Michael Richter Verblernen in der Grundschule bei L1- und L2-Kindern: Beschreibung eines empirischen Projektvorhabens Series A: General & Theoretical Papers ISSN 1435-6473 Essen: LAUD 2009 Paper No. 733 Universität Duisburg-Essen i Michael Richter Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Germany Verblernen in der Grundschule bei L1- und L2-Kindern: Beschreibung eines empirischen Projektvorhabens Copyright by the author 2009 Series A General and Theoretical Paper No. 733 Reproduced by LAUD Linguistic Agency University of Duisburg-Essen FB Geisteswissenschaften Universitätsstr. 12 D- 45117 Essen Order LAUD-papers online: http://www.linse.uni-due.de/linse/laud/index.html Or contact: [email protected] ii Michael Richter Verblernen in der Grundschule bei L1- und L2-Kindern: Beschreibung eines empirischen Projektvorhabens 1 Einleitung Dieser Aufsatz beschreibt ein empirisches Forschungsvorhaben zum Verberwerb im Grundschulalter. Besondere Aufmerksamkeit gilt DaZ-Lernern (L2-Lerner). In diesem Fall sind es Kinder mit Türkisch als Muttersprache. Ausgangsüberlegung für das Vorhaben ist, dass das Lernen von Verben und ihren Eigenschaften im Spracherwerb eine zentrale Rolle spielt. Empirischen Studien zufolge ist der Stand des Verberwerbs ein Indikator für die Grammatikentwicklung und im Allgemeinen für den Spracherwerbsstand von Lernern. So kann man sich vorstellen, den Entwicklungsstand eines Lerners auf einer Skala zwischen den Polen „strukturbasiertes Sprachverhalten“ und „verbbasiertes Sprachverhalten“ abzutragen. Strukturbasiertes Sprachverhalten liegt dann vor, wenn Sprachlerner die Satzstruktur als Hinweis auf die Bedeutung nutzen. Dies wurde im Erstspracherwerb (L1Erwerb) bei sehr jungen Sprechern beobachtet. Erwachsene Sprecher dagegen nutzen die Eigenschaften von Verben beim Satzverstehen in stärkerem Maße. Wir nehmen an, dass der Übergang zwischen struktur- und verbbasiertem Sprachverstehen eine wichtige Phase auch außerhalb des frühkindlichen Spracherwerbs, d.h. noch in der Grundschulzeit, widerspiegelt. Ziel ist es, Erwerbsmodelle der Grammatikentwicklung im Bereich des Verberwerbs für die L1- und die L2-Kinder zu erstellen und miteinander zu vergleichen. Es stellt sich die Frage, ob der Übergang von struktur- zu verbbasiertem Satzverstehen in der L2 ähnlich verläuft wie in der L1 oder ob grundsätzliche Unterschiede bestehen. Hieraus können sich Konsequenzen für die Didaktik des DaZ-Unterrichts ergeben. Bei statistisch robusten Resultaten können Test-Methode und Testitems für die Entwicklung diagnostischer Tests zu grammatischen Fähigkeiten im Grundschulalter insbesondere bei L2-Kindern (oder für die Erweiterung bestehender Tests) genutzt werden. Als weiterer Arbeitsschritt soll die Annahme überprüft werden, dass der Stand des Verberwerbs informativ für andere Sprachleistungen ist: Testleistungen der Probanden werden verglichen mit Leistungen in Tests wie dem H-S-E-T oder LiSe. Zusätzlich sollen Überlegungen angestellt werden, wie schulrelevante, z.B. schriftsprachliche Leistungen, mit den Resultaten zum Verberwerb in Beziehung gesetzt werden können. 2 Argumente für das Vorhaben Das erste Argument ist psycholinguistisch: Beherrschung und Verwendung von Verben und ihren Eigenschaften, i.e. verbbasiertes Sprachverhalten, sind kennzeichnend für kompetente Sprecher. Strukturbasiertes Sprachverhalten zeigt sich in frühen Lernervarietäten. Dafür gibt es empirische Anhaltspunkte. Zudem stellt das Lernen von Verben eine besondere Hürde im Spracherwerb dar. Das zweite Argument ist linguistisch-strukturell: Verben sind zentrale konstruktive Elemente im Satz. Das dritte Argument ist didaktisch: Die Förderung des Verblernens hat möglicherweise positive Effekte auf den Schriftspracherwerb. Schließlich wenden wir uns Tests zu, die auf dem Markt sind. Keiner von ihnen erfasst, wie