Vorlesung 5 © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 110 Überblick Einleitung Psychophysik Wahrnehmung: Sinnesorgane Prozesse und Grundprinzipien Sehen Hören Propriozeption Tastsinn Geschmackssinn Geruchssinn Wahrnehmungsorganisation Wahrnehmungsinterpretation Aufmerksamkeit Auditive Aufmerksamkeit Visuelle Aufmerksamkeit Zentrale Aufmerksamkeit Objekterkennung Anwendungsbeispiel Luftsicherheit © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 111 Hören Schallwellen sind ringförmige Bänder sich komprimierender und sich ausdehnender Luft. Unsere Ohren nehmen diese Veränderungen im Luftdruck wahr und wandeln sie in neuronale Impulse um, die das Gehirn als Töne dekodiert. Schallwellen unterscheiden sich in ihrer Frequenz und Amplitude, die wir als Unterschiede in der Tonhöhe und der Lautstärke wahrnehmen. © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 112 Akustische und auditorische Grundbegriffe Für das Ohr ist die Schallwelle der adäquate Reiz. Ihre physikalische Beschreibung heisst Akustik. Anatomische, biochemische und physiologische Vorgänge beim Hören werden hingegen als auditorisch oder auditiv bezeichnet. Hörbare Schallwellen treten im täglichen Leben in der Regel als Druckschwankungen der Luft auf. Ihre Frequenz wird in Hertz (Hz) angegeben, d.h. in Anzahl Schwingungen pro Sekunde. Mit dem Begriff Ton ist eine Sinusschwingung gemeint, die nur aus einer einzigen Frequenz besteht. Töne sind im täglichen Leben eine Ausnahme. Allerdings werden sie vom Arzt häufig als Stimulus bei Hörprüfungen verwendet. Auch Musik setzt sich normalerweise nicht aus reinen Tönen, sondern aus Klängen zusammen. Klänge bestehen in der Regel aus einem Grundton mit mehreren Obertönen. Die Obertöne sind ein ganzzahliges Vielfaches der Frequenz des Grundtones. Die meisten Schallereignisse des täglichen Lebens sind keine Töne oder Klänge, sondern umfassen praktisch alle Frequenzen des Hörbereiches. Hierzu zählt auch die Sprache. Akustisch werden sie als Geräusch bezeichnet. © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 113 Schalldruck und Schalldruckpegel Die Stärke einer Schallwelle, d.h. ihre Amplitude heisst Schalldruck. Der Schalldruck wird wie jeder Druck in Pascal angegeben: Druck = Kraft / Fläche P = F/A 1 Pa = 1 N/m2 Die grosse dynamische Breite des menschlichen Ohres führt bei Angabe von Schalldruck zu umständlich grossen Zahlen. Daher wird in der Regel der Schalldruckpegel angegeben. Seine Masseinheit ist das Dezibel (dB), das praktisch anwendbare Zahlenwerte ergibt (siehe Tabelle auf nächster Folie). Der Begriff »Pegel« sagt aus, dass der zu benennende Schalldruck px zu einem einheitlich festgelegten Bezugsschalldruck p0 in einem bestimmten logarithmischen Verhältnis steht. Mathematisch ist der Schalldruckpegel SPL (sound pressure level) definiert als: SPL = 20 log px/p0 [dB] Der Bezugsschalldruck p0 ist in der Nähe der Hörschwelle und beträgt 2×10–5 Pa. © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 114 Schalldruck und Schalldruckpegel Steigt der Schalldruckpegel um 20 dB, so hat sich der Schalldruck tatsächlich verzehnfacht. Bei 80 dB sind bereits 4 Verzehnfachungsschritte (80/20=4) erreicht. Der Schalldruck ist daher um 104, also um das zehntausendfache gesteigert. 100 dB entspricht gemäss EU Zunahme des Norm der Maximallautstärke Schalldruckpegel (SPL) Schalldruckes von MP3 Playern. 1 Bezugsschalldruck Längerfristige Schalleinwirkung 1,41 mittlere Hörschwelle bei 1000 Hz von über 85 dB kann zu Hör10 ländliche Ruhe schäden führen. 