Staatskapitalismus statt Sozialismus (Teil 1 von 2)

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Staatskapitalismus
statt
Sozialismus (Teil 1 von 2)
Ein
Beitrag
zur
Konzeption
nachkapitalistischen Wirtschaft
einer
Hanns Graaf
Schon Anfang und Mitte der 1920er Jahre begann in der internationalen Linken
eine Diskussion über den Klassencharakter der UdSSR. Mit dem Aufstieg Stalins
und der Etablierung jener Strukturen, die wir heute „Stalinismus“ nennen, spitzte
sich diese Diskussion noch zu. Die einen sahen die UdSSR als mehr oder weniger
„sozialistisch“ an, andere, v.a. Trotzki, bezeichneten sie als „degenerierten
Arbeiterstaat“, wieder andere, darunter z.B. RätekommunistInnen und
AnarchistInnen, verstanden die UdSSR als Staatskapitalismus. Bis heute trennt
die Frage der Charakterisierung der UdSSR und des „Ostblocks“ die Linke in
gegensätzliche Lager.
Weit bedeutender als der Streit um Begrifflichkeiten ist freilich die dahinter
liegende tiefe Differenz darüber, wie eine nachkapitalistische Gesellschaft und
deren Ökonomie aussehen sollen. Von der Beantwortung dieser Frage aber wird
die gesamte revolutionäre Strategie und Taktik stark geprägt. Eine Überwindung
der Krise der „radikalen“ Linken und der Arbeiterbewegung insgesamt kann
unseres Erachtens nur erfolgen, wenn diese Frage korrekt beantwortet wird. Das
erfordert aber erstens, sich auch zu vergewissern, was Marx und Engels dazu
vertreten haben und inwiefern ihre Auffassungen von der realen Geschichte
bestätigt oder widerlegt worden sind. Zweitens bedeutet es, über den engen
Horizont des eigenen -ismus hinaus zu blicken. Letztere Verfahrensweise mag
„geeignet“ erscheinen, das eigene Lager zu verteidigen, sie ist jedoch ungeeignet
zur Analyse.
Wir wollen hier nun darlegen, warum die Sowjetunion ab Ende der 1920er Jahre
staatskapitalistisch war und welche Besonderheiten dieses Systems aufwies.
Staatskapitalismus und Etatismus
Mit dem Begriff „Staatskapitalismus“ wird in der Regel eine kapitalistische
Wirtschaft bezeichnet, in welcher der Staat eine größere Rolle als normalerweise
spielt. In der Regel beschränkt sich der bürgerliche Staat in der Wirtschaft
darauf, regulierend einzugreifen, jedoch nicht in relevantem Maße selbst
Eigentümer der Produktionsmittel zu sein. Das ist aber kein Staatskapitalismus,
sondern „Etatismus“ (von l´Etat, französisch: der Staat). Die staatliche
Intervention ist immer begrenzt, sie setzt keine einzige wesentliche Struktur und
Funktionsweise des Kapitalismus außer Kraft. Durchaus anders verhält es sich
jedoch beim Staatskapitalismus. Dort ist der Etatismus als Methode des
Wirtschaftens nicht nur deutlich ausgeprägter, hier ist der Staat – und das ist
wesentlich – selbst der einzige oder Haupteigentümer der Produktionsmittel.
Der Etatismus, hat zunächst eine „konjunkturelle“ Seite. Für das Gesamtinteresse
der (nationalen) Bourgeoisie ist es in bestimmten Momenten vorteilhaft, dass der
Staat stärker eingreift, etwa in Krisen oder Kriegen. So wird als Beispiel für
Staatskapitalismus oft Deutschland angeführt, weil es während der beiden
Weltkriege dort zu einem besonders strikten Eingreifen des Staates kam, um die
wirtschaftlichen Kräfte für den Krieg zu bündeln und Widersprüche zwischen den
Einzelkapitalen zu minimieren. Es kam aber selbst dann – anders als in den
stalinistischen Ländern – nicht zu relevanten Verstaatlichungen, zur völligen
Außerkraftsetzung der Konkurrenz oder gar zur Beschneidung der Profite, ja
diese wuchsen sogar gewaltig an. Auch Lenin bezeichnete das kaiserliche
Deutschland im 1. Weltkrieg fälschlich als staatskapitalistisch. Sind die
Krisensituationen (kurzfristig) überwunden, wird der Etatismus meist wieder
verringert, den „Kräften des Marktes“ wird wieder mehr Spielraum gegeben.
Neben dieser „konjunkturellen“ ist die „historische“ Seite des Etatismus weit
bedeutsamer. Damit meinen wir den grundsätzlichen Trend zur Zunahme
staatlicher Intervention im Kapitalismus. Der Grund dafür ist, dass der
Kapitalismus eine Struktur aus konkurrierenden Privateigentümern und zugleich
wachsender Vernetzung und Vergesellschaftung von Produktion und Konsumtion
darstellt. Je mehr der Kapitalismus globale Dimensionen annimmt, desto mehr
zeigt sich das Einzelkapital, und sei es noch so groß, außerstande, irgendeine
Form von funktionierender Gesellschaftlichkeit herzustellen; die Widersprüche
innerhalb des Kapitalismus nehmen zu. Nur der Staat als ideeller
Gesamtkapitalist kann die Widersprüche einigermaßen im Zaum halten und das
Funktionieren des Gesamtmechanismus sichern. Mit der Ausdehnung der
kapitalistischen Produktionsweise in jeder Hinsicht werden die Widersprüche
aber schärfer und nur ein immer stärkerer Staat kann diese einerseits
beherrschen, freilich nur, indem er sie andererseits auch zuspitzt, z.B. in Form
von Kriegen.
Schon bei der Geburt des Kapitalismus als ökonomisches System stand der Staat
Pate. Es war der englische Staat, der die Bauern zu land- und mittellosen
Vagabunden machte und sie als Proletarier in die Lohnsklaverei zwang. Es war
der spanische Staat, der Columbus und seine Nachfolger nach Gold und Silber
über den Atlantik schickte. Und es war der britische Staat, der die Seeräuberei
seiner Kapitäne offiziell anerkannte und förderte. Ohne spanische Staatspolitik
hätte es keine Berge von neuem Kapital in Form von Gold und Silber gegeben,
das nach Anlage drängte. Ohne den britischen Staat wäre nicht ein erheblicher
Teil davon in die Tresore industrieller Investoren geflossen.
