ABC des Marxismus XIV: Was ist Stalinismus?

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ABC des Marxismus XIV: Was ist
Stalinismus?
Mit dem Begriff „Stalinismus“ wird einerseits eine Strömung in der
Arbeiterbewegung bezeichnet, andererseits das Gesellschaftssystem der Länder
des „realen Sozialismus“ in der UdSSR, China, Osteuropa usw.
1989 brach der Stalinismus unter dem Druck seiner inneren Widersprüche und
der Massenproteste zusammen. Bürgerliche Politiker und Medien feierten den
Untergang dessen, was sie – zu unrecht – „Kommunismus“ nannten. Der
Philosoph Fukuyama sprach gar vom „Ende der Geschichte“, womit er meinte,
dass der Kapitalismus am Ende dieser stehe.
Doch für viele MarxistInnen kam der Untergang des Stalinismus nicht
überraschend, hatten sie doch schon immer darauf verwiesen, dass dieses System
den Weg zum Kommunismus und den Fortgang der internationalen Revolution
blockiert. Es gab oftmals Widerstand gegen ihn und zahlreiche Versuche, ihn zu
stürzen. Es begann schon in den 1920er Jahren in der UdSSR mit der Formierung
der „Linken Opposition“ um Trotzki, die schließlich 1938 zur Gründung der IV.
Internationale führte, die in ihrem Programm postulierte, dass der Stalinismus
durch eine (politische) Revolution des Proletariats gestürzt werden und die
Arbeiter-Räte-Demokratie wiederhergestellt werden müsse.
In mehreren Ländern Osteuropas kam es schon vor 1989 zu Arbeiteraufständen
gegen das stalinistische System: in der DDR (1953), in Polen (1956, 1970 und
1980), in Ungarn (1956) und in der CSSR (1968). Sie alle scheiterten jedoch, weil
sie keine revolutionäre Führung vorfanden bzw. von der Moskauer Bürokratie
militärisch niedergeschlagen wurden.
Schon ab Mitte der 1970er Jahre konnte der stalinistische Ostblock das Tempo
der Produktivkraftentwicklung (Computer, Automatisierung usw.) des westlichen
Kapitalismus nicht mehr mithalten. Die Schere zwischen den „sozialistischen“
Propagandaversprechen der Bürokratie und dem öden Alltag, der von Mangel,
Stillstand und Repression geprägt war, wurde immer größer. Das Vertrauen der
Massen und auch der Bürokratie selbst in den „Realsozialismus“ und die
staatliche Planwirtschaft schwand immer mehr. Als 1989/90 der Stalinismus in
Europa kollabierte, gab es massenhaft Illusionen in den „Westen“, in die privatkapitalistische Wirtschaft und die bürgerliche Demokratie. Trotzdem wehrte sich
die Arbeiterklasse bisweilen gegen die Auswirkungen der Privatisierung der
Wirtschaft. Doch insgesamt verteidigte sie das „Volkseigentum“ nicht – weil nicht
sie, sondern die Bürokratie die faktische Eigentümerin der Betriebe war.
In der Linken gehen die Auffassungen, was das Wesen des Stalinismus war, weit
auseinander. Die „Stalinisten“ sehen ihn als Anwendung und Weiterentwicklung
des Marxismus an und begreifen die von Stalin geprägte UdSSR als „Sozialismus“
oder als auf dem Weg dorthin befindlich. Die verschiedenen linken Kritiker des
Stalinismus (Trotzkisten, Anarchisten, Rätekommunisten) hingegen betonen, dass
die Ideologie und Gesellschaftsvorstellung Stalins (und seiner Nachfolger) eine
Abkehr vom Marxismus darstellten und nicht zu einer Kommunistischen
Gesellschaft führen können. Sie bewerten die Politik des Stalinismus (z.B. die
Volksfrontpolitik) als konterrevolutionär.
