Johann Osel Haben die Volksparteien Zukunft? Ursachen für den Bedeutungsverlust der großen deutschen Parteien Publikation Vorlage: Datei des Autors [www.hss.de/downloads/ 070704_Nachwuchsfoerderpreis_Osel.pdf] Eingestellt am 7. Juli 2007 Autor Johann Osel Student der Journalistik an der Universität Bamberg Gewinner des „Nachwuchsförderpreis für politische Publizistik 2006/07“ (1. Platz) Veranstaltung Nachwuchsförderpreis für politische Publizistik 2006/07 Konferenzzentrum München 7. Juli 2007 Empfohlene Zitierweise Beim Zitieren empfehlen wir hinter den Titel des Beitrags das Datum der Einstellung und nach der URL-Angabe das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse anzugeben. [Vorname Name: Titel. Untertitel (Datum der Einstellung). In: http://www.hss.de/...pdf (Datum Ihres letzten Besuches).] Haben die Volksparteien Zukunft? Ursachen für den Bedeutungsverlust der großen deutschen Parteien Johann Osel "Haben Volksparteien noch Zukunft? Gleichen sie nicht Dinosauriern, mal Raubtier, mal vegetarisch friedvoll? Sind sie nicht übergroß und unbeweglich, Gefangene ihrer eigenen Schwerfälligkeit und daher vom Aussterben bedroht?"[1 Diese Frage nach dem Überleben der Volksparteien stellte der heutige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, schon vor über 10 Jahren in seiner zeitkritischen Betrachtung 'Dinosaurier der Demokratie'. Und angesichts der Bundestagswahl 2005 erscheinen derartige Befürchtungen dringlicher denn je. Zwar verfügen die Volksparteien mit 448 von 614 Abgeordnetensitzen über eine überragende Mehrheit im Parlament, doch geht man vom theoretischen Wählerpotenzial der Bundesrepublik Deutschland aus, votierten nur knapp über die Hälfte der Stimmberechtigten für die Volksparteien CDU/CSU oder SPD. Die andere Hälfte gab ihre Stimme entweder kleineren Parteien oder blieb der Wahl fern.[2 Die aktuelle Sonntagsfrage versieht die Akteure der großen Koalition sogar mit historischen Tiefständen, so zum Beispiel CDU/CSU bei 29% und SPD bei 30% (Forsa vom 25.09.06) oder beide gleichauf bei 30% (Emnid vom 27.09.06).[3 Besonders evident zeigt sich diese Entwicklung in einigen neuen Bundesländern. Dort ist die PDS respektive Linkspartei zum Teil zweitstärkste Kraft und scheint dadurch allmählich den klassischen Status einer Volkspartei zu übernehmen. All diese Fakten legen die Schlussfolgerung nahe, dass die deutschen Volksparteien anno 2006 nicht mehr als solche bezeichnet werden können. Haben wir also Volksparteien ohne Volk? Sind CDU/CSU und SPD nicht mehr zukunftsfähig? Vorneweg sei gesagt: Grundsätzlich ist das deutsche Parteiensystem sehr stabil. Während beispielsweise in Italien innerhalb kürzester Zeit eine komplette Parteienlandschaft zusammengebrochen ist, blieben die deutschen Großparteien – trotz massiver Schwankungen und Strukturproblemen – weiterhin bestehen. Sie haben die Bundesrepublik seit ihrer Gründung entscheidend geprägt und sind unverwechselbare Garanten für die Demokratie; und Deutschland braucht seine Volksparteien nach wie vor. Meiner Ansicht nach sind die "Dinosaurier der Demokratie" zwar nicht am Ende, schlittern aber 1 am Rande einer ernsthaften Identitätskrise entlang. Sie müssen versuchen, nicht im Pragmatismus der großen Koalition zu versinken und gleichzeitig aber dem Wohle des Landes zu dienen. Sie brauchen Mut, sich selbst neu zu definieren und für die Zukunft zu reformieren. In meinem Essay möchte ich versuchen, die Ursachen für das augenblickliche Erscheinungsbild der deutschen Volksparteien zu ergründen. Sie stehen oft in einer regelrechten Wechselwirkung mit dem Basisverlust von Union und Sozialdemokraten. Ausgehend von dieser Analyse möchte ich eine Agenda aufsetzen, die Vorschläge bietet, um den Abstieg der deutschen Volksparteien zu stoppen und sie zukunftsfähig für eine weiterhin erfolgreiche Politik zu machen. "Manche meinen lechts und rinks kann man nicht velwechsern. werch ein illtum!"