wir sehen werden, Verblernen bzw. verbbasiertes Sprachverhalten von L1- und L2-Lernern im Grundschulalter. Psycholinguistische Aspekte Verblernen bildet im Spracherwerb offenbar eine besondere Hürde. Kauschke und Ari (2005), Kauschke (2007) beobachteten, dass bei 3 bis 5jährigen deutschen und türkischen Kindern die kognitive Verarbeitung von Nomen schneller als die von Verben verläuft. Als Ursachen werden unter anderem die hohe semantische und grammatisch-syntaktische Komplexität von Verben diskutiert (siehe auch Gentner 1981, 1982 und die Übersicht in Szagun 1996). Zudem gehen Nomen den Verben in der Chronologie des Erwerbs voran. Wenn jedoch die Kinder erst einmal begriffen haben, was Verben sind und – im Kontrast beispielsweise zu Nomen - was sie leisten, kann das Konzept „Transitivität“ sprachlich umgesetzt werden. Prototypisch transitiv ist eine Szene, wenn sie ein Agens enthält, das ein Patiens manipuliert. Dieses erfährt infolgedessen eine Veränderung (’Manipulative Activity scenes’, Slobin 1981, Spelke 1995, Wagner und Carey 2003, Tomasello 1995). Diese Szene kann in vielen europäischen Sprachen durch die syntaktische Struktur Subjekt-Verb-direktes Objekt sprachlich ausgedrückt werden. Bereits in frühen Stadien des L1-Erwerbs sind Kinder hierzu in der Lage (u.a. Croft 1988, Comrie 1989, Langacker 1991; Dixon 1994, Palmer 1994, Van Valin and LaPolla 1997, Naess 2004 und Tsunoda 1981, 1985). Stetig wachsen auch die Kenntnisse über Verben: So haben Kinder zwischen zwei und drei Jahren bereits gelernt, dass Partikelverben eine Resultatszustandsorientierung ausdrücken können (siehe van Hout 1998, 2000 für niederländische Kinder, Jeschull 2003 für englische Kinder und Schulz, Wymann und Penner 2001, Schulz, Penner und Wymann 2002 und Penner, Schulz und Wymann 2003 für deutsche Kinder).1 1 Die Aufmerksamkeit auf ein Ziel oder ein Ergebnis zu richten, scheint einer allgemeinen kognitiven Tendenz zu entsprechen. Lakusta und Landau (2005) beobachteten bei Probandengruppen unterschiedlichen Alters übergreifend die Tendenz, beim Versprachlichen von Ereignissen das Ziel 2 Empirisch belegt ist ein wichtiger Unterschied zwischen L1-Kindern und Erwachsenen: Kinder machen beim Verstehen von Sprache nicht im gleichen Maße von Eigenschaften von Verben Gebrauch wie es erwachsene kompetente Sprecher tun. Naigles, Fowler und Helm (1995) beobachteten, dass junge L1-Lerner zum Verstehen von Sätzen strukturelle Eigenschaften von Sätzen nutzten. Englischsprachige Kinder im Alter von etwa 3 Jahren hatten die Tendenz, ungrammatische Sätze zu akzeptieren. Sie gingen von der Satzstruktur aus, die, obwohl ungrammatisch, als solider Hinweis auf die Bedeutung aufgefasst wurde („frame compliance”). Im Gegensatz dazu konzentrierten sich Erwachsene viel stärker auf die Eigenschaften von Verben und konnten besser als die Kinder entscheiden, welche syntaktische Struktur von einem Verb ermöglicht wird („verb compliance“). Die Erwachsenen neigten dazu, ungrammatische Sätze zu reparieren, beispielsweise durch das Einfügen von Präpositionen. Die Beobachtung, dass vor allem junge Sprachlerner die Satzstruktur für das Sprachverstehen nutzen, ist in der „Syntactic Bootstrapping Hypothesis“ formuliert (Landau und Gleitman 1985, Gleitman 1990). Sie besagt, dass Kinder im Spracherwerb von der Struktur eines Satzes auf dessen Bedeutung schließen. So ist eine transitive Satzstruktur mit einem unbekannten Verb für junge Sprachlerner ein Hinweis auf semantische Transitivität. Die Beobachtung, dass junge Sprachlerner strukturbasiertes Verhalten beim Sprachverstehen zeigen, machte auch Wagner (2006) mit englischen Kindern im Alter von etwa 3 Jahren („transitive bias“, Wagner 2006). Wagner beobachtete jedoch in ihrer Studie bei 5jährigen Kindern kaum noch oder kein strukturbasiertes Sprachverstehen. Wittek (2002) dagegen