer da welchen Fehler gemacht hat.
1076
1077 Für mich persönlich wäre es gut, wenn ich die Möglichkeit hätte, von den guten
1078 und auch schlechten Erfahrungen der Kollegen zu profitieren. Wenn ich dann
1079 lesen würde, dass ein bestimmtes Verhalten zu der und der gefährlichen Situation
1080 geführt hat, dann müsste ich den Fehler nicht erst selber machen, um im
1081 schlimmsten Fall nicht mehr gesund aus der Situation heraus zu kommen.
1082
1083 I: Aber wenn es behördenübergreifend so etwas wie ein Wiki gäbe, wo unter
1084 bestimmten Überschriften Kollegen anonym schreiben könnten, was ihnen
1085 passiert ist, und es für den User keine Möglichkeit herauszufinden, wer das
1086 eingestellt hat,….
1087
1088 E: Wünschenswert, ich könnte mir vorstellen, dass das zu einer gewissen
1089 Sensibilisierung führt. Wenn man so ein Informationsforum hätte, könnte sich
111
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1090 jeder bedienen, wie er wollte. Die Frage ist dann, was jeder Einzelne für sich
1091 persönlich da mitnähme. Vielleicht würden auch Reaktionen aufkommen wie:
1092 “mir wäre das nicht passiert“ oder „ich hätte aber,…“.
1093
1094 I: Stell Dir vor, es gäbe diese völlig anonymisierte, kurze, prägnante Möglichkeit,
1095 sich in einem Forum auszutauschen. Ein Forum von Kollegen für Kollegen. Also
1096 nicht über Trainer, die einstellen, dass sie was gehört haben.
1097 Würden die Kollegen das Deiner Einschätzung nach selber füllen und nutzen?
1098
1099 E: Nein, ich glaube, sie würden in überwiegender Anzahl nicht schreiben. Lesen
1100 würden sicher mehr. Aber Schreiben würden nur ganz wenige. Vielleicht die, die
1101 damit auch eine Situation im Nachhinein bewältigen wollen und sich wünschen,
1102 dass andere auch was davon haben.
1103
1104 I: Ich danke Dir ganz herzlich für Deine ehrlichen Antworten und für die Arbeit,
1105 die Du Dir auch im Vorfeld gemacht hast!
112
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Interview Nr. 4, 13. Juni 2008
Experte: Herr M., Trainer (Integrierte Fortbildung, Einsatztraining 24,
Fahrsicherheitstrainer) bei der Fortbildungsstelle einer ländlichen KPB in
Nordrhein- Westfalen
Persönliche Daten:
Name:
Herr M.
Alter:
44 Jahre
Bei der Polizei seit:
1982
Bei der Fortbildungsstelle seit:
1999
Abschrift der Kassetten 5 und 6:
1106 I: In welchen Lagen kommt es Deiner Erfahrung nach am häufigsten zu
1107 Gefahrensituationen für die Kollegen?
1108
1109 E: Es gibt aus meiner Erfahrung keinen Bereich, wo man Gefahren ausschließen
1110 kann. Gefahren können sich schon bei der alltäglichen Lage entwickeln, wenn ich
1111 eine Person überprüfe, oder ein Bürger kommt auf den Schutzmann zu, …auch da
1112 können Gefahrenmomente auftauchen.
1113 Einen Bereich ausschließen würde ich nirgendwo.
1114
1115 I: Hast Du den Eindruck, dass es Einsatzanlässe gibt, wo sich Gefahrenmomente
1116 häufen, in denen es häufiger zu Angriffen auf Polizeibeamte kommt?
1117
1118 E: Ja, immer in den Bereichen, wo schon Gewalt ausgeübt worden ist. Beispiel:
1119 Häusliche Gewalt, wo der Aggressor seine Frau schon verprügelt hat, wo Alkohol
1120 im Spiel ist. Das sind Bereiche, in denen man auf jeden Fall damit rechnen muss,
1121 dass sich das Aggressionspotential auch gegen die Einsatzbeamten richtet.
1122
1123 I:
Alkohol
wäre
eine
mögliche
Rahmenbedingung
für
1124 Gefährdungslage. Fallen Dir noch andere solche Bedingungen ein?
113
eine
erhöhte
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1125 E: Immer die Bereiche, wo mehrere Meinungen aufeinander treffen, da gerät man
1126 schnell zwischen die Fronten. Das kann ein Nachbarschaftsstreit ohne Alkohol
1127 sein, das kann aber genauso gut im Milieu ein Bereich sein, wo um Geld oder
1128 Drogen gestritten wird.
1129
1130 I:
Was
ist
mit
Dunkelheit
oder
schlechten
Sichtverhältnissen
als
1131 Rahmenbedingung?
1132
1133 E: Das kommt darauf an, ob der Angriff schon mehr oder weniger geplant war.
1134 Dann würde die Dunkelheit sicher dazu führen, dass man sich als Störer wohler
1135 fühlt als im beleuchteten Bereich. Aber so generell könnte ich nicht sagen, dass es
1136 die Dunkelheit ist, in denen die Gefahrenmomente gesteigert werden.
1137
1138 Ich glaube, dass es bestimmte negative Faktoren gibt, die in der Person des
1139 Polizeibeamten liegen: viele nehmen die Dinge einfach zu leicht, sie stellen sich
1140 nicht vor, dass es irgendwo gefährlich für sie werden könnte. Daraus ergibt es sich
1141 dann, dass sich die Kollegen zum Beispiel unvorsichtig an Personen oder
1142 Fahrzeuge annähern.
1143 Dazu kommt dann noch, dass viele auch vor der legitimen Benutzung von Gewalt
1144 zurückschrecken. Der Gedanke behagt ihnen nicht.
1145
1146 I: Nehmen die Einsatzkräfte Gefahrenmomente überhaupt war?
1147
1148 E: Aus meiner eigenen Dienstzeit kann ich sagen, dass ich schon bei bestimmten
1149 Einsatzstichworten wie „Randalierer“, „Streitigkeiten“ von einem gewissen
1150 Gewaltpotential ausgegangen bin. Bei Alltagssituationen, wo man eigentlich
1151 „nur“ mal überprüfen oder gucken sollte, ist man manchmal auch vielleicht
1152 überrascht worden von dem, was man da vorgefunden hat. Dass die Sache
1153 schlimmer war, als man sich die eigentlich vorgestellt hat.
1154
1155 I: Also, in der Vorstellung hatte man ein anderes Bild von der Lage. Tatsächlich
1156 hat sie sich anders dargestellt.
1157
1158 E: Ja.
114
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1159 I: Die subjektive Einschätzung kommt schon mit dem Einsatzstichwort.
1160
1161 E: Ja, wenn es heißt: „Fahrt mal eben gucken, da ist ein Streit.“ muss man nicht
1162 gleich die Vorstellung haben, dass es da schon hoch hergeht, dass Stühle und
1163 Flaschen fliegen. Hat man aber schon solche Einsatzerfahrungen gemacht,
1164 vielleicht gerade noch einen Tag vorher, dann hat man sofort ein anderes Bild.
1165
1166 I: Kollegen beschreiben es meistens als „plötzlich“ und „unerwartet“, wenn sie
1167 angegriffen werden. Kannst Du das aus Deiner Erfahrung bestätigen?
1168
1169 E: Ja, das kennt man aus Einsätzen, die gewohnheitsmäßig immer gleich ablaufen.
1170 Insbesondere wenn man davon ausgeht, dass alle gleichermaßen die uniformierte
1171 Polizei erkennen und ihre Anordnungen akzeptieren. Wenn man mit diesem Bild
1172 irgendwo erscheint und es wird ein Angriff gestartet, dann ist man überrascht.
1173
1174 I: Der Polizeibeamte hat ein festes Bild von dem, wie die Situation sich gestalten
1175 müsste?
1176
1177 E: Ich gebe Dir ein Beispiel: Ein Bezirksdienst- Beamter soll einen Haftbefehl
1178 vollstrecken bei Herrn Lehmann, den er schon kennt. Er war auch schon mehrfach
1179 da, hat vielleicht immer eine Ratenzahlung ausgehandelt und hat also seine
1180 Erfahrungen und Gewohnheiten mit Herrn Lehmann. Er kennt ihn auch
1181 mittlerweile ganz gut. Wenn Herr Lehmann aber wegen unbekannter Umstände
1182 auf einmal völlig anders drauf ist, dann kann es dem Polizisten passieren, dass er
1183 unvorbereitet in eine Gewaltsituation gerät, weil er damit gar nicht gerechnet hat.