Man schaue sich die Zahl der Ministerien und der Staatsbeamten zu Zeiten von
Marx und von heute an, und man sieht allein daran die Zunahme der Bedeutung
des Staates. Der wuchernde Staat bzw. die Zunahme quasi-staatlicher Aufgaben
und Strukturen in der Wirtschaft und damit auch die Ausweitung des Sektors der
lohnabhängigen Mittelschichten ist ein wesentliches Merkmal des Imperialismus.
Etatismus kann auch bedeuten, dass der Staat selbst Eigentümer von
Unternehmen ist, meist betrifft das „öffentliche“ Dienstleistungsunternehmen wie
Post, Bahn oder das Gesundheits- und Bildungswesen. Aber auch „produzierende“
Unternehmen können dem Staat gehören. Letzteres war aber meist nur unter
besonderen Umständen der Fall, so z.B. in vielen ehemalige Kolonien, als sie
unabhängig wurden, und Unternehmen, die vorher der Kolonialmacht gehörten,
verstaatlicht haben. In Österreich, Ostdeutschland oder den osteuropäischen
Ländern wurden nach 1945 Unternehmen vom Staat übernommen, die zuvor
Eigentum von Nazis bzw. der faschistischen Besatzer waren.
Die verbreitete Verwechslung der Begriffe verwischt die Unterschiede zwischen
Staatskapitalismus und Etatismus. Der entscheidende Unterschied ist die
Eigentumsfrage: dominiert hier das Privateigentum, ist es dort das
Staatseigentum. Beide Varianten des kapitalistischen System aber beruhen
darauf, dass die ProduzentInnen und KonsumentInnen, also v.a. das Proletariat,
enteignet ist, ausgebeutet und unterdrückt wird. Diese hauptsächliche Qualität
kennzeichnet auch den Stalinismus und charakterisiert ihn als
Klassengesellschaft mit einer Bürokratie als herrschender Klasse.
Entstehung des Staatskapitalismus
Es waren also immer besondere Umstände, welche die Verstaatlichung
bestimmter Bereiche der Wirtschaft ermöglicht und motiviert haben. Eine
generelle Enteignung des Kapitals zugunsten des Staates erfolgte meist nicht –
aus drei Gründen: erstens würde jede Bourgeoisie sich ihrer Enteignung
vehement widersetzen, zweitens wäre der Staat als Agentur ebendieser
Bourgeoisie weder bereit noch wirklich imstande, eine generelle Enteignung ihrer
„Auftraggeber“ vorzunehmen. Drittens herrschte die durchaus richtige Annahme
vor, dass Kapitalismus ohne Privateigentum, also ohne Konkurrenz und privates
Gewinninteresse seiner wichtigsten Triebkräfte verlustig gehen würde.
Es gab allerdings eine Ausnahme: als das Kapital 1917 in Russland oder nach
1945 in Osteuropa (nicht sofort, aber letztlich doch) komplett enteignet wurde.
Aber in Sowjet-Russland war die Bourgeoisie durch die Arbeiterklasse bzw. ihren
Sowjetstaat enteignet worden und nicht durch einen bürgerlichen Staat. In
Osteuropa erfolgten die Enteignungen tw. auch zuerst durch die ArbeiterInnen
selbst, die zerstörte oder „herrenlose“ Unternehmen unter ihre Regie nahmen.
Oft – und ab Ende der 1940er generell – wurde diese Aufgabe jedoch vom der
Staatsapparat der UdSSR in Gestalt der Sowjetarmee bzw. der von ihm
etablierten einheimischen stalinistischen Staatsapparate durchgeführt. Mitunter –
v.a. in Ostdeutschland – gehörten viele Betriebe direkt der UdSSR und waren in
deren Wirtschaftsplanung eingebunden. Das war freilich auch eine Enteignung
der (einheimischen) Arbeiterklasse der „besonderen Art“. Wo es Betriebe gab, die
durch die Belegschaft selbst verwaltet wurden, wie z.B. relativ verbreitet in der
Tschechoslowakei nach 1945, wurden diese Strukturen von den Stalinisten sehr
bald abgeschafft und durch eine bürokratisch-zentralistische Verwaltung ersetzt.
Eine ähnliche Entwicklung gab es in Ostdeutschland. Diese Verstaatlichung
bedeutete ganz konkret, dass die reale Verfügungsgewalt über die
Produktionsmittel den Belegschaften entrissen wurde: sie wurden, kaum dass sei
Eigentümer de facto geworden waren, vom Staat wieder enteignet. Diese
Entwicklungen in den stalinistischen Ländern zeigen, dass die Enteignung des
privaten Kapitals letztlich überall in der Form Verstaatlichung erfolgte, nicht aber
als wirkliche Vergesellschaftung.
Der Unterschied zwischen beiden Formen der Überwindung des Privateigentums
– Verstaatlichung oder Vergesellschaftung – besteht aber nicht etwa darin, dass
oder ob „der Staat“ an sich dabei eine Rolle spielt. Vielmehr ist entscheidend,
dass bei der Verstaatlichung a) das Proletariat bzw. die Gesellschaft von den
Entscheidungsprozessen ausgeschlossen sind und diese gänzlich dem Staat
obliegen und dass b) dieser Staat nicht im Kern eine Räte- oder
Selbstverwaltungsstruktur aufweist, sondern ein bürokratischer Apparat
bürgerlichen Typs ist.
Anders verlief die Entwicklung in Russland. Schon während und kurz nach der
Revolution von 1917 erkämpfte sich die Arbeiterklasse Kontroll- und
Mitspracherechte in den Betrieben. Aus diesen Strukturen erwuchsen in
vielerorts schnell kollektive Leitungsorgane, mit denen die ArbeiterInnen ihr
Unternehmen direkt verwalteten; die ArbeiterInnen waren direkt
EigentümerInnen der Produktionsmittel. Es gab jedoch noch keine oder nur sehr
rudimentäre Elemente einer gesellschaftlichen Planung. D.h. das Eigentum war
noch nicht wirklich vergesellschaftet, dazu hätte es einer demokratischen
Planung der Wirtschaft durch die gesamte Klasse bzw. ihre Organe bedurft. Diese
gab es jedoch nur in Ansätzen oder in Form zentraler Organe, die nur wenig oder
(noch) nicht Teil eines funktionierenden Rätemechanismus waren. Der von Lenin
und den Bolschewiki von Beginn an praktizierte Überzentralismus, der allerdings
unter den konkreten Bedingungen z.T. unvermeidbar war, verhinderte das auch
von vornherein. Das wesentlichere Problem bestand aber darin, dass – auch
nachdem sich die objektiven Bedingungen mit dem Sieg im Bürgerkrieg und der
Einführung der NÖP (Neue ökonomische Politik) ab 1920/21 verbessert hatten –
daran nichts geändert wurde.
