' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 85 ISSN 1227-0122 Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe Yim, Han-Soon (SNU) I In den Diskussionen über die Literatur des deutschen Idealismus, vor allem über die Aufklärung und somit über Lessing steht oft die Toleranzidee im Mittelpunkt. 1 Dabei kann man allerdings beobachten, daß Lessings bahnbrechende Leistung als Lustspielautor und -theoretiker selten mit der Thematik der Toleranz in Verbindung gebracht wird.2 Schuld daran ist wohl die geläufige Vorstellung von Komik, die als unentbehrliches Konstituens der Komödie Distanz schafft, anstatt die Zuschauer sich in die dramatischen Figuren und Handlungen einfühlen zu lassen.3 So kommt Michael Böhler bei seiner Deutung einiger philosophischer Komik-Theorien zu dem Schluß: „Als simultaner Integrations- und Dissoziationsvorgang schafft das Lachen bei diesem Verständnis Grenzen und Demarkationslinien zwischen 1 Vgl. Lessing und die Toleranz, Sonderband zum Lessing Yearbook, München 1986. 2 Interessant ist angesichts dieser Forschungslage der Beitrag Michael Böhlers auf der 4. internationalen Konferenz der Lessing Society: Lachen oder Verlachen. Das Dilemma zwischen Toleranzidee und traditioneller Lustspielfunktion in der Komödientheorie, in: Lessing und die Toleranz, a.a.O., S. 245-262. Böhlers Ansätze sind bisher ohne Resonanz geblieben. 3 In der Gegenwart insistierte Dürrenmatt noch, die Tragödie überwinde die Distanz, während die Komödie Distanz schaffe. F. D.: Theaterprobleme (1954), in: Ders., Theater, Zürich 1980, S. 61. 86 Yim, Han-Soon sozialen Gruppen, es bestärkt die Lachenden in ihrem ,Wir-Gefühl‘ und in ihren sozialen Grenzziehungsakten – den Normen, kollektiven Vorstellungen und Ideologien.“ 4 Im Gegensatz zur ,Komödie der Intoleranz‘ dieser Art, die von Gottsched bei der Konzipierung der Verlach- bzw. Typenkomödie entschieden propagiert und praktiziert wurde, soll nun Lessing eine neue Form der Komik eingeführt haben, die „in ihrem innersten Kern mit dem Toleranzgedanken verbunden“ ist. In allen Bemerkungen Lessings zur Komödie geht es nach Böhler nicht um „Integration durch Dissoziation, Aggression und Degradation gegenüber der zum Außenseiter gestempelten komischen Figur, sondern Integration auch und gerade unter Einschluß des Außenseiters“.5 Böhlers Auslegung zufolge liegt der Unterschied zwischen dem Komödientyp Gottscheds und dem Lessings im wesentlichen darin, daß die komische Figur dort einseitig zum Verlachen preisgegeben, hier aber verständnisvoll in die normative Welt der Zuschauer aufgenommen wird. In Wirklichkeit muß bei Lessing aber eine noch gründlichere qualitative Veränderung der Lustspieltheorie stattgefunden haben, die sich erst im Hinblick auf die Objekt-Subjekt-Relation der Komik festmachen ließe. Worüber bzw. über wen lacht das Publikum? Ist die belachte Figur bei Lessing ein selbstverschuldeter Einzelgänger und Außenseiter wie in der Gottschedschen sächsischen Typenkomödie oder eher Vertreter bestimmter Normen, die selber als komisch empfunden werden? Ist das Laster der komischen Figur persönlicher Art wie etwa der Geiz Harpagons (l’Avare) oder gesellschaftlich bedingt wie das starre Ehrgefühl Tellheims (Minna)? Wir gehen davon aus, daß diese Fragen der Komik zum Verständnis der Toleranzidee in Lessings und Goethes Lustspielen von wesentlicher Bedeutung sind. II 4 M. Böhler, ebd., S. 248. 5 Ebd., S. 254. ' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 87 Der handlungsimmanente Gegensatz von Komödie und Tragödie läßt sich insofern auf die Luthersche Formel „Toleranz der Liebe und Intoleranz des Glaubens“6 beziehen, als es sich in den meisten Lustspielen um einen scheinbaren Liebeskonflikt handelt, nicht aber um einen unversöhnlichen Gesinnungskampf. Während sich die Tragödie zum katastrophalen Ende hin bewegt, erhebt sich die Komödie zum irdisch glücklichen Ende. In der das Lustspiel konstituierenden Komik ist also grundsätzlich ein Moment der Toleranz enthalten. Die relative Harmlosigkeit und damit die Tolerierbarkeit der komischen Fehler sind bereits in der Poetik von Aristoteles ausgesprochen worden. Die Komödie soll zwar „gemeinere Menschen“ nachahmen, „als sie in Wirklichkeit sind“, sie ist aber Nachahmung „nicht in bezug auf jede Art von Schlechtigkeit, sondern nur des Lächerlichen“; und das Lächerliche ist „ein Fehler und eine Schande, aber eine solche, die nicht schmerzt und nicht verletzt.