Trotz seiner „marxistischen“ und „sozialistischen“ Propaganda war der
Stalinismus höchstens ein Zerrbild davon. Für Marx sollte die Entwicklung
Richtung Kommunismus u.a. dadurch gekennzeichnet sein, „alle Verhältnisse
umzuwerfen, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein
verächtliches Wesen ist“. Unter Stalin (und seinen Nachfolgern und
Gefolgsleuten) war genau das Gegenteil der Fall: Indoktrination, Unterdrückung,
Terror, bürokratische Bevormundung aller Bereiche der Gesellschaft waren
normal. Anstatt dass der Staat, wie es Marx und Engels postuliert hatten,
„abstirbt“, wucherte er immer weiter. Anstatt dass „die assoziierten Produzenten,
diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre
gemeinschaftliche Kontrolle bringen“ – einem demokratischen Rätesystem –
herrschte eine abgehobene Bürokratie. Dieser extensive „Obrigkeitsstaat“
untergrub v.a. das wesentlichste und unverzichtbarste Element jeder
kommunistischen Entwicklung: den freien, selbstbewußten, schöpferischen
Menschen.
Mit der russischen Revolution von 1917 wurden die Bourgeoisie enteignet, das
Privateigentum an Produktionsmitteln und die Marktkonkurrenz abgeschafft. Es
entstanden Räte als Machtorgane der Arbeiterklasse. Die ArbeiterInnen
begannen, die Produktion und das gesellschaftliche Leben im eigenen Interesse
direkt zu regeln.
Doch die Folgen des Krieges, der Bürgerkrieg und die Rückständigkeit des
überwiegend bäuerlich geprägten Landes zwangen oder animierten die
regierenden Bolschewiki um Lenin dazu, Maßnahmen durchzuführen, die
eigentlich ungeeignet waren, das Land Richtung Kommunismus zu führen, die
jedoch z.T. alternativlos waren, um die Revolution zu verteidigen. Die ohnehin
sehr kleine Arbeiterklasse – v.a. ihre Vorhut – war durch Bürgerkrieg, Hunger
und Arbeitslosigkeit ausgezehrt oder wurde vom Staats- und Parteiapparat
aufgesogen. Mit der Tscheka entstand ein gigantischer, völlig unkontrollierbarer
Geheimdienstapparat, der nicht nur Feinde der Revolution, sondern zunehmend
auch alle (vermeintlichen) politischen Gegner unterdrückte oder umbrachte. Das
Rätesystem existierte nur noch als leere Hülle.
Mit dem System des „Kriegskommunismus“ wurde schon ab 1918 die
Arbeiterkontrolle beschnitten und eine ultra-bürokratische Wirtschaftsverwaltung
von „oben“ eingeführt. Zur Regelung aller Fragen in der Gesellschaft bauten die
Bolschewiki einen gewaltigen Staatsapparat auf, der wenig mit einem
Rätesystem gemein hatte und den alten zaristischen Apparat teilweise
absorbierte. Die Zerschlagung des alten Staatsapparats – wie es Marx nach dem
Beispiel der Pariser Kommune postulierte – erfolgte nur unvollständig. Das noch
bestehende Rätesystem wurde von diesem neuen Staatsaparat verdrängt, diesem
untergeordnet und schließlich entmachtet.
Diese Entwicklung war mit der Entstehung einer neuen bürokratischen Kaste in
Staat und Partei verbunden, die alle sozialen Vorgänge bestimmte und bald nicht
nur den Staatsapparat, sondern auch die Partei und das gesamte soziale Leben
beherrschte. Ihre zentrale Figur wurde Stalin.
Nach dem Sieg im Bürgerkrieg fand im März 1921- parallel zur Niederschlagung
der Opposition in Kronstadt und der Arbeiterproteste in Petrograd (Petersburg) –
der X. Parteitag der Bolschewiki statt. Dort beschloß man das Ende des
„Kriegkommunismus“ und die Einführung der „Neuen ökonomischen Politik“
(NÖP), die mit der Beendigung der Zwangsrequirierung von Getreide und der
Wiedereinführung des freien Agrarhandels verbunden war. Diese Maßnahmen
beendeten den Hunger und wiesen den Weg zum ökonomischen Wiederaufbau.
Doch die wesentlichen Strukturfragen Sowjetrußlands – die aufkommende
Herrschaft der Bürokratie, das Fehlen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit,
die Machtlosigkeit der Räte – all das wurde weder 1921 noch in den folgenden
Jahren geändert und z.T. noch nicht einmal als Problem gesehen. Im Gegenteil:
das Verbot der Fraktionsbildung in der Partei, die Ausschaltung der
„Arbeiteropposition“ und die verbrecherische Vernichtung der Machno-Armee
und der Sowjet-Bewegung in der Ukraine wiesen genau in die falsche Richtung.