stellte fest, dass ihre 5jährigen deutschen Probanden in Sätzen, in denen ein Resultatszustand durch ein satzfinales Adjektiv - also durch die Struktur - ausgedrückt wurde, weniger Mühe mit der Satzbedeutung hatten als in Sätzen, in denen die Resultativität allein durch das Verb ausgedrückt wurde. Die Kinder waren zum Beispiel sicherer mit der Bedeutung von Strukturen wie „x macht y wach“ als mit der Bedeutung von Strukturen wie „x weckt y“. Für das Verb wecken beispielsweise nahmen die Kinder eine durative, nicht-resultative semantische Komponente an. Evidenz, dass sogar erwachsene Lerner strukturbasiertes Sprachverstehen zeigen, findet sich in einer rezenten Untersuchung von Roberts, R. van Hout, Havik und Schreuder (2008). Hier wurden mittels Online Lese-Aufgaben erwachsene deutsche Lerner des Niederländischen an der Universität Nijmegen mit niederländischen Muttersprachlern verglichen. Stimuli waren niederländische Konstruktionen wie de vrouw die de meisjes heeft gezien ‘die Frau, die die Mädchen gesehen hat’ und de vrouw die de meisjes hebben gezien ‘die Frau, die die Mädchen gesehen haben’. Beim Verstehen dieser Sätze müssen Eigenschaften des Verbs (in diesem Fall die grammatischen Eigenschaften Person und Numerus) beachtet werden. Obwohl die deutschen Studierenden eine fortgeschrittene Kompetenz des Niederländischen hatten, zeigte sich, dass die niederländischen einer Handlung/eines Ereignisses häufiger zu nennen als den Ausgangspunkt („Goal Path Bias“, Lakusta und Landau 2005). 3 Muttersprachler schneller die Eigenschaften des Verbs verarbeiteten, während die Fremdsprachen-Lerner mehr strukturelle und semantische Eigenschaften der Sätze berücksichtigten. Linguistische Aspekte Insbesondere Grammatiktheorien wie Dependenzgrammatik (zum Beispiel Heringer 1970, Engel 1982, Helbig 1992), HPSG (Pollard und Sag 1987) oder Lexical Decomposition Grammar (Wunderlich 1997) stellen Verben als zentrale konstruktive Elemente von Sätzen heraus. Verben bestimmen die Anzahl und Art der nominalen Ergänzungen im Satz sowie deren Kasus. Vom Verb hängt dabei auch ab, wie verbindlich ein nominales Element im Satz ist. So unterscheiden sich die Sätze der Vater sägt und der Vater macht aus in ihrer Grammatikalität erheblich. Im ersten Fall ist ein Weglassen des Nomens im Akkusativ möglich. Im zweiten Fall dagegen muss angegeben werden, wer oder was vom Vorgang des Ausmachens betroffen ist. Die beschriebenen Funktionen von Verben sind in dem Konzept der multidimensionalen Valenz formuliert (Jacobs 1992, siehe auch Zifonun, Hoffmann und Strecker 1997). Didaktische Aspekte Bisher ist nicht systematisch untersucht worden, ob ein Zusammenhang zwischen „VerbKompetenz“, um einen neuen Terminus in die Diskussion einzubringen, und unterrichtsrelevanten Kompetenzen wie Schreiben oder Verstehen von Texten bestehen. Verb-Kompetenz soll hier verstanden werden als das Wissen von semantischen und syntaktischen Eigenschaften von Verben in Sprachverstehen und Sprachproduktion. Aus den lexikalen Eigenschaften von Verben lässt sich spezifisch syntaktische Information gewinnen. Sie ermöglicht Sprechern, die Rolle einer sprachlichen Einheit (zum Beispiel Subjekt oder Objekt) in ihrem spezifischen Kontext zu identifizieren (Funke, 2001: 134). Es liegt nahe, dass das Verfügen über spezifisch syntaktische Information praktischen Nutzen im Schriftspracherwerb hat. Um über Groß- und Kleinschreibung zu entscheiden, muss ein Lerner unter anderem syntaktische Rollen innerhalb des Satzes identifizieren. Dabei kann er auf spezifisch syntaktische Information des Verbs zurückgreifen. Verbkompetenz beinhaltet zudem das Wissen um die semantischen Rollen, die ein Verb bereithält, z.B. sehen: ein Seher - etwas Gesehenes; geben: ein Geber – etwas Gegebenes – jemand, dem etwas gegeben wird, und wirkt sich möglicherweise günstig auf die richtige Kasuswahl aus. Diagnostische Tests Nach unserem Kenntnisstand liegen Tests zur Prüfung der grammatischen Fähigkeiten im Grundschulalter vorwiegend zur Diagnostik von Sprachentwicklungsauffälligkeiten vor (Dysgrammatiker Prüfmaterial, Frank und Grziwotz 1978, TROG-D, Fox 2007, IDIS, Schöler 1999). 