Allgemeine Psychologie 1 Herbstsemester 2008 29.10.2008 (aktualisiert) Prof. Dr. Adrian Schwaninger Überblick Wahrnehmung: Wahrnehmung: Sinnesorgane Sinnesorgane Prozesse und Grundprinzipien Sehen Hören Tastsinn Tastsinn Geschmackssinn Geruchssinn Kinästhetischer Sinn (Lage und Bewegung des Körpers im Raum) Wahrnehmung: Wahrnehmung: Organisation Organisation und und Interpretation Selektive Aufmerksamkeit Aufmerksamkeit Wahrnehmungstäuschungen Wahrnehmungsorganisation Wahrnehmungsinterpretation Prof. Dr. Adrian Schwaninger www.psychologie.uzh.ch/vicoreg 2 1 Hören Schallwellen sind ringförmige Bänder sich komprimierender und sich ausdehnender Luft. Unsere Ohren nehmen diese Veränderungen im Luftdruck wahr und wandeln sie in neuronale Impulse um, die das Gehirn als Töne dekodiert. Schallwellen unterscheiden sich in ihrer Frequenz und Amplitude, die wir als Unterschiede in der Tonhöhe und der Lautstärke wahrnehmen. Prof. Dr. Adrian Schwaninger www.psychologie.uzh.ch/vicoreg 3 Akustische und auditorische Grundbegriffe Für das Ohr ist die Schallwelle der adäquate Reiz. Ihre physikalische Beschreibung heisst Akustik. Anatomische, biochemische und physiologische Vorgänge beim Hören werden hingegen als auditorisch oder auditiv bezeichnet. Hörbare Schallwellen treten im täglichen Leben in der Regel als Druckschwankungen der Luft auf. Ihre Frequenz wird in Hertz (Hz) angegeben, d.h. in Anzahl Schwingungen pro Sekunde. Mit dem Begriff Ton ist eine Sinusschwingung gemeint, die nur aus einer einzigen Frequenz besteht. Töne sind im täglichen Leben eine Ausnahme. Allerdings werden sie vom Arzt häufig als Stimulus bei Hörprüfungen verwendet. Auch Musik setzt sich normalerweise nicht aus reinen Tönen, sondern aus Klängen zusammen. Klänge bestehen in der Regel aus einem Grundton mit mehreren Obertönen. Die Obertöne sind ein ganzzahliges Vielfaches der Frequenz des Grundtones. Die meisten Schallereignisse des täglichen Lebens sind keine Töne oder Klänge, sondern umfassen praktisch alle Frequenzen des Hörbereiches. Hierzu zählt auch die Sprache. Akustisch werden sie als Geräusch bezeichnet. Prof. Dr. Adrian Schwaninger www.psychologie.uzh.ch/vicoreg 4 2 Schalldruck und Schalldruckpegel Die Stärke einer Schallwelle, d.h. ihre Amplitude heisst Schalldruck. Der Schalldruck wird wie jeder Druck in Pascal angegeben: Druck = Kraft / Fläche P = F/A 1 Pa = 1 N/m2 Die grosse dynamische Breite des menschlichen Ohres führt bei Angabe von Schalldruck zu umständlich grossen Zahlen. Daher wird in der Regel der Schalldruckpegel angegeben. Seine Masseinheit ist das Dezibel (dB), das praktisch anwendbare Zahlenwerte ergibt (siehe Tabelle auf nächster Folie). Der Begriff »Pegel« sagt aus, dass der zu benennende Schalldruck px zu einem einheitlich festgelegten Bezugsschalldruck p0 in einem bestimmten logarithmischen Verhältnis steht. Mathematisch ist der Schalldruckpegel SPL (sound pressure level) definiert als: SPL = 20 log px/p0 [dB] Der Bezugsschalldruck p0 ist in der Nähe der Hörschwelle und beträgt 2×10–5 Pa. Prof. Dr. Adrian Schwaninger www.psychologie.uzh.ch/vicoreg 5 Schalldruck und Schalldruckpegel Steigt der Schalldruckpegel um 20 dB, so hat sich der Schalldruck tatsächlich verzehnfacht. Bei 80 dB sind bereits 4 Verzehnfachungsschritte (80/20=4) erreicht. Der Schalldruck ist daher um 104, also um das zehntausendfache gesteigert. 100 dB entspricht gemäss EU Zunahme des Norm der Maximallautstärke Schalldruckpegel (SPL) dB Schalldruckes von MP3 Playern. 1 Bezugsschalldruck 0 Längerfristige Schalleinwirkung 1,41 mittlere Hörschwelle bei 1000 Hz 3 von über 85 dB kann zu Hör10 ländliche Ruhe 20 schäden führen. 