Die Erschöpfung und Auszehrung des Proletariats und das Scheitern der
revolutionären Aufbrüche in anderen Ländern (Deutschland, Ungarn, Finnland,
Italien) sowie die Politik der Bolschewiki selbst stärkten den Einfluß der
Bürokratie. Wie ein Krebsgeschwür zerfraß sie den jungen und noch schwachen
Körper Sowjetrusslands. Das russische Proletariat hatte die Kraft, die Revolution
zum Sieg zu führen und zu verteidigen, sie hatte jedoch nicht mehr die Kraft, ihre
sozialen Errungenschaften auszubauen.
Schon nach wenigen Jahren hatte sich die Bürokratie von einer Kaste zu einer
neuen herrschenden Klasse gewandelt. Eine Reihe von Maßnahmen und Faktoren
führte dazu, dass die ohnehin noch sehr gering ausgeprägten
nachkapitalistischen, „sozialistischen“ Errungenschaften schon bald völlig
beseitigt waren. Dazu gehörten u.a. die Bekämpfung und Ausrottung jeder
politischen Opposition und jeder Form von Demokratie, der Ausbau des
Staatsapparats und der Repression, die Ausschaltung jeder Möglichkeit der
Kontrolle und Bestimmung der gesellschaftlichen Entwicklung durch die Massen,
insbesondere durch das Proletariat. Die – ohnehin noch schwach entwickelte –
Diktatur des Proletariats hatte sich zu einer Diktatur über das Proletariat
gewandelt.
Das politische System und der Staatsapparat hatten unter Stalin – wie Trotzki
richtig feststellte – einen unterdrückerischen Charakter, die dem faschistischen
(in Form und Methoden) sehr ähnlich waren. Schon Ende der 1920er Jahre war
die Macht der Bürokratie gesichert, der bis dahin noch existierende schwache
und degenerierte Arbeiterstaat existierte nicht mehr. In den 1930ern war auch
die „Alleinherrschaft“ Stalins endgültig gefestigt.
Auch die ökonomische Basis hatte sich bereits in den frühen 1920ern und später
unter Stalin verändert: die wenigen Errungenschaften der Oktoberrevolution und
strukturellen Reste von Arbeiterkontrolle und sozialer Selbstbestimmung
erodierten bzw. wurden zerstört. Diese Veränderungen bedeuten, dass die
ProduzentInnen und KonsumentInnen keinen Einfluß mehr darauf haben, was und
wie produziert und wie das Mehrprodukt verwendet wird. Die Arbeiterklasse (und
mit Stalins Zwangskollektivierung auch die Bauern) waren nun nicht nur (wieder)
in jeder Hinsicht „entfremdet“, sie blieben auch LohnarbeiterInnen und hatten als
solche sogar oft weniger Rechte und schlechtere Bedingungen als die
Lohnabhängigen im westlichen Kapitalismus.
Trotzki verstand die stalinsche UdSSR als „degenerierten Arbeiterstaat“. Diese
Degeneration bestünde lt. Trotzki darin, dass die Arbeiterklasse durch die
Bürokratie von der politischen Macht verdrängt worden war (was natürlich
zutraf). Doch er lehnte die Charakterisierung der Bürokratie als neue
herrschende Klasse ab, v.a. weil er die ökonomische Basis der UdSSR noch als
„proletarisch“, also nicht-kapitalistisch ansah. Für diese Ökonomie war die
Bürokratie seiner Meinung nach ein Übel, aber keine Notwendigkeit.
Doch hier irrte Trotzki. Die Bürokratie war eine Ausbeuterklasse geworden, die
über Produktion und Verteilung bestimmte und sich erhebliche soziale Privilegien
aneignete. Sie herrschte über eine spezifische staatskapitalistische
Produktionsweise, die ohne herrschende Bürokratie nicht funktionieren konnte.
Trotzki (wie auch Lenin, die Bolschewiki und die II. Internationale) verstanden
unter „sozialistischer“ Wirtschaft eine zentral durch den Staat (und durch eine
Bürokratie) verwaltete Ökonomie. Marx und Engels hingegen (obwohl sie keine
systematische Theorie dazu erarbeitet haben) plädierten für ein geplantes
genossenschaftliches System, das durch die „assoziierten Produzenten“ direkt
verwaltet wird.
