Grundlagen der Allgemeinen Psychologie: Wahrnehmungspsychologie Herbstsemester 2011 28.11.2011 (aktualisiert) Prof. Dr. Adrian Schwaninger Überblick Einleitung, philosophische Überlegungen, Psychophysik Wahrnehmung: Sinnesorgane Prozesse und Grundprinzipien Sehen Hören, Propriozeption Tastsinn, Geschmackssinn, Geruchssinn Wahrnehmung: Organisation und Interpretation Wahrnehmungsorganisation Wahrnehmungsinterpretation Aufmerksamkeit Auditive Aufmerksamkeit Visuelle Aufmerksamkeit Zentrale Aufmerksamkeit Prof. Dr. Adrian Schwaninger 2 1 Übersicht Aufmerksamkeit Einführung Auditive Aufmerksamkeit Visuelle Aufmerksamkeit Zentrale Aufmerksamkeit 3 Prof. Dr. Adrian Schwaninger Visuelle Suche Versuchen Sie, das K in der Abbildung rechts zu finden. Probanden versuchen das K zu finden, indem sie Zeile für Zeile durchgehen. Experimentell lässt sich zeigen, dass man pro Zeile ca. 0.6 s braucht (= Steigung der Regressionsgeraden in der Abbildung unten rechts). Neuere Studien mit bildgebenden Verfahren, zeigen deutliche Aktivierungen im parietalen Kortex während solcher Suchprozesse. Steigung = 0.6 (Nach Anderson, 2007) Prof. Dr. Adrian Schwaninger 4 2 Parallelle visuelle Suche mit Pop‐Out In der unten stehenden Abbildungen fällt es leicht den Zielreiz (Buchstabe T) zu finden. Dies liegt daran, dass der Zielreiz ein Merkmal aufweist, das ihn deutlich von den anderen Reizen (Distraktoren) unterscheidet (horizontale Linie). (Aus Anderson, 2007) 5 Prof. Dr. Adrian Schwaninger Parallelle visuelle Suche mit Pop‐Out In den unten stehenden Abbildungen fällt es leicht den Zielreiz (horizontale grüne Linie) zu finden. Dies liegt daran, dass der Zielreiz ein Merkmal aufweist, das ihn deutlich von den Reizen (Distraktoren) unterscheidet (Orientierung). (Aus Goldstein, 2008) Prof. Dr. Adrian Schwaninger 6 3 Beispiele für Pop‐Out 7 Prof. Dr. Adrian Schwaninger Serielle Suche nach Merkmalskombinationen Wird der Zielreiz durch eine Kombination von Merkmalen definiert, dauert die Suche länger, weil die verschiedenen Objekte seriell abgesucht werden müssen. Beispiel: Suchen Sie die grüne horizontale Linie: (Aus Goldstein, 2008) Prof. Dr. Adrian Schwaninger 8 4 Serielle Suche nach Merkmalskombinationen Wird der Zielreiz durch eine Kombination von Merkmalen definiert, dauert die Suche länger, weil die verschiedenen Objekte seriell abgesucht werden müssen. Beispiel: Suchen Sie das T in der Abbildung: (Aus Anderson, 2007) 9 Prof. Dr. Adrian Schwaninger Parallele vs. serielle Suche (Aus Anderson, 2007) Prof. Dr. Adrian Schwaninger 10 5 Vom Auge zum Kortex Sehnerv (Axone der Ganglienzellen) Sehnervenkreuzung (Chiasma opticum) Retina Colliculus superior Tractus opticus Radiatio optica Sehzentrum des Thalamus (Corpus geniculatum laterale, CGL) (Nach Frisby, 1979) Sehrinde (= striärer Cortex oder primärer visueller Cortex, V1) Prof. Dr. Adrian Schwaninger 11 Kortikale Areale Aus http://thebrain.mcgill.ca Prof. Dr. Adrian Schwaninger 12 6 Parallelverarbeitung von Farbe, Bewegung, Form und Tiefe Colliculus Superior (CS) (Aus Eysel, 2006) Prof. Dr. Adrian Schwaninger ITC 13 Dorsaler und ventraler Strom (Aus Goldstein, 2008) Prof. Dr. Adrian Schwaninger 14 7 Parallelverarbeitung von Bewegung, Farbe, Form, Position und Tiefe Parallelverarbeitung ist die natürliche Methode