1184 Ginge man sensibel damit um, versetzt man sich auch mal in die Situation des
1185 Herrn Lehmann, dann könnte man sich vielleicht vorstellen, dass es zur
1186 Eskalation kommen könnte und wäre vorbereiteter.
1187 Wenn ich also kein festes Bild im Kopf habe, sondern eher ein Spektrum „von1188 bis“, dann bin ich flexibler. Mit vernünftigen Menschen kann ich vernünftig
1189 umgehen, aber ich habe auch im Kopf, dass jemand nicht vernünftig reagiert und
1190 versucht, zu flüchten oder auch mich anzugreifen. Dann habe ich das bereits
1191 vorgedacht und werde nicht überrascht. Und dann kann ich auch besser agieren.
1192
115
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1193 Und letztendlich treten die gleichen Fehler immer wieder auf. Eine Ursache dafür
1194 sehe ich im sorglosen Handeln. Ich habe es schon gesagt, die Kollegen sehen sich
1195 nicht großartig gefährdet und vertrauen darauf, dass es wieder gut geht. Wie es
1196 doch bis jetzt immer gut gegangen ist. Sie sind tausend Mal mit ihrer schlampigen
1197 Routine durchgekommen, ohne Schaden genommen zu haben. Dieses Verhalten
1198 haben sie sich also zu eigen gemacht.
1199 Wobei Routine ja auch etwas Positives haben kann. Der negative Aspekt liegt
1200 darin, dass die schlechten Gewohnheiten einfach nicht mehr überprüft werden und
1201 die Kollegen dadurch in ihrem falschen Verhalten bestärkt werden.
1202
1203 I: Wenn Kollegen erzählen, dass sie bei dem und dem Einsatz von dem Angriff
1204 überrascht wurden, waren das auch Situationen, die sie irgendwann vorher mal
1205 trainiert hatten?
1206
1207 E: Wir in der Fortbildungsstelle nehmen als Grundlage für Trainings das aktuelle
1208 Einsatzgeschehen. Daraus werden die Trainingssituationen gemacht. Wir lassen
1209 uns also diese Einsätze schildern und versuchen, mit entsprechenden
1210 Rollenanweisungen für die Darsteller, diese Lage darzustellen. So haben wir den
1211 Alltag im Training. Man braucht nichts erfinden.
1212
1213 I: Weißt Du, ob es in Situationen, die hier bereits trainiert worden sind, im
1214 späteren Einsatzgeschehen zu einem Angriff kam?
1215
1216 E: Ja, wenn wir im Bereich „Häusliche Gewalt“ trainieren, dann kann es natürlich
1217 passieren, dass es bei einem Echteinsatz „Häusliche Gewalt“ trotzdem zu einem
1218 Angriff gegen Kollegen kommt.
1219
1220 I: Wenn ein Teilnehmer im Training ein Verhalten zeigt, dass aus
1221 Eigensicherungsgründen völlig inakzeptabel ist, wie wird damit umgegangen?
1222
1223 E: Durch die Trainer wird auf dieses Verhalten hingewiesen. Ich persönlich
1224 mache es so, dass ich versuche, mich ein bisschen einfühlungsmäßig mit dem
1225 Kollegen auseinander zu setzen. Am Ende eines Seminars habe ich eigentlich
1226 immer den Blick drauf gehabt, ob ich mit diesem Kollegen draußen diesen Einsatz
116
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1227 fahren würde. Im Rahmen der Erwachsenenbildung versucht man einfach, sich
1228 mit dem Kollegen auseinander zu setzen und zu sagen, so würde ich mit dir nicht
1229 Streife fahren wollen, aus den und den Gründen. Also noch mal an seine
1230 Einstellung appellieren.
1231
1232 I: Das geht in die Richtung Verhaltensänderung über Einsicht herbeiführen? Wie
1233 sieht es mit Lernen durch Verstärkung und/ oder Bestrafung aus?
1234
1235 E: Ja, wenn wir im Training auf bestimmte gefährliche Gegenstände hinweisen,
1236 z.B. ein Teppichmesser in einer noch nicht ganz renovierten Wohnung, und der
1237 Rollenspieler, der als Täter eingewiesen wurde, stellt fest, dass das übende Team
1238 trotz der Hinweise und Übungen vorher dieses Messer nicht aus dem
1239 Einwirkungsbereich des Täters entfernt, dann wird dieser diese Schwachstelle
1240 ausnutzen und versuchen, die Kollegen damit anzugreifen. Das wäre dann Lernen
1241 durch Schmerzen, also Bestrafung, auch wenn es natürlich ein Trainingsmesser
1242 ist. Der Kollege hätte dann dieses Erlebnis, wo er vielleicht vorher gesagt hat:
1243 „ich hab das alles im Griff, ich hab den Überblick, der wird mir schon nichts tun“.
1244 Genau mit so einer Reaktion erfährt er dann eine Sanktion. Und eventuell ist er
1245 sogar geschockt.
1246
1247 I: Diese Sanktion müsste dann dazu führen, dass das gezeigte Verhalten weniger
1248 wird.
1249
1250 E: Ja, wir haben über Jahre ohne Farbmarkierungswaffen trainiert und immer
1251 gepredigt, die Kollegen sollen keine herumliegende Waffe wegtreten, weil sich
1252 dann ein Schuss lösen könnte. Das Predigen hat nicht wirklich zum Erfolg
1253 geführt.
1254 Seit einigen Jahren haben wir diese FX- Waffen und es kann tatsächlich im
1255 Einzelfall geschehen, dass sich ein Schuss löst, wenn die Waffe weggetreten wird.
1256 Das wiederum löst dann eine Kettenreaktion aus. Der Teampartner, der nicht
1257 gesehen hat, dass sich der Schuss aus einer am Boden liegenden Waffe gelöst hat,
1258 erschreckt sich und vor lauter Schreck löst sich aus seiner Waffe auch ein Schuss.
1259 Durch solche Trainings erfahren die Kollegen unmittelbar, was durch ihr
1260 Verhalten passiert. Und das wirkt.
117
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1261
1262 I: Wenn jemand im Training immer und immer wieder das gleiche taktische
1263 Fehlverhalten zeigt, wird man da nicht irgendwann müde, ihn darauf
1264 hinzuweisen? Verzichtet man da mal auf eine negative Rückmeldung?
1265
1266 E: Wenn verschiedene negative Sachen mehrfach deutlich hervorgehoben wurden
1267 und die Mehrzahl der Anwesenden, die trainieren, haben das nachvollzogen, dann
1268 muss man sicherlich nicht zum 1000sten Mal ansprechen, was nicht optimal läuft.
1269 Gleichwohl gibt es immer noch das Medium Rückmeldung, auch persönliche
1270 Rückmeldung außerhalb der Gruppe, und da kann man sicher so was noch mal
1271 ansprechen, wenn man jetzt selber als Trainer gut gearbeitet haben will.
1272 Ich vergleiche das immer so, ich möchte mit dem Streife fahren, und mit dem
1273 hohen Anspruch, dass die Eigensicherung vorgeht, kann man nicht müde werden,
1274 dem einzelnen Teilnehmer das immer wieder zu sagen. Aber man muss wirklich
1275 weit über seinen Schatten springen, wenn man auf Kollegen trifft, die dazu eine
1276 ganz komische Einstellung haben, wo man selber nicht so richtig mit klar kommt.
1277 Diesen Dauerkonflikt hat dann unter Umständen die Dienstgruppe mit dem. Da
1278 müsste man das auf jeden Fall bearbeiten. Im Seminar sieht man sich nur einige
1279 Stunden, da geht das zum Teil gar nicht.
1280
1281 I, Wie schätzt Du es ein, dass in der Dienstgruppe zurückgemeldet wird, wenn
1282 jemand sich „falsch“ im Sinne von Eigensicherung verhält?
1283
1284 E: Es werden schon Einsätze nachbereitet. Manchmal sagt man vielleicht auch
1285 nur, dass man sich allein gelassen gefühlt hat, oder das Verhalten des X doof fand.