4 Grammatik-Testverfahren wie Profilanalysen (Clahsen, 1986) und die Testbatterie Grammatische Kompetenz TGK (Tewes & Thurner, 1976) messen grammatische Fähigkeiten von Vorschulkindern bzw. von 10-12jährigen Kindern. Die Zielgruppe der Grundschulkinder bleibt weitgehend unberücksichtigt. Standardisierte Tests wie PET (Psycholinguistischer Entwicklungstest, Angermeier 1974), H-S-E-T (Heidelberger-Sprachentwicklungstest, Grimm und Schöler 1978, 1991) testen kognitive Entwicklungsstände (PET) und einen allgemeinen Sprachstand (H-S-E-T). Der HS-E-T prüft in Untertests wie zum „Verstehen grammatischer Strukturformen“, ob zwischen Subjekt und Objekt unterschieden werden kann („wer tut etwas?“, „wem widerfährt etwas?“) oder ob semantische Inkompatibilitäten erkannt und korrigiert werden können (Untertest: Korrektur semantisch inkonsistenter Sätze). Die Zielgruppe sind Kinder von 3 bis 9 Jahren. Kinder im Alter von 3 bis 7 Jahren, d.h. überwiegend Kinder vor dem Grundschulalter, sind die Zielgruppe der „Linguistische[n] Sprachstandserhebung Deutsch als Zweitsprache“ (LiSE; Schulz, Tracy und Wenzel 2008). Definiert werden beispielsweise syntaktische „Meilensteine“ des Spracherwerbs, die Entwicklungsstufen struktureller Kenntnisse der Zielsprache Deutsch markieren. Hierbei spielt die Positionierung der Verben eine Schlüsselrolle. Die Chronologie der Meilensteine ergibt sich aus Studien zum L1-und frühen L2-Erwerb. Speziell für die Diagnostik innerhalb des Fremdsprachenunterrichts wurde der Schulleistungstest Deutsch für vierte Klassen CT-D4 (Raatz und Klein-Braley 1982) entwickelt. Er überprüft die Fähigkeit, Lücken innerhalb von Texten sinnvoll zu füllen. Wir stellen fest, dass Verblernen bei L1- und L2-Grundschülern, d.h. für die Altersgruppe der etwa 6 bis 9jährigen von keinem der uns bekannten Testverfahren erfasst wird. Zudem ist uns nicht immer deutlich geworden – mit der Ausnahme von LiSe -, von welchen Hypothesen über Erwerbsverläufe die einzelnen Tests ausgehen. 3 Eigene Vorarbeiten Wir führten 2005 eine Vorläuferstudie in der Luther-Grundschule in Kleve (NRW) durch (Richter 2005, 2006, 2008b). Wir gehen auf diese Studie ausführlich ein, weil das verwendete Testverfahren für das aktuelle Vorhaben relevant ist. Die Fragestellung lautete: Zeigen sich im Grundschulalter noch Anzeichen von “frame compliance”. Diese wurde ja bislang lediglich für Kinder im Vorschulalter nachgewiesen. Testpersonen Vier Gruppen aus den Klasse 1 bis 4 wurden getestet: Klasse 1: Durchschnittsalter 6;1 Jahre, 9 Probanden; Klasse 2: 7;1 Jahre, 14 Probanden, Klasse 3: 8;3 Jahre, 15 Probanden, Klasse 4: 9;2 Jahre, 14 Probanden. Kontrollgruppe waren acht erwachsene Sprecher. 5 Material Als Teststimuli dienten 16 transitive und resultative Sätze, die zum Teil ungrammatisch oder ambig waren. Die Vorhersage lautete, dass sich Unterschiede innerhalb der Gruppen (vor allem zwischen Kindern und Erwachsenen) vor allem in ungrammatischen Sätzen zeigen würden (vgl. Naigles et al., 1995, Schütze 1996, Mandell 1999). Die Ungrammatikalität der Sätze beruhte nicht auf semantischen Inkompatibilitäten innerhalb des Satzes, sondern auf Verletzungen der syntaktischen Möglichkeiten des Verbs. Sätze wie die Kinder erschrecken die Katze ängstlich und die Mutter läuft den Schuh drücken durchaus plausible Szenen aus. Jedoch kann laufen kein nominales Element in Objektfunktion bei sich haben, erschrecken lässt kein satzfinales Adjektiv zu, das das Resultat des Erschrecken-Vorgangs ausdrückt. In den Testsätzen wurden Verben mit