100 leises Gespräch Bei 100 dB kann bereits nach 1000 normales Gespräch 80 Minuten ein Hörschaden 10000 lauter Straßenlärm auftreten. (Nach Schmidt & Schaible, 2006) © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 100000 lauter Industrielärm 1000000 Schuss, Donner 10000000 Düsentriebwerk dB 0 3 20 40 60 80 100 120 140 115 Isophone (Kurven gleicher Lautstärkepegel in Phon). Hörflache (gelb) und Hauptsprachbereich (orange). Beachte, dass per definitionem Phon und Dezibel nur bei 1 kHz übereinstimmen. (Nach Schmidt & Schaible, 2006) © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 116 Hörrinde (auditorischer Kortex) im Temporallappen © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 117 Vom Ohr zum Gehirn Das äussere Ohr ist der sichtbare Teil des Ohrs. Das Mittelohr ist die Kammer zwischen dem Trommelfell und der Kochlea. Das Innenohr besteht aus der Kochlea, den Bogengängen und den Sacculi des Vestibularapparats. Mit Hilfe einer mechanischen Kettenreaktion werden die Schallwellen durch den Gehörgang geleitet und rufen am Ende geringfügige mechanische Schwingungen des Trommelfells hervor. Die Knöchelchen des Mittelohrs (Hammer, Amboss und Steigbügel) verstärken die Schwingungen und übertragen sie auf die mit Flüssigkeit gefüllte Kochlea. Dadurch, dass die Basilarmembran in wellenartige Bewegungen versetzt wird, die durch Druckveränderungen in der Kochlearflüssigkeit verursacht werden, werden die winzigen Haarzellen bewegt, durch die wiederum Nervenimpulse ausgelöst werden, die über den Thalamus an den auditorischen Kortex im Gehirn gesandt werden. © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 118 Haarzellen der Kochlea Die durch den Schall erzeugten Schwingungen der hier dargestellten 50-60 Flimmerhaare an der Spitze einer Haarzelle lösen ein elektrisches Signal aus. Die Kochlea enthält etwa 16‘000 Haarzellen. Bereits kurze Einwirkung von sehr lauten Geräuschen (z.B. Gewehrschuss direkt neben dem Ohr) oder langfristige Einwirkung über 85 dB kann zu Schädigungen der Haarzellen und der Hörnerven führen. Faustregel: Lärm, Musik etc. vermeiden, wenn man sich dabei nicht mehr normal unterhalten kann. © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 119 Basilarmembran und Wanderwelle Je höher der Ton, desto näher am Steigbügel befindet sich der Ort des Wanderwellenmaximums. Das Wanderwellenmaximum für hohe Töne entsteht an der Kochleabasis; je mehr die Tonhöhe abfällt, umso mehr nähert sich der Ort des Wanderwellenmaximums der Kochleaspitze. Die Folge ist, dass eine einzelne Tonfrequenz nur an einem bestimmten Ort (nämlich dem Ort des Wanderwellenmaximums) einige wenige Haarzellen reizt. Unterschiedliche Tonhöhen reizen damit unterschiedliche Haarzellen entlang der Basilarmembran. © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger Aus http://labspace.open.ac.uk) 120 Orts- und Frequenztheorie In der Ortstheorie wird angenommen, dass unser Gehirn eine bestimmte Tonhöhe dadurch interpretiert, dass es die Lage des Punktes (deshalb „Ortstheorie“) dekodiert, an dem eine Schallwelle die Basilarmembran der Kochlea stimuliert hat (basierend auf dem Ort des Wanderwellenmaximums). In der Frequenztheorie wird angenommen, dass das Gehirn die Anzahl und die Frequenz (deshalb „Frequenztheorie“) der Nervenimpulse dechiffriert, die im Hörnerv zum Gehirn wandern. Die Forschung hat beide Theorien bestätigt, aber für unterschiedliche Hörbereiche. Mit Hilfe der Ortstheorie lässt sich nicht gut erklären, wie wir tiefe Töne hören können (die nicht auf der Basilarmembran verortet werden können), aber sie bietet eine Erklärung dafür, wie wir hohe Töne wahrnehmen. Mit Hilfe der Frequenztheorie lässt sich nicht gut erklären, wie wir hohe Töne hören (einzelne Neuronen können nicht schnell genug feuern, um die notwendige Anzahl von Spannungsspitzen hervorzubringen). Die Frequenztheorie liefert jedoch eine Erklärung dafür, wie wir tiefe Töne wahrnehmen. Eine Kombination aus beiden Theorien erklärt, wie wir Töne im mittleren Bereich hören. © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 121 Lokalisation einer Geräuschquelle Schallwellen treffen auf das eine Ohr früher