Lärmbelästigung und Ruheschutz Lärmbelästigung und Ruheschutz Prof. Dr. Gerald Fleischer Arbeitsgruppe Hörforschung, Klinikum der Universität Tagung „Lärmkongress 2000“ Millionen von Menschen feierten vor einem dreiviertel Jahr den sogenannten Jahrtausendwechsel. Nicht nur Feuerwerk und Böller, sondern auch immense Musikanlagen sorgten für eine massive Einwirkung von Schall – und fast alle waren davon begeistert. Wenn dieselben Leute beim Einschlafen einen Wasserhahn tropfen hören, treibt dies die meisten zur Verzweiflung, obwohl dieser Schall so geringfügig ist, dass er nur mit sehr teuren Messgeräten überhaupt erfasst werden kann. Die simple Lautstärke, oder die davon abgeleitete Schallenergie, reichen offenkundig nicht aus, diese allseits bekannte Reaktionsweise des Menschen zu erklären. schen und das Ergebnis zum großen Teil ins Bewusstsein heben. Kurzum, die von beiden Ohren aufgenommenen Schallsignale werden in sehr aufwendiger Weise analysiert und ihr Gehalt an Information wird ermittelt. – Da das Ohr nie schläft, geschieht dies kontinuierlich, tagaus, tagein, lebenslang. Aus dem Gesagten geht bereits hervor, dass sorgfältig unterschieden werden muss, zwischen dem Schall und der von den Schallwellen übermittelten Information, also der vom Gehör aufgenommenen Nachricht. Der Schall ist dabei nur der Bote, wobei für den Menschen die vom Schall übermittelte Nachricht entscheidend ist (Bild 2). Um die Gegebenheiten zu verstehen, wollen und müssen wir uns kurz einer Übersicht über das Hörsystem zuwenden (Bild 1). Bild 2 Bild 1 Der Schall gelangt zunächst über den äußeren Gehörgang zum Mittelohr, das die Aufgabe hat, die Schallwellen der Luft anzupassen an die Gegebenheiten der Flüssigkeiten im Innenohr. Im Innenohr (Cochlea) liegen die unersetzlichen Hörzellen, welche die Schwingungen in elektrische Signale umwandeln, die dann zum Gehirn geleitet werden. Im Gehirn gibt es eine ganze Reihe von Verarbeitungs-Zentren, welche die Signale aus beiden Ohren vergleichen und verarbeiten, sowie die durch den Schall übermittelte Information heraus fi- Dieser Aspekt ist deshalb wichtig, weil die technische Akustik sich nur mit dem Schall, also mit dem Boten befasst, die für die Betroffenen entscheidend wichtige Botschaft aber ignoriert. Die in Regelwerken, wie der TA-Lärm, verwendeten Dezibelwerte stellen im Prinzip ein Maß für die durchschnittliche Schallenergie dar, was in etwa der durchschnittlichen Lautstärke entspricht. Leider lässt sich damit nichts über die Lästigkeit aussagen: Eine typischerweise recht laute Wagner-Oper ist keinesfalls lästiger als der Lärm einer Autobahn für die Anlieger, obwohl der Autobahnlärm durchschnittlich viel leiser ist, als die Oper für deren Besucher. Natürlich ist die akustisch vermittelte Botschaft beider Fälle völlig anders. Im einen Fall bemüht sich ein Team hochqualifizierter Musiker und Sänger einen musikalischen Hochgenuss hervorzurufen, während Lärmbelästigung und Ruheschutz im anderen Fall den Betroffenen der akustische Abfall unserer mobilen Gesellschaft ganz buchstäblich um die Ohren gehauen wird. Unser Sehsystem ist ebenfalls hervorragend geeignet Information aufzunehmen und zu analysieren. Das Hörsystem geht jedoch insofern darüber hinaus, als es kontinuierlich eine emotionale Bewertung des Gehörten durchführt (Bild 3). Bild 3 Bei Musik handelt es sich um Schalleindrücke, die Emotionen vermitteln, ohne Information zu tragen. Im Vergleich dazu trägt die Sprache viel an Information, wobei, über die Prosodik, auch ein gehöriges Maß an Gefühlen übermittelt wird. In diesem Zusammenhang dominieren allerdings zwei andere Kategorien, nämlich Ruhe und Lärm. Bei Lärm handelt es sich um akustischen Abfall, wobei der meist von Maschinen stammt, die für andere Zwecke gebaut werden, wie Autos, Flugzeuge oder Baumaschinen. Aber auch rücksichtslose Mitmenschen können viel Lärm produzieren. Stets handelt es sich aber um Gegebenheiten, bei denen der Schall unerwünschte Nachrichten übermittelt. Lärm wirkt auf zweierlei Weise auf uns ein. Ist der Schall sehr laut und tritt er sehr plötzlich auf - wie bei Knallen und Explosionen – wird das Innenohr geschädigt. Man spricht von auralen Lärmwirkungen und meint damit vor allem den unheilbaren Verlust der Hörzellen im Innenohr, der sich als Lärmschwerhörigkeit manifestiert, aber auch die oft damit verbundenen Ohrgeräusche (Tinnitus). Beim üblichen Verkehrslärm sind aurale Schäden nicht zu erwarten. Bei den extra-auralen Lärmwirkungen handelt es sich im Wesentlichen um Stress, der durch die Verarbeitung der vom Schall übermittelten Botschaft entsteht. Hierher gehört der Verkehrslärm mit all seinen Spielarten – Lärm von