Aufgrund der immensen Probleme des jungen Sowjetstaates, v.a. durch den
Bürgerkrieg, wurde die proletarische Selbstverwaltung der Betriebe immer
stärker durch zentrale staatliche Administration von „oben“ eingeschränkt. So
wurden vom Staat Betriebsleiter eingesetzt. Sie hatten die Entscheidungsgewalt,
jedoch waren sie anfangs noch in einem gewissen Umfang auch von der
betrieblichen Basis abhängig und von ihr beeinflussbar. Diese Abhängigkeit
wurde im Lauf der Jahre jedoch immer weiter zurück gedrängt.
Die Phase des „Kriegskommunismus“ wurde nach dem Sieg im Bürgerkrieg im
Frühjahr 1920 durch die NÖP abgelöst. Diese weitete die Möglichkeiten des
privaten Handels und der privaten Kleinproduktion aus und beendete die
Requirierung von Getreide. Die vorher desolate Wirtschafts- und Versorgungslage
besserte sich, an der bürokratischen Verwaltung der Industrie und der
Einschränkung der demokratischen Rechte der ArbeiterInnen bei der Verwaltung
der Betriebe änderte sich jedoch nichts. Im Gegenteil: innerhalb nur weniger
Jahre wurde der Einfluss des Staates immer größer und jener der Arbeiterklasse
immer kleiner. Das betraf nicht nur die betriebliche Ebene, sondern auch die
Ebene des Staatsapparats, auf den die Klasse immer weniger einwirken konnte.
Er trug immer stärkere Züge eines bürgerlich-bürokratischen Apparats und wies
immer weniger Merkmale eines Rätesystems auf. Diese Bürokratisierung wurde
noch dadurch gefördert, dass die Partei selbst bürokratisiert wurde, der Einfluss
von ArbeiterInnen immer mehr zurückging (sowohl quantitativ, als auch, was
deren Wirkungsmöglichkeiten anbetraf) und sich auch die politische Doktrin der
Partei grundsätzlich veränderte.
Insbesondere die Einführung und Ausweitung der allgemeinen
Wirtschaftsplanung ab 1928 erfolgte nur von oben durch die Bürokratie,
insbesondere das Politbüro; die betriebliche Basis, aber auch demokratisch
legitimierte Organe der Arbeiterklasse waren davon weitestgehend
ausgeschlossen. Die richtige Einsicht, dass die einzelnen Wirtschaftssubjekte
durch ein Planungssystem miteinander verbunden werden müssen, führte fast
automatisch zu der Ansicht, dass diese nur von oben vorgenommen werden
könne.
Obwohl diese Fehlentwicklungen – zu recht – auch Stalin persönlich und der
Bürokratie angelastet und mit dem von ihnen etablierten System verbunden
werden, würde es viel zu kurz greifen, sie darauf zu beschränken. Vielmehr
müssen wir konstatieren, dass eben schon die Bolschewiki und Lenin in Theorie
und Praxis jene Konzepte und Strukturen in erheblichem Maße etablierten, die
Stalin dann nur noch ausweiten musste: Überzentralisierung, Eliminierung jeder
„Opposition“, Ausschaltung des Rechtssystems usw. Es ist kein Zufall, dass Lenin
sehr oft betonte, dass die UdSSR eine Phase des Staatskapitalismus durchlaufen
müsse. Zwar sollte der Staatsapparat nach Lenins Intention in Form und Funktion
natürlich ein Arbeiterstaat sein und kein bürgerlicher (was er in der Praxis dann
aber auch kaum war), dass aber ein staatlicher Apparat von oben die Wirtschaft
lenkt, war für Lenin durchaus selbstverständlich. Eine kritische Lektüre von
„Staat und Revolution“ in dieser Hinsicht – die leider fast nie erfolgt – würde
genau das auch zeigen.
Die Entwicklung Sowjetrusslands führte bis Ende der 1920er dazu, dass die
Betriebe nicht mehr im Privatbesitz waren, aber eben auch nicht mehr den
ArbeiterInnen gehörten und von ihnen verwaltet wurden, sondern von der
Staatsbürokratie. Mit der Zwangskollektivierung ab 1929 wurde der letzte – sehr
große – Bereich privaten Eigentums enteignet. Was dabei entstand, waren jedoch
nicht Genossenschaften im eigentlichen Sinn, sondern Staatsbetriebe mit einigen
„quasi-genossenschaftlichen“ Elementen. Die Bauern waren kein
GenossenschafterInnen, sondern „besondere“ Lohnabhängige des Staates. Auch
diese Tatsache wird von den meisten MarxistInnen nicht zur Kenntnis genommen.
Nach der Oktoberrevolution 1917 war der Staat anfangs noch – trotz gewisser
Deformationen schon von Beginn an – in starkem Maße ein proletarischer RäteStaat. Doch schon Ende der 1920er hatte er sich weitgehend vom Einfluss der
Arbeiterklasse abgekoppelt und war ein Instrument der Bürokratie geworden –
ein in Form und Funktion bürgerlicher Staat besonderen Typs.
Die wesentlichen Gründe dafür, dass in der UdSSR innerhalb weniger Jahre der
Arbeiterstaat und eine „im Werden begriffene proletarische Ökonomie“ in ein
staatskapitalistisches System verwandelt werden konnten, war erstens die
Schwäche und die Erosion der Arbeiterklasse und besonders ihrer Vorhut
während der Jahre des Bürgerkriegs und des Hungers. Zweitens stand die
Umgestaltung der Gesellschaft – sowohl der politisch-staatlichen Ebene als auch
der Ökonomie – erst ganz am Anfang. Umfang und Tiefe der erreichten
Veränderungen waren in den meisten Bereichen noch so gering, dass es Stalin
und der Bürokratie nicht schwer fiel, diese kommunistischen Ansätze
auszumerzen und das bürokratische System überall durchzusetzen. Ohne Frage:
Wären die Positionen des Proletariats stärker gewesen, hätte es die ihm
angemessenen Formen von Räte-Demokratie, Selbstverwaltung und
Genossenschaftswesen stärker etablieren können, wäre es der Bürokratie wohl
kaum möglich gewesen, sich so leicht oder überhaupt durchzusetzen.