und intensiver als auf das andere (Zeit- und Lautstärkeunterschiede). Weil die Schallgeschwindigkeit 1200 km pro Stunde beträgt und weil die Ohren nur ca. 15 cm auseinanderliegen sind diese Zeit- und Lautstärkeunterschiede extrem gering. Mit Hilfe von Parallelverarbeitung analysiert das Gehirn solche winzigen Unterschiede in Bezug auf die Töne, die von den beiden Ohren aufgenommen werden, und berechnet die Schallquelle. Geräusche, welche gleich weit von beiden Ohren entfernt sind (vor, über, hinter oder unten uns) können schlechter lokalisiert werden. Das ist auch der Grund, weshalb man den Kopf manchmal leicht schief legt, um Geräusche besser zu lokalisieren. © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 122 Schwerhörigkeit Schallleitungsschwerhörigkeit ist eine Folge einer Schädigung des mechanischen Systems, das die Schallwellen an die Kochlea überträgt. Bsp. 1: Loch im Trommelfell. Bsp. 2: Beeinträchtigung der Gehörknöchelchen im Mittelohr (Hammer, Amboss und Steigbügel) Schwingungen weiterzuleiten. Schallempfindungsschwerhörigkeit (oder Nervenschwerhörigkeit) ist die Folge einer Schädigung von Haarzellen in der Kochlea oder von damit verbundenen Nerven. Diese Probleme können durch Krankheiten und Unfälle hervorgerufen werden, aber altersbedingte Störungen und dauernde Konfrontation mit lauten Geräuschen sind die häufigeren Ursachen von Schwerhörigkeit, vor allem von Nervenschwerhörigkeit. © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 123 Schwerhörigkeit, Alter und digitale Hörhilfen Ältere Menschen hören niedrige Frequenzen meist besser als hohe Frequenzen. Der Hörverlust ist auf die Nervendegeneration am Anfang der Basilarmembran zurückzuführen (vgl. Ortstheorie). Digitale Hörhilfen verbessern die Hörfähigkeit durch Verstärkung der Schwingungen bei Frequenzen (im Allgemeinen die hohen Frequenzen), die unser Gehör am schlechtesten wahrnimmt, sowie durch Komprimierung der Geräusche (Verstärkung der leisen, nicht aber der lauten Töne). © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 124 Kochleaimplantate Ein Kochleaimplantat ist ein elektronisches Gerät, welches Geräusche in elektrische Signale umwandelt. Es wird an unterschiedlichen Stellen mit dem Hörnerv in der Kochlea verbunden. Diese Geräte können gehörlosen Kindern dabei helfen, einige Töne zu hören und die Verwendung der gesprochenen Sprache zu erlernen. Kochlearimplantate sind am wirkungsvollsten, wenn die Kinder noch klein sind (Vorschulalter). Im Jahre 2003 hatten weltweit 60‘000 Menschen Kochleaimplantate und mehrere Millionen waren potentielle Kandidaten für ein solches Implantat. © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 125 Sensorische Kompensation Menschen die einen Sinneskanal verlieren, können dies durch eine Verbesserung ihrer anderen sensorischen Fähigkeiten teilweise ausgleichen. Extrembeispiel: Die Schottin Evelyne Glennie ist seit dem Alter von 12 Jahren völlig taub. Sie ist hauptberuflich Percussion-Solistin. Die Beziehung zu ihren Instrumenten stellt sie über den Tastsinn her (sie tritt ohne Schuhe auf), die Beziehung zum Dirigenten über ihr scharfes Sehvermögen. © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 126 Überblick Einleitung Psychophysik Wahrnehmung: Sinnesorgane Prozesse und Grundprinzipien Sehen Hören Propriozeption Tastsinn Geschmackssinn Geruchssinn Wahrnehmungsorganisation Wahrnehmungsinterpretation Aufmerksamkeit Auditive Aufmerksamkeit Visuelle Aufmerksamkeit Zentrale Aufmerksamkeit Objekterkennung Anwendungsbeispiel Luftsicherheit © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 127 Propriozeption Propriozeption beinhaltet folgende Sinne: Kraftsinn: Kraftaufwendung bzw. Gewicht. Positionssinn: Stellung einzelner Körperteile. Kinästhesie: Richtung und Geschwindigkeit der Bewegung einzelner Gliedmassen. Vestibulärer Sinn: Bewegung und Lage des Körpers im Raum, Gleichgewichtsfunktion. Propriozeption basiert auf Signalen von Muskeln, Sehnen- und Gelenkmechanosensoren sowie auf Signalen vom Vestibularogan. Der Kraftsinn erlaubt es uns, z. B. die Schwere gehobener Gewichte mit etwa 3% Genauigkeit abzuschätzen. Hautsensoren scheinen bei dieser Sinnesleistung eine geringe Rolle zu spielen, da die Schätzung schlechter wird, wenn man die Gewichte auf die Hand legt, während sie auf einer Unterlage ruht. © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 128 Propriozeption Sensoren aus den Gelenken selbst melden nur extreme Gelenkstellungen und gehören zum überwiegenden Teil zur Gruppe der Nozizeptoren (Schmerzsensoren). Injektion eines Lokalanästhetikums in ein Gelenk beeinflusst den Positionssinn kaum. Auch die Implantation künstlicher Hüftgelenke verändert die Wahrnehmung der Position des Beines nur wenig. Für die Kinästhesie wichtig sind v.a. Signale von Sensoren in den Sehnen und den Muskeln. Hautsensoren sind für die Kinästhesie nicht wichtig, da Lokalanästhesie der Haut über den Gelenken diesen Sinn kaum beeinflusst. © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 129 Vestibulärer Sinn Der Gesunde ist sich der normalen Funktion der Vestibularorgane normalerweise nicht bewusst und bemerkt sie im täglichen Leben nicht. Funktionsstörungen hingegen werden z. T. sehr dramatisch wahrgenommen. Zumeist äussern sie sich als Schwindel oder Gangunsicherheit bis hin zur Unfähigkeit zu stehen. Die wichtigste Aufgabe der Vestibularorgane ist die Gewährleistung der Gleichgewichtsfunktion. Sie erlaubt uns Menschen den aufrechten Gang. Dazu finden sich in jedem Innenohr 3 Bogengangsorgane sowie 2 Maculaorgane (Utriculus und Sacculus). Diese 5 Organe einer jeden Seite sind hochspezialisierte Sinnesorgane, um Translations- und Drehbeschleunigungen zu messen. © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 130 Vestibularorgane Utriculus Sacculus (Nach Schmidt & Schaible, 2006) © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 131 Translations- und Drehbeschleunigungen Mithilfe der jeweils 2 Maculaorgane (Utriculus und Sacculus) jedes Ohres können wir Translationsbeschleunigungen empfinden. Beispiele: Beschleunigen oder Bremsen (negative Beschleunigung) eines Autos oder Flugzeuges Anfahren oder Bremsen eines Liftes Auf- oder Abstieg eines Flugzeuges Sprünge und Stürze Die Bogengänge dienen der Empfindung von Drehbeschleunigungen. Die 3 Bogengänge jedes Innenohres sind dreidimensional angeordnet, sodass für jede Raumrichtung gewissermassen ein Bogengang »zuständig« ist. Jede beliebige Winkelbeschleunigung in diesen Raumdimensionen produziert dadurch ein spezifisches Aktivitätsmuster, das aus einer jeweiligen spezifischen Kombination von Aktivitätssteigerungen und Aktivitätshemmungen der jeweils zugehörigen Nervenfasern besteht. © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 132 Drehbeschleunigungen Eine Kopfdrehung bewirkt eine Drehung der Bogengänge. Die Flüssigkeit der Bogengänge (Endolymphe) und die Cupula bleiben zurück. Dadurch werden Haarzellen ausgelenkt, was zu elektrischen Signalen im Nervus vestibularis Bogengang führt. mit Demonstration: Drehen Sie sich Endolymphe Cupula schnell im Kreis und bleiben Sie dann plötzlich stehen. Die Endolymphe dreht noch eine Weile weiter, was zur Empfindung führt, man würde sich noch weiter drehen. (Nach Schmidt & Schaible, 2006) © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 133 Gleichgewicht Neben den Informationen der insgesamt 10 Vestibularorgane erreichen auch andere propriozeptive Informationen und visuelle Informationen das Gehirn. Aufgrund all dieser Informationen wird die Aktivität von Skelett- und Augenmuskulatur mittels Reflexen so gesteuert, dass sich der Körper im Gleichgewicht hält. © 2015 Prof. Dr. Adrian Schwaninger 134