“7 Das der Komödie vorgeschriebene Happyend ist in gewisser Hinsicht dadurch gewährleistet, daß die komische Figur bei all ihren Torheiten und Lastern geduldet bzw. akzeptiert werden kann und daher am Ende ohne empfindliche Schäden zurückbleibt. In der deutschen Aufklärung erfährt die alte „Ständeklausel“ bekanntlich vom Leipziger Professor Gottsched eine neue, aber schulmeisterlich-konservative Auslegung, wonach zur Komödie „ordentliche Bürger oder doch Leute von mäßigem Stande“ gehören: „Nicht als wenn die Großen dieser Welt etwa keine Torheiten zu begehen pflegten, die lächerlich wären, […] sondern weil es wider die Ehrerbietung läuft, die man ihnen 6 Luther beteuerte im Anschluß an den Apostel Paulus: „Die Liebe vermag alles dulden, der Glaube nicht.“ Zit. nach: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 477. 7 Aristoteles: Poetik, Kap. 2 und 5. Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen von Olof Gigon, Stuttgart 1961 (RUB 2337), S. 25, 29. S. 25: „Die eine [= Tragödie] ahmt edlere, die andere [= Komödie] gemeinere Menschen nach, als sie in Wirklichkeit sind.“ 88 Yim, Han-Soon schuldig ist, sie als auslachenswürdig vorzustellen.“8 Gottsched sieht die Funktion der Komödie in der sozialen Kontrolle und der Normbestätigung, wobei er ähnlich wie Aristoteles zwischen Verbrechen und Fehler unterscheidet: „Die Bestrafung der Spitzbuben [...] ist kein Werk der Poeten, sondern der Obrigkeit. Die Komödie will nicht grobe Laster, sondern lächerliche Fehler der Menschen verbessern“.9 Während in der griechischen Antike possenhafte Improvisationen wie die Phallusbegehungen üblich waren,10 findet das derart anarchische, karnevalistische Moment des Lachens keinen Platz mehr in der Lustspieltheorie Gottscheds, weil er das Lasterhafte und das Lächerliche nur zusammen, nicht aber einzeln als komödiengerecht verstanden wissen will: „Vieles läuft wider die Tugend, ist aber mehr strafbar und widerlich oder gar abscheulich als lächerlich. Vieles ist auch lächerlich, wie zum Exempel die Harlekinspossen der Italiener, aber darum gar nicht lasterhaft.“ Die komischen Figuren wie der Harlekin [Arlecchino] der Commedia dell’arte sollen ferner deshalb vermieden werden, weil sie die klassischen Einheitsregeln verletzten: „Sie binden sich an keine Einheit der Zeit und des Ortes, ja oft ist nicht einmal eine rechte Haupthandlung in ihren Fabeln“.11 Bei seiner Ablehnung der komischen Person wird deutlich, daß Gottsched selbst im Vergleich zu Aristoteles die Funktion der Komik erheblich einengt. Auch wenn die Komödie „nicht einzelne Personen“ verspotten, sondern „allgemeine Torheiten“ lächerlich machen soll, werden solche Torheiten nur in dem Maße als komödiengemäß erklärt, wie sie am Ende die Richtigkeit der gängigen Normen und Weltanschauungen bestätigen. Der glückliche Ausgang der Komödie ist nur möglich, weil die Komödienfiguren auch mit ihrem Verstoß gegen die bestehende Ordnung keine Gefahr für die 8 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen [Leipzig 1730], I. Teil, 4. Kapitel: Von den drei Gattungen, S. 35. 9 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. 4., vermehrte Aufl., Leipzig 1751, § 15, S. 645. 10 Aristoteles, a.a.O., Kap. 4, S. 28. 