Die Bürokratie war weder interessiert noch in der Lage, die der Bourgeoisie in
der Revolution entrissenen Produktionsmittel als neue Privateigentümer zu
übernehmen. Was sie aber wollte und auch konnte: die Verwaltung der Wirtschaft
komplett zu bestimmen und die Arbeiterklasse von den Schalthebeln der Macht
zu verdrängen. Das Ergebnis war in einer entscheidenden Hinsicht jedoch
dasselbe wie bei der Privatisierung – die Arbeiterklasse war eine macht- und
eigentumslose, unterdrückte und ausgebeutete Klasse von LohnarbeiterInnen.
Dass die Bürokratie letztlich obsiegte, war aber nicht nur – und vielleicht noch
nicht einmal wesentlich – Ausdruck und Folge der objektiven Situation.
Schließlich war auch die Oktoberrevolution nur möglich, weil es einen subjektiven
Faktor in Gestalt einer revolutionären Partei und eines aktivistischen,
revolutionär gesonnenen und nicht reformistisch „verdorbenen“ Proletariats gab.
In den dramatischen Jahren nach 1917, als die Weichenstellungen für die weitere
Entwicklung der UdSSR erfolgten, gab es diesen Faktor leider nicht mehr bzw. er
war zu schwach, agierte zu spät und zu zögerlich und verfügte weder über die
analytische Kraft, die Entwicklungstendenzen zu begreifen, noch gab es einen
geeigneten Plan für die Zukunft. Am konsequentesten waren dabei (neben den
AnarchistInnen, die als erste und am grundsätzlichsten auf die Probleme
hinwiesen) noch Trotzki und die „Linke Opposition“. Doch auch Trotzki fehlte die
letzte konzeptionelle „Tiefe“ – zu stark war er (wie auch Lenin) von den
Vorstellungen der II. Internationale geprägt.
Die Übergangsgesellschaft
Der Charakter der Produktionsweise in der Übergangsgesellschaft ist
grundsätzlich davon geprägt, dass verschiedene – proletarische, bürgerliche und
tw. vorbürgerliche – Elemente neben- und gegeneinander existieren. Nicht eine
bestimmte ökonomische Struktur sorgt a priori dafür, dass die Entwicklung der
Übergangsgesellschaft in eine bestimmte Richtung geht, sondern nur die
politische Herrschaft des Proletariats. Eine Entwicklung Richtung Kommunismus
ist nur möglich, wenn das Proletariat die wirtschaftlichen und sozialen Abläufe
bestimmt. Dieses „Herrschen“ erfolgt auch – aber eben nicht nur (!) – mittels
staatlicher Strukturen. Wenn diese aber nicht mehr dem Einfluss der
Arbeiterklasse unterliegen, dann ist der Staat kein proletarischer mehr. Ein der
Form nach „bürgerlicher“ Staat kann aber nicht – selbst wenn er wollte – eine
„sozialistische“ Wirtschaftsentwicklung bewirken. Solange das Proletariat auf den
Staat, auch wenn dieser nicht eine voll ausgeprägte Rätestruktur aufweist,
wesentlichen Einfluss ausübt, kann von einer Diktatur des Proletariats, von einem
Arbeiterstaat gesprochen werden. Ist dieser Einfluss jedoch – wie unter Stalin –
eliminiert, ist dieses entscheidende Merkmal nicht mehr gegeben. Auch die
Produktionsverhältnisse können dann nicht von der Arbeiterklasse geprägt und in
ihrem Sinne weiter entwickelt werden.
Die tw. beeindruckenden Wirtschaftserfolge unter Stalin waren keine „an sich“
sozialistischen Maßnahmen, sondern ein nachholende kapitalistische
Entwicklung, sie waren ein Fortschritt im Sinne einer Modernisierung, aber kein
Schritt zum Kommunismus. Die Industrialisierung ist keine per se sozialistische,
sie ist es nur dann, wenn sie damit verbunden ist, dass sich Strukturen
herausbilden und verstärken, welche die typischen Kennzeichen der bürgerlichen
Produktionsweise (Lohnarbeit, Warenproduktion, Entfremdung usw.) nicht mehr
aufweisen.
Der Ökonom Charles Bettelheim schreibt dazu: „Sowohl die Form des
Produktionsprozesses als auch die Form des Distributionsprozesses bezeugen,
dass in den sowjetischen Betrieben kapitalistische Produktionsverhältnisse
reproduziert werden. Wenn die Sowjetunion sozialistische Strukturen
herausgebildet hat, dann nicht wegen der Transformation ihrer ökonomischen
Basis, sondern – unmittelbar nach der Oktoberrevolution – aufgrund der
Besonderheit einer politischen Macht, die den Kampf für die Veränderung der
gesellschaftlichen Verhältnisse aufnahm und die Arbeiter im Hinblick auf diese
Veränderung vereinte. Als dieser Kampf aufgegeben wurde, vor allem als die
Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse als »abgeschlossen« verkündet
wurde, obwohl sie es nicht war, verlor die sowjetische Gesellschaftsformation
ihren sozialistischen Charakter. Die Preisgabe des Kampfs machte offenbar, daß
sich im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen eine Wende vollzogen hatte, die
die Wiederherstellung kapitalistischer Produktionsverhältnisse zuließ und
sicherte. Diese Einsicht wird durch eine Ideologie verstellt, die das Phantom einer
»sozialistischen Produktionsweise« erfunden hat. Der Sozialismus ist keine
Produktionsweise. Er ist der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus.
(Bettelheim identifiziert hier begrifflich fälschlich Sozialismus mit
Übergangsgesellschaft, d.A.) Die Ideologie der »sozialistischen
Produktionsweise«, die übrigens einen großen Teil der Arbeiterbewegung in der
Welt korrumpiert, erfüllt eine offensichtlich apologetische Funktion. In der
Sowjetunion fungiert sie als Rechtfertigung des bestehenden Zustands, als
Theorie, die darauf abzielt, die Verstärkung des Staats und der Repression zu
»begründen«. Sie negiert die Existenz eines Proletariats in der UdSSR. Damit
negiert sie die Existenz des proletarischen Klassenkampfs und privilegiert die
Belange jener, die über die Staatsmacht verfügen und die durch deren
Vermittlung über die Produktionsmittel verfügen, d.h. sie privilegiert die
Staatsbourgeoisie um die Erhaltung der Macht. Eine solche Ideologie erlaubt es,
diejenigen als »Konterrevolutionäre« zu beschuldigen, die sich dieser Macht
widersetzen, während es gerade diese Macht selber ist, die reaktionär ist.