obligatorischen wie auch mit fakultativen Akkusativobjekten sowie Prozessverben eingesetzt (vgl. Schumacher 1986, Vendler 1967). Die Verben unterschieden sich zudem in Bezug auf die Möglichkeit, eine resultative Konstruktion der Form NP-Verb-NP-Adjektiv zu bilden. Verfahren Die Probanden wurden einzeln getestet. Zunächst durchlief jede Testperson eine Trainingsphase mit drei Sätzen (siehe die Instruktionen in Appendix A). Den Testpersonen wurde jeweils ein Satz vorgelesen. Die Elemente des Satzes, also Verben, Nominalphrasen und Adjektive waren auf Karten dargestellt, die in der Reihenfolge NP - NP - Verb Adjektiv vor der Testperson auf dem Tisch lagen. Die Bedeutungen von Verben waren auf roten Karten, Nomen auf blauen und Adjektive auf grünen Karten dargestellt. Beispiel: Die Bildkarten für den Testsatz der Vater schneidet das Brot klein 6 Die Testpersonen wurden gebeten, nachdem der Satz vorgelesen worden war, die Kärtchen auf einer Unterlage mit farbigen Feldern anzuordnen. BLAU ROT GRÜN BLAU GRÜN Die Bearbeitung des Testsatzes der Vater schneidet das Brot klein zum Beispiel verlief wie folgt: Die meisten Probanden platzierten zunächst die Bildkarte der Vater auf dem blauen Feld links. Danach wurde auf das rote Feld das Verb und auf das rechte blaue Feld das Objekt das Brot gelegt. Schließlich musste entschieden werden, ob die Adjektivkarte auf das grüne Feld unter dem Subjekt (links, adverbiale Interpretation) oder unter dem Objekt (rechts, resultative Interpretation) gelegt werden sollte. Ergebnisse Bei den Sätzen (1) *die Kinder betrachten die Oma rot und (2) *die Mutter läuft den Schuh zeigte sich ein signifikanter und bei (3) *die Kinder erschrecken die Katze ängstlich ein nahezu signifikanter Zusammenhang zwischen Gruppenzugehörigkeit und Akzeptanz (ChiQuadrat-Test und ANOVA). Die jüngeren Probanden neigten stärker zum Akzeptieren dieser Sätze als die älteren Testpersonen. Signifikante Zusammenhänge konnten auch zwischen Gruppenzugehörigkeit und resultativer Interpretation bei den obigen Sätzen (1) und (3) sowie bei dem scheinbar ambigen Satz (4) der Opa betrachtet den Hund ängstlich beobachtet werden. Insbesondere die jüngeren Kinder nahmen auch bei Ungrammatikalität für die Struktur NP-Verb-NPAdjektiv eine resultative Bedeutung des Satzes an. Wir interpretieren die Ergebnisse der Pilotstudie folgendermaßen: (1) insbesondere die jüngeren Grundschulkinder greifen bei ungrammatischen Sätzen auf eine strukturbezogene Verstehensstrategie zurück („frame compliance“). Voraussetzung ist, dass die Sätze plausible Szenen in der Welt ausdrücken, (2) die Übergänge zum verbbasierten Satzverstehen („verb compliance“) sind systematisch und graduell. Einen Erklärungsansatz könnte die semantische Komplexität von Verben bieten. Da der oben skizzierte Bildkartentest kein in der Psycholinguistik etabliertes Verfahren ist, führten wir zur Überprüfung einen weiteren Test mit erwachsenen Sprechern durch (Richter 2008a). Teilnehmer waren 40 Lehramtsstudenten im Fach Deutsch an der Universität 7 Lüneburg. Auf einer Skala von 1 bis 7 sollten die Probanden Grammatikalität und Verständlichkeit von Sätzen mit identischen Grammatikalitätsmerkmalen wie im zuvor beschriebenen Schultest einschätzen. Die Ergebnisse der Probanden in diesem Test korrelierten nahezu perfekt mit den Ergebnissen der erwachsenen Probanden im Grundschultest. 