11 Ebd. (wie Anm. 7), II., 11., S. 113. ' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 89 Gesellschaft darstellen. Die Vertreibung des Harlekins aus der Komödie und damit die Einengung des Komischen stießen auf heftige Kritik Lessings und anderer Autoren. Die Maßnahme Gottscheds nannte Lessing spöttisch „die größte Harlekinade [...], die jemals gespielt worden“ (5, 71).12 Obwohl die lustige Person in einigen seiner Werke deutliche Spuren hinterlassen hat, wollte er freilich kein Possenspiel italienischer Art nachbilden, sondern suchte er „die wahre Komödie“ zu begründen, die sowohl erheitern als auch rühren sollte: Das Possenspiel will nur zum Lachen bewegen; das weinerliche Lustspiel will nur rühren; die wahre Komödie will beides. [...] Die wahre Komödie allein ist für das Volk, und allein fähig einen allgemeinen Beifall zu erlangen, und folglich auch einen allgemeinen Nutzen zu stiften. (4, 56) Die „wahre Komödie“ als Synthese von Possenspiel und rührendem Lustspiel leitet Lessing aus seinem Verständnis des gemischten Charakters ab, der sowohl für das Lust- wie auch für das Trauerspiel gelten soll. Dabei beruft er sich auf die menschliche Realität: Wahre Komödien seien diejenigen, die sowohl Tugenden als auch Laster schildern, „weil sie eben durch diese Vermischung ihrem Originale, dem menschlichen Leben, am nächsten kommen“ (5, 55). Indem der gemischte Charakter zum „Original“ der komischen Darbietung erklärt wird, geraten sowohl Laster als auch Tugenden in die Reichweite der Komik. Zur Erweiterung des Komischen heißt es im 28. Stück der Hamburgischen Dramaturgie [HD]: Jede Ungereimtheit, jeder Kontrast von Mangel und Realität, ist lächerlich. Aber lachen und verlachen ist sehr weit auseinander. Wir können über einen Menschen lachen, bei Gelegenheit seiner lachen, ohne ihn im geringsten zu 12 Lessing wird zitiert aus: Gotthold Ephraim Lessing, Werke, 8 Bde., hg. von Herbert G. Göpfert. München 1970 ff., hier Bd. 5, S. 71. 90 Yim, Han-Soon verlachen. (4, 362). Der Funktionswandel der Komik vollzieht sich also quantitativ wie qualitativ. In scharfer Wendung gegen Gottscheds enge Auslegung betont er immer wieder den Unterschied zwischen Lachen und Verlachen. Im nächsten, dem 29. Stück der HD meint er: Die Komödie wolle durch Lachen, aber nicht eben durch Verlachen bessern. Denn: Ihr wahrer allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen selbst; in der Übung unserer Fähigkeit das Lächerliche zu bemerken, es unter allen Bemäntelungen der Leidenschaft und der Mode, es in allen Vermischungen mit noch schlimmern oder mit guten Eigenschaften, sogar in den Runzeln des feierlichen Ernstes, leicht und geschwind zu bemerken. (4, 363) Der Zuschauer soll nicht mehr allein normwidrige Schwächen zu vermeiden lernen, deren Lächerlichkeit er an bestimmten Menschen, Handlungen oder Situationen entlarvt hat. Das Lachen, dem selbst die Nützlichkeit der Komödie zugesprochen wird, setzt voraus, daß der Zuschauer die dargestellte Person grundsätzlich nicht zu verachten braucht. Das Lachen entspringt eher Situationen als charakterlichen Fehlern. Ein passendes Beispiel für diese Situationskomik fand Lessing in Le Misanthrope von Molière. Gegen Rousseaus Kritik an diesem Lustspiel nimmt er im 27. Stück der HD den fanatisch um Aufrichtigkeit bemühten Alceste in Schutz und meint, dieser werde nicht verächtlich, und das situationsbedingte Lachen nehme ihm „von unserer Hochachtung nicht das geringste“ weg (4. 362). Üblicherweise bezieht die Forschung die oben zitierten Stellen der HD auf das späte Werk Minna von Barnhelm,13 zumal sie Anfang August 1767, also kurz vor der Erstaufführung des Stückes verfaßt wurden. Lessing begründete seine Idee der erweiterten Komik jedoch nicht erst zu dieser Zeit. Offenbar in Hinblick auf 13 Vgl. Eckehard Catholy: Das deutsche Lustspiel. Von der Aufklärung bis zur Romantik, Stuttgart: Kohlhammer 1982, S. 65. ' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 91 seine frühen Lustspiele formulierte er seine Ansicht über die „wahre Komödie“ (4, 56), die sowohl zum Lachen bewegen als auch rühren sollte, bereits in den fünfziger Jahren. Auch sein Nützlichkeitsstandpunkt ist schon in seinem Brief an Nicolai vom November 