1286 Die klassische Nachbereitung ist das eher nicht.
1287 Was aber manchmal fehlt, dass ist der professionelle Gedanke, der dazu führen
1288 müsste, Negatives anzusprechen. Da scheut man sich vielleicht doch auch mal,
1289 dem Kollegen einen Fehler vorzuhalten, weil man sich noch zu jung fühlt und
1290 dem deutlich dienstälteren Kollegen nicht an den Karren fahren will.
1291 Da fahren jetzt der junge Kommissar frisch von der Schule, gut ausgebildet,
1292 wenig Erfahrung und der ältere, sehr erfahrene Kollege zusammen, der sich
1293 vielleicht auch von seiner Routine leiten lässt. Der bleibt dann mal eher im Auto
1294 sitzen, wenn der andere jemanden kontrolliert. Der ältere ist aber dominanter und
118
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1295 setzt sein Verhalten einfach durch. Der junge Kollege hätte sich bestimmt schon
1296 gewünscht, dass er gesichert worden wäre. Das sind auch Bilder, die ich habe.
1297
1298 I: Damit wird das schlechte Verhalten, nämlich im Auto sitzen zu bleiben,
1299 verstärkt, weil es nicht angesprochen wird.
1300
1301 E: Ja, das ist so.
1302 Ich erlebe es auch in den Trainings, dass zu Anfang jemand alles in Frage stellt:
1303 warum das jetzt gemacht würde, man wisse das doch schon alles,….! Da steht
1304 dann der Dienstgruppenleiter schweigend daneben und der Rest der Gruppe sagt
1305 auch nichts Gegenteiliges. Das schwierigste Trainergeschäft ist wirklich, die
1306 Leute zu motivieren. Die Einstellung zu bekommen, dass es wichtig und richtig
1307 ist, immer wieder zu trainieren. Wenn wir die schon so aufgeschlossen da hätten,
1308 wie sie nach 4 oder 5 Stunden Training meistens sind, dann wäre vieles leichter.
1309 Die müssen einfach erst in dieser Zeit auch ihre Defizite erkennen. Dass sie wohl
1310 doch ihre eigene Handfessel unter Stress nicht sicher handhaben können, merkt
1311 man eben erst, wenn man in dieser Situation ist.
1312
1313 Ich denke, dass es wirklich oft um die Einstellungen und Motivationen geht, die
1314 die Kollegen mitbringen: zum Teil wissen sie nicht um bestimmte Gefahren, z.B.
1315 bestimmte Verstecke für Waffen oder getarnte Waffen. Sie haben solche
1316 Gefahrenmomente einfach nicht im Kopf.
1317 Zum Teil ist es aber auch Gedankenlosigkeit, dass sie sich einfach nicht damit
1318 auseinander setzen, was alles passieren kann. Diese Gedankenlosigkeit verhindert,
1319 dass sie mit einem aufmerksamen Blick, einem entsprechenden Gefahrenradar,
1320 durch den Dienst gehen. Und wenn sie dann von einem Angriff überrascht
1321 werden, sind sie nicht mehr als Akteure in der Situation, sondern als Opfer.
1322 Und in den Trainings versuchen wir, den Kollegen durch viele Wiederholungen
1323 von bestimmten Abläufen eine Handlungssicherheit zu vermitteln, die sie dann
1324 auch selbstsicher werden lässt. Denn selbstsicheres Auftreten führt in der
1325 Wirkung auf einen potentiellen Angreifer auch dazu, dass dieser möglicherweise
1326 von seinem Vorhaben ablässt, weil er in dem Polizisten einen gut ausgebildeten
1327 Polizeibeamten erkennt, der es ihm nicht leicht machen würde.
119
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1328 Wir versuchen, den Kollegen die Möglichkeit zu bieten, bestimmte Sachen
1329 einfach so oft zu wiederholen, dass die Abläufe auch in Stresssituationen noch
1330 ohne Zeitverlust abrufbar sind.
1331
1332
1333 I: Wird im Training auf die Problematik „Wahrnehmung unter Stress“
1334 eingegangen?
1335
1336 E: Im ETM 1 legen wir die Grundlagen dafür, dass wir im ETM 2 schon trotz des
1337 Stresses der Prüfungssituation (im ETM 2 werden die Teilnehmer mittels eines
1338 Qualitätssicherungsbogen überprüft) immer noch gute Ergebnisse erzielen.
1339 Die Teilnehmer werden nicht von jetzt auf gleich in Hochstress- Lagen gebracht.
1340 Wir trainieren vom Einfachen zum Schweren.
1341 Wenn wir erkennen, dass jemand durch Stress total überfordert ist, gehen wir da
1342 auch rein und erklären, was passiert ist. So hat dann der Teilnehmer auch die
1343 Möglichkeit, sich selber unter Stress zu erleben.
1344
1345 I: Wie kann man die Teilnehmer stressresistenter machen?
1346
1347 E: Eigentlich durch aufbauende Trainings. Wenn ich an den Bereich Amok denke,
1348 ist ein hohes Maß an Stress da, vielleicht sogar Lebensangst, in solche Situationen
1349 reinzukommen. Weil man vielleicht auch eine Vorstellung hat, wie solche Lagen
1350 abgehen und man sich selber gar nicht in so einer Lage vorstellen kann.
1351 Vielleicht, wahrscheinlich hat man noch nie mit der Dienstwaffe geschossen
1352 (außer auf dem Schießstand). Und dann bekommt man die FX- Waffe und soll
1353 tatsächlich auf Menschen schießen und erlebt sich zum ersten Mal in dieser Rolle.
1354 Um die Kollegen stressfester zu machen, machen wir das eben aufbauend. Zuerst
1355 bekommen sie eine Rotwaffe und sollen damit das Vorgehen üben und auch mal
1356 den Finger krumm machen. Aus dem Erleben „ich kann das“ heraus, werden dann
1357 die nächsten Schwierigkeitsgrade erklommen. Man muss mit der schweren
1358 Schutzweste die Treppen hoch, dann bekommt man die Schutzausrüstung für das
1359 FX- Waffen- Training und die FX- Waffe,… . Und selbst beim FX- Waffen1360 Training sind die Durchgänge von unterschiedlichem Stresslevel. Mal ohne, mal
1361 mit Akustikreizen, mal mit schreienden Opfern, mal ohne. Die Kollegen werden
120
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1362 in ihren Handlungen sicherer. Dieser Stress, der vielleicht negativ belegt war,
1363 wird auf einmal auch als positiv empfunden. Nach dem Motto: ich brauche diesen
1364 Puls, ich brauche das Adrenalin, um voll aufmerksam zu sein. Und trotz der
1365 Stress- Situation kann ich noch handeln. Aber das muss man steigern.
1366 Ich würde ein Trainingskonzept ablehnen, wo jemand völlig untrainiert zum
1367 ersten Mal eine FX- Waffe in die Hand bekommt und in die Lage geschickt wird,
1368 einen völlig wilden, um sich schießenden Täter zu bekämpfen. Dann würden die
1369 Stressoren in dieser Lage alle negativ belegt, der Kollege wäre wohl überfordert.
1370 Man muss wachsen können im Training. Da wird es immer auch
1371 Leistungsunterschiede geben und jeder muss für sich individuell erkennen, wie
1372 weit er gehen kann. Das wäre diese Geschichte: ein guter Schwimmer würde
1373 weiter raus schwimmen, ein schlechter Schwimmer würde sicherlich im Wasser
1374 stehen, auch ein bisschen schwimmen, aber nicht die Grenze überschreiten, wo er
1375 selber untergeht.
1376
1377 I: Was ist mit Sport?
1378
1379 E: Ja, wenn körperliche Anforderungen dazu kommen, sicherlich. Eine gewisse
1380 Grundfitness trägt auf jeden Fall dazu bei, dass man beim Amoktraining zum
1381 Beispiel mit der dicken Schutzweste auch noch in den vierten Stock kommt, ohne
1382 gleich völlig außer Atem zu sein.
1383
1384
1385 I: Was verstehst Du unter „Angst“?
1386
1387 E: Es fällt mir schwer, diese Frage zu beantworten: erst mal ist Angst für mich ein
1388 negatives Gefühl. Und dieses negative Gefühl ist irgendwie individuell, also kann
1389 man Angst nicht für alle definieren, also muss man Angst individuell definieren.
