Studie Hören und Gleichgewicht 2016

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Gleichgewicht in der Lebensspanne
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Mo. 07.11.16
Horch, was kommt von draussen rein? Der Zusammenhang
von Hören und Gleichgewicht in der Lebensspanne
Text: Cornelia Schneider, Physiotherapeutin, Pflegezentrum Entlisberg und
Clara Himmelhoch: Hören hat viele Facetten: Ohren spitzen, lauschen, Gehör
suchen, jemandem sein Ohr leihen, weghören, nicht mehr so gut hören. Und es
spielt eine wichtige Rolle, um im Gleichgewicht zu sein. Hörverlust erschwert
die Verständigung und die Teilnahme an Gesprächen. Beobachtet man die
menschlichen Sinne und Systeme aus einer vernetzten und
zusammenwirkenden Sichtweise, stellt sich die Frage, welche Folgen sich
daraus entwickeln können.
Der Hörsinn spielt zu Beginn des Lebens eine zentrale Rolle für eine gesunde motorische,
soziale Entwicklung und den Spracherwerb. Im Innenohr befinden sich auf engstem Raum
zwei unterschiedliche Sinne: der Hör- und Gleichgewichtssinn. Die Fähigkeit zu hören
entwickelt sich bereits ab dem 4. Schwangerschaftsmonat. So können Neugeborene
Geräusche in ihrer Umgebung wahrnehmen und menschliche Stimmen davon
unterscheiden. Säuglinge und Kleinkinder mit häufigen Infekten, die sich durch die Nase ins
Mittelohr ausbreiten, zeigen nur vorübergehend einen Hörverlust. Es können sich jedoch
Hörverarbeitungsstörungen entwickeln, die Aufmerksamkeit, Gleichgewicht und
Sprachentwicklung beeinträchtigen und das schulische und soziale Lernen prägen.
Audiopsychophonologie – Die Methode
In solchen Situationen kann das diagnostische und musikbasierte therapeutische Vorgehen
der «Audio–Psycho–Phonologie» nach Alfred A. Tomatis (www.a-p-p.ch/de) weiterhelfen. Oft
wird die Methode auch in Kombination mit therapeutischen Massnahmen für
Sprachentwicklung und Motorik angewendet. Tomatis war Facharzt für Hals- Nasen- und
Ohrenerkrankungen und entdeckte durch Untersuchungen von beruflich bedingtem
Hörverlust und stimmlichen Beeinträchtigungen beim Gesang, dass zwischen den
Dimensionen des Hörens und Sprechens eine Wechselwirkung besteht, die den ganzen
Menschen miteinbezieht. Diese Erkenntnisse wurden in den 1950er Jahren an der Akademie
der Wissenschaften und an der Medizinischen Akademie von Paris unter dem Namen
«Tomatis–Effekt» publiziert. Basierend auf diesem Effekt entwickelte Tomatis seine
Methode, deren Wirksamkeit sich in der Praxis unter anderem dadurch zeigt, dass eine
bessere Hörverarbeitung in der Regel auch mit einem besseren Gleichgewicht (z. B. der
Fähigkeit auf einem Bein zu stehen) einhergeht. Wird die Methode bei Kindern angewendet
spielen und lernen diese ruhiger und aufmerksamer (Doidge 2015).
Im Alter zählt Hörverlust zu den häufigsten Einschränkungen der Sinneswahrnehmungen.
Hörverlust beginnt in der zweiten Lebenshälfte als natürlicher Prozess, der im Innenohr
lokalisiert und durch Degeneration der Hörsinnes- und nachgeschalteten Zellen erklärt wird.