1756 festgehalten: „[Die Komödie] soll uns zur Fertigkeit verhelfen, alle Arten des Lächerlichen leicht wahrzunehmen“ (4, 163. Hervorhebung vom Verf. - Yim). Aus diesem erneuerten wirkungsästhetischen Konzept heraus ergeben sich zwei bedeutende Konsequenzen, die Lessings Lustspieltheorie wie -praxis von Anfang an bestimmen. Einerseits werden die alte „Ständeklausel“ sowie die Überlegenheitstheorie der Komik stillschweigend aufgehoben, weil nunmehr jeder Mensch unabhängig von seiner gesellschaftlichen Zugehörigkeit komisch sein kann, also nicht nur „der Pöbel“, sondern auch Adlige und Könige. Andererseits öffnet sich für das Lustspiel die Möglichkeit, sich vom „moralischen Regulativ“ zum Spiegel der Gesellschaft zu entwickeln. Wo das Lächerliche gerade an geläufigen Wertvorstellungen erkannt wird, da richtet sich die Kritik weniger gegen die ausgelachte Person als gegen die Konvention der Gesellschaft, die einem jene Vorstellungen, auch wenn sie vorurteilsbehaftet und unwahr sind, direkt oder indirekt aufoktroyiert. Dieser ideologiekritische Aspekt des aufklärerischen Lustspielbegiffs ist mit dem Toleranzgedanken Lessings eng verbunden, der bereits in seinen frühen Werken zum Vorschein gebracht und dann in seiner gelungensten Komödie Minna von Barnhelm meisterhaft gestaltet worden ist. In der folgenden Werkanalyse wenden wir uns dem frühen Lustspiel Freigeist und dann der Minna zu. II.1 Die Toleranzidee, für die Lessing in seinen Lustspielen plädiert, läßt sich insbesondere am Umkehrverfahren feststellen, das nach Peter Pütz als „gedankliches Grundprinzip der Aufklärung“ und 92 Yim, Han-Soon zugleich als „Strukturprinzip“ seiner Komödie anzusehen ist.14 Gehört die Kontrastierung in Form der Gegenüberstellung von Schein und Sein, Laster und Tugend usw. zu den üblichen Mitteln des Lustspiels, so ist die Umkehrung eher ein spezifisches Merkmal von Lessings Komödien und hat eine vielfältige Wurzel.15 Er bedient sich der Umkehrung fast nie zum bloßen Zweck momentaner komödiantischer Verblüffung. Charakteristisch für sein Verfahren ist vielmehr die Verbindung der Komik mit den über den amüsanten Augenblick hinausführenden aufklärerischen Leistungen, zu denen die Kritik an dem von Erstarrung bedrohten System der Komödie selbst gehört. Unsere besondere Aufmerksamkeit verdient dabei das wirkungsästhetische, aufklärerisch-erkenntnisethische Moment, das zu einer grundsätzlichen Revision der Vorurteile führt und dadurch die humanitäre Idee der Toleranz vermittelt. Mit dieser Absicht zerbricht Lessing schon in seinen frühen Lustspielen das tradierte Muster der Verlachkomödie. Was Horst Steinmetz hinsichtlich der Minna von Barnhelm meinte, in dem Stück werde das „Modell der traditionellen Komödie“ Gegenstand der Lustspielhandlung, das Modell werde „im eigentlichen Sinne des Wortes aufs Spiel gesetzt, und muß sich seine Ohnmacht bescheinigen lassen“16 – diese Auslegung läßt sich auf das bereits in den frühen Lustspielen theamatisierte Typenproblem übertragen. Die beiden Lustspiele aus dem Jahre 1749, Die Juden und Der Freigeist, sind nach Böhler „Lehrstücke gegen die Typenkomödie 14 Peter Pütz: Die Leistung der Form. Lessings Dramen, Frankfurt a. M. 1986, S. 53, 67. 15 Pütz spricht von der „dreifachen Wurzel des Strukturprinzips der Umkehrung“: Diese habe eine „komödiantische, aufklärerische und religiöse Herkunft“. Aber dazu kommt nach Pütz noch das vierte, politisch-soziale Ursprungsfeld in Frage. Ebd., S. 65 ff. und 98. 16 Horst Steinmetz: Minna von Barnhelm oder die Schwierigkeit, ein Lustspiel zu verstehen, in: Wissen aus Erfahrungen. Werkbegriff und Interpretation heute. Festschrift für Herman Meyer zum 65. Geburtstag, hg. von A. v. Bormann, Tübingen 1976, S. 135-153, hier S. 151. ' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 93 und die hinter ihr stehenden sozialen Einstellungsmechanismen.