1390
1391 I: Ich zum Beispiel habe Angst vor großen Hunden,…
1392
1393 E: Das ist noch abstrakt: Angst vor großen Hunden. Ich stelle mir jetzt eine
1394 großen Hund vor:
1395 Wie sieht für dich ein großer Hund aus und wie sieht er für mich aus?
121
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1396 I: Wie würde sich Angst bei Dir dann auswirken?
1397
1398 E: Ja, Angst würde sich bei mir bemerkbar machen, vielleicht durch Beobachten
1399 der Situation, vielleicht Rückzug. Wenn ich jetzt sage, Angst vor großen Hunden,
1400 und ich habe schon mal das Erlebnis gehabt, dass mich einer gebissen hat, würde
1401 ich mein Bein da nicht hinhalten wollen. Dann würde ich versuchen, diese
1402 Situation nicht mehr an mich heran zu lassen. Würde bedeuten, der Hund läuft da
1403 frei rum, dann klettere ich auf einen Baum.
1404
1405 I: Die Angst würde dich zu einem sehr handlungsfähigen Verhalten führen. Du
1406 nimmst das angstauslösende Moment wahr, deine Sinne sind geschärft und du
1407 kannst reagieren.
1408 Bei mir würde folgendes passieren:
1409 Ich sehe den großen freilaufenden Hund, innerhalb von Sekunden bin ich
1410 schweißnass, ich habe einen hohen Puls und wenn der Hund dann noch auf mich
1411 zukommt, verharre ich stocksteif und erkenne meine eigene Stimme nicht mehr
1412 beim Schreien.
1413
1414 E: Dann kann Angst auch dazu führen, dass man handlungsunfähig ist. Aber das
1415 ist eben die Individualität des Erlebens. Habe ich schon eine schlechte Erfahrung
1416 gemacht oder bin ich erstmal grundsätzlich aufmerksam, weil ich in dem Hund
1417 eine mögliche Gefahr sehe?
1418
1419 I: Gibt es eine latente Angst, die einen Polizeibeamten im Dienst begleitet?
1420
1421 E. Ja, das ist dieser Egoismus. Ich möchte nicht Opfer sein, ich möchte gesund
1422 nach Hause kommen, ich möchte gewinnen, und zwar nach den Regeln, die ich
1423 einhalte. Auf die Gefahr hin, dass andere die Regeln nicht einhalten. Ein gesundes
1424 Maß an Angst braucht man, um reagieren zu können. Also, vorsichtig sein, nicht
1425 ängstlich, aber Angst haben vor Verletzungen, Angst haben, nicht mehr leben zu
1426 dürfen, das ist in Ordnung. Das bringt den Impuls, das Messer auf dem Tisch als
1427 gefährlich zu betrachten, das Messer unter die eigene Kontrolle bekommen zu
1428 wollen. Aber trotzdem bin ich handlungsfähig, mit dieser Situation umzugehen.
1429
122
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1430 I:
Ein
gesundes
Maß
an
Angst
führt
zu
erhöhter
Wachsamkeit,
1431 Handlungsfähigkeit, ein Übermaß an Angst führt zu Handlungsunfähigkeit und
1432 lähmt?
1433
1434 E: Ja, das kann man so ausdrücken. Angst hat auch eine positive Komponente,
1435 auch wenn der Begriff erstmal negativ belegt ist. Vielleicht kann man es auch
1436 daran festmachen, dass Angst etwas Abstraktes ist, was ich noch nicht selbst
1437 erlebt habe, wie den Hundebiss, die Messerattacke. Habe ich so etwas aber schon
1438 mal erlebt, habe also ein konkretes Erlebnis, dann empfinde ich Furcht vor dieser
1439 Situation.
1440 Ich persönlich sehe Angst aber als etwas Positives, etwas, dass mich vorsichtig
1441 sein lässt, dass mich wachsam und aktiv macht, mein Gefahrenradar aktiviert.
1442 Konkrete Furcht oder Phobien sind aber negativ.
1443
1444
1445 I: : Prof. Dr. Musahl hat festgestellt, dass Menschen ihre Arbeit für subjektiv
1446 ungefährlich halten, obwohl es immer wieder zu Unfällen kommt, die Tätigkeit
1447 also objektiv gefährlich ist. Daraufhin wurde fortlaufend über geschehene Unfälle,
1448 aber auch über „Beinahe- Unfälle“ berichtet. Das führte dazu, dass die Arbeiter
1449 ihre Tätigkeit nun auch aus eigener Sicht als gefährlich wahrnahmen und die
1450 Unfallzahlen sanken.
1451 Wird bei euch über „Glück- gehabt“- Situationen oder Situationen berichtet, in
1452 denen es nur noch Zufall war, dass nichts passierte?
1453
1454 E: In den Trainings werden schon heikle Themen besprochen. Das geschieht
1455 sowohl aus dem Teilnehmerkreis heraus, aber auch wir Trainer machen solche
1456 Situationen transparent, wenn wir sie von anderen gehört haben.
1457 Letztlich werden ja auch zu solchen Themen die Trainings gemacht.
1458
1459 I: Da läuft der Austausch dann im Training, also über die Fortbildungsstelle.
1460
1461 E: Ja, außerdem gibt es im Intranet für jeden Kollegen die Möglichkeit eine Seite
1462 anzuklicken, auf der z.B. über gefährliche Gegenstände wie schießende
1463 Kugelschreiber, schießende Handys oder Messer im Spazierstock berichtet wird.
123
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1464 Manchmal werden solche Erkenntnisse auch an die Dienststellen gesteuert. Wir
1465 drucken die dann aus und hängen sie an unsere Infotafel.
1466 Aber ich glaube, dass die Kollegen da teilweise schon wirklich reizüberflutet sind.
1467
1468 Für uns Trainer gibt es auch schon Foren. Einmal für alle Trainer und noch eines,
1469 wo alle Fahrsicherheitstrainer nach Passwortanforderung Zugriff haben.
1470 Dort können Fragen gestellt werden, wer in welchem Bereich schon welche
1471 Erfahrung gemacht hat. Wie mit bestimmten Problemen umgegangen wird.
1472
1473 Aber ich glaube, der letzte Eintrag in dem Forum war in 2007. Also, es wird
1474 wenig bis kaum genutzt.
1475
1476 I: Wenn es jetzt eine Möglichkeit gäbe, wo Kollegen völlig anonym Situationen
1477 schildern könnten, in denen sie einen taktischen Fehler gemacht haben und es nur
1478 noch Glück war, dass nichts passiert ist,…
1479
1480 E: Das hieße, die Kollegen müssten erkannt haben, dass sie einen Fehler gemacht
1481 haben, diesen dann auch noch zugeben. Teilweise ist es vielleicht nicht möglich,
1482 Fehler zuzugeben, zum Beispiel, wenn dann Konsequenzen folgen müssten. Wenn
1483 einer ohne Waffe raus geht, dann kann er diesen Fehler schlecht zugeben, denn er
1484 würde sich sehr angreifbar machen.
1485 Selbst wenn das Fehlverhalten nicht sanktioniert werden müsste, bliebe für mich
1486 die Frage, ob andere davon profitieren würden. Manche Dinge kann man dann
1487 zwar lesen, teilweise liest man auch bekannte Sachen, die immer wieder
1488 geschehen, aber dadurch erlebt man die Dinge auch nicht selber. Bei manchen,
1489 fürchte ich, kommt die Einsicht erst, wenn sie einen Angriff erlebt haben. Erst
1490 dann werden sie aufmerksam.
1491
1492 I: Aus den Erfahrungen mit den Trainerforen schließt Du also, dass die Kollegen
1493 so etwas eher nicht nutzten?
1494
1495 E: Ja, das glaube ich. Die, die sowieso interessiert sind, machen sich schlau mit
1496 dem, was es gibt. Die gehen sensibel mit dem Thema Eigensicherung um und
1497 lernen auch aus ihren Fehlern, bzw. aus den Fehlern anderer. Andere aber
124
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1498 erkennen ja nicht mal, dass es bisher einfach nur Glück war, dass sie nicht
1499 angegriffen wurden. Diese Kollegen sehen keine Notwendigkeit, ihr Verhalten zu
1500 ändern.
1501
1502 I: Ich danke Dir, dass Du mir mit Deinem Wissen weitergeholfen hast und Dir
1503 diese Zeit genommen hast.