[4 Dieses lyrische Bonmot des Sprachkünstlers Ernst Jandl trifft auf seine satirische Art und Weise bereits den Kern der Sache. Denn Fakt ist: Die klassischen politischen Lager, auf welche die Volksparteien in der Geschichte der Bundesrepublik zurückgreifen konnten, existieren heutzutage nicht mehr in dieser Form. Auch wenn sich die großen Parteien öffentlich gerne auf traditionelle Aspekte berufen, so zum Beispiel Edmund Stoiber regelmäßig auf christliche Kultur und Wertvorstellungen[5, kann wohl kaum abgestritten werden, dass die Stammwählerschaften stetig abnehmen. Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Katrin Göring-Eckardt, formulierte diese Entwicklung in ihrer Rede bei der Evangelischen Akademie in Tutzingen folgendermaßen: "Auf den Punkt gebracht: Das 'Volk' gibt es nicht. Immer mehr Menschen haben Patchworkbiographien und sind längst so flexibel, wie es immer wieder eingefordert wird. So flexibel die Menschen in ihrem täglichen Leben werden, so flexibel werden sie aber auch in ihrem Wahlverhalten. Lebenslange Bindungen nehmen ab – das betrifft die Arbeitsverhältnisse ebenso wie Ehen oder die Bindung an eine Partei."[6 Bei diesem neuen Typus des ungebundenen Wählers sind sozialstrukturelle Kategorisierungsansätze oder Milieutheorien[7 nicht mehr zwingend anwendbar, klassische politische Identitätsmuster haben keine volle Gültigkeit mehr. Die permanente Identifikation mit einer Partei ist oftmals nicht mehr möglich, da die individuellen Interessen nicht mehr gänzlich von der Partei integriert werden können. Ursachen hierfür sind unter anderem der Prozess der Tertiärisierung, die Individualisierung in der Gesellschaft und die Überbrückung von Klassengegensätzen durch den Sozialstaat.[8 Beispielweise können CDU/CSU nicht mehr wie früher auf das katholische Milieu bauen. Zwar geben immerhin 2 30% der 45- bis 59-Jährigen an, dass ihnen die christliche Orientierung einer Partei wichtig sei, bei den 16- bis 25-Jährigen liegt der Anteil aber nur noch bei 7%.[9 Ein aktuelles Beispiel: "Die Katholikentage etwa, einst Akklamationsforen für christdemokratische Parteileute, sind mittlerweile bunte und politisch offene Veranstaltungen."[10 Doch nicht nur die Bürger, sondern auch die Parteien selbst haben sich gewandelt. Die Entideologisierungsprozesse von Unionsparteien und SPD haben zum heutigen Erscheinungsbild der Volksparteien geführt. Jenseits ihrer traditionellen Klientel zielen sie darauf ab, unterschiedliche Schichten und Interessen in den Demokratieprozess einzubinden. Doch diese Kumulation von Interessen und nicht zuletzt die massive Annäherung der Programmatik der beiden großen Volksparteien gehen zwangsläufig mit einem Bedeutungsverlust einher, da die (variabel große) Stammwählerschaft nicht mehr optimal mobilisiert werden kann. Dadurch entsteht ein zunehmend volatiles Parteiensystem mit flexiblen Wählermärkten. Der strahlende Sieger von heute kann schon morgen mit erdrutschartigen Verlusten konfrontiert werden.[11 Der Status als klassische Volkspartei geht außerdem zunehmend durch den Charakter als Fraktions-, Dienstleistungs- und Medienpartei verloren.[12 Dies äußert sich so: Wahlkämpfe werden dienstleistungsgleich organisiert und finanziert, die nationale Parteiführung kommuniziert mit Mitgliedern, Sympathisanten und Wahlvolk via medialer Vermarktung und das eigentliche Machtzentrum der Volksparteien sitzt in den Parlamenten und Regierungskabinetten. Ergo haben sich nicht nur die politischen Lager in der Bevölkerung weitestgehend aufgelöst, sondern auch die Volksparteien durch ihre programmatischen und organisatorischen Wandlungsprozesse den Trend zum flexiblen Wähler gestärkt. "In den letzten Jahren hat sich meine Einstellung zur Politik um 180 Grad gedreht. Christiansen? Grausam, einfach nur grausam diese Selbstdarsteller, dazu eine Moderatorin, die mehr kriecht, als dass sie kritisch hinterfragt, mehr Erfüllungsgehilfin der Ahnungslosen ist, als das, was sie sein sollte, kritische Begleiterin. Phoenix? Läuft bei mir gar nicht mehr, höchstens, wenn mal eine Reportage aus dem wissenschaftlichen Bereich läuft, warum auch, die Worthülsen sind und bleiben eh gleich, darauf mein Ehrenwort. Die Politik ist mir sowas von egal geworden, aber who cares."