100 leises Gespräch 40 Bei 100 dB kann bereits nach 1000 normales Gespräch 60 80 Minuten ein Hörschaden 10000 lauter Straßenlärm 80 auftreten. (Nach Schmidt & Schaible, 2006) Prof. Dr. Adrian Schwaninger 100000 lauter Industrielärm 1000000 Schuss, Donner 10000000 Düsentriebwerk www.psychologie.uzh.ch/vicoreg 100 120 140 6 3 Isophone (Kurven gleicher Lautstärkepegel in Phon). Hörflache (gelb) und Hauptsprachbereich (orange). Beachte, dass per definitionem Phon und Dezibel nur bei 1 kHz übereinstimmen. (Nach Schmidt & Schaible, 2006) Prof. Dr. Adrian Schwaninger www.psychologie.uzh.ch/vicoreg 7 Hörrinde (auditorischer Kortex) im Temporallappen Prof. Dr. Adrian Schwaninger www.psychologie.uzh.ch/vicoreg 8 4 Vom Ohr zum Gehirn Das äussere Ohr ist der sichtbare Teil des Ohrs. Das Mittelohr ist die Kammer zwischen dem Trommelfell und der Kochlea. Das Innenohr besteht aus der Kochlea, den Bogengängen und den Sacculi des Vestibularapparats. Mit Hilfe einer mechanischen Kettenreaktion werden die Schallwellen durch den Gehörgang geleitet und rufen am Ende geringfügige mechanische Schwingungen des Trommelfells hervor. Die Knöchelchen des Mittelohrs (Hammer, Amboss und Steigbügel) verstärken die Schwingungen und übertragen sie auf die mit Flüssigkeit gefüllte Kochlea. Dadurch, dass die Basilarmembran in wellenartige Bewegungen versetzt wird, die durch Druckveränderungen in der Kochlearflüssigkeit verursacht werden, werden die winzigen Haarzellen bewegt, durch die wiederum Nervenimpulse ausgelöst werden, die über den Thalamus an den auditorischen Kortex im Gehirn gesandt werden. Prof. Dr. Adrian Schwaninger www.psychologie.uzh.ch/vicoreg 9 Haarzellen der Kochlea Die durch den Schall erzeugten Schwingungen der hier dargestellten 50-60 Flimmerhaare an der Spitze einer Haarzelle lösen ein elektrisches Signal aus. Die Kochlea enthält etwa 16‘000 Haarzellen. Bereits kurze Einwirkung von sehr lauten Geräuschen (z.B. Gewehrschuss direkt neben dem Ohr) oder langfristige Einwirkung über 85 dB kann zu Schädigungen der Haarzellen und der Hörnerven führen. Faustregel: Lärm, Musik etc. vermeiden, wenn man sich dabei nicht mehr normal unterhalten kann. Prof. Dr. Adrian Schwaninger www.psychologie.uzh.ch/vicoreg 10 5 Basilarmembran und Wanderwelle Je höher der Ton, desto näher am Steigbügel befindet sich der Ort des Wanderwellenmaximums. Das Wanderwellenmaximum für hohe Töne entsteht an der Kochleabasis; je mehr die Tonhöhe abfällt, umso mehr nähert sich der Ort des Wanderwellenmaximums der Kochleaspitze. Die Folge ist, dass eine einzelne Tonfrequenz nur an einem bestimmten Ort (nämlich dem Ort des Wanderwellenmaximums) einige wenige Haarzellen reizt. Unterschiedliche Tonhöhen reizen damit unterschiedliche Haarzellen entlang der Basilarmembran. Prof. Dr. Adrian Schwaninger Aus http://labspace.open.ac.uk) www.psychologie.uzh.ch/vicoreg 11 Orts- und Frequenztheorie In der Ortstheorie wird angenommen, dass unser Gehirn eine bestimmte Tonhöhe dadurch interpretiert, dass es die Lage des Punktes (deshalb »Ortstheorie«) dekodiert, an dem eine Schallwelle die Basilarmembran der Kochlea stimuliert hat (basierend auf dem Ort des Wanderwellenmaximums). In der Frequenztheorie wird angenommen, dass das Gehirn die Anzahl und die Frequenz (deshalb »Frequenztheorie «) der Nervenimpulse dechiffriert, die im Hörnerv zum Gehirn wandern. Die Forschung hat beide Theorien bestätigt, aber für unterschiedliche Hörbereiche. Mit Hilfe der Ortstheorie lässt sich nicht gut erklären, wie wir tiefe Töne hören können (die nicht auf der Basilarmembran verortet werden können), aber sie bietet eine Erklärung dafür, wie wir hohe Töne wahrnehmen. Mit Hilfe der Frequenztheorie lässt sich nicht gut erklären, wie