4 Annahmen, Ziele und Hypothesen Ausgangsannahme des Vorhabens ist, dass der Übergang zwischen struktur- und verbbasiertem Sprachverstehen eine entscheidende Phase innerhalb des späten L1-Erwerbs widerspiegelt. Zwar gilt beim Eintritt in die Grundschule der Syntaxerwerb als weitgehend abgeschlossen (Clahsen 1988). Unserer Vorhersage zufolge werden zu Beginn der Grundschulzeit die L1-Lerner noch starke Anzeichen von „frame compliance“ zeigen. Zum Ende der Grundschulzeit aber sollte sich endgültig „verb compliance“ herausgebildet haben. Wir wollen empirisch überprüfen, ob diese Annahmen für den L1-Erwerb bestätigt werden können und ob sie auch für den L2-Erwerb gelten. In diesem Vorhaben werden die L2Lerner eingegrenzt auf in Deutschland geborene Kinder mit zwei türkischen Elternteilen. Eine weitere Annahme ist, dass der Stand der Verbkompetenz informativ für die allgemeine Sprachentwicklung, insbesondere aber für die Grammatikentwicklung, und für den Schriftspracherwerb ist. Für das beantragte Vorhaben werden zwei Hauptziele formuliert: 1. Die Verläufe des Verberwerbs von L1- und L2-Kindern (Türkisch als L1) in den vier Grundschulklassen sollen beobachtet, modellhaft erklärt und miteinander verglichen werden , 2. die Ergebnisse sollen für Überlegungen genutzt werden, wie sich die Resultate für diagnostische Tests zur Grammatikentwicklung und für Vergleiche mit weiteren sprachlichen Leistungen (z.B. im Schriftspracherwerb) genutzt werden können. Ad 1: Beobachtet werden soll die Entwicklung von strukturbasiertem zu verbbasiertem Satzverstehen im L1- und L2-Erwerb, d.h. „frame compliance“ und „verb compliance“. Die Entwicklungsphasen sollen mit Hilfe von statistischen Modellen erklärt werden. In einem weiteren Schritt soll beobachtet werden, ob und wie sich die Entwicklungsverläufe von L1und L2-Kindern unterscheiden. Untersucht werden die Zusammenhänge der Testleistungen aller Probanden mit (i) Alter, (ii) Sprachhintergrund (L1 oder L2, Kontrollvariable dabei ist die Kontaktzeit mit der deutschen Sprache) (iii) Ergebnissen in anderen sprachdiagnostischen Tests. 8 Sollten bei (iii) Zusammenhänge zum Vorschein kommen, bestätigte sich die Annahme, dass die Tests zum Verblernen einen diagnostischen Wert für den Stand der Sprach- und Grammatikentwicklung haben. Ad 2 Die Ergebnisse des Vorhabens (Testmethode, Auswahl und Zusammenstellung der Items) sollen die Grundlagen bilden für die Entwicklung diagnostischer Tests, die beispielsweise als Untertests bestehende Verfahren ergänzen können. Außerdem sollen Überlegungen angestellt werden, wie Zusammenhänge mit sprachlichen Leistungen beispielsweise im Schriftspracherwerb überprüft werden können. Dabei geht es zum Beispiel um die Bereiche Groß- Kleinschreibung, Komplexität der Sätze bei der Produktion schriftlicher Texte und Kasuswahl. Die folgenden vier Hypothesen werden überprüft: 5 1. Es bestehen Unterschiede im Satzverstehen zwischen L1-Kindern im Grundschulalter und Erwachsenen, 2. die Übergänge von strukturbasiertem zu verbbasiertem Satzverstehen im L1Erwerb sind systematisch und graduell, 3. es bestehen Unterschiede im Verstehen resultativer und transitiver Sätze zwischen L1-Kindern und L2-Kindern derselben Altersstufen, 4. es bestehen Zusammenhänge zwischen den Testleistungen in den Verbtests mit Leistungen in diagnostischen Verfahren wie H-S-E-T. Arbeitsprogramm Für die Anfangsphase des Projekts ist die Entwicklung von drei empirischen Tests geplant. Bevor diese beschrieben werden, wenden wir uns kurz der Konstruktion der Testsätze zu, die in allen drei Tests derselben Idee folgen. Alle Testsätze drücken plausible Szenen in der Welt aus, enthalten also keine semantischen Inkompatibilitäten. Ungrammatikalität und (scheinbare) Ambiguität ergeben sich aus den semantischen und syntaktischen Eigenschaften von Verben. Dies sei noch einmal an einem Beispiel verdeutlicht. In einem Satz wie der Junge fragt das Mädchen wütend ist sowohl die Interpretation des Adjektivs als Adverb (=der Junge fragt das Mädchen und er ist dabei wütend) als auch als resultatives Prädikat (=der Junge macht das Mädchen durch seine Frage(n) wütend) sinnvoll. Die Verbeigenschaften jedoch verhindern hier die resultative Interpretation. Auch intransitive Sätze mit obligatorisch transitiven Verben werden den Probanden vorgelegt. Hier soll