[13 Dieses Statement stammt aus einem sogenannten Internetblog[14 und geht auf einen jungen Mann namens Chris zurück, der sich selbst als "früher ein politisch sehr interessierter Mensch"[15 definiert. Dies ist bezeichnend für eine neue Form der 3 Politikverdrossenheit. Nicht selten werden aus politisch desinteressierten, enttäuschten Bürgern konjunkturelle oder gar dauerhafte Nichtwähler. Ein großer Bestandteil der Nichtwählerschaft sind dabei nach wie vor die hinsichtlich des sozialen und monetären Standes und Bildungsgrades unteren Schichten. Grundsätzlich lässt sich hier feststellen: Je höher das Einkommen und der formale Bildungsgrad der Wahlberechtigten ist, desto größer fällt die Neigung zur Stimmabgabe aus.[16 Außerdem kann die mangelnde gesellschaftliche Integration eines Wahlberechtigten als Movens zur Stimmenthaltung betrachtet werden. So führt die Vereinzelungsdynamik in der Familie und Nachbarschaft, aber insbesondere auch der Zerfall von Bindungen in Kirchen, Gewerkschaften, Vereinen und anderen Organisationsformen zur Verweigerung der Stimmabgabe.[17 Zu dieser aus sozioökonomischen Faktoren resultierenden Wahlenthaltung kommt nun ein neuer Typus von Nichtwählern. Dieser weist ein hohes politisches Interesse auf und wird durch einen bewussten politischen Entscheidungsprozess zum Nichtwähler. Geleitet ist diese Gruppe vor allem durch das fehlende Vertrauen in die Problemlösungskompetenz von Parteien und Politikern. Deshalb fungiert diese Form der Wahlenthaltung auch eher als individuelles Sanktionsmittel für die Parteien und nicht als Kontrapunkt gegen das politische System und die Institution Wahl per se.[18 Diese Standpauke durch das Fernbleiben von der Wahlurne haben die politischen Parteien und Mandatsträger mitunter auch selbst zu verantworten. Parteifinanzierungs- und Korruptionsaffären prägen sich im Gedächtnis der Bürger letztlich stärker ein als der Fortgang und die Ergebnisse des politischen Tagesgeschäfts. Fälle von persönlichen Vorteilsnahmen, Bestechlichkeit und Vetternwirtschaft liefert die politische Klasse den Stammtischen zuhauf und regelmäßig. Quer durch alle Parteien (und nicht nur die Volksparteien) reihen sich die Affären und Skandale, an deren Ende meistens, aber nicht immer, die Aufgabe des entsprechenden Mandats steht. Die beiden Journalisten Pascal Beucker und Frank Überall attestieren in ihrem Buch den bundesrepublikanischen Volksvertretern und Amtsträgern sogar eine Art Kultur des politischen Rücktritts, indem sie 50 Jahre Zeitungsschlagzeilen in eine fundiert recherchierte, zeithistorische Chronik politischer Skandale umwandeln.[19 Kurzum: Wie sollte das Vertrauen in die Integrität der Politiker nicht Schaden nehmen, wenn industriell gesponserte Luxusreisen und Bonusmeilen, verschleierte Nebeneinkünfte, Dossier-Affären und dubiose Parteispenden keine einmaligen Ausrutscher mehr sind. Doch nicht nur diese direkten Motive bewerkstelligen die Politikverdrossenheit einiger Bevölkerungsteile. Es ist die Überflutung durch die Präsenz der Parteien 4 im Alltag, die für die Abkehr herkömmlicher politischer Partizipationsmöglichkeiten sorgt. Auf diesen Gesichtspunkt wies auch der Politologe Peter Lösche im Rahmen eines Gesprächskreises der FriedrichEbert-Stiftung hin. Demnach haben