wir hohe Töne hören (einzelne Neuronen können nicht schnell genug feuern, um die notwendige Anzahl von Spannungsspitzen hervorzubringen). Die Frequenztheorie liefert jedoch eine Erklärung dafür, wie wir tiefe Töne wahrnehmen. Eine Kombination aus beiden Theorien erklärt, wie wir Töne im mittleren Bereich hören. Prof. Dr. Adrian Schwaninger www.psychologie.uzh.ch/vicoreg 12 6 Lokalisation einer Geräuschquelle Schallwellen treffen auf das eine Ohr früher und intensiver als auf das andere (Zeit- und Lautstärkeunterschiede). Weil die Schallgeschwindigkeit 1200 km pro Stunde beträgt und weil die Ohren nur ca. 15 cm auseinanderliegen sind diese Zeit- und Lautstärkeunterschiede extrem gering. Mit Hilfe von Parallelverarbeitung analysiert das Gehirn solche winzigen Unterschiede in Bezug auf die Töne, die von den beiden Ohren aufgenommen werden, und berechnet die Schallquelle. Geräusche, welche gleich weit von beiden Ohren entfernt sind (vor, über, hinter oder unten uns) können schlechter lokalisiert werden. Das ist auch der Grund, weshalb man den Kopf manchmal leicht schief legt, um Geräusche besser zu lokalisieren. Prof. Dr. Adrian Schwaninger www.psychologie.uzh.ch/vicoreg 13 Schwerhörigkeit Schallleitungsschwerhörigkeit ist eine Folge einer Schädigung des mechanischen Systems, das die Schallwellen an die Kochlea überträgt. Bsp. 1: Loch im Trommelfell. Bsp. 2: Beeinträchtigung der Gehörknöchelchen im Mittelohr (Hammer, Amboss und Steigbügel) Schwingungen weiterzuleiten. Schallempfindungsschwerhörigkeit (oder Nervenschwerhörigkeit) ist die Folge einer Schädigung von Haarzellen in der Kochlea oder von damit verbundenen Nerven. Diese Probleme können durch Krankheiten und Unfälle hervorgerufen werden, aber altersbedingte Störungen und dauernde Konfrontation mit lauten Geräuschen sind die häufigeren Ursachen von Schwerhörigkeit, vor allem von Nervenschwerhörigkeit. Prof. Dr. Adrian Schwaninger www.psychologie.uzh.ch/vicoreg 14 7 Schwerhörigkeit, Alter und digitale Hörhilfen Ältere Menschen hören niedrige Frequenzen meist besser als hohe Frequenzen. Der Hörverlust ist auf die Nervendegeneration am Anfang der Basilarmembran zurückzuführen (vgl. Ortstheorie). Digitale Hörhilfen verbessern die Hörfähigkeit durch Verstärkung der Schwingungen bei Frequenzen (im Allgemeinen die hohen Frequenzen), die unser Gehör am schlechtesten wahrnimmt, sowie durch Komprimierung der Geräusche (Verstärkung der leisen, nicht aber der lauten Töne). Prof. Dr. Adrian Schwaninger www.psychologie.uzh.ch/vicoreg 15 Kochleaimplantate Ein Kochleaimplantat ist ein elektronisches Gerät, welches Geräusche in elektrische Signale umwandelt. Es wird an unterschiedlichen Stellen mit dem Hörnerv in der Kochlea verbunden. Diese Geräte können gehörlosen Kindern dabei helfen, einige Töne zu hören und die Verwendung der gesprochenen Sprache zu erlernen. Kochlearimplantate sind am wirkungsvollsten, wenn die Kinder noch klein sind (Vorschulalter). Im Jahre 2003 hatten weltweit 60‘000 Menschen Kochleaimplantate und mehrere Millionen waren potentielle Kandidaten für ein solches Implantat. Prof. Dr. Adrian Schwaninger www.psychologie.uzh.ch/vicoreg 16 8 Sensorische Kompensation Menschen die einen Sinneskanal verlieren, können dies durch eine Verbesserung ihrer anderen sensorischen Fähigkeiten teilweise ausgleichen. Extrembeispiel: Die Schottin Evelyne Glennie ist seit dem Alter von 12 Jahren völlig taub. Sie ist hauptberuflich Percussion-Solistin. Die Beziehung zu ihren Instrumenten stellt sie über den Tastsinn her (sie tritt ohne Schuhe auf), die Beziehung zum Dirigenten über ihr scharfes Sehvermögen. Prof. Dr. Adrian Schwaninger www.psychologie.uzh.ch/vicoreg 17 9