Der Staatskapitalismus, wie er in der UdSSR vorliegt, ist ein tief
widersprüchliches Phänomen. Einerseits sichert er die Reproduktion des
Antagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat, andererseits erzeugt er eine
permanente Krise – sie artikuliert sich in der übermäßigen Ausbeutung der
Bevölkerung und in der Unzufriedenheit all jener, die den Widerspruch zwischen
der Sprache der Macht und der Realität wahrnehmen. Deshalb ist diese Macht
notwendigerweise repressiv. Allein der Kampf zur Überwindung dieses Staats und
der kapitalistischen Arbeitsteilung ist mit der Entwicklung der Demokratie für die
Massen vereinbar.“ (Ch. Bettelheim: Über die Natur der sowjetischen
Gesellschaft. S. 101f in: Bettelheim, Meszaros, Rossanda u.a.: Macht und
Opposition in den nachrevolutionären Gesellschaften, Suhrkamp Verlag,
Frankfurt a.M., 1979)
Die UdSSR ab Ende der 1920er und später der Ostblock, China u.a. Länder waren
(von Anfang an) staatskapitalistisch, weil nur dort der Staat wirklich de facto und
de jure Eigentümer der Produktionsmittel war. Die Gründe, warum wir die
Etablierung des Staatskapitalismus in der UdSSR ab dem Ende der 1920er als
vollzogen ansehen, sind folgende:
bis dahin waren fast alle proletarischen Errungenschaften wie
Rätedemokratie, direkte Verwaltung der Betriebe usw. in der Praxis
eliminiert;
fast jede Opposition und Demokratie in Gesellschaft, Staat und Partei war
ausgelöscht worden bzw. wurde nun systematisch und massenhaft
eliminiert (Terror, Schauprozesse); damit war der soziale Spielraum für
die Entfaltung der Arbeiterklasse als Subjekt der Entwicklung drastisch
eingeschränkt;
mit dem ersten 5-Jahr-Plan 1928 war die bürokratische staatlichzentralistische Wirtschaftslenkung endgültig durchgesetzt, die stalinsche
Industrialisierung etablierte strukturell die typisch bürokratische
Wirtschaftsweise (Tonnenideologie, Voluntarismus usw., Planung von
oben);
mit der Zwangskollektivierung ab 1929 (die eigentlich eine
Verstaatlichung und eben keine Kollektivierung war) wurde der letzte
nicht-staatliche Wirtschaftsbereich beseitigt; zugleich brach erneut eine
Hungerkrise aus und enorme (agrarische) Produktivkräfte wurden
vernichtet, was wiederum den Einfluss der Bürokratie stärkte;
die Aufhebung der NÖP beendete jede Möglichkeit, bestimmte
wirtschaftliche Faktoren und Mechanismen „variabel“ zu nutzen,
blockierte die Entwicklung bestimmter Bereiche und festigte den
bürokratischen Zugriff auf die Wirtschaft.
Diese quantitativen Veränderungen führten Ende der 1920er in der Summe
letztlich zu einer neuen gesellschaftlichen Qualität. Der massenhafte Terror, der
Personenkult usw. der 1930er Jahre waren dann Maßnahmen Stalins, um seine
Macht und das staatskapitalistische System zu sichern. Insbesondere dienten sie
dazu, jede Alternative, jeden Widerstand seitens des Proletariats zu unterbinden
und die Einheit der Bürokratie als Klasse unter Stalin als Führer zu zementieren.
Trotzkis Theorie
Leo Trotzki hat die gründlichste Analyse der Verhältnisse in der UdSSR vorgelegt.
Er sah die UdSSR als bürokratisch degenerierten Arbeiterstaat an, d.h .als eine
nicht-kapitalistische Gesellschaft. Doch seine Analyse ist – trotz sehr vieler
richtiger Elemente und Schlussfolgerungen – insofern unmarxistisch, als sie nicht
die Eigentumsfrage ins Zentrum stellt und glaubt, dass einige strukturelle
Besonderheiten wie das Staatseigentum, die Zentralplanung, das Fehlen von
Privateigentum oder das Außenhandelsmonopol hinreichen würden, um von einer
nach-kapitalistischen Ökonomie und Gesellschaft sprechen zu können. Dagegen
werden der fast vollständige Ausschluss der ProduzentInnen und
KonsumentInnen von den wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen, das
Weiterbestehen von Warenproduktion, Lohnarbeit, der alten Arbeitsteilung und
der Aneignung des Mehrprodukts und die Verfügung darüber durch eine
herrschende Minderheit, die Bürokratie, nur als „Entartungen“ oder als noch
nicht überwundene Entwicklungsstufe der Übergangsgesellschaft angesehen,
nicht jedoch als wesentliche qualitative Elemente der sozialen Struktur.
Zweifellos ist die Übergangsgesellschaft von widerstreitenden Strukturen
geprägt. Die entscheidende Frage, in welche Richtung sich die
Übergangsgesellschaft entwickelt, stellt sich auch Trotzki. Er formuliert ein klare
Alternative: entweder die Herrschaft der Bürokratie führt zur Restauration des
(Privat)Kapitalismus, indem ein Teil der Bürokratie zu individuellen Besitzern von
Produktionsmitteln wird, oder aber das Proletariat stürzt die Bürokratie und
rekonstruiert seine Rätemacht.
Doch für Trotzki ist eben nicht schon die Machtergreifung der Bürokratie und die
Verdrängung der Arbeiterklasse von der Macht das entscheidende Faktum zur
Bestimmung des Klassencharakters der Gesellschaft, sondern einige –
vermeintlich – nach-kapitalistische Strukturen in der Wirtschaft. Die Bürokratie
wird dabei von Trotzki korrekt als bürgerliche, konterrevolutionäre Agentur
gesehen. Er spricht ihr aber trotzdem eine widersprüchliche, doppelte Rolle zu:
einerseits schadet sie den revolutionären Errungenschaften durch bürokratische
Ineffektivität und die „Knebelung“ des Proletariats, anderseits nützt sie diesen
„Errungenschaften“, indem sie diese gegen eine „Reprivatisierung“ (woher diese
ab den 1920ern auch hätte kommen sollen) verteidigt, ausweitet
(Zwangskollektivierung, Industrialisierung) und vertieft (Planwirtschaft).