“17 Bereits die Titel und Themen dieser Stücke dienen dazu, den geläufigen Erwartungen zu widersprechen. Der erste Titel ist „in seiner unzulässigen Generalisierung bereits sinnfälligster Ausdruck des Vorurteils“.18 Wird durch die Pluralform ein ganzes Volk als Objekt der Komik bezeichnet, so setzt der Autor dann in der Spielhandlung alles daran, die Hauptperson von der klischeehaften Vorstellung eines menschenfeindlichen Juden zu befreien, ja sie umgekehrt als einen vorbildlichen Menschenfreund herauszustellen. Sein Vorhaben, auch den Freigeist als eine ,Anti-Typenkomödie‘ zu schreiben, hat Lessing in einem Entwurf des Stückes unmißverständlich dargelegt. Im Personenverzeichnis sind nämlich drei Positionen aufgeführt, die gleichsam einen synthetischen Versöhnungsprozeß zweier Kontrahenten veranschaulichen sollen: Den einen Pol vertritt der viel gereiste Atheist Adrast, den anderen der ansässige Geistliche Theophan und die Mitte der alte reiche Kaufmann Lisidor, der ihnen seine Töchter versprochen hat. Adrast ist als ein Mann „ohne Religion, aber voller tugendhafter Gesinnungen“ konzipiert, und Theophan soll „so tugendhaft und edel als fromm“ sein, obwohl er aus der Sicht des Freidenkers einfach ein „Heuchler“, „Schleicher“ und „blöde[r] Verleugner seines Verstandes“ (I/2, 480)19 ist. Der alte Lisidor ist „ungewiß und schwankend in seinen Grundsätzen, jetzt auf des Adrasts, jetzt auf des Theophans Seite“. 20 Es ist falsch, aus seiner Unschlüssigkeit auf Charakterlosigkeit oder rein kaufmännischen Pragmatismus zu schließen. Im Gegensatz zu den Alten etwa bei Molière, die wie Harpagon, Sganarelle, Orgon u.a. fast ausschließlich dumm und/oder geizig sind, verkörpert Lisidor Weisheit, Vernunft und nicht zuletzt Toleranz, indem er sozusagen 17 M. Böhler, a.a.O., S. 257. 18 Ebd., S. 68. 19 Der Freigeist und Minna werden mit Angaben vom Akt, Auftritt und der Seitenzahl zitiert aus: Lessing, Werke (wie Anm. 12), Bd. 1. 20 Alle Zitate mit Ausnahme von Nr. 19 aus dem Entwurf: Lessing, Werke, Bd. 2, S. 651. 94 Yim, Han-Soon den goldenen Mittelweg geht. Noch eindeutiger als der Vater sind seine Schwiegersöhne als ,Anti-Typen‘ gestaltet. Während der Geistliche in der Komödie, wiederum durch Molières Tartuffe unübertroffen dargestellt, ausschließlich als frömmelnder Heuchler und Betrüger zu erscheinen pflegte, ist Theophan zum Vorbild des edlen, toleranten Menschen erhoben. Ungeachtet der spröden Verschlossenheit Adrasts rettet er diesen mehrmals aus dem Bankrott und bietet ihm wiederholt Freundschaft an, allerdings aus einem handfesten persönlichen Interesse: Er liebt die Adrast zugedachte Frau. Im Mittelpunkt der komischen Spielhandlung steht natürlich der Prinzipienreiter Adrast. Nachdem er sich im ersten Aufzug mit jedem überworfen und dadurch von der Umwelt völlig isoliert hat, wird in den Aufzügen II-V vorgeführt, wie er sich immer wieder auf sein vorgefaßtes rationalistisches Begriffssystem zurückzieht und vor konkreten Erfahrungen die Augen zu verschließen sucht. Die mit dem Titel erweckte Vorstellung von einem gottlosen Freigeist wird aber im Spielverlauf Stück für Stück widerlegt. Adrast ist durchaus zur Freundschaft und Liebe fähig, sobald man ihm nur richtig zur Entfaltung seiner verborgenen „tugendhaften Gesinnungen“ verhilft. In dieser Hinsicht ist die Spielhandlung ein Aufklärungsprozeß, den er dank der Nachsicht und Hilfe seiner Mitmenschen erfolgreich durchmacht. Allmählich gelangt er zur Erkenntnis, daß zu einem harmonischen Zusammenleben der Menschen gegenseitige Anerkennung, Toleranz und Duldung erforderlich sind. Allein die Umwandlung des Protagonisten zeigt deutlich, daß mit dem Freigeist die Konvention der ,Typenkomödie‘ überwunden ist. So wandte sich Lessing vornehmlich gegen das Vorurteil seiner Zeit, das die Vereinigung von Atheismus und Tugend, also die Tugendhaftigkeit der Freidenker für ausgeschlossen hielt und die rationalistischen Deisten als unverbesserliche Gottesleugner und Religionsspötter, sogar als gefährliche Sittenstrolche bekämpfte.21 21 Siehe zur Freigeistproblematik