die Parteien ihre Kompetenzen überdehnt und betätigen sich in Bereichen, die grundlegend nicht zu ihrem Aufgabenbereich gehören müssen. Zu nennen sind hier die Rundfunk- und Fernsehräte, in denen nicht nur nach parteipolitischen Gesichtspunkten abgestimmt wird, sondern in denen es fraktionsmäßige "Freundeskreise" gibt, die sich vor den offiziellen Sitzungen treffen. Oder in der öffentlichen Verwaltung: Warum bei der Ernennung von Theater- und Opernintendanten Parteizugehörigkeit eine Rolle spielt, ist für den Bürger quasi nicht nachvollziehbar, ebenso die Bestellung von Schulleitern auf Basis eines bestimmten Parteibuchs. Nicht zuletzt auf der lokalen Ebene scheinen die Parteien allgegenwärtig zu sein, so in den Vereinen, Verbänden oder bei der Freiwilligen Feuerwehr.[20 Kritisch sieht dieses Thema auch Jürgen Rüttgers in seinem bereits erwähnten Buch 'Dinosaurier der Demokratie': "Die Parteien sind gefordert, sich selbst zu beschneiden, um Freiräume für die Bürger zu schaffen, in denen diese sich betätigen können, eigenständig und eigenverantwortlich, ohne dabei stets durch das Nadelöhr der Parteien gehen zu müssen. Rückzug meint auch, Grenzen der eigenen Kompetenz einzugestehen. Die Parteien haben nicht auf alle Fragen eine Antwort. Sie können nicht alles und alles besser."[21 Peter Lösche sieht die Kompetenzüberdehnung der Parteien als Allzuständigkeitsanspruch, mit welchem man Erwartungen geweckt habe, die in der Politik der Bundesrepublik realiter nicht zu erfüllen seien, beispielsweise die Einflussmöglichkeit der deutschen Parteien auf die Globalisierung der Kapitalmärkte.[22 Summa summarum ist diese von den Parteien gewissermaßen selbst erzeugte Unzulänglichkeit ein weiterer Bestandteil zur Entstehung von Politikverdrossenheit. Sie kommt zu den klassischen Nichtwählern der sozial schwächeren, formal weniger gebildeten Schichten und der Wahlenthaltung als bewusste Form des Wahlverhaltens hinzu. Einhergehend mit diesen Entwicklungen können die Parteien an den Rändern des politischen Spektrums sowie politische Nichtregierungsorganisationen zu Nutznießern der Politikverdrossenheit werden. Die Globalisierung von Kapital und Wirtschaft gewinnt zunehmend an Bedeutung, die massiven Auswirkungen auf die nationalen Ökonomien sind unterdessen nicht zu leugnen. Nichtregierungsorganisationen und sozialen Initiativen ist es augenscheinlich gelungen, auf die Herausforderungen der Zeit 5 flexibler zu reagieren als die großen Volksparteien. Schließlich können sie in bestimmten Ressorts gezielt wirken und müssen nicht – wie eben die Volksparteien oder Parteien in Regierungsverantwortung – auf eine Bündelung und Integration verschiedener Interessen achten. Die immer komplexer werdenden Sachverhalte in der Politik scheinen den Bürger zu überfordern: er weist das Komplettpaket der Parteien zurück und verlagert sein Engagement bei anderen Bewegungen auf gezielte Interessen. Die Nichtregierungsorganisationen betreiben Aufklärungsarbeit, prangern Mängel in Staat und Wirtschaft an, bieten Dienstleitungen verschiedenster Art und fungieren als Advokaten für unterrepräsentierte Interessen. Obwohl dies im Gegensatz zur Arbeit der Parteien ohne ausdrückliche demokratische Legitimation stattfindet, avancieren diese Bewegungen zu ernsthaften Konkurrenten der klassischen Parteistrukturen.