125
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
Interview Nr. 5, 18. Juni 2008
Experte: Herr W., Kursleiter eines Ausbildungsinstitutes in Nordrhein- Westfalen
Persönliche Daten:
Name:
Herr W.
Alter:
45 Jahre
Bei der Polizei seit:
1985
Beim Ausbildungsinstitut seit:
2000
Vorbemerkungen:
Herr
W.
ist
als
Kursleiter
verantwortlich
für
die
Ausbildung
der
KommissaranwärterInnen des Landes NRW. Durch diesen Arbeitsschwerpunkt
ergibt sich für ihn eine andere Zielgruppe als für Trainer SEK und der Behörden,
nämlich Auszubildende, die noch keine praktische Diensterfahrung haben und
Auszubildende, die bereits einen Praxiseinsatz hinter sich haben.
Die regionale Fortbildung, die durch die Ausbildungsinstitute nach wie vor
geleistet wird, war vor der Kursleitertätigkeit eine weitere Aufgabe des Herrn W.
Nach wie vor finden regionale Seminare für Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte
statt, die Herr W zum Teil leitet oder/ und unterstützt.
Abschrift der Kassetten 1 und 2:
1504 I: Gibt es, aus Deiner eigenen Erfahrung und aus Erfahrungen von Teilnehmern,
1505 Situationen, in denen es besonders häufig zu Angriffen auf Polizeibeamte kommt?
1506
1507 E: Häufig bei Streitigkeiten. Und bei allen Situationen, die mit Alkohol zu tun
1508 haben.
1509
126
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1510 I: Beim Einsatzanlass „Streitigkeiten“ sollte also schon mal eine „Alarmlampe“
1511 angehen? Und wenn man mitbekommt, dass Alkohol im Spiel ist, würde dass die
1512 Situation verschärfen?
1513
1514 E: Ja, aber auch getrennt voneinander. Eine Streitigkeit kann mit oder ohne
1515 Alkohol brisant sein. Und irgendwelche anderen Einsätze, bei denen
1516 alkoholisierte Personen dabei sind, haben ebenfalls diese Brisanz. Ich denke
1517 gerade an die typischen Schützenfest- Einsätze. Wenn die sich besoffen
1518 untereinander hauen, muss man auch damit rechnen, dass man selber einen
1519 mitkriegt.
1520
1521 I: Könntest Du Alkohol als eine Rahmenbedingung für Brisanz bezeichnen?
1522 Unabhängig vom Einsatzanlass?
1523
1524 E: Ja, Alkohol ist so das Klassische. Aber sonst??
1525
1526 I: Was ist mit Dunkelheit oder schlechten Sichtverhältnissen?
1527
1528 E: Ich glaube nicht, dass es durch Dunkelheit gefährlicher wird. Aber schon, dass
1529 ein Angriff, wenn er bei Dunkelheit passiert, schwieriger abzuarbeiten ist. Wenn
1530 ich zu einem Familienstreit fahre, kommt es zum Angriff oder nicht, es ist egal
1531 ob es dabei hell oder dunkel ist. Es hängt nicht von der Uhrzeit oder den
1532 Lichtverhältnissen, sondern eher von der Konstitution meines Kontrahenten ab
1533 und auch von meinem kommunikativen Geschick ab.
1534 Ob es zum Angriff kommt oder nicht, bestimme ich ja zum Teil auch selber. Ich
1535 formulier mal böse: ich kann schon teilweise selber entscheiden, in welcher
1536 Situation ich angegriffen werde oder nicht. Das habe ich auch schon erlebt. Ich
1537 fuhr mit einem Kollegen zu einer Person, die festgenommen werden sollte. Der
1538 Kollege fing an zu sprechen und nach drei Sätzen habe ich ihn unterbrochen und
1539 selber weiter geredet. Mein Kollege hatte eine derart aggressive Ansprache
1540 gewählt, dass ich sofort den Eindruck hatte, der ist „auf Krawall gebürstet“. Das
1541 hat er hinterher auch selber gesagt.
1542 Über Kommunikation ist einfach ganz viel zu steuern.
127
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1543 Die Tit- for- Tat- Strategie als psychologischer Aspekt kommt da ins Spiel, also
1544 die bedingte Freundlichkeit: Ich bin solange freundlich, wie mein Gegenüber es
1545 auch ist. Wird er aggressiv, stelle ich meine Freundlichkeit solange ein, bis er
1546 wieder freundlicher wird.
1547 Das ist auch eine Philosophie- Frage. Wir haben jahrelang nur deeskaliert: je
1548 lauter einer wurde, desto freundlicher wurden wir. Mittlerweile weiß man aber
1549 auch, dass dieses „immer- Freundliche“ auf das Gegenüber als Schwäche wirken
1550 kann. Und einen Schwachen kann man eher angreifen – er lädt dazu ein
1551 Für den Polizeibeamten bedeutet die Tit- for- Tat- Strategie, dass er auch mal eine
1552 Punkt und ein Ausrufezeichen setzen muss. Dem anderen deutlich zeigen, wo die
1553 Grenze ist.
1554
1555 I: Eine Rahmenbedingung würdest Du im Verhalten, oder besser in der
1556 Philosophie des Polizeibeamten sehen?
1557
1558 E: Ja, klar. Eine Rahmenbedingung könnte auch sein, ob ich die Leute kenne, wo
1559 ich jetzt gerade zum Familienstreit fahre. Das kann positiv oder negativ sein. Man
1560 kann sich gerade dann böse vertun, wenn man glaubt, die Leute zu kennen. Ein
1561 Kollege hat mir mal erzählt, dass er bei einem Familienstreit verletzt worden ist,
1562 wo er überhaupt nicht damit gerechnet hat. Die Familie war bekannt, betrunkener
1563 Ehemann schlägt Frau. Die keifende Ehefrau stand schon vor der Tür, Ehemann in
1564 der Wohnung. Alles klar. Die Frau kommt den Kollegen entgegen und der
1565 Kollege bekommt von der Frau eine gescheuert. Stumpf ins Gesicht.
1566 Den Angriff konnte er nicht abwehren, weil das nicht zu dem gehörte, was er
1567 kannte. Der war total geschockt, weil die Geschädigte ihn angegriffen hatte.
1568
1569 I: Der Kollege hatte vorher ein Bild von der Situation, dann passte etwas nicht in
1570 dieses Bild, aber er hatte nichts für diesen Fall vorgedacht, dass er jetzt hätte
1571 abrufen können.
1572
1573 E: Richtig. Der hatte keinen Plan dafür. In seinem Schema, in seinem
1574 Handlungskonzept war das nicht drin.
1575
128
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1576 I: Die Kollegen können nur mit dem umgehen, dass ihnen möglich erscheint?
1577 Wenn sie etwas für unmöglich halten, brauchen sie ja daran keinen Gedanken
1578 verschwenden?
1579
1580 E: Dafür sind Seminare gut. Kollegen, die sich zwei oder drei Tage austauschen
1581 und sich „Geschichten“ erzählen. Das ist so wertvoll.
1582
1583 I: Du hast es gerade in dem einen Sachverhalt beschrieben: der Kollege ist
1584 überrascht worden. Erleben Polizeibeamte die Angriffe als plötzlich und
1585 überraschend? Unvermittelt?
1586
1587 E: Es ist für die Kollegen immer dann plötzlich und unvermittelt, wenn sie sich
1588 das, was da passiert, nicht vorstellen können. Beispiel: ich halte jeden Tag vier
1589 oder fünf Autos an, frage nach Führerschein, Fahrzeugschein.
1590 Da geschehen immer dieselben Handgriffe. Mal greift der Angesprochene in die
1591 Innentasche seiner Jacke, mal zur Sonnenblende, mal ins Handschuhfach,….. Ich
1592 könnte mir vorstellen, dass es Kollegen gibt, die nicht einmal wahrnehmen
1593 würden, wenn auf der Rücksitzbank eine Schrotflinte liegt. Weil sie sich damit gar
1594 nicht beschäftigen, nicht auseinandersetzen. Das ist zwar nicht unmöglich, dass
1595 jemand dort eine Langwaffe liegen hat, aber nicht sehr wahrscheinlich.
1596 Und wenn der Autofahrer dann nach hinten nach der Flinte greift, dann ist das so
1597 nicht vorgesehen in der Vorstellung der Kollegen.