der Zeit in Deutschland und Europa: Wilfried Barner u.a., Lessing. Epoche-Werk-Wirkung, 5. Aufl., München 1987, S. 129. ' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 95 Lächerlich im Stück sind sowohl der grundlose Verdacht und die starre Voreingenommenheit Adrasts gegenüber den Geistlichen als auch das Vorurteil gegen die Freigeisterei; der Schwerpunkt der Kritik liegt aber auf dem letzteren. Dies wird in einem Dialog zwischen den Dienern augenfällig demonstriert: Martin. Jahann. Martin. Du mußt mich für sehr dumm ansehen. Dein Herr ein Atheist? das glaube sonst einer! Er sieht ja aus, wie ich und du. Er hat Hände und Füße; er hat das Maul in der Breite und die Nase in der Länge, wie ein Mensch; [...] und soll ein Atheist sein? Nun, sind denn die Atheisten keine Menschen? [...] Hör zu! – – Ein Atheist ist – – eine Brut der Hölle, die sich, wie der Teufel, tausendmal verstellen kann. Bald ists ein listiger Fuchs, bald ein wilder Bär; [...] Kurz, es ist ein Untier, das schon lebendig bei dem Satan in der Hölle brennt, – – eine Pest der Erde [...]. (II/5, 500) Hier werden das sukzessive Einkreisen eines Menschen zu einem fixierten Typus und somit das gängige Vorurteil gegen den Atheismus zum eigentlichen Gegenstand der Komik. Bei der Verdammung des Atheisten verrät Martin nicht nur seine eigene Einfältigkeit, sondern auch den engstirnigen Standpunkt der Kirche: Ein Atheist sei, so habe „ihn unser Pfarr abgemalt,“ „ein Wechselbalg, den die Hölle durch – – durch einen unzüchtigen Beischlaf mit der Weisheit dieser Welt erzeugt hat“. Auf diese Weise herrscht die komische Selbstentlarvung des Vorurteils in der ganzen Dienerszene. Johann und Martin setzen nämlich den Konflikt ihrer Herren auf der Ebene der derben Komik fort, die aus publikumswirksamen Gründen beibehalten wird. Sie stellen „die wahren Bilder ihrer Herren von der häßlichen Seite“ dar: „Aus Freigeisterei ist jener ein Spitzbube; und aus Frömmigkeit dieser ein Dummkopf“ (II/4, 499). Ebenso beschränkt wie dieser ist jener Popanz, der seinen Herrn nachahmt und sich stolz als Freigeist ausgibt: Er sei selber „ein starker Geist, wie es jetzt jeder ehrliche Kerl nach der Mode sein muß“ (II/5, 500) – das ist Selbstverherrlichung eines Maulhelden, die im weiteren Verlauf des Dialogs völlig ins Leere geht. 96 Yim, Han-Soon In der Dienerszene demonstriert Lessing, daß sich jeder Standpunkt, falls ins Extrem gesteigert, in unsinniges Vorurteil umkehrt. Ihm geht es nicht darum, zur Schilderung eines „Erziehungsprozesses“ die beiden Kontrahenten, Theophan und Adrast, etwa ins alte Tugend-Laster-Schema zu zwingen. Auch der großmütige Theophan ist stark voreingenommen gegen die Freidenkerei. Atheisten hält er für „Feinde der Tugend“ und „Bösewichter“. „Freidenker, starker Geist, Deist“ – das ist ihm einerlei, „ein Ungeheuer“ schlechthin und „die Schande der Menschheit“ (I/1, 476). Aus der Sicht Lisidors drehen sich die Auseinandersetzungen zwischen den beiden daher nur um die Frage, ob die Vernunft stark oder schwach sei, und: „Jener beweiset mit starken Gründen, daß die Vernunft schwach ist; und dieser mit schwachen Gründen, daß sie stark ist“ (V/4, 549). Offenbar will der Alte auffordern: ,Beweist mit starken Gründen, daß sowohl die Vernunft als auch die Religion stark sind!‘ Seines Erachtens ist dies erst möglich, wenn die beiden sich durch Versöhnung gegenseitig ergänzen. Jeder soll sich bessern und bereichern, indem er die nachgewiesenen Vorzüge des anderen anerkennt und davon profitiert. Wohl aus diesem Bedürfnis nach eigener Persönlichkeitsvollendung fühlt sich jeder zur Braut des anderen hingezogen, deren Veranlagung der Seinigen entgegengesetzt ist: Den Geistlichen fesselt immer mehr die Adrast zugedachte, ausgelassene Henriette, während sich dieser ausgerechnet als Atheist auf den ersten Blick für die „geborene Priesterfrau“ Juliane (I/3, 483) brennend interessiert. 