[23 "Es ist chic geworden, über die 'politische Klasse' und ihre angebliche Mittelmäßigkeit die Nase zu rümpfen und sich vornehm von ihr zu distanzieren"[24, stellte Jürgen Rüttgers schon vor über zehn Jahren fest. Auch wenn die punktuell agierenden Konkurrenzorganisationen den Parteienstaat per se nicht infrage stellen: Für die Volksparteien wird es unabdingbar sein, sich diesen neuen Formen des politischen Engagements zu stellen. Sei es dadurch, solch ein Potenzial in Kooperation mit diesen Organisationen zu nutzen oder durch den Versuch, die Anhänger (und insbesondere die Jugendlichen und jungen Erwachsenen darunter) wieder für die klassischen politischen Partizipationsformen zu gewinnen. Letzteres scheint mir umso dringlicher, da viele dieser sozialen Bewegungen nicht über den Status eines populistischen Protestforums hinauskommen, was letztlich der sinnvollen Gestaltung politischer Entscheidungsprozesse eher im Wege steht. Durch die Orientierung der Volksparteien in Richtung der politischen Mitte sind an den Rändern des politischen Spektrums neue Möglichkeiten für die extremistischen Kleinparteien entstanden. Der Beschluss notwendiger Arbeitsmarktreformen hatte zur Folge, dass die lediglich ostdeutsch verankerte PDS zusammen mit der Protestbewegung WASG bundesweit reüssieren konnte. Mit der Linkspartei hat das deutsche Parlament nun eine fünfte Fraktion, die jedoch in der politischen Arbeit völlig isoliert von den anderen Parteien und insbesondere den Volksparteien steht. Katrin Göring-Eckardt (Grüne), Bundestags-Vize-Präsidentin, hierzu: "Wir haben eine populistische, in meinen Augen auf lange Zeit kaum regierungsfähige Partei im deutschen Bundestag. Übrigens nicht wegen der nicht aufgearbeiteten Vergangenheit einiger und der Ostpartei. Sondern weil es eine Partei ist, die weder 6 Verantwortung für Realisierbarkeit und Finanzierbarkeit der eigenen Vorschläge, noch für die gegebene außenpolitische Situation übernehmen kann und will. In außerordentlicher Borniertheit und Realitätsverweigerung übrigens."[25 Nicht nur Leidtragender, sondern auch Ausgangspunkt hierfür ist die SPD. Während in Ostdeutschland durch die SED-Nachfolgepartei bereits erfolgreiche Strukturen links von der Sozialdemokratie vorhanden waren, stellte der Zulauf zur neuen Wahlalternative ein Novum dar. Alleine durch das Engagement von parteilosen Linken und Gewerkschaftern wäre die erfolgreiche Formierung des Vereins und Parteikonstituierung im Jahr 2005 sicherlich nicht möglich gewesen; nur durch das Überlaufen von Sozialdemokraten, darunter einige bekannte und öffentlichkeitswirksame Namen, konnte sich die heutige politische Situation der Linken herausbilden. Die Durchsetzung einer zur politischen Mitte tendierenden Politik, also die Reformpolitik auf dem Arbeitsmarkt, hat die Spaltung der Sozialdemokratie bewirkt und damit eine gravierende Talfahrt dieser Volkspartei eingeleitet. Nach der Ökonomischen Theorie der Demokratie von Anthony Downs eine logische Entwicklung. Demnach entsteht eine neue Partei am ehesten dann, wenn sie die Gelegenheit hat, einer älteren Partei einen großen Teil ihrer Anhänger wegzunehmen, indem sie sich zwischen die ältere Partei und deren Wähler schiebt. Ferner: Wenn eine ältere Partei von dem ihr nächsten Extrem abgerückt ist und sich an das gemäßigte Zentrum annähert, dann könnten die Extremisten unter ihren Anhängern eine neue Partei gründen, um die Politik der älteren Partei wieder in die von ihnen gewünschte Richtung zu zwingen.[26 Auch das Erstarken rechtsextremer Parteien ist nicht nur eine Folge des Zustands der Volksparteien, sondern gleichzeitig eine immense Gefahr für den künftigen Bestand derer. Erst kürzlich konnte die rechtsextreme NPD bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern 7,3% der Zweitstimmen und damit sechs Parlamentssitze erringen.[27 Dieses Wahlergebnis zeigt, dass hier rechtsextremistische Parteien und Organisationen längst keine politischen Splittergruppen mehr sind. Ein Blick auf die einzelnen Gemeinden offeriert gar Fatales: In der Gemeinde Postlow erreichte die NPD ihren Höchstwert mit 38,2%, in Blesewitz sind es beispielsweise 32,2% der Stimmen und auch viele andere Gemeinden bewegen sich in ungefähr diesem Zahlenrahmen.