1598 Wenn der Kollege das dann noch realisiert, hat er eine Chance, aus der Situation
1599 rauszukommen. Situationen sind dann gefährlich, wenn sie überraschend sind.
1600
1601 I: Die Überraschung kommt dann durch die Routine? Ich kenne die
1602 Handlungsabläufe, habe bekannte Muster, die ich abspulen kann. Gleichzeitig
1603 führt die Tatsache, dass es ja immer gut gegangen ist, dazu, dass ich eher
1604 unaufmerksam werde…
1605
1606 E: Der Idealtyp wäre ja, dass man durch Berufserfahrung bestimmte
1607 Handlungskonzepte hat und bereit ist, diese weiterzuentwickeln. Also flexible
1608 Handlungsmuster statt starrer Gebilde sollte man haben. Einige bleiben
1609 irgendwann stehen. Wir machen unsere Ausbildung, haben für die typischen
129
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1610 Vorkommnisse im täglichen Dienst unsere Handlungspläne. Das ist einerseits gut,
1611 damit ich die Lagen bewältigen kann, kann aber auch gefährlich sein, wenn ich
1612 mich fest darauf verlasse, dass alle beteiligten Personen immer so mitspielen wie
1613 in dem Schema erwartet.
1614 Allein, wenn man sich immer wieder bewusst macht, sei es durch Seminare oder
1615 durch mentales Training, dass es stets Situationen geben wird, in denen vom Plan
1616 abgewichen wird, dann ist das schon gut.
1617
1618 Ich bin der Meinung, dass wir die Kollegen, egal, wie alt sie sind, im Training
1619 immer wieder in Situationen bringen müssen, wo sie feststellen, dass es anders ist,
1620 als sie es erwartet haben. Das müssen keine spektakulären Dinge sein.
1621
1622 I: Ihr trainiert alltägliche Lagen und auch die „unmöglichen“ Lagen?
1623
1624 E: Wir trainieren Situationen, die sie fordern. Situationen, die sie aus diesem „Ich1625 kann- alles“ - Denken rausbringen.
1626
1627 I: Situationen, in denen sie eigene Defizite erkennen können….. und daraus die
1628 Motivation ziehen, sich neu zu ordnen und zu überdenken.
1629
1630 E: Und genau das ist das Schwierige. Es scheint auch etwas mit Gruppendynamik
1631 zu tun zu haben, dass es so unendlich schwierig ist, die Leute dazu zu bringen,
1632 dass sie überhaupt einräumen, dass sie eventuell einen Fehler gemacht haben.
1633 Aber da bleiben wir dran. Und wenn der Kollege am dritten Tag geht und etwas
1634 mitgenommen hat, dann soll er in der Gruppe meinetwegen so tun, als würde ihn
1635 nichts betreffen. Wenn er für sich aber doch das ein oder andere mitnimmt, dann
1636 ist das okay.
1637
1638
1639 I: Was verbindest Du mit dem Begriff Angst?
1640
1641 E: Ich selber habe ein gutes Verhältnis zur Angst.
1642 Angst ist erstmal im Schutzmannsbereich negativ belegt. Man hat doch keine
1643 Angst, Angst hätte ja etwas mit Schwäche zu tun.
130
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1644 Ein Polizist soll keine Angst haben, soll sich nicht vor bestimmten Situationen
1645 fürchten. Er soll höchstens sensibel für bestimmte Situationen sein, Respekt davor
1646 haben.
1647 Ich denke aber, dass das nur eine Idealvorstellung ist. Natürlich hat man auch mal
1648 Angst im Sinne von Befürchtung, z.B. verletzt zu werden.
1649 Ich erinnere mich an eine Festnahmesituation eines Gewalttäters. Als wir da vor
1650 der Tür standen, und ich wusste nicht, was gleich passiert, hatte ich Angst im
1651 Sinne von Befürchtung, dass ich verletzt werden könnte. Das finde ich völlig
1652 normal.
1653 Schwierig wird Angst an dem Punkt, wo sie in Panik umschlägt. Wo mich die
1654 Angst in einer Einsatzsituation handlungsunfähig werden lässt. Ich selber habe da
1655 keine unmittelbare Erfahrung, aber man hört doch immer wieder, dass es in einem
1656 Einsatz dazu gekommen ist, dass Kollegen auf einmal nicht mehr gehandelt
1657 haben, weil sie nicht mehr handeln konnten.
1658
1659 I: Wie wird mit Thema Angst, Stress im Training umgegangen?
1660
1661 E: Ich nehme jetzt mal die Ausbildung: Wir setzen die Studierenden schon unter
1662 Stress, aber kontrolliert. Das, was wir in der Ausbildung mit Studenten trainieren,
1663 sind ja Basisfertigkeiten. Das heißt, die Anlage ist eigentlich so, dass dort
1664 Rollenspiele gemacht werden, die jeder bewältigen können muss, ohne
1665 Schweißausbrüche zu kriegen. Das ist eher stressfrei. Wir trainieren vom
1666 Einfachen zum Schweren, erst in Sequenzen, dann in komplexen Lagen. So
1667 werden aus einer Verkehrsunfallaufnahme 3- 4 Blöcke gemacht, die für sich
1668 erstmal
trainiert
werden.
Zum
Ausklang
werden
diese
Sequenzen
1669 zusammengeführt und es gibt eine Abschlussübung, aber halt erst mal relativ
1670 stressfrei. Wobei wir schon gucken, ob einer dabei ist, den das total unterfordert.
1671 Das muss man ein bisschen ausloten. Da die Bewertung noch keine Rolle spielt,
1672 können wir auch den ein oder anderen schon mal etwas unter Stress setzen, um
1673 ihn zu fordern. Aber dass wir die Studenten im Rahmen der Ausbildung mit so
1674 viel Stress konfrontieren, dass sie die Lage nicht mehr bewältigen können,
1675 Befürchtungen erleben, verletzt zu werden oder gar Angst bekommen, machen
1676 wir nicht. Es geht um Basisfertigkeiten.
131
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1677 Klar, in Trainingsbereichen wie „Streitigkeiten“ produzieren wir schon mal
1678 Stress. Da kann man ja von 0 bis 100 alles spielen. In diesem Bereich ist es auch
1679 gewollt, dass die Studenten sich körperlich auseinandersetzen müssen. Sie sollen
1680 die gelernten Eingriffstechniken einsetzen können. Und das ist für einige schon
1681 eine ganz andere Baustelle. Je nachdem, was da als Einsatz kommt: Zahlungsstreit
1682 mit dem Taxifahrer, wo es eher um die verbale Auseinandersetzung geht,
1683 harmlosere Nachbarschaftsstreitigkeiten bis zu zur Familienstreitigkeit, wo der
1684 Mann die Frau schon verprügelt hat. Da geht es auch darum, einen Fall von
1685 Häuslicher Gewalt zu erkennen und die entsprechenden Maßnahmen zu treffen.
1686 Das geht bis hin zur Wohnungsverweisung, die mit Zwang durchgeführt werden
1687 muss. Da wissen die Studenten eben nicht genau, was auf sie zukommt, und das
1688 löst doch schon mehr Stress aus. Und eine wichtige Rolle spielt auch, dass oft die
1689 Studenten als Rollenspieler eingesetzt werden und die schenken sich ja
1690 untereinander nichts.
1691 Da kommen dann auch Gedanken dazu, welcher Kommilitone jetzt wohl der
1692 Rollenspieler ist. Ein großer oder kleiner? Einer, der super fit ist ? Einige erleben
1693 das als weiteren Stressfaktor.
1694
1695 I: Stress hat also auch etwas damit zu tun, dass man die Situation, die auf einen
1696 zukommt, nicht kennt?
1697
1698 E: Ja, Ungewissheit spielt eine große Rolle. Die Studenten hören das Schlagwort
1699 „Familienstreit“ und damit verbinden die ja auch was. Abhängig natürlich von den
1700 Erfahrungen, die sie schon gemacht haben. Eventuell haben sie etwas völlig
1701 Unproblematisches erlebt oder aber auch etwas Gewalttätiges.
1702 Wir spielen Rollenspiele bis hin zur Schlägerei in der Gaststätte, d.h. die kommen
1703 da rein und plötzlich kommt denen einer mit einem schweren Aschenbecher in der
1704 Hand entgegen. Je nach Intensität erlebt dann doch der ein oder andere Hochstress
1705 bis hin zu Angst, weil er fürchtet, verletzt zu werden. Obwohl alle wissen, dass es
1706 doch nur eine Übungssituation ist. Obwohl sie wissen, dass sie hier darauf
1707 vertrauen können, dass wir nicht bis zu wirklichen Verletzungen spielen.