Natürlich hat auch der Stalinismus auf seine Art die Produktivkräfte
weiterentwickelt, wenn auch in geringerem Maße als der Privat-Kapitalismus,
letztlich ist er ja deshalb auch gescheitert. Doch dabei hat er den subjektiven
Faktor, das revolutionäre Proletariat, ruiniert und die Ausprägung von spezifisch
kommunistischen Elementen in der Gesellschaft blockiert. Trotzki ignoriert die
entscheidende Frage der Entmachtung des Proletariats zugunsten einiger
Errungenschaften, er stellt damit die momentane Situation gewissermaßen über
die historische Tendenz. So wie die Machtergreifung der Bourgeoisie in der
bürgerlichen Revolution den Beginn der bürgerlichen Ordnung markiert und nicht
das gegebene Ausmaß der bürgerlichen Produktionsweise, so markiert die
Machtergreifung des Proletariats den Beginn des Arbeiterstaates – nicht das
Vorhandensein dieser oder jener nicht-kapitalistischer Sektoren der Ökonomie.
Die Verdrängung des Proletariats von der Staatsmacht durch die Bürokratie – was
auch Trotzki betont – markiert damit notgedrungen das Ende dieser Ordnung.
Sicher kann es dabei eine Übergangsphase geben, in der das Proletariat bzw. die
revolutionären Kräfte mit der Bürokratie ringen (in Russland waren das die
1920er Jahre), doch dieser Kampf dauert weder ewig, noch kann es auf Dauer
eine Art Patt in der Form geben, dass quasi eine eigene Produktionsweise –
Trotzkis „degenerierter Arbeiterstaat“ – kreiert wird. Genau das ist aber der Kern
der Vorstellung Trotzkis: die Ökonomie ist wesentlich nachkapitalistisch, der
Staatsapparat ist in seiner Form bürgerlich, aber in seiner Funktion, dem
„Schutz“ des Staatseigentums, proletarisch. Ein an sich schon etwas bizarrer
Gedanke, dessen Grundfehler darin liegt, dass er der Ökonomie partiell eine
„sozialistische“ Qualität zuschreibt, die sie überhaupt nicht hatte und aufgrund
der Herrschaft der Bürokratie auch nie haben konnte.
Trotzkis betont, dass der bürokratische Staatsapparat kein Rätestaat ist und in
Form und Struktur eher einem bürgerlichen, ja sogar einem faschistischen
Staatsapparat gleicht. Daher macht Trotzki den Klassencharakter der UdSSR
wesentlich auch an der angeblich nicht-kapitalistischen Qualität seiner
ökonomischen Basis fest und nicht oder weniger an der Frage, welche Klasse
herrscht. Nach Trotzkis Kriterium wäre dann aber sogar die junge SowjetRepublik unmittelbar nach der Oktoberrevolution kein Arbeiterstaat bzw. keine
Diktatur des Proletariats gewesen, weil das Gros der Ökonomie hinsichtlich der
Eigentumsverhältnisse und der makroökonomischen Strukturen noch weitgehend
bürgerlich bzw. sogar halb-asiatisch war. Jedoch ist das entscheidende Merkmal
der Übergangsgesellschaft eben nicht eine besondere ökonomische Struktur,
sondern die Tatsache, dass das Proletariat die politische Macht inne hat (was
nicht identisch ist mit der Herrschaft einer Partei).
Im Unterschied zur bürgerlichen Revolution kann das Proletariat nicht in großem
Maße auf schon in der bürgerlichen Gesellschaft etablierte Elemente einer
proletarischen Ökonomie zurückgreifen, sondern muss diese erst etablieren. Da
die Machtergreifung der Bürokratie mit der Verdrängung der Arbeiterklasse –
dem einzigen Faktor, der die Entwicklung zum Kommunismus voran treiben kann
– von der Macht verbunden war, war das also der qualitative Umschlag in der
Gesellschaft.
Nach Trotzkis Logik hätte dann erst Stalin mit der Zwangskollektivierung, der
Beendigung der NÖP und der Etablierung der Planung den Arbeiterstaat resp.
eine proletarische Ökonomie geschaffen. Das sagt Trotzki natürlich so nicht, aber
er meint durchaus, dass Stalin mit seinen Maßnahmen objektiv die
„sozialistischen Grundlagen“ der UdSSR festigen würde, obwohl er sie durch die
bürokratische Herrschaft gleichzeitig auch unterminiere. Dieser Balance-Akt ist
in Trotzkis Denken möglich, nicht aber in der Realität.
Wenn lt. Trotzki der „sozialistische“ Charakter der Wirtschaft v.a. durch den
Staat und seine Maßnahmen bestimmt würde, dann hieße das nichts anderes, als
dass ein bürgerlicher Staat eine sozialistische Wirtschaft aufbauen könne. Selbst
wenn dem so wäre, müsste sich im Laufe der Entwicklung zeigen, dass die
typischen Merkmale einer bürgerlichen Ökonomie (Warenproduktion, Lohnarbeit,
Entfremdung, Arbeitsteilung usw.) immer schwächer werden oder ganz
verschwinden. Davon konnte aber keine Rede sein, was deutlich darauf verweist,
dass die Rolle der Bürokratie eben nicht (auch) die Verteidigung und der Ausbau
der „sozialistischen“ Basis war, sondern nur deren Zerstörung. Was die
Bürokratie verteidigt hat, war ihr Staatskapitalismus – gegen jeden Angriff darauf
durch das Proletariat wie auch anderseits durch den Privatkapitalismus. So
erklärt sich die konterrevolutionäre stalinsche Außenpolitik (Volksfront) wie auch
der Kampf zwischen den Systemen Ost und West. Trotzki analysiert und kritisiert
die Politik Stalins sehr konsequent, doch er weigert sich, zuzugeben, dass diese
Politik eine notwendige Folge der Tatsache ist, dass die UdSSR unter Stalin eben
kein Arbeiterstaat mehr war, sondern Staatskapitalismus. Diese Inkonsequenz
Trotzkis hatte tw. verhängnisvolle politische Fehler zur Folge und verzögerte oder
blockierte die Neuformierung der revolutionären Kräfte der Arbeiterbewegung.
Methodische Brüche
Die methodischen Fehler hinsichtlich der Analyse der Ökonomie und speziell der
Relation Staat-Ökonomie bei Trotzki (wie auch schon vorher bei Lenin) rühren aus
dem falschen Verständnis dieses Verhältnisses und der falschen bzw. nicht
vorhandenen Konzeption der Übergangsgesellschaft in der II. Internationale her.