Gleichzeitig nimmt die Nervenleitgeschwindigkeit ab. Als Folge sinkt die Fähigkeit,
gesprochene Sprache in lauter Umgebung zu verstehen. Die sprachliche Kommunikation
wird eingeschränkt. Dies hat psychosoziale Konsequenzen. Die betroffene Person muss sich
stark anstrengen, um Zuhören und Sprechen zu können. Dies geht oft zuerst mit einem
erhöhten Muskeltonus des ganzen Körpers einher und führt längerfristig zur körperlichen und
emotionalen Erschöpfung. Durch den damit verbundenen (sozialen) Rückzug und
eingeschränkten Bewegungsradius verändert sich die Bewegungsfreude. Folgen sind eine
Verminderung der Muskelmasse und ein höheres Sturzrisiko. Dieser Zusammenhang
gewinnt im Hinblick auf die immer älter werdende Bevölkerung zunehmend an Bedeutung.
Untersuchungen gehen davon aus, dass bereits ein Hörverlust von 25 dB, das entspricht
Atemgeräuschen und einem Flüstern, das Sturzrisiko erhöht (Frank et al 2012). Darüber
hinaus besteht die Annahme, dass Hörverlust nicht nur zu mehr Stürzen führt, sondern durch
die fehlende natürliche Stimulation des Zentralen Nervensystems auch zur Entwicklung
neurokognitiver Störungen beiträgt. Das Risiko für die Verstärkung einer Auditiven
Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung steigt mit zunehmenden Hörverlust und erhöht
wiederum gleichzeitig das Risiko für eine neurokognitive Störung (Kiliman et al 2014).
Beginnender Hörverlust zeigt sich oft durch Symptome wie zunehmende Ermüdung, kurze
Aufmerksamkeitsspannen und Vergesslichkeit, was den Symptomen einer kognitiven
Einschränkung gleichkommt.
Eine Querschnittstudie
In der geriatrischen Physiotherapie werden Sturzrisiken erfasst und Massnahmen
durchgeführt, die Mobilität nach Stürzen wiederherzustellen. Bei physiotherapeutischen
Assessments oder dem Durchführen von Massnahmen hören die Therapeutinnen und
Therapeuten häufig den Satz: «Sprechen Sie bitte lauter, ich höre nicht so gut». In Hinblick
auf den Zusammenhang von Hören und Gleichgewicht zu Beginn des Lebens stellt sich aus
physiotherapeutischer Sicht die Frage, ob auch im Alter ein Zusammenhang zwischen
Hörverarbeitung und Bewegungsverhalten hergestellt und mit welchen Assessments dieser
gemessen werden kann.
Für eine Querschnittsstudie wurden 30 Personen im Alter zwischen 22 und 93 Jahren im
Umfeld der medizinischen Therapien des Pflegezentrums Entlisberg angefragt, an der
vorliegenden Untersuchung teilzunehmen. Ausgeschlossen von der Teilnahme waren
Personen, die nicht selbständig gehen, das Testsetting nicht verstehen und ihr
Einverständnis zur Teilnahme nicht selbständig unterschreiben konnten. Als Testverfahren
wurden der Dynamic Gait Index (DGI) und die Tonaudiometrie eingesetzt. Bei der
statistischen Analyse kam die Spearman Partialkorrelation zur Anwendung.
Die Assessments
Für die Studie wurden das Bewegungsverhaltens im Gehen und die Hörverarbeitung
beurteilt. Dazu wurden zwei Tests durchgeführt. Jeder Test dauerte ca. 15 Minuten. Der
Dynamic Gait Index untersucht die Fähigkeit einer Person, das Gehen an verschiedene
Erfordernisse anzupassen, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren. Die Beurteilung findet
durch Beobachtung der Testperson statt. Der DGI berücksichtigt dabei Tempowechsel,
Kopfbewegungen, Ganzkörperdrehungen, über Hindernisse steigen und darum herumgehen
sowie Treppen steigen. Diese qualitativen Fähigkeiten werden in vier Stufen von 0 (starke
Einschränkung) bis 3 (normal) bewertet. Der Test eignet sich nicht zur alleinigen
Bestimmung des Sturzrisikos. Hierfür müssen zusätzlich die individuellen Risikofaktoren
einer Person erfasst und beurteilt werden.