1708 Verletzungen bleiben natürlich auch im Training nicht aus, aber das sind harmlose
1709 Sachen, die kurz weh tun und dann ist es auch wieder gut.
1710
132
Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1711 Beim Amoktraining ist das schon anders. Wir trainieren erstmal „nur“ die 360
1712 Grad- Sicherung und die richtige Waffenhaltung. Derzeit wird in der Ausbildung
1713 noch nicht mit FX- Waffen trainiert. Aber trotzdem reicht offenbar die
1714 Vorstellung, dass sie eine Amoklage bewältigen müssen. Wir setzen manchmal
1715 eine Person in einen Raum hinein, der sitzt nur dort und macht nichts. Aber im
1716 Zusammenhang mit „Opfern“, die schreiend über den Flur rennen oder Menschen,
1717 die verletzt am Boden liegen, macht das schon Stress.
1718 Ein wichtiger Aspekt ist dabei einfach, dass die Studenten das schon einmal erlebt
1719 haben. Natürlich wird die Echtlage anders sein, aber ein bisschen davon haben sie
1720 in der Übung schon kennen gelernt und bewältigt.
1721 Wir hatten in einem anderen Seminar den Prof. Ungerer (Anm. der Verfasserin:
1722 Dietrich Ungerer, Sicherheitswissenschaftler) mal hier. Der hat gesagt, dass man
1723 Situationen wie einen plötzlichen Angriff oder Amok überleben kann, wenn man
1724 solche Situationen mal im Training erlebt hat. Sicher kann man nicht jede
1725 mögliche Situation, die jemals passiert, vorher trainieren, aber allein das
1726 Durchspielen von Situationen im Kopf führt schon dazu, dass ich vielleicht genau
1727 die halbe Sekunde an Ressource frei habe, um auch handeln zu können. Sonst
1728 wäre ich handlungsunfähig. Wenn ich in eine Situation komme, über die ich mir
1729 noch nie Gedanken gemacht habe, dann falle ich erstmal in eine Schockphase und
1730 wenn`s schlecht läuft, komme ich da nicht mehr raus. Ich falle in diese Opferrolle
1731 und bleibe da auch. Und das ist eine ganz gefährliche Geschichte.
1732
1733 Wir sehen das gerade in der regionalen Fortbildung beim FX- Waffentraining:
1734 Da kriegt jemand ein, zwei Schuss auf die Schutzweste und der macht gar nichts
1735 mehr.
1736
1737 I: Da ist dann selbst in der Trainingssituation der Schock so groß, dass kein
1738 Handeln mehr möglich ist,..
1739
1740 E: In der Ausbildung reden wir ja erst mal über solche Situationen wie Amok und
1741 dann versuche ich, meinen Studenten ein Gespür dafür zu vermitteln. Da wird es
1742 meist ganz still im Raum. Ich sage den Studenten, dass sie sich irgendwann
1743 einmal, besser früher, damit auseinander setzen müssen, was sie tun, wenn sie in
1744 eine lebensbedrohliche Situation kommen, z.B. mit einem Messer angegriffen
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Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1745 werden oder mit einer Schusswaffe. Sie sollten sich fragen, ob sie in der Situation,
1746 wo sie in ihrem Leben bedroht werden, bereit sind, zu schießen. Dann sagen sie
1747 noch oft alle, ja, machen wir. Aber wenn ich die Frage anders stelle, sie frage, ob
1748 sie also bereit sind, jemanden zu töten, dann ist oft Schweigen. Das verknüpfen
1749 viele erst mal gar nicht und es gehört auch zu unseren Aufgaben, sie darauf
1750 vorzubereiten.
1751 Ich beispielsweise habe irgendwann einmal die Entscheidung getroffen, dass ich
1752 töte, wenn es darum geht, dass nur er oder ich überleben kann.
1753
1754
1755 I: Noch mal zu den praktischen Trainings. Jetzt macht ein Teilnehmer einen
1756 taktischen Fehler im Seminar, im Training, wie wird das nachbereitet?
1757
1758 E: In den meisten Fällen läuft die Sequenz erstmal weiter, bei Abschlussübungen,
1759 in denen schon mehrere Sequenztrainings zusammengeführt werden, läuft oft
1760 auch eine Videoaufnahme mit. Aber auch hier läuft die Lage erstmal durch. Nach
1761 der Sequenz gibt es immer eine kurze Rückmelderunde.
1762 In einigen wenigen Fällen, wenn etwas Gravierendes geschieht, unterbrechen wir
1763 auch in der Sequenz und sagen den Agierenden, sie möchten sich mal anschauen,
1764 wo sie gerade stehen oder wohin ihre Waffe zeigt. Damit haben die Teilnehmer in
1765 der Situation sofort die Möglichkeit, ihren Fehler zu erkennen und können es
1766 ändern.
1767 Bei FX- Waffen- Trainings erfahren die Teilnehmer eine Rückmeldung durch
1768 Treffer auch unmittelbar. Hat der Täter- Rollenspieler eine Chance, auf den
1769 Agierenden zu schießen, weil der die vorhandene Deckung nicht nutzt, dann wird
1770 er das tun. Der Teilnehmer wird getroffen und erkennt so, dass er einen Fehler
1771 gemacht hat.
1772 Ein FX- Treffer auf ungeschützte Körperpartien kann auch schon mal ein bisschen
1773 weh tun oder einen blauen Fleck geben.
1774 Ansonsten ist die Videorückmeldung bei uns sehr beliebt. Teilnehmer, die bei
1775 einer Rückmeldung durch Trainer steif und fest behaupten, sie hätten dies oder
1776 jenes niemals gemacht, denen zeigt man nur das Band. Da muss man oft gar
1777 nichts mehr sagen, weil die ihre Fehler selber sehen und erkennen.
1778
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Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1779 I: Wie reagiert ihr, wenn ein Teilnehmer immer und immer wieder den gleichen
1780 Fehler macht, obwohl ihr ihm schon mehrfach zurückgemeldet habt, dass er sich
1781 taktisch falsch verhält?
1782
1783 E: Ja, es gibt Teilnehmer, die sind völlig beratungsresistent. Denen kannst du zig
1784 Mal was erklären, die finden immer eine Ausrede, warum sie sich jetzt so oder so
1785 verhalten haben. Die behaupten auch, dass sie alles können, wenn es in der
1786 Echtlage hart auf hart kommt. Es hat niemals etwas mit eigenen Defiziten zu tun,
1787 wenn etwas nicht klappt.
1788 Da ist das FX- Waffen Training Gold wert. Da kriegen die dann auch mal ihre
1789 Grenzen aufgezeigt.
1790
1791 I: Aber dass ihr resigniert und den Fehler nicht mehr ansprecht?
1792
1793 E: Nein, dafür ist es uns selbst zu wichtig. Das wäre uns auch zu einfach.
1794 Manchmal sind es ja sogar gar nicht die hochkomplizierten Dinge, die immer
1795 wieder falsch gemacht werden, sondern einfache Handgriffe. Das liegt uns zu sehr
1796 am Herzen, als wir aufhören, darauf hinzuweisen. Wenn irgendeiner absolut
1797 nichts annehmen will, dann können wir das nicht ändern, aber er bekommt von
1798 uns alle Möglichkeiten, sein Verhalten zu überdenken.
1799
1800 I: Prof. Dr. Musahl hat festgestellt, dass Menschen ihre Arbeit für subjektiv
1801 ungefährlich halten, obwohl es immer wieder zu Unfällen kommt, die Tätigkeit
1802 also objektiv gefährlich ist. Dann wurde fortlaufend über geschehene Unfälle,
1803 aber auch über „Beinahe- Unfälle“ berichtet. Das führte dazu, dass die Arbeiter
1804 ihre Tätigkeit nun auch aus eigener Sicht als gefährlich wahrnahmen und die
1805 Unfallzahlen sanken.
1806 Wird bei euch über „Glück- gehabt“- Situationen oder Situationen berichtet, in
1807 denen es nur noch Zufall war, dass nichts passierte?