Autos, Bahnlinien, Flugzeugen – sowie Nachbarschaftslärm und Baulärm. Müdigkeit, Lustlosigkeit, Schlafstörung, Ärger haben hier ihre Ursache, aber auch Bluthochdruck, mit seinen Folgen. Solche Auswirkungen können entstehen, wenn der Lärm langzeitlich ausgehalten werden muss – monatelang, jahrelang, jahrzehntelang. Das Problem ist dabei, dass die durch Lärm hervorgerufen StressReaktion den Körper auf eine physische Auseinandersetzung vorbereitet, die dann allerdings unterbleibt. Langfristig wirkt sich dies so ähnlich aus, wie ein Motor der langzeitlich hochtourig im Leerlauf betrieben wird. Solcher Lärm zermürbt uns schrittweise. Bei der Ruhe handelt es sich um Verhältnisse, bei denen der Schall uns die Nachricht zuträgt: Hier ist die Welt noch friedlich und sicher, hier kann man sich entspannt erholen, hier können die Kinder gefahrlos spielen, usw. Ruhe ist also eine Nachricht und kein akustischer Messwert. Ruhe darf nicht verwechselt werden mit Stille, also Gegebenheiten, bei denen man nichts oder fast nichts hört. Stille ist sehr gewöhnungsbedürftig und sie wird häufig als negativ empfunden. Man denke nur an das Wort „Totenstille". Ruhe hingegen muss nicht leise sein. Ein ruhiger Strand am Meer kann so laut sein, wie eine vielbefahrene Autobahn. Auf die Lautstärke kommt es wie gesagt aber nicht an, aber auf die Botschaft, welche der Schall vermittelt. Zu erwähnen ist noch Selbstverständliches, nämlich dass es sich bei Lärm und Ruhe um Gegensätze handelt. So merkwürdig es erscheinen mag, ist doch zu betonen, dass unser Umweltrecht den Begriff der Ruhe nicht kennt. Ruhe ist Tagung „Lärmkongress 2000“ rechtlich nicht definiert, und was nicht definiert ist, kann man nicht schützen, schon gar nicht mit solchen Konstruktionen wie dem üblichen Mittelungspegel mit seinen Varianten. Leute, die hart arbeiten und unseren gesellschaftlichen Wohlstand sichern, haben derzeit keinen Anspruch auf Erholung in Ruhe, was vor allem in industriellen Ballungsräumen inzwischen sehr vielen Menschen schmerzlich bewusst wird. Daher wird hier dafür plädiert, nicht nur den Lärm zu bekämpfen, sondern zudem die Ruhe zu schützen und zu verteidigen. Ruhe, also Zeiten und Räume ohne akustischen Abfall, gilt es zu schützen bzw. zu schaffen. Dabei handelt es sich nicht um akustische Messwerte, sondern um Gegebenheiten, bei denen keine Autos zu hören sind, keine Flugzeuge, keine Motorboote, keine Modellflieger usw.. Schwerpunkt der Aktivitäten sollte die Planung sein, wobei es gilt, die verteilten Lärmquellen zu bündeln, und zwar dort, wo es ohnehin schon laut ist, also im wesentlichen entlang der Hauptverkehrswege (Bild 4). Bild 4 Damit müssen Maßnahmen gekoppelt sein, die dazu führen, dass in den verlärmten Bereichen entlang der großen Ver- kehrsanlagen niemand zu wohnen gezwungen ist. Ganz entscheidend ist dabei die Nachtruhe. Der Mensch hält manches an Lärm aus, wenn er oder sie sich des Nachts in Ruhe vom Stress des Alltags erholen kann. Daher ist eine Entflechtung von Lärmerzeugung einerseits und ruhigem Wohnen, ruhigem Schlafen und ruhiger Freizeit andererseits anzustreben. Die Bündelung der Lärmerzeuger in bereits verlärmten Zonen ermöglicht es, Wohn- und Erholungsbereiche ruhig zu halten. Dabei muss langfristig gedacht und geplant werden, im zeitlichen Rahmen von vielleicht 15 bis 20 Jahren. Finanziell ist eine solche Konzeption nicht automatisch mit Kosten verbunden. Flächen entlang der großen Verkehrsanlagen werden durch die Ansiedlung lärmintensiver Betriebe und Freizeit-Anlagen wertvoller. Handwerksbetriebe können dort gegründet werden, was derzeit aus Lärmgründen in Ballungsräumen oft kaum möglich ist. Dies schafft Arbeitsplätze. Hinzu kommt, dass der Wert von ruhigen, derzeit noch verlärmten Wohngebieten, steigt. Dem stehen Unterstützungskosten gegenüber, die Wohnbesiedlung schrittweise aus dem Bereich auszugliedern. Ganz wesentlich ist jedoch die gesellschaftliche Akzeptanz und der soziale Frieden. Derzeit schüttet unsere mobile und lärmende Gesellschaft ihren akustischen Abfall über diejenigen aus, die sich ruhiges Wohnen wirtschaftlich nicht leisten können. Es ist sicher unmenschlich, Leute zu jahrzehntelangem Lärm zu verurteilen, ohne Aussicht auf Besserung oder Entlastung. Daher sollte man die Empfindung des Menschen berücksichtigen und dem elementaren Ruhe-Bedürfnis Rechnung tragen. Dazu wird vorgeschlagen, die Ruhe als schützenswertes Rechtsgut im Umweltrecht zu verankern. Bei der Umsetzung einer LärmRuhe-Konzeption geht es vor allem um die planerische Umsetzung, wobei in längeren Zeiträumen gedacht werden muss. – Gönnen wir also den Millionen vom Lärm geplagten Menschen ein Mindestmaß an Erholung in Ruhe.