Die Hörverarbeitung wurde mittels Tonaudiometrie untersucht. Diese misst die Fähigkeit
einer Person, Töne zwischen 125 Hz und 8000 Hz zu empfangen und zu verarbeiten. Es
wurde die Durchführung und Interpretation nach Tomatis gewählt. Erfasst wurden die
Unterscheidbarkeit der Frequenzen von rechtem und linkem Ohr, das Verhältnis Luftleitung
von rechtem und linkem Ohr, das Verhältnis Knochenleitung von rechtem und linkem Ohr, so
wie das Verhältnis Luft- zu Knochenleitung von rechtem und linkem Ohr.
Die Untersuchung zeigte, dass beide Assessments von den Teilnehmenden leicht
verstanden wurden und problemlos in der Durchführung waren. Aus Sicht der Studie zeigten
sich die Assessments als sinnvoll und konnten im geplanten Zeitrahmen von 20 – 30
Minuten durchgeführt werden. Es wurde jeweils zuerst der Gangtest und dann der Hörtest
durchgeführt.
Ergebnis
Die Annahme, dass ein Zusammenhang zwischen Bewegungsverhalten und
Hörverarbeitung besteht, konnte durch die Beobachtung des Ganges und Rückmeldungen
zur auditiven Wahrnehmung bestätigt werden. Trotz der kleinen Stichprobe konnte ein
signifikanter Zusammenhang gemessen werden.
Was heisst das konkret? Personen mit intakter Hörverarbeitung wurden beim Gehen als
sicher beurteilt. Umgekehrt zeigte sich bei Personen mit eingeschränkter Gehfähigkeit auch
eine Hörverarbeitungsbeeinträchtigung. Das Alter wurde in der Untersuchung zwar
berücksichtigt, war jedoch nicht die Ursache für ein schlechtes Testergebnis. Auch 80-jährige
Personen zeigten in beiden Tests gute Ergebnisse. Das ist erfreulich und macht Mut.
Diskussion und Ausblick
Das Innenohr als anatomische und physiologische Einheit aus Hör- und
Gleichgewichtsorgan steuert und reguliert das Gleichgewicht in Kooperation mit Kleinhirn,
visuellem und muskuloskelettalem System. Untersuchungen zur Fähigkeit und Komplexität
des aufrechten Ganges in der Lebensspanne weisen darauf hin, dass in der ersten
Lebenshälfte die Sensorik und in der zweiten Lebenshälfte vor allem das muskuloskelettale
System bedeutsam sind. Es erscheint demzufolge vielversprechend, mit weiteren
Untersuchungen Zusammenhänge zu identifizieren und mittels interdisziplinärer Studien die
Wirkung von auditiv-therapeutischen Massnahmen, physiotherapeutischem Training und
Sturzprävention zu erforschen.
Literatur
Doidge N (2015): Wie das Gehirn heilt. Campus Verlag, Frankfurt/New York.
Kilimann I, Óvari A, Hermann A, Witt G, Paul HW, Teipel S (2014): Hörstörung und Demenz.
Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 48(5): 440.
Lin F & Ferrucci L (2012): Hearing Loss and Falls Among Older Adults in the United States.
Archives of Internal Medicine. Feb 27: 172(4): 369-371.
Schädler S (2006): Balance beim Gehen beurteilen. Physiopraxis 4(10): 40-41.
http://www.igptr.ch/cms/uploads/PDF/PTR/ass_artikelserie/pp1006_DynamicGaitIndex.pdf
Schwesig R (2006): Das posturale Systemin der Lebensspanne. Schriften zur
Sportwissenschaft, Band 64. Verlag Dr. Kovac, Hamburg.
Kommentare: 0 | Autor: Cornelia Schneider | Kategorien: Kategorie Forschung,
Kategorie Praxisprojekte
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