22 Der Liebeskonflikt, der aus einem Mißverständnis des ansonsten weltklugen Kaufmanns entstanden ist, wird zum Ausgleich und zur gegenseitigen Anerkennung durch den allseits, auch von den Mädchen erwünschten Brautaustausch gelöst, den der biedere Lisidor 22 Die Liebesintrige der beiden über Kreuz verliebten Paare hat Lessing zwar von der französischen Vorlage Les caprices du coeur et de l’esprit von De Lisle übernommen, der weltanschauliche Gegensatz, den die beiden Freier im Geist der Aufklärung auszugleichen haben, ist aber sein eigenes Werk. Vgl. W. Barner u.a., ebd., S. 129 f. ' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 97 kopfschüttelnd segnet: Ich wollte jedem zu seinem Rocke egales Futter geben, aber ich sehe wohl, euer Geschmack ist bunt. Der Fromme sollte die Fromme, und der Lustige die Lustige haben: Nichts! der Fromme will die Lustige, und der Lustige die Fromme. (I, V/7, 554) Der Konflikt der über Kreuz verliebten Paare und dessen Lösung durch Brautaustausch 23 werden bereits in der Expositionsphase (I/3) angedeutet und bestimmen mit zunehmender Intensität den Spielverlauf. Die gegensätzlichen Positionen der Freidenkerei und Frömmigkeit schwächen sich ab, und die dogmatischen Streitigkeiten werden in den beiden letzten Akten durch die sich überkreuzenden Liebeshändel völlig ersetzt. Am Ende lösen sich alle Gegensätze und Widersprüche im Schoß der Familie auf, wie Martin Kramer treffend formuliert: „In diesem modellhaften Komödienschluß wird bereits die Familienproblematik angesprochen, die in späteren Dramen Lessings immer wieder thematisiert wird, sei es als Desintegration einer Familie in Miß Sara Sampson und Emilia Galotti, sei es als utopische Schlußapotheose in Nathan.“ 24 In diesem Zusammenhang verdient die Vaterfigur Lisidor, die in der bisherigen Forschung nicht gebührend beachtet worden ist, unsere besondere Aufmerksamkeit. In ihm ist der weise Kaufmann Nathan vorwegenommen, der Feinde versöhnt, Überwindung religiöser und politischer Trennungen herbeiführt und eine neue, natürliche und geistige Familie konstituiert. Dieselbe Vermittlerrolle spielt bereits Lisidor, freilich noch im Mikrokosmus eines kaufmännischen Bürgerhauses und gegenüber zwei sich einander bekämpfenden Kontrahenten kleineren Formats. Dabei verbindet Lessing den Toleranzgedanken mit der praktischen Idee der Vernunft, indem er eben dem pragmatischen Kaufmann Lisidor seinen eigenen Nützlichkeitsstandpunkt in den 23 In dem Motiv des Brautaustausches scheint übrigens die Grundidee des Romans Die Wahlverwandtschaften vorweggenommen zu sein. 24 Ebd., S. 134. 98 Yim, Han-Soon Mund legt: „[...] ich bereichere mich nicht von einem allein. Das nehme ich von dir, mein lieber Adrast; und das vom Theophan; und aus allen dem mache ich mir hernach ein Ganzes – –“. Adrasts schwarzweißmalerischen Widerspruch – „Sie verbinden Tag und Nacht, wenn Sie meine mit Theophans Gedanken verbinden“ – nimmt der Alte zu einem willkommenen Anlaß, implizit auf die Eule der griechischen Weisheitsgöttin zu verweisen: „[...] so wird eine angenehme Dämmerung daraus“ (I/3, 482). Ob Lessing hier auf den Abendflug der Eule der Minerva als Symbol der Weisheit verweist oder das Bild der schwarzen Kühe in Hegels Nacht der „Leere an Erkenntnis“ 25 vorwegnimmt, soll dahinstehen. Auf jeden Fall stellt Lisidor eine Vorstufe von mindestens zwei Weisheitsträgern des Autors dar: Minnas Oheim Bruchsal und Nathan dem Weisen, jenen Vaterfiguren also, die die zentralen Themen des späten Lessing und die Haupttugend der deutschen Aufklärung, Toleranz und Duldung, verkörpern. Die Verbindungslinie von Lisidor zu Bruchsal zeigt sich unter anderem darin, daß sie beide bei der Beurteilung der Menschen den praktischen Tugendbegriff der „Ehrlichkeit“ zum hauptsächlichen Maßstab nehmen. Wie jener den der „Ehre“ verlustig gewordenen und verarmten Major Tellheim allein wegen seiner „Ehrlichkeit“ in seine Familie aufnimmt,26 will auch dieser die heterogen gesinnten Männer beide bei sich behalten, weil er