Was Trotzki nur als „Mangel“ ansah – das Fehlen von Arbeiter-Räte-Demokratie –
bedeutete die Enteignung der ProduzentInnen durch die Bürokratie. Das Fehlen
einer Klasse von Privatkapitalisten und der Konkurrenz (auf dem Binnenmarkt)
unterscheiden diese Gesellschaft zwar vom westlichen Kapitalismus, doch die
Ausbeutung von Lohnarbeit, die Enteigung der ProduzentInnen und
KonsumentInnen und deren fehlende Verfügungsgewalt über die sozialen
Prozesse kennzeichnen den Stalinismus als ausbeuterische Klassengesellschaft.
Über das „Volkseigentum“ verfügte die Bürokratie, welche die politischadministrative Macht ausübte. Sie hatte die reale Verfügungsgewalt über die
Produktionsmittel und die Produktionsverhältnisse, obwohl sie nicht direkt
Eigentümer im juristischen Sinn war. Um das „Volkseigentum“ verwalten und
daraus – wie jeder Kapitalist – Vorteile ziehen zu können, waren zwei
Voraussetzungen nötig: einerseits die Ausschaltung der Arbeiterklasse und
andererseits der Privatkapitalisten als Eigentümer und Subjekte der
gesellschaftlichen Entwicklung.
Die Bürokratie konnte ihre Eigentümer- und Herrschaftsfunktion nur als
„Kollektiv“ ausüben. Ein Mittel dazu war die staatliche Zentralplanung, ein
anderes die unangefochtene Herrschaft eines ideologischen Dogmas – des
„Marxismus-Leninismus“ – zur Legitimierung der politischen Macht der
Bürokratie und um ihre Einheit als Klasse zu wahren und Spaltungen zu
verhindern. Stalins Terror hatte auch die Funktion, diese Einheit der Bürokratie
als Klasse zu festigen, indem jede Opposition im Keim erstickt und ein System
permanenter Angst erzeugt wurde, irgend etwas „Eigenständiges“ zu sein, zu
wollen oder auch nur zu kennen. Dazu diente auch der Führer- und Personenkult.
Der Stalinismus war in der Lage, eine nachholende kapitalistische Entwicklung
durchzuführen und die Herrschaft der Bürokratie nach dem 2. Weltkrieg
international auszuweiten; er führte jedoch keinen Millimeter an den
Kommunismus heran – im Gegenteil: er entfremdete die Arbeiterklasse
zunehmend von ihm – und zwar weltweit.
Die politische Doktrin des Stalinismus war v.a. durch einen Staats- und
Parteifetischismus und den Mangel an Demokratie in (fast) jeder Form geprägt.
Außenpolitisch war er – nach einer kurzen „zentristischen“ Phase bis ca. 1933,
die der Arbeiterklasse viele Niederlagen bescherte – offen konterrevolutionär.
Revolutionäre Möglichkeiten wurden bewußt nicht genutzt und alle
revolutionären Kräfte scharf bekämpft: z.B. in Spanien 1936-39, in Frankreich
und Italien 1944/45 oder in Griechenland 1946.
Die zentrale Ideologie dazu war ab 1935 die „Volksfrontpolitik“. Diese war als
strategisches und Regierungsbündnis zwischen der Arbeiterklasse und den
„demokratischen“ oder antifaschistischen Teilen der Bourgeoisie angelegt. Als
Bedingung, um einen Teil des Kapitals davon überzeugen zu können, wurde ihm
zugestanden, auf die Machtergreifung des Proletariats und die Enteignung der
Bourgeoisie zu verzichten. Jede revolutionäre Entwicklung wurde auf eine nur
bürgerlich-demokratisch-antifaschistische Phase begrenzt. So ist der Stalinismus
– trotz aller Schwankungen und Varianten – , wie Trotzki richtig feststellte, eine
bürgerliche konterrevolutionäre Agentur in der Arbeiterbewegung, eine
besondere Art von Reformismus.
Der Untergang des Stalinismus war letztlich unvermeidlich, weil er einerseits die
Arbeiterklasse – als schöpferisches Subjekt – enteignet und entmachtet, zugleich
aber auch das private Gewinnstreben und die Konkurrenz als Triebkräfte des
Kapitalismus ausgeschaltet hat. So fehlten ihm alle sozialen Triebkräfte, er
stagnierte immer mehr und erwies sich in der globalen Systemkonkurrenz als
dem „westlichen“ Kapitalismus unterlegen.
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