[28 Hier sieht man, dass die Nationalisten dort kein Phänomen des äußeren politischen Randes mehr darstellen, sondern inmitten der Gesellschaft verwurzelt sind. Die Partei gibt sich bürgernah, veranstaltet zum Beispiel Familienfeste, Sportereignisse oder Rockkonzerte für die Jugendlichen. Im Mittelpunkt steht dabei eine zielstrebige nationalistische Propaganda, die konsequente Faschisierung der Jugend. Dass das Ergebnis der Landtagswahl für die NPD 7 nicht zweistellig ausfiel, ist deshalb schon fast verwunderlich. Denn nur 38% der Ostdeutschen (im Vergleich zu 64% der Westdeutschen) halten die Demokratie für die beste Staatsform.[29 Die Volksparteien sind hier gefragt. Es gilt, das Engagement gegen Rechtsextremismus nach allen Möglichkeiten zu fördern. Dass derzeit einige wichtige Projekte gegen Rechts auf der Kippe stehen, da sie haushaltsrechtlichen Bagatellen zum Opfer zu fallen drohen, ist mehr als unverständlich. Und auch die geplante Aussetzung der Finanzierung von so genannten Strukturprojekten, die einzelne Initiativen, Beratungsangebote und Opferhilfen koordinieren, ist angesichts der augenblicklichen Situation geradezu skandalös.[30 Es kann nicht sein, dass die deutsche Politik die Segel streicht, während die NPD mit ihren Sympathisantenkreisen im Osten der Republik immer mehr Geld und Zeit in die Propaganda und Rekrutierung investiert. Die rechtsextremen Parteien bauen ihre Wahlkämpfe auf sozialpopulistischen sowie apodiktisch antikapitalistischen und antiglobalistischen Argumenten auf, verbrämt mit nationalistischen Parolen. Hier reichen antifaschistische Kampagnen schlichtweg nicht mehr aus. Gefragt ist eine erfolgreiche Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik, die den Verheißungen von Rechts den Nährboden entzieht und den zur NPD gewanderten Menschen wieder eine Zukunft bietet. "Jede deutsche Regierung muss es sich heute gefallen lassen, zunächst nach ihren wirtschaftlichen Leistungen beurteilt zu werden. ... Aber nach ein paar Wochen schon, da wurde die ungemütliche Frage laut: 'Wo bleibt die verheißene Arbeitsbeschaffung?', und damit war's vorbei, und jetzt ging es so wie im Märchen: alles sah, dass der König keine Kleider anhatte."[31 Vielleicht mag es sehr vermessen sein, diesen Abschnitt mit einem Zitat des Publizisten Carl von Ossietzky vom Ende der Weimarer Republik einzuleiten. Schließlich befinden wir uns heute weder in einer derartig katastrophalen Wirtschaftssituation wie zu Beginn der 30er-Jahre, noch in einer ernsthaften Krise des Parteistaates. Allerdings muss es erlaubt sein zu postulieren, dass einzig und allein die wirtschaftliche Weichenstellung für die Zukunft unseres Landes, die finanzpolitische Konsolidierung und den Abbau der Arbeitslosigkeit die Kriterien sind, an denen sich eine Bundesregierung messen lassen muss. Der Schlüssel zur Zukunft des Landes liegt in der Verringerung der Arbeitslosigkeit. Dafür gibt es sicherlich kein Patentrezept. Auch handelt es sich um kein Erkenntnis-, sondern um ein Umsetzungsproblem. Mit den begonnenen Arbeitsmarktreformen ist Deutschland auf einem guten Weg, der von der 8 großen Koalition allerdings nur dann erfolgreich fortgesetzt werden kann, wenn man auf politische Grabenkämpfe verzichtet. Insbesondere die Tatsache, dass die Programme von CDU/CSU und SPD grundsätzlich nicht von strikt ideologischen Denkblockaden getrennt werden, stimmt hier hoffnungsvoll. Hinderlich ist nur der Zustand eines Dauerwahlkampfs, in dem sich die Parteien aufgrund der fortlaufenden Landtagswahlkämpfe befinden. Denn das permanente Buhlen um die Wählergunst bedingt eher kurzzeitige Lösungen als wirklich zukunftsweisende Reformprojekte. Ein flexiblerer Arbeitsmarkt könnte Langzeitarbeitslose und ältere Bürger besser integrieren, genügend und optimale Ausbildungsmöglichkeiten sind unabdingbar für die Zukunft unseres Landes – einfache