Die Vorstellungen von Lenin und Trotzki weichen in wichtigen Fragen auch
deutlich von denen von Marx und Engels ab. So sahen Marx und Engels – im
Unterschied zu Lenin – Russland als wesentlich asiatische Produktionsweise mit
kapitalistischen und feudalen „Einsprengseln“ an. Marx und Engels gingen von
einer auf genossenschaftlichen Strukturen beruhenden Ökonomie der
Übergangsgesellschaft aus, Lenin und Trotzki von einer Staatswirtschaft. Die
falsche Lösung der Eigentumsfrage – Staatseigentum statt
Genossenschaftsstrukturen als Basis der Ökonomie – kann auch nicht dadurch
„ausgeglichen“ werden, dass die Verwaltung der Wirtschaft weniger bürokratisch
und stärker nach rätedemokratischen Prinzipien erfolgt. Die Verstaatlichung
selbst ist ein wesentlicher Faktor dafür, dass die Bürokratisierung zunimmt und
die Arbeiterklasse enteignet und vom Subjekt der Entwicklung zu deren bloßem
Objekt degradiert wird. Dieses Verhältnis umzukehren, ist aber gerade das
Anliegen der Revolution und für den revolutionären Prozess entscheidend.
Im Grunde läuft Trotzkis Schlussfolgerung, dass die Bürokratie durch eine
politische Revolution gestürzt werden muss, darauf hinaus, dass der Staat nach
räte-demokratischen Prinzipien „renoviert“ wird, an der Tatsache der Enteignung
der Produzenten an der betrieblichen Basis, am Fehlen von
Genossenschaftsstrukturen usw., an den ökonomischen Grundstrukturen also,
sollte jedoch nichts Wesentliches geändert werden, zumindest bleibt Trotzki hier
immer äußerst vage. Auch, als er noch eine wichtige Rolle im Machtgefüge
spielte, sprach er diese Frage nicht an. Nicht zufällig wandten sich Lenin, Trotzki
und die Mehrheit der bolschewistischen Führung 1920 auch massiv gegen die
innerparteiliche „Arbeiteropposition“, die u.a. die Frage der Genossenschaften
und der Stellung der ArbeiterInnen im Betrieb thematisierte.
Trotzkis Argumentation betont, dass die ArbeiterInnen Staat und Ökonomie
stärker und direkter kontrollieren müssen, eine zweifellos richtige Forderung.
Doch die Frage der Kontrolle ist nur eine Sache – und durchaus nicht die
entscheidende. Entscheidend ist vielmehr, was kontrolliert wird. Kontrolliere ich
z.B. den Staat, der die Wirtschaftsplanung vornimmt, oder kontrolliere ich die
Wirtschaft direkt, ohne dass ein separater Staat wesentlich dazwischen tritt?
Kontrolliere ich die Betriebe nur von „oben“ oder v.a. von „unten“? Organisiere
ich – ob demokratisch oder bürokratisch – Lohnarbeit oder nicht? Aufhebung der
Lohnarbeit aber ist in der Übergangsgesellschaft unmöglich ohne
genossenschaftliche Strukturen.
Wie in der Frage des Staates bedeutet für Marx und Engels „Aufhebung“ nicht
nur Zerstörung, also Negation, sondern auch Ersetzung des alten Staates durch
eine ganz bestimmte andere Struktur, also auch Negation der Negation. Genauso
meint Abschaffung des Privateigentums nicht nur dessen Zerstörung, sondern
dessen Ersetzung durch eine andere, qualitativ höhere Eigentumsform und nicht
nur durch ein x-beliebige andere, etwa eine bürokratisch-staatliche.
Marx schreibt wiederholt, u.a. in den Randglossen zum „Gothaer Programm“,
dass „die sachlichen Produktionsbedingungen (Marx spricht hier eben nicht nur
von den Produktionsmitteln, d.A.) genossenschaftliches Eigentum der Arbeiter
selbst“ sein sollen. Nirgends ist bei Marx davon die Rede, dass der Staat die
Wirtschaft leiten soll. Nach Marx ist das Privateigentum (und damit die
Enteignung der ProduzentInnen) ein Ausdruck der Arbeitsteilung. Die Teilung der
Arbeit in befehlende Bürokraten (statt der früheren Kapitalisten) und ausführende
ArbeiterInnen bedeutet damit Weiterbestehen einer Form von „Privateigentum“
und einer enteigneten und deshalb (!) unterdrückten und ausgebeuteten Masse.
Diesen zentralen Ansatz von Marx missverstehen Trotzki wie auch Lenin. Bei
Lenin etwa ist erst sehr spät, kurz vor seinem Tod, von der Bedeutung der
Genossenschaften die Rede, vorher fast nie.
In „Staat und Revolution“ heißt es: „Wir sind daher auch nur berechtigt, von dem
unvermeidlichen Absterben des Staates zu sprechen. Dabei betonen wir, daß
dieser Prozeß von langer Dauer ist und vom Entwicklungstempo der HÖHEREN
PHASE (Hervorhebungen im Original, d.A.) des Kommunismus abhängt (…)“.
Damit sagt Lenin (und es gibt noch andere Belege dafür), dass der Staat erst im
Kommunismus, d.h. nicht schon in der Übergangsgesellschaft abzusterben
beginnt. An anderer Stelle von „Staat und Revolution“ schreibt er, dass es in
Sowjetrussland um die „Umwandlung ALLER Bürger in Arbeiter und Angestellte
EINES großen „Syndikats“, nämlich des ganzen Staates, und der völligen
Unterordnung der gesamten Arbeit dieses ganzen Syndikats unter den wahrhaft
demokratischen Staat, DEN STAAT DER SOWJETS DER ARBEITER- UND
SOLDATENDEPUTIERTEN“ gehe. Bezeichnenderweise reduziert Lenin die
Diktatur des Proletariats hier auch (und in der Tendenz immer) auf die Sowjets,
als ob es keine anderen Organe und Mechanismen wie Genossenschaften,
Selbstverwaltung, Gewerkschaften, Parteien usw. gebe und geben müsse. Für
Lenin verschmelzen Staat und Partei tendenziell – eine absurde Vorstellung für
jeden Marxisten, da der Staat doch absterben soll und die Partei diesen Prozess
selbst wesentlich initiieren sollte. Nein, der Staat stirbt bei Lenin nicht, er ändert
sich nur und feiert in veränderter Form und weit größerem Umfang als je zuvor
eine Wiederauferstehung in der Übergangsgesellschaft, das Absterben wird in
eine ferne Zukunft vertagt. Kein Wunder, dass es die Bolschewiki schafften,
innerhalb weniger Jahre einen gigantischen Staatsapparat aufzubauen, der (die
Armee nicht mitgerechnet) um ein Mehrfaches größer war als der zaristische.