beobachtet werden, ob Probanden anhand der intransitiven Satzstruktur Verben wie ausmachen und aufessen durativ auffassen. Unterschiede zwischen den Gruppen werden vor allem bei ungrammatischen und ambigen Sätzen erwartet. In Tabelle 1 geben wir einige Beispiele für Testsätze: 9 ohne Objekt: laufen, schlafen, sitzen, wohnen der Vater läuft den Schuh die Oma schläft die Gesundheit die Oma sitzt das Sofa der König wohnt das Schloss mit obligatorischem Objekt: ausmachen, aufessen, erschrecken, geben Der Vater macht aus Die Mutter isst auf Die Oma erschreckt Der Opa gibt nicht resultativ: schlachten, erschrecken, arbeiten der Bär erschreckt den Löwen ängstlich die Schüler arbeiten die Lehrerin zufrieden der Metzger schlachtet das Schwein tot die Mutter weckt den Vater wach die Mutter denkt das Kind der Junge hofft gute Noten ggf. auch Verben mit Präpositionen denken an, hoffen auf. 1. Bildkartentest Gestestet werden vier Gruppen von L1-Kindern der Klassen 1 bis 4 sowie Gruppen von L2Kindern derselben Klassenstufen und eine Erwachsenenkontrollgruppe. Die Gruppen umfassen in allen drei Tests jeweils zirka 20 Probanden. Die Zahl der Items sollte 16 nicht wesentlich überschreiten. Das Verfahren in diesem Test ist bereits in Abschnitt 3 ausführlich beschrieben worden. Um zu vermeiden, dass Intonation das Sprachverstehens beeinflusst – man kann schließlich die Sätze nicht immer gleich vorlesen – ist die Entwicklung eines Computerprogramms vorgesehen. Die Sätze werden ohne Intonation von einem Roboter vorgelesen, die Manipulation der Bildkarten erfolgt per Computer-Maus. Wenn Sätze abgelehnt werden, kann der Versuchsleiter ggf. die Probanden auffordern, den jeweiligen Satz zu „reparieren“. Beispiel: der Vater macht aus -> der Vater macht das Radio aus (Reparatur); die Mutter denkt das Kind -> die Mutter denkt an das Kind (Reparatur). 2. Self- Paced-Listening-Test Der Self-Paced-Listening-Test (Ferreira, Henderson, Anes, Weeks und McFarlane 1996) ist eine Variation eines Self-Paced-Reading-Tests (siehe Mak 2001; Felser und Roberts 2004; Papadopoulou und Clahsen 2003; Roberts et al. 2008 und Williams 2006). Ziel dieses Tests ist es, die Ergebnisse des Bildkartentests zu überprüfen. Er ist in diesem Vorhaben anstelle des häufiger verwendeten Self-Paced-Reading-Tests vorgesehen, weil bei Kindern in den unteren Klassen der Grundschule nicht von einer ausreichenden Lesekompetenz ausgegangen werden kann. Die Probanden werden einzeln am Computer getestet. Jeder Satz wird von einer Computerstimme Wort für Wort vorgelesen. Die Anweisung lautet, die Enter-Taste zu drücken, sofern das gerade vorgelesene Wort als passend zu den bisher vorgelesenen Wörtern akzeptiert wird. Am Satzende sagt der Computer „Punkt“. Auch auf diese Information muss der Proband reagieren. Der Testleiter weist darauf hin, dass durch eine bestimmte Taste die Bearbeitung jederzeit abgebrochen werden kann, wenn ein Satz als 10 nicht akzeptabel erscheint. Gemessen werden (1) die Reaktionszeiten bei den kritischen Elementen im Satz, zum Beispiel bei einer Nominalphrase im Akkusativ in einem intransitiven Kontext, und (2) die Reaktionszeiten für die kompletten Sätze. 3. Ambiguitätstest Den Probanden wird ein kurzer Film gezeigt. Ein Junge erzählt von einem Geschichtenbuch, das er anfertigen will. Er bittet den Zuschauer um Hilfe. So berichtet er, dass er nicht alles versteht, was er gehört hat. Der Junge trägt einen dieser Sätze vor, wie der Junge fragt das Mädchen wütend. Dann erscheinen zwei Bilder, ein wütender Junge und ein wütendes Mädchen. Die Frage des Protagonisten im Film lautet: „Kannst du mir sagen, welches Bild ich in mein Geschichtenbuch einkleben soll? Die Testpersonen wählen eine der beiden abgebildeten Szenen. In diesem Test ist kein Satz ungrammatisch. Die Möglichkeit, den Satz zurückzuweisen, ist nicht vorgesehen. Beispiele