überzeugt ist, daß sie ehrlich sind und „daß alle ehrliche Leute einerlei glauben“ (I/3, 482). So steht in der Anti-Typenkomödie Freigeist die Vaterfigur selber als Antityp im Mittelpunkt der Figurenkonstellation und bildet den Knotenpunkt der dramatischen Handlungen. Gemeinsam mit den zwei verliebten Paaren, die ebenso wie er nach dem Vorbild wirklicher Menschen als „gemischte Charaktere“ geformt 25 Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 1986, S. 22: „Dies eine Wissen, daß im Absoluten alles gleich ist, der unterscheidenden und erfüllten oder Erfüllung suchenden und fordernden Erkenntnis entgegenzusetzen oder sein Absolutes für die Nacht auszugeben, worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind, ist die Naivität der Leere der Erkenntnis.“ 26 Siehe u. S. 18. ' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 99 sind, bildet Lisidor gleichsam ein stabiles gleichseitiges Dreieck, das gemäß der Zahlensymbolik Vollendung und Vollkommenheit darstellt, und führt das Happyend für eine neue große Familie durch seinen vermittelnden Einsatz zur Realisation des Toleranzideals herbei. II.2 In Minna von Barnhelm läßt sich im Grunde dieselbe, auf der Idee der Toleranz beruhende Lustspielkonzeption konstatieren. Hier plädiert Lessing für neu zu stiftende Tugenden wie Ehrlichkeit, Freundschaft, Mitleid und Liebe, indem er sie dem tradierten patriarchalischen Ehrbegriff entgegensetzt. Dabei lassen sich die neuen Werte insofern unter das Wort Toleranz subsumieren, als sie gemeinsam auf der Gegenseitigkeit des zwischenmenschlichen Lebens beruhen. Kontrastierung und Umkehrung, die beide der Bloßstellung hinfällig gewordener alter Wertvorstellungen dienen, fungieren auch in diesem Lustspiel als herrschende Gestaltungsprinzipien auf allen Ebenen des dramatischen Sprachund Handlungsgefüges. Sie sind nicht nur in der sogenannten ,Spiegeltechnik‘ der Dialoggestaltung realisiert, die etwa in Minnas triumphierender Replik an den Major angesprochen wird: „Wollen Sie es wagen, Ihre eigene Rede in meinem Munde zu schelten?“ (V/9, 697), sondern sie erfassen auch den Titel, die Konfiguration, die räumliche Anordnung der Akte, die szenischen Fügungen und schließlich die Gesamtkomposition des Stückes. Die Komik in der Minna ergibt sich im wesentlichen aus dem Widerspruch von Schein und Realität. Im Siebenjährigen Krieg hat der Major Tellheim die Kontribution der sächsischen Landstände aus eigener Tasche vorgestreckt und dafür einen Wechsel von ihnen erhalten. Nach dem Ende des Krieges wird der Wechsel aber von den Kriegskassen nicht als Schuld der Stände an ihn im Ausgleich für die vorgeschossene Kontribution anerkannt, sondern als Bestechungsgeld dafür, daß er sich mit den Ständen auf die niedrigste Summe geeinigt hatte. Da Tellheim nun seine Ehre und 100 Yim, Han-Soon damit seine Reputation von diesem falschen Urteil abhängig macht, handelt er aus der Sicht Minnas nicht nach dem Wesen der Sache, sondern nach dem Schein, dem „Gespenst der Ehre“ (IV/6, 679). Zu diesem falschen Bewußtsein gehört nach ihrer Auffassung auch sein Stolz: „Denn auch seiner Geliebten sein Glück nicht wollen zu danken haben, ist Stolz, unverzeihlicher Stolz!“ (III/12, 662) Als Tellheim nicht einlenkt, nimmt auch Minna seine Haltung ein und stellt sich als angeblich Enterbte und Verstoßene hin. Sie trennt sich von Tellheim nur mit Worten und spielt ihm dabei den Verlobungsring wieder zu, den er aus Not hatte verpfänden lassen, den sie aber heimlich wieder zurückgekauft hat. Nun scheint der Ring die Verlobung zu lösen, in Wirklichkeit aber bekräftigt er das Heiratsversprechen Minnas. (Dazu kommt noch die dritte Täuschung, die freilich im Hintergrund bleibt und daher während der Spielhandlung kaum komisch wirkt: Der königliche Brief, der dem Major die völlige Rehabilitierung mitteilen soll, erreicht ihn einen Tag später als vorgesehen, weil der Bote den Adressaten nicht rechtzeitig ausfindig machen konnte.) In Minnas