Was hier „abstarb“, war nicht der Saat, sondern der Marxismus!
Diese „Staatsgläubigkeit“ äußerte sich aber nicht nur theoretisch, sie zeigte sich
sehr praktisch und schon von Anfang an darin, dass immer wieder Formen der
Selbstverwaltung und Selbstorganisation des Proletariats und der Massen
unterdrückt und durch staatliche Gremien ersetzt wurden. In bestimmten
Bereichen (z.B. Militär) war das notwendig, umso mehr in der Periode des
Bürgerkriegs, doch auch danach änderte sich daran nichts – im Gegenteil: es
verschlimmerte sich noch, oft bis zum Exzess.
Diese konzeptionellen Auffassungen Lenins stehen also in deutlichem Kontrast zu
Marx und Engels. Lenins Staatsverständnis liegt auch den Positionen Trotzkis
zugrunde; damit ist er in dieser Frage ein guter „Leninist“, aber kein Marxist.
Trotzki will den Staat – und damit die bürokratische Herrschaft –
demokratisieren, der Staat soll (wieder) dem Proletariat gehorchen. Diese völlig
richtige Intention vergisst aber, dass der Staat zugleich absterben muss; sie
vergisst, dass nach Marx und Engels die sozialen Prozesse und auch die
Wirtschaft eben gerade nicht (nur) durch einen Staat geleitet werden sollen,
sondern auch und vor allem (!) durch das Proletariat direkt. Wäre das nicht so,
würde ein Absterben des Staates bedeuten, dass die Wirtschaft quasi „kopflos“
wäre. Genauso – und hier durchaus logisch – argumentierte die Bürokratie.
Ohne hier weiter ins Detail zu gehen (das bleibt anderen Arbeiten vorbehalten),
zeigt sich, dass bei Lenin, Trotzki und den Bolschewiki die Auffassungen vom
Verhältnis Staat – Wirtschaft (und in der Weiterung Staat – Gesellschaft)
durchaus von jenen von Marx und Engels deutlich abwichen und die methodische
Basis für die Fehler in ihrer Politik nach 1917 darstellten, die der
Bürokratisierung unter Stalin (ungewollt) den Boden bereiteten.
Trotzki hat in seiner Analyse der UdSSR einmal den Satz geprägt, dass der Film
des Reformismus nicht rückwärts ablaufen könne. Damit meinte er, dass eine
Restauration des Privat-Kapitalismus (in Russland) nicht „friedlich“ d.h. ohne
gewaltsame Konterrevolution erfolgen könnte. Auch hier hat sich Trotzki geirrt.
Zum einen definiert er den Aufstieg der Bürokratie nur als „politische
Konterrevolution“ (was sie auch war), nicht aber als tiefgreifenden sozialen
Prozess, der zu wesentlichen strukturellen Veränderungen nicht nur im Überbau
(Politik, Ideologie, Staat, Partei) führte, sondern auch den wirtschaftlichen
Bereich „umwälzte“. Der Kern dieses Prozesses war die Verdrängung des
Proletariats von allen Schaltstellen in Wirtschaft und Gesellschaft, d.h. die
umfängliche Enteignung und Entmachtung der ProduzentInnen und
KonsumentInnen.
Die seit den 1970ern sich vollziehenden marktwirtschaftlichen Reformen in
China, d.h. die Ausweitung von Bereichen des privatwirtschaftlichen
Kapitalismus, haben dazu geführt, dass China heute eine Mischung aus Staatsund Privatkapitalismus darstellt (wobei die Marktelemente und das
Privateigentum zunehmen) und politisch wie ökonomisch eine imperialistische
Macht geworden ist. Diese Metamorphose hat sich völlig ohne soziale
Konterrevolution, ohne Sturz oder Wechsel der Regierung und nur auf dem Wege
von Reformen vollzogen. Der Film des Reformismus wurde tatsächlich rückwärts
abgespielt. Das aber war so nur deshalb möglich, weil China bereits vorher kein
„degenerierter Arbeiterstaat“ war, sondern ein staatskapitalistisches System.
Der Unterschied zur UdSSR und Osteuropa bestand wesentlich darin, dass die
Bürokratie in China nicht entmachtet wurde bzw. sich nicht spaltete. In
Osteuropa und der UdSSR wurde ein (kleinerer) Teil zu einer neuen Klasse
kapitalistischer Privateigentümer, ein anderer verblieb im politisch-staatlichen
Bereich und mehr oder weniger große Teile wurden aufs „Altenteil“ abgeschoben.
Diese Spaltung der Bürokratie hatte allerdings auch schon Trotzki richtig
prognostiziert. In China gelang es der Bürokratie aber, die Macht zu behalten und
den Transformationsprozess vom Staats- zum Privatkapitalismus zu kontrollieren
und die erheblichen Spannungen, die dabei auftreten – bis jetzt – zu beherrschen.
Doch auch in Osteuropa verwies die Art und Weise des Übergangs zum
Privatkapitalismus darauf, dass es sich bereits vorher nicht um irgendeine
„degenerierte“ Form von Arbeiterstaat gehandelt hat. Fast nirgends gab es
Widerstand der Arbeiterklasse gegen die Privatisierung und wenn, dann meist nur
gegen deren soziale Auswirkungen (Entlassungen, Schließungen), fast nie gegen
die Privatisierung selbst. Der Grund für diese Passivität der ArbeiterInnen bei der
Verteidigung „ihres“ Eigentums war ein ganz einfacher: Sie konnten nicht
verlieren, was ihnen nie gehört hat.
Der Staatskapitalismus war seinem Wesen nach unfähig, über eine sehr lange
historische Periode hinweg zu existieren und dem Privatkapitalismus Paroli zu
bieten, geschweige denn wurde er, was zeitweilig nicht wenige Ökonomen
annahmen, zur „normalen“ modernen Existenzform des Kapitalismus. Er war ein
Sonderweg, eine Sackgasse. Er war der missgestaltete Bastard einer erdrosselten
sozialistischen Revolution.
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