für Testsätze: (scheinbare) Ambiguität: fragen, reparieren, bauen, hämmern, streicheln der Junge fragt das Mädchen wütend der Vater repariert das Auto langsam Opa baut den Drachen schnell die Mutter ruft die Tante ängstlich die Oma streichelt das Kind froh Auswertung Die Daten werden multifaktoriellen Varianzanalysen unterzogen. Abhängige Variablen sind Akzeptanz von ungrammatischen Sätzen (binär: ja/nein), Interpretation von scheinbar resultativen Sätzen (binär: resultativ/nicht-resultativ), Reaktionszeiten und Interpretation von (scheinbar) ambigen Sätzen (binär). Sollten die Ergebnisse statistisch robust sein, kann durch Regression ein Modell erstellt werden, das den Übergang von strukturbasiertem zu verbbasiertem Sprachverstehen in der L1 erklärt. Dieses Modell erlaubt es, den individuellen Stand eines Lerners mit dem allgemeinen Stand zu vergleichen. Förderbedarf kann vorliegen, wenn die vorhergesagte Gruppenzugehörigkeit deutlich unter der tatsächlichen Gruppenzugehörigkeit liegt. Des Weiteren wird ein Modell für die L2-Lerner erstellt. Sollten sich Unterschiede zwischen den L1- und L2-Modellen zeigen, wird geprüft, auf welchen Faktoren diese Unterschiede beruhen und ob die beiden Modelle grundsätzlich andere Verläufe des Verberwerbs beschreiben und erklären. Vergleich mit anderen sprachdiagnostischen Tests Jeweils vier Gruppen von L1- und L2-Kindern (20 Probanden pro Gruppe) werden einem standardisierten sprachdiagnostischen Test unterzogen. Geprüft wird Hypothese 4, dass zwischen den Leistungen im Bereich Verblernen und einem allgemeinen Sprachentwicklungsstand ein Zusammenhang besteht. Als Vergleichstest geeignet erscheinen LiSe und H-S-E-T, eine Auswahl muss jedoch noch getroffen werden. 11 6 Zusammenfassung Das Projekt ist grundlagenorientiert. Stadien der Grammatikentwicklung im Bereich des Verblernens bei L1- und bei L2-Kindern werden dokumentiert und verglichen. Sollten sich die Hypothesen bestätigen (siehe Abschnitt 5), lässt sich aus den Daten ein Modell bilden, das mit Hilfe von Faktoren wie „Gruppe/Lebensalter“ und „Muttersprache“ den individuellen Stand von Lernern an einen allgemeinen (idealen) Stand anlegt. Auf diesem Modell kann ein diagnostischer Test zur Grammatikentwicklung / Verblernen im Grundschulalter aufbauen. Praktisch nutzbar gemacht werden können zudem Testmethode, Art/Anzahl und Zusammenstellung der Items und Erfahrungen mit der Testdurchführung am Computer. Sollte sich zeigen, dass der Verberwerb in der L2 grundsätzlich anders verläuft als in der L1, könnte dies didaktische Konsequenzen für DaZ-Unterricht haben. 12 7 Literatur Clahsen, H. (1986). Die Profilanalyse. Ein linguistisches Verfahren für die Sprachdiagnose im Vorschulalter. Berlin: Marhold. Clahsen, H. (1988). 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Versuche mal, die Karten in die richtige Reihenfolge zu bringen.“ <Das Kind versucht mit Hilfe des VL, die Karten zu ordnen. > VL: “Jetzt gibt es noch grüne Felder. In unserer nächsten Geschichte haben wir auch grüne Karten. Wir wollen jetzt die Geschichte (den Satz) ‚die Oma streicht den Stuhl rot’ legen. Wird der Stuhl rot? Oder ist die Oma rot? Was meinst du, wo gehört das grüne Kärtchen hin?“ <VL zeigt die Bildkärtchen und deutet auf die beiden grünen Felder auf der Unterlage.> VL: “Jetzt nehmen wir die Geschichte (den Satz) ‚der Vater isst das Brot lustig’. Wird das Brot lustig oder isst der Vater lustig?“ <VL zeigt die Bildkarten und deutet wieder auf die beiden grünen Felder auf der Unterlage.> VL: “Jetzt kommt wieder eine andere Geschichte (ein anderer Satz) ‚die Oma gießt die Blume klein’. Was meinst du, wie können jetzt die Kärtchen liegen? Wenn du aber denkst, dass du die Geschichte (den Satz) nicht verstehst, sagst du uns das! Wenn du irgendein Kärtchen nicht hinlegen willst, lege es einfach beiseite.“ 17 18