1808
1809 E: Ja, wenn ich dabei an den Verkehrsdienst denke, der 100 Autos anhält und das
1810 für nicht gefährlich hält, dann trifft das wohl auch auf die Polizei zu. Bei unserem
1811 Seminar „Eigensicherung beim Anhalten von Fahrzeugen“ in der regionalen
1812 Fortbildung zeigen wir, was dabei doch alles passieren kann.
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Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1813 Es ist schwierig, darüber eine Statistik zu erheben. Mich hat auch immer
1814 interessiert, wie oft das Anhalten denn gut gegangen ist. Das könnte man aber
1815 vermutlich nur über eine Täterbefragung raus bekommen. Wer am liebsten
1816 angegriffen hätte, es dann aber doch nicht getan hat.
1817 Bei den Rollenspielen im Seminar ist es ja auch so, dass der Täter (Rollenspieler)
1818 dann nach dem Übungsdurchlauf zurückmeldet, dass die Kollegen das Messer auf
1819 der Rückbank nicht gesehen haben. Ich fordere die Kollegen dann gerne auf, mal
1820 zu überlegen, wie viele Autos sie im Dienst schon angehalten haben und wie viel
1821 sie dabei wohl übersehen haben könnten. Einen Totschläger in der Seitenablage,
1822 den sie nicht wahrgenommen haben.
1823 Dieser Totschläger spielt natürlich dann auch keine Rolle, weil die Person,
1824 vielleicht ein Täter, damit nichts gemacht hat.
1825 Oder wie viele Leute vielleicht Schusswaffen im Handschuhfach gehabt haben,
1826 die wir als Polizei nicht wahrgenommen haben, die aber deshalb keine Rolle
1827 spielen, weil sie nicht eingesetzt wurden.
1828
1829 I: Könntest Du Dir vorstellen, dass es zu einem „Aufwachen“ der Kollegen käme,
1830 wenn man über solche Sachverhalte informiert? Also Fälle, in denen die Kollegen
1831 eine Waffe wahrgenommen haben, entsprechend darauf reagiert haben, aber diese
1832 Waffe nicht eingesetzt worden ist?
1833
1834 E: Ich glaube, dass allein das Wissen darum, wo man überhaupt Gegenstände
1835 verstecken kann, schon wach macht. Dabei geht es noch nicht mal richtig um
1836 Verstecke, sondern einfach darum, wo gefährliche Gegenstände überhaupt liegen
1837 können. Selbst bei offen auf dem Rücksitz liegenden Waffen, wundern sich im
1838 Training die Teilnehmer, dass da etwas liegen kann. Und sie wundern sich, wie
1839 kurz die Wege für den Täter sind, die Waffe zu nehmen und einen Angriff zu
1840 starten.
1841
1842 I: Ein Austausch zwischen den Kollegen findet dann im Seminar statt. Findet so
1843 ein Austausch auch in den Dienstgruppen statt?
1844
1845 E: Wir haben zum Anfang viele IF- Trainer im Seminar gehabt. Die Idee war,
1846 dass das auch weiter multipliziert wird. Die Trainer haben die Information
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Masterarbeit im Studiengang „Öffentliche Verwaltung und Polizeimanagement“
1847 mitgenommen, teilweise auch Seminarinhalte in ihre Behörden transportiert. So
1848 hat sich da schon etwas verändert.
1849 Die Kollegen sprechen in den Behörden auch darüber. Das erfahren wir, wenn
1850 jemand zum zweiten Mal kommt oder jemand kommt, der es von einem anderen
1851 erfahren hat. Da wird schon drüber gesprochen.
1852
1853 I: Was hältst du von einer Intranetplattform, wo sich Kollegen anonym über
1854 Sachverhalte austauschen könnten, die sie erlebt haben? Schwerpunktmäßig über
1855 die Sachverhalte, wo sie sich taktisch nicht richtig verhalten haben und es aber
1856 wegen glücklicher Umstände nicht zu einem Angriff kam?
1857
1858 E: Könnte ich mir sehr gut vorstellen. Weil das ein Forum wäre, wo sie taktische
1859 Sachen austauschen könnten. Aber das sollte auch anders herum gehen. Dass sie
1860 dort darüber berichten, wenn sie positive Erfahrungen gemacht haben mit einer
1861 Taktik oder Eingriffstechnik, die sie bei einem Seminar gelernt haben.
1862 Das erleben wir schon mal bei den Studenten. Ich bin ja auch Lehrer für
1863 Eingriffstechniken und wenn die Studenten nach den ersten Trainingsbausteinen
1864 hier ins Praktikum gehen, bekomme ich auf einmal eine Email, dass eine Technik
1865 angewendet werden konnte und dass es gut geklappt hat.
1866 Oder auch, dass die Studenten im Trainingsbaustein 4, also im zweiten
1867 Studienjahr, wieder hierher kommen und sagen, dass etwas nicht geklappt hat.
1868 Ich kann mir schon vorstellen, dass so etwas als eine Art Forum eine gute Sache
1869 wäre.
1870 Es gibt ja Foren im Internet, z.B. zum Thema Verkehrsunfallaufnahme. So etwas
1871 machen Kollegen selber und dort kann man sich auch über Erfahrungen
1872 austauschen.
1873
1874 I: Ich habe die Befürchtung, dass sich nur die Leute, die sich sowieso für das
1875 Thema Eigensicherung interessieren, damit beschäftigen würden. Und die, die es
1876 nötig haben, gucken nicht rein.
1877
1878 E: Das kann stimmen. Das sieht man bei unseren Studenten beim Sport: die, die
1879 abends laufen gehen sollten, die tun das nicht und die, die es gar nicht brauchen,
1880 die laufen jeden Tag.
137
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1881 Und das ist diese Erkenntnis: „Ich habe ein Defizit!“. „Ich muss was tun!“ die
1882 fehlt meist. Diese Erkenntnis hat ein Schutzmann ja relativ selten. Der kann ja
1883 alles.
1884
1885 I: Es gibt ein Trainerforum und auch eines für Fahrsicherheitstrainer. Hast Du
1886 davon schon mal etwas gehört? Da habe ich festgestellt, dass selbst Trainer,
1887 hochmotiviert in Sachen Eigensicherung, dieses Forum kaum nutzen.
1888 Wie kann man so etwas attraktiv gestalten, dass die Leute mitmachen? So ein
1889 Forum lebt nur, wenn es belebt wird, dadurch, dass viele schreiben.
1890
1891 E: Ich denke, dass es einfach was mit zusätzlicher Arbeit zu tun hat. Ob richtig
1892 oder nicht: die meisten haben das Gefühl, dass sie völlig ausgelastet sind und ein
1893 „Mehr“ an Aufgaben einfach nicht mehr drin ist.
1894 Außerdem muss man sich damit auch beschäftigen wollen!
1895 Ich habe diesen Kulturschock erlebt: vom PP Köln in eine kleine Landbehörde. In
1896 Köln hatte ich 1000 Vorgänge auf dem Tisch und das war natürlich viel. Später
1897 hatte ich mich an die 300 Vorgänge in der kleinen Behörde gewöhnt und ehrlich
1898 gesagt, fand ich das dann auch viel. So fühlt sich vermutlich jeder zu 100 %
1899 ausgelastet.
1900
1901 I:
Und
daher
besteht
auch
weniger
Bereitschaft,
freiwillig
was
1902 niederzuschreiben,..
1903
1904 E: Es sei denn, man kriegt den Kollegen vermittelt, dass es sie wirklich betrifft.
1905 Wenn jemand auf der Dienstgruppe schwer verletzt wurde, dann könnte ich mir
1906 vorstellen, dass auf einmal alle interessiert sind am Thema Eigensicherung.
1907 Das klingt total schlimm, aber ich glaube, das ist so.
1908 Aber selbst dann kommt es irgendwann wieder zu dem Punkt, wo Ruhe einkehrt,
1909 Gras über die Sache gewachsen ist, und dann ist es vielleicht auch wieder vorbei
1910 mit dem Interesse.
1911
1912 I: Ich danke Dir sehr für Deine Hilfe und die Zeit, die Du mir zur Verfügung
1913 gestellt hast.
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Anlage 2
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