der Informationsverarbeitung im Gehirn; mit ihrer Hilfe kann man viele Aspekte eines Problems gleichzeitig angehen. Die Fähigkeit des Gehirns, mehrere Aufgaben gleichzeitig auszuführen, ermöglicht es ihm, Unterdimensionen des Sehens (Bewegung, Farbe, Form, Position und Tiefe) auf unterschiedliche neuronale Teams zu verteilen, die getrennt voneinander und gleichzeitig arbeiten. Andere neuronale Teams arbeiten dabei zusammen, um die Ergebnisse zusammenzuführen, sie mit gespeicherten Informationen zu vergleichen und Wahrnehmungen zu ermöglichen. 15 Prof. Dr. Adrian Schwaninger Bindungsproblem (Binding Problem) Jeder Stimulus, selbst ein so einfacher wie ein rollender Ball, aktiviert eine Anzahl verschiedener Areale im Kortex. Wie kombinieren wir diese physikalisch getrennten neuronalen Signale, um zu einer vereinigten Wahrneh‐ mung eines Objektes zu gelangen? (Aus Goldstein, 2008) Prof. Dr. Adrian Schwaninger 16 8 Merkmalsintegrationstheorie (Treisman & Gelade, 1980, Treisman, 1988, 1999) Die Merkmalsintegrationstheorie besagt, dass zuerst in der präattentiven Phase der perzeptuellen Verarbeitung die Merkmale eines Objektes (Farbe, Orientierung, Position, etc.) getrennt werden. Fokussierte Aufmerksamkeit auf das Objekt kombiniert oder „bindet“ die Objektmerkmale zu einer kohärenten Wahrnehmung des Objektes (Phase aufmerksamkeitsgerichteter Verarbeitung). Laut Treisman stellt Aufmerksamkeit den „Leim“ dar, der die Information aus den Was und Wo‐Strömen kombiniert und so das Binding Problem löst. (Aus Goldstein, 2008) 17 Prof. Dr. Adrian Schwaninger Bindung von Merkmalen Meistens befinden sich mehrere Objekte in einer Szene. Zahlreiche Merkmale (Bewegung, Farbe, Form, Position und Tiefe) sind an verschiedenen Orten verteilt. Die Aufgabe des perzeptuellen Systems besteht darin, jedes dieser Merkmale mit dem Objekt zu assoziieren, zu dem es gehört. Die Merkmalsintegrationstheorie geht davon aus, dass wir für diesen Vorgang unsere Aufmerksamkeit auf ein Objekt nach dem anderen richten müssen. Sobald wir einem bestimmten Ort Aufmerksamkeit widmen, werden die an diesem Ort vorhandenen Merkmale verbunden und mit dem Objekt an diesem Ort assoziiert. Prof. Dr. Adrian Schwaninger (Aus Goldstein, 2008) 18 9 Experiment Aufgabe: Versuchen Sie, die Zahl auf der linken und auf der rechten Seite des Bildsschirms zu erkennen. © Prof. Dr. Adrian Schwaninger www.casra.ch 19 Experiment © Prof. Dr. Adrian Schwaninger www.casra.ch 20 10 Experiment Kleiner roter Kreis? Kleines grünes Dreieck? Blauer Kreis? Rote Kreisfläche? Grüne Dreiecksfläche? Gelbes Dreieck? © Prof. Dr. Adrian Schwaninger 21 www.casra.ch Illusionäre Verknüpfungen Illusionäre Verknüpfungen gelten als Belege für die Merkmalsintegrations‐ theorie. Im Experiment von Treisman und Schmidt (1982) wurde eine Reizvorlage mit vier Objekten und zwei seitlich davon positionierten schwarzen Zahlen für 1/5 Sekunden gezeigt. Die Versuchspersonen sollten zuerst die schwarzen Zahlen wiedergeben und danach ihre Wahrnehmungen an jeder der vier Positionen. In 18% der Fälle wurden illusionäre Verknüpfungen berichtet wie z.B. ein kleiner roter Kreis und ein kleines grünes Dreieck. Prof. Dr. Adrian Schwaninger (Aus Goldstein, 2008) 22 11 Patient R.M. Friedmann‐Hill, Robertson und Treisman (1995) fanden