Wahrheiten, deren Umsetzung jedoch auf sich warten lässt. Außerdem: In Zeiten der Globalisierung muss man wohl oder übel akzeptieren, dass deutsche Unternehmen Teile ins Ausland verlagern, um dort insbesondere günstiger produzieren zu können. Einhergehend mit diesen Entwicklungen muss unser Land versuchen, attraktiver für ausländische Investoren zu werden. Hier sollte man positiv auf die Vorteile sehen, die der hiesige Standort zu bieten hat: das Kapital Geist, hervorragende Bedingungen für Zukunftstechnologien und Wachstumsbranchen und eine sehr gute Infrastruktur. Ohnehin kann in Deutschland nur dann etwas bewegt werden, wenn sich alte Denkblockaden auflösen. Hiermit meine ich keinen plumpen Patriotismus, sondern ein Aufbruchsgefühl, den engagierten Blick in Richtung Zukunft. Eine große Aufgabe für die deutschen Volksparteien. Denn von der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands wird letztlich auch ihr Schicksal abhängen. "Deutschland braucht starke Volksparteien. ... Die politische Stabilität Deutschlands und der Aufstieg unseres Landes haben ganz wesentlich mit der Stärke der Volksparteien zu tun. Glaubt denn jemand im Ernst, dass mit einer Vier- oder Fünfparteienkoalition mehr Stabilität und bessere Ergebnisse für das Land zu erzielen sind? Die Zersplitterung der Parteienlandschaft und eine Schwächung der Volksparteien würden zu einer Schwächung unseres Landes und zu weniger politischer Stabilität führen."32 Diese These Edmund Stoibers halte ich für sehr begründet; ohne Volksparteien wird es auch künftig in Deutschland nicht gehen. Nur sie vermögen es, unterschiedliche Gesellschaftsgruppen, Konfessionen und Meinungen unter jeweils einem Dach zu bündeln und dadurch politische Entscheidungen voranzutreiben. Somit sind sie ein Garant für Regierungsfähigkeit und das demokratische System. Allerdings müssen sich die Volksparteien für die Zukunft rüsten, um diese Aufträge auch weiterhin erfüllen zu können. Eine Agenda könnte lauten: Politik 9 muss nah am Bürger sein, ohne ihn dabei durch eine Omnipräsenz in Gremien, Vereinen und anderen gesellschaftlichen Bereichen zu erdrücken. Hier sollten sich die Volksparteien selbst zurücknehmen und auf die eigentliche politische Arbeit konzentrieren. Diese muss für die Bevölkerung wieder nachvollziehbar und transparent werden. Insbesondere politische Skandale und Affären demontieren das Öffentlichkeitsbild der deutschen Politik, also hauptsächlich der Volksparteien. Das politische Potenzial, das in Nichtregierungsorganisationen steckt und insbesondere auf dem Engagement vieler junger Menschen fußt, muss für die klassische Parteienpolitik zurück gewonnen werden. Politik muss attraktiver für den Nachwuchs werden. Verlässliche Stammwählerschaften und traditionelle Milieus gibt es nicht mehr, der Wählermarkt ist flexibler geworden. Die Identifikation des Wählers mit einer Partei gestaltet sich zunehmend schwieriger, da sich die Volksparteien programmatisch immer mehr angenähert haben und beinahe schon austauschbar scheinen. Gefordert sind hier eine Erneuerung der Programme und eine klare Schärfung der politischen Profile. Union und Sozialdemokraten müssen sich dringend neu positionieren. Alles in allem hängt der Erfolg der Volksparteien vom Erfolg des Landes ab. Nur wenn es gelingt, die Arbeitslosigkeit zu senken und die sozialen Sicherungssysteme fit für das 21. Jahrhundert zu machen, wird das Vertrauensverhältnis zwischen Bürger und politischer Klasse wieder gesunden. Dies ist auch die beste Waffe gegen Linkspopulismus und Rechtsextremismus. Wer den schwierigen Spagat zwischen nationalökonomischer Reformpolitik und sozialer Gerechtigkeit meistert, wird auch die Verheißungen der politischen Ränder entlarven. Letztlich wendet sich die Agenda aber nicht nur an die Volksparteien, sondern auch an die Bürger; denn ohne deren Partizipation und Eigenverantwortung kann eine Demokratie nicht lebensfähig sein. Das Volk in den Volksparteien ist der Souverän. Niemand anderes. Anmerkungen 1 Rüttgers, Jürgen: Dinosaurier der Demokratie. Wege aus Parteienkrise und Politikverdrossenheit, Hamburg 1993, S.7. 2 Zahlenmaterial: http://www.bundeswahlleiter.de/bundestagswahl2005/ergebnisse/ (aufgerufen am 28.09.06). 3 http://www.wahlrecht.de/umfragen/index.htm (aufgerufen am 28.09.06). 4 Jandl, Ernst: Lichtung, in: Laut und Luise, Stuttgart 1983, S.135. 5 Interview der Tageszeitung "Die Welt" mit Edmund Stoiber vom 01.09.06; http://www.welt.de/data/2006/09/01/1018072.html (aufgerufen am 26.09.06). 10 6 Göring-Eckardt, Katrin: Rede in Tutzingen bei der Evangelischen Akademie am 12.11.2005; http://www.goering-eckardt.de/berlin/reden/05_11_12_tutzingen.shtml (aufgerufen am 19.09.06). 7 Langguth, Gerd: Das Innenleben der Macht. Krise und Zukunft der CDU, München 2001, S.276f. 8 Lösche, Peter: Parteienstaat in der Krise. Überlegungen nach 50 Jahren Bundesrepublik Deutschland – Vortrag und Diskussion einer Veranstaltung des Gesprächskreises Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 19. August 1999, S.12; http://www.fes.de/fulltext/historiker/00632001.htm (aufgerufen am 26.09.06). 9 Walter, Franz/Dürr, Tobias: Die Heimatlosigkeit der Macht. Wie die Politik in Deutschland ihren Boden verlor, Berlin 2000, S.153. 10 Ebd. 11 Kießling, Andreas: Chancenmanagement als Reformoption. Strukturelle und kulturelle Perspektiven für die deutschen Parteien, in: Manuela Glaab (Hrsg.), Impulse für eine neue Parteiendemokratie. Analysen zu Krise und Reform. Schriftenreihe der Forschungsgruppe Deutschland, Bd.15, München 2003, S.78. 12 Lösche, P.: Parteienstaat in der Krise, S.15ff. 13 http://www.fixmbr.de/mir-doch-egal/ (Beitrag vom 12.03.06; aufgerufen am 21.09.06). 14 Ein sogenannter Weblog, oft nur Blog genannt, ist eine Internetseite, die periodisch neue Einträge enthält. Neue Einträge stehen an oberster Stelle, ältere folgen in umgekehrt chronologischer Reihenfolge. Die Tätigkeit des Schreibens in einem Blog wird als Bloggen bezeichnet. Neben Medien, die Weblogs zur Erweiterung ihres Leserkreises betreiben, wächst vor allem die Zahl persönlicher Tagebücher in dieser Veröffentlichungsform. Sie dienen der Unterhaltung und der Selbstdarstellung im Internet. (Wikipedia-Artikel "Weblog"; aufgerufen am 27.09.06). 15 Ebd. 16 Eilfort, Michael: Die Nichtwähler. Wahlenthaltung als Form des Wahlverhaltens (= Studien zur Politik, Bd.24, Konrad-Adenauer-Stiftung, Hrsg.), S.208ff. 17 Ebd., S.233ff. 18 Ebd., S.259ff., S.346ff. 19 Beucker, Pascal/Überall, Frank: Endstation Rücktritt. Warum deutsche Politiker einpacken, Berlin 2006. 20 Lösche, P.: Parteienstaat in der Krise, S.13f. 21 Rüttgers, J.: Dinosaurier der Demokratie, S.182. 22 Lösche, P.: Parteienstaat in der Krise, S.14. 23 Zur Geschichte und rechtlichen Grundlage dieser Bewegungen Delbrück, Jost: Nichtregierungsorganisationen. Geschichte, Bedeutung, Rechtsstatus (= Institut für Rechtspolitik an der Universität Trier, Rechtspolitisches Forum), Bd.13, Trier 2003. 24 Rüttgers, J.: Dinosaurier der Demokratie, S.14. 25 Göring-Eckardt, K.: Rede in Tutzingen. 26 Downs, Anthony: Ökonomische Theorie der Demokratie, hrsg. von Rudolf Wildenmann, Tübingen 1968, S.122ff. 27 Vorläufiges Endergebnis auf der Seite des Landeswahlleiters Mecklenburg-Vorpommern http://www.statistik-mv.de/index_lwahll.htm (aufgerufen am 27.09.06). 28 Ebd. 29 Finger, Evelyn: Rechts, wo die Mitte ist, in: Die Zeit, Nr.39 (2006). 30 Staud, Toralf: Das Rückgrat bricht, in: Die Zeit, Nr.39 (2006). 31 Ossietzky von, Carl: Rechenschaft. Publizistik aus den Jahren 1913-1933, Berlin/Weimar 1982, 2.Aufl., S.301. 32 Interview "Die Welt" mit Edmund Stoiber vom 01.09.06; 11