neuropsychologische Belege für die Rolle der Aufmerksamkeit für Merkmalsbindung. Der Patient R.M. leidet unter einer Schädigung des parietalen Kortex in Gebieten welche für Aufmerksamkeitslenkung zuständig sind. Wenn R.M. zwei Buchstaben verschiedener Farben dargeboten wurden, z.B. ein rotes T und ein blaues O, so gab er in 23% der Fälle illusionäre Verknüpfungen wie „blaues T“ an, selbst wenn er die Buchstaben bis zu 10 Sekunden betrachten konnte. T O 23 Prof. Dr. Adrian Schwaninger Synchronizitätshypothese Die Synchronizitätshypothese liefert eine physiologische Erklärung für das Bindungsproblem. Bewegung, Farbe, Form, Position und Tiefe wird in verschiedenen Arealen des Kortex verarbeitet. Diese Areale sind jedoch anatomisch miteinander verbunden. Die Synchronizitätshypothese besagt, dass Nervenzellen in verschiedenen Teilen des Gehirns, welche auf das gleiche Objekt reagieren, mit dem gleichen Antwortmuster zu feuern. So weiss das Gehirn, welche Merkmale zum gleichen Objekt gehören. Verschiedene physiologische Befunde und Computersimulationen sprechen für die Synchronizitätshypothese. Prof. Dr. Adrian Schwaninger (Aus Goldstein, 2008) 24 12 Weitere neurowissenschaftl. Befunde Bei Affen wurden drei Areale im Gehirn gefunden, welche an der Steuerung der Aufmerksamkeit beteiligt sind: Colliculus superior, Pulvinar (Teil des Thalamus) und hinterer parietaler Kortex. Schädigungen dieser Areale, speziell im rechten parietalen Kortex, führen beim Menschen zu spezifischen Defiziten. Bsp.: Der Patient von Posner et al. (1984) erhielt den Hinweis, dass der Stimulus links oder rechts des Fixationspunktes auftauchen würde. In 80% der Fälle erschien der Stimulus tatsächlich an der Stelle, in 20% der Fälle an der unerwarteten Seite. Wurde der Stimulus unerwartet im linken visuellen Feld dargeboten, zeigte sich ein starkes Defizit (ca. 800 ms längere Dauer für die Aufmerksamkeitsver‐ schiebung). (Aus Anderson, 2007) 25 Prof. Dr. Adrian Schwaninger Unilateraler visueller Neglect Diese Störung tritt bei unilateraler Schädigung des parietalen Kortex auf. Patienten ignorieren die kontralaterale Seite des visuellen Feldes. Die Abbildung rechts zeigt Selbstportraits des deutschen Künstlers Anton Readerscheidt. Diese wurden zu unterschiedlichen Zeiten nach einem Hirnschlag mit der Folge eines unilateralen Neglects (Schädigung in der rechten Hirnhemisphäre) gezeichnet. Die Abbildung unten zeigt die Leistung einer Patientin mit einer Schädigung in der rechten Hirn‐ hemisphäre. Die Auf‐ gabe war, alle Kreise durchzustreichen. Neglect Patienten fallen auch dadurch auf, dass sie sich nur auf einer Seite rasieren oder schminken. (Aus Anderson, 2007) Prof. Dr. Adrian Schwaninger (Aus Gazzaniga et. al., 2002) 26 13 Hemisphärenspezialisierung Der rechte Parietallappen ist für die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf globale Merkmale wie räumliche Lokalisation und Anordnung verantwortlich. Der linke Parietallappen hingegen dafür, Aufmerksamkeit auf lokale Aspekte von Objekten zu lenken. Patienten mit rechtsseitigen parietalen Hirnschädigungen (Abbildung b) waren in der Lage die spezifischen Komponen‐ ten des Bildes zu reproduzieren, jedoch nicht ihre räumliche Anordnung. Patien‐ ten mit linksseitigen parietalen Hirnschä‐ digungen (Abbildung c) konnten die An‐ ordnung in ihrer Gesamtheit reproduzie‐ ren, jedoch kein Detail. a b c (Aus Anderson, 2007) Prof. Dr. Adrian Schwaninger 27 Objektzentrierte Aufmerksamkeit Aufmerksamkeit kann auf Orte gelenkt werden, unabhängig davon welche Objekte präsent sind (siehe bisherige Beispiele). Aufmerksamkeit kann aber auch auf Objekte gelenkt werden, unabhängig von deren Lokalisation. Dafür gibt es verschiedene Belege: Experimente von Behrmann, Zemel und Mozer (1998) basierend auf Duncan (1984) Hemmung der Rückkehr (Inhibition of Return) Befunde aus den Neurowissenschaften © Prof. Dr. Adrian Schwaninger 28 14 Experimente von Behrmann, Zemel und Mozer (1998) basierend auf Duncan (1984) Die Probanden mussten entscheiden, ob die Anzahl von Ausbuchtungen an den zwei Enden von Objekten gleich war. Die Probanden konnten diese Urteile schneller abgeben, wenn sich die Ausbuchtungen auf dem gleichen Objekt befanden (a ging schneller als b). Diese Ergebnisse kamen trotz der Tatsache zustande, dass die Ausbuchtungen sich im Raum näher beeinander befanden, wenn sie auf unterschiedlichen Objekten lagen, was den Entscheidungsprozess ‐ rein räumlich betrachtet ‐ eigentlich vereinfacht haben sollte. (Aus Anderson, 2007) © Prof. Dr. Adrian Schwaninger 29 Hemmung der Rückkehr (Inhibition of Return) Ortsbasierte Hemmung der Rückkehr (Posner et al., 1985): Wenn wir auf eine bestimmte Raumregion geblickt haben, dann fällt es uns schwerer, mit unserer Aufmerksamkeit erneut zu dieser Region zurückzukehren. Objektbasierte Hemmung der Rückkehr (Tipper et al., 1991): Wenn wir auf ein bestimmtes Objekt geblickt haben, dann fällt es uns schwerer (ca. 20 ms langsamere Reaktionszeit), mit unserer Aufmerksamkeit erneut zu diesem Objekt zurückzukehren und zwar unabhängig von seiner Position. © Prof. Dr. Adrian Schwaninger 30 15 Befunde aus den Neurowissenschaften Die linke parietale Region ist mehr an objektbasierter Aufmerksamkeit beteiligt. Patienten mit linksparietalen Hirnschädigungen haben Schwierigkeiten, Aufmerksamkeit auf Objekte auszurichten. Patienten mit unilateralem Neglect aufgrund einer Störung im linken Parietalkortex haben Schwierigkeiten die rechte Seite von Objekten wahrzunehmen unabhängig davon in welchem visuellen Feld sich das Objekt befindet. Bei gesunden Probanden zeigt sich eine stärkere Aktivierung im linken Parietalkortex wenn sie bei fMRI Studien die Aufmerksamkeit auf Objekte richten. Die rechte parietale Region ist mehr an ortsbasierter Aufmerksamkeit beteiligt. Patienten mit rechtsparietalen Hirnschädigungen haben Schwierigkeiten, Aufmerksamkeit ortsbezogen auszurichten. Patienten mit unilateralem Neglect aufgrund einer Störung im rechten Parietalkortex haben Schwierigkeiten Informationen zu entdecken, welche sich auf der linken Seite des visuellen Feldes befinden. Bei gesunden Probanden zeigt sich eine stärkere Aktivierung im rechten Parietalkortex wenn sie bei fMRI Studien die Aufmerksamkeit ortsbezogen ausrichten. © Prof. Dr. Adrian Schwaninger 31 Übersicht Aufmerksamkeit Einführung Auditive Aufmerksamkeit Visuelle Aufmerksamkeit Zentrale Aufmerksamkeit © Prof. Dr. Adrian Schwaninger 32 16 Zentrale Aufmerksamkeit Bisher haben wir behandelt, wie Probanden Aufmerksamkeit innerhalb der auditiven oder der visuellen Modalität zuweisen. Bei der zentralen Aufmerksamkeit geht es um die Frage, wie Gedankengänge selektiert werden, nachdem Stimuli enkodiert wurden. Beispiel: Sie fahren mit dem Auto in einer Stadt und hören, dass ein Hund bellt (auditive Aufmerksamkeit). Sie sehen, wie der Hund mitten in der Strasse liegt (visuelle Aufmerksamkeit). Durch zentrale Aufmerksamkeit wird selektiert, welche Gedankengänge ver‐ folgt werden (z.B. bremsen, um Kollision mit dem Hund zu vermeiden und erst danach Gedanken darüber, weshalb der Hund mitten in der Strasse steht). 33 © Prof. Dr. Adrian Schwaninger Experiment von Byrne und Anderson (2001) Die Probanden sahen jeweils drei Ziffern, z.B. 3 4 7 Aufgabe 1: Überprüfung einer Addition (erste Zahl plus zweite Zahl = dritte Zahl?): 3 + 4 = 7 Aufgabe 2: Ausführung einer Multiplikation (erste Zahl mal dritte Zahl): 3 x 7 = 21 Probanden benötigen fast die doppelte Zeit, wenn sie auch die jeweils andere Aufgabe lösen müssen (einzelne vs.“parallele“ Aufgaben). Die Zeit, welche durchschnittlich benötigt wird, um die beiden Aufgaben zu lösen, ist ein wenig länger (1.99 sec) als die Summe der beiden Bearbeitunszeiten (0.88 sec und 1.05 sec). Die Differenz könnte der Zeit für den Aufgabenwechsel entsprechen. Fazit: Probanden können Addition und Multiplikation nicht parallel ausführen! © Prof. Dr. Adrian Schwaninger (Aus Anderson, 2007) 34 17 Experiment von Schumacher et al. (2001) Die Aufgabe war viel einfacher als im Experiment von Byrne und Anderson (2001). Die Probanden sahen gleichzeitig einen Buchstaben auf dem Bildschirm und hörten einen Ton. Aufgabe 1: Räumliche Unterscheidung (drücken einer Taste links, in der Mitte oder rechts; je nachdem, ob der Buchstabe links, in der Mitte, oder rechts auf dem Bildschirm präsentiert wurde). Aufgabe 2: Tonale Unterscheidung („eins“, „zwei“, oder „drei“ sagen; je nachdem, ob der Ton eine tiefe, mittlere, oder hohe Frequenz hatte). Die Reaktionszeiten sind fast gleich, egal ob nur eine oder beide Aufgaben ausgeführt werden sollten. © Prof. Dr. Adrian Schwaninger (Aus Anderson, 2007) 35 Perfekte Zeitaufteilung (perfect time‐sharing) (Aus Anderson, 2007) © Prof. Dr. Adrian Schwaninger 36 18 Periphere und zentrale Flaschenhälse Bei peripheren Prozessen existieren Flaschenhälse (bottlenecks), siehe auditive und visuelle Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Bei der zentralen Kognition existiert ebenfalls ein Flaschenhals (central bottleneck). Durch perfekte Zeitaufteilung kann man unter bestimmten Bedingungen zwei Aufgaben mit derselben Geschwindigkeit wie eine einzige ausführen. Dies gelingt, wenn die zentrale Kognition nicht gleichzeitig von den beiden Aufgaben gebraucht wird (siehe vorherige Folie). Menschen können multiple perzeptuelle Modalitäten gleichzeitig verarbeiten oder multiple Handlungen gleichzeitig ausführen, aber nicht an zwei Dinge gleichzeitig denken. 37 © Prof. Dr. Adrian Schwaninger Automatisiertheit Mit viel Übung wird eine Aufgabe zunehmend automatisiert und erfordert dadurch bei ihrer Ausführung immer weniger zentrale Kognition. Beispiel Autofahren: Lernt man autofahren, benötigt das zunächst viel zentrale Kognition. Mit der Zeit werden viele Prozesse automatisiert und man kann während des Fahrens eine Unterhaltung führen. Beispiel Maschinenschreiben: Durch Übung gelingt es automatisiert mit einer Tastatur zu schreiben ohne zentrale Kognition für das Tip‐ pen zu benötigen. Beispiel Transkribierer: Bei einem geübten Transkribierer arbeiten drei Systeme parallel. Die Wahrnehmung des zu übersetzenden Textes, eine zentrale Übersetzung der zuvor wahrgenommenen Buchstaben und das Tippen noch früherer Buchstaben. © Prof. Dr. Adrian Schwaninger 38 19 Telefonieren und Autofahren Telefonieren beim Autofahren kann gefährlich sein, da dies zentrale Aufmerksamkeit braucht. Eine 2007‐2008 durchgeführte Studie von Prof. Dr. Katrin Fischer (Fachhochschule Nordwest‐ schweiz, Hochschule für Angewandte Psychologie) hat gezeigt, dass die gedankliche Ablenkung beim telefonieren mit und ohne Headset identisch ist. Problematisch: Telefonieren im Auto mit Headset ist in der Schweiz und anderen Ländern erlaubt! Sendung Kassensturz, SF DRS 23.09.2008 www.sf.tv/sendungen/kassensturz/manual.php?catid=kassensturzsendungsartikel&docid=20080923-handy 39 © Prof. Dr. Adrian Schwaninger Stroop‐Effekt Automatische Prozesse zeichnen sich auch dadurch aus, dass die Ausführung nur schwer verhindert werden kann. Beispiel: Es ist praktisch unmöglich ein bekanntes Wort zu sehen und es nicht zu lesen. Das Lesen eines Wortes ist ein so stark automatisierter Prozess, dass es schwierig ist, ihn zu unterdrücken. Dieser automatisierte Prozess interferiert mit der Verarbeitung anderer Information, die sich auf das Wort bezieht. Beispiel: Beim Stroop‐Effekt (Stroop, 1935) müssen Probanden die Farbe benennen, mit der Wörter gedruckt sind. © Prof. Dr. Adrian Schwaninger 40 20 Stroop‐Effekt Bitte lesen sie die unten dargestellten Wörter: 41 © Prof. Dr. Adrian Schwaninger Stroop‐Effekt Bitte benennen sie die unten dargestellten Farben: © Prof. Dr. Adrian Schwaninger 42 21 Stroop‐Effekt (Dunbar &MacLeod, 1984) Im Experiment von Dunbar und MacLeod (1984) wurden neutrale Wörter wie z.B. Lob (Kontrollbedingung) mit Farbwörtern (z.B. rot oder blau) dargeboten. Farbwörter wurden in der jeweils bezeichneten Farbe (Kongruenzbedingung) oder in einer anderen Farbe (Konfliktbedingung) dargestellt. Die Probanden sollen so schnell wie möglich die Farbe des Wortes benennen. Beispiele: Lob Rot Blau 43 © Prof. Dr. Adrian Schwaninger Stroop‐Effekt (Dunbar &MacLeod, 1984) Verglichen mit der Kontrollbedingung sind Probanden etwas schneller in der Kongruenzbedingung. Probanden sind viel langsamer in der Konfliktbedingung. Die Effekte sind asymmetrisch, d.h. es gibt wenig Interferenz beim Lesen eines Wortes aufgrund der Druckfarbe. Dies zeigt auch, wie das Lesen hoch automatisiert ist. Unter der Konfliktbedingung werden auch viel mehr Fehler gemacht durch eine Intrusion des Farbwortes (das dargebotene Wort setzt sich gegen die zu benennende Farbe durch). Auch dies liegt in der Automatisiertheit des Lesens begründet. © Prof. Dr. Adrian Schwaninger (Nach Anderson, 2007) 44 22 Stroop‐Effekt ohne Farben Flowers, Warner und Polansky (1979) entwickelten eine andere Aufgabe zur Demonstration des Stroop‐Effektes. Die Aufgabe besteht darin, die Anzahl der Zahlen in jeder Zeile anzugeben. Dies ist deshalb so schwierig, weil das Zahlenerkennen viel stärker automatisiert ist als das Zählen. (Aus Anderson, 2007) © Prof. Dr. Adrian Schwaninger 45 Exekutive Kontrolle und präfrontaler Cortex Für die exekutive Kontrolle (Steuerung zentraler Kognition und überwachen von Konflikten) sind präfrontale Cortexareale zuständig (dorsolateraler präfrontaler Cortext und anteriores Cingulum). Bei Schädigungen in diesen Regionen sind Patienten komplett reizgesteuert und können ihr Verhalten nicht mehr entsprechend ihren Absichten steuern. Beispiele: Eine Patientin, welche einen Kamm auf einem Tisch sieht, würde diesen sofort aufnehmen und sich damit kämmen. Ein Patient, der eine Brille sieht, würde diese sofort aufsetzen, selbst wenn er bereits eine Brille trägt. Patienten mit Schädigungen in präfrontalen Cortexarealen zeigen charakteristische Defizite bei Stroopaufgaben und können oft nicht unterdrücken, das Wort zu lesen, anstatt die Farbe zu benennen. © Prof. Dr. Adrian Schwaninger 46 23 DLPFC vs. ACC Der dorsolaterale Präfrontalcortex (DLPFC) scheint v.a. wichtig zu sein bei der Festlegung von Absichten und der Verhaltenskontrolle. Beispielsweise zeigt sich starke Aktivierung von DLPFC bei der simultanen Bearbeitung paralleler Aufgaben wie in den Experimenten von Byrne und Anderson (2001), sowie Schumacher et al. (2001). Der anteriore cinguläre Cortex (ACC) scheint besonders aktiv zu sein, wenn man den Konflikt zwischen zwei widerstreitenden Tendenzen überwacht werden muss. Zum Beispiel findet man eine starke Aktivierung von ACC, wenn Probanden die Farbbezeichnung eines Wortes nennen müssen, welches in einer zu dieser im Widerspruch stehenden Druckfarbe dargestellt ist (z.B. GELB). 47 © Prof. Dr. Adrian Schwaninger Definition von William James Vor über 100 Jahren schrieb William James, dass „jeder weiss, was Aufmerksamkeit ist“. Er erklärte Aufmerksamkeit folgender‐ massen: Es ist die Inbesitznahme eines von anscheinend mehreren simultan möglichen Gegenständen oder Gedankensträngen durch den Geist in klarer und lebendiger Form. Die Fokusbildung, die Konzentration des Bewusstseins sind ihr Wesen. Sie setzt Rückzug von einigen Dingen voraus, um effektiv mit anderen umgehen zu können. (James, 1890, zitiert nach Solso, 2005, S.79). William James (1842‐1910) © Prof. Dr. Adrian Schwaninger 48 24 Kritik an James und eine moderne Ansicht Aufmerksamkeit ist nicht immer an Bewusstsein gekoppelt. Viele Aufmerksamkeitsprozesse sind unbewusst. Beispiel: In der Regel ist einem nicht bewusst, wohin man die Augen bewegt hat. Aufmerksamkeit ist kein einheitliches System. Es macht Sinn, auditive, visuelle und zentrale Aufmerksamkeit zu unterscheiden. Eine moderne, adäquatere Ansicht ist folgende (Anderson, 2007, S. 127): „Das Gehirn besteht aus einer Reihe von parallel verarbeitenden Systemen, zuständig für die verschiedenen perzeptuellen Systeme, die motorischen Systeme und die zentrale Kognition. Jedes dieser parallelen Systeme wird durch Flaschenhälse eingeschränkt, wodurch es seine Verarbeitung an diesen Punkten auf einen einzelnen Sachverhalt fokussieren muss. Aufmerksamkeit begreift man am besten als den Prozess, durch den jedes dieser Systeme den möglicherweise konkurrierenden Anforderungen der Informationsverarbeitung zugeordnet wird. Das Ausmass der Interferenzen zwischen Aufgaben ist eine Funktion der Überlappung der Anforderungen, die diese Aufgaben an dieselben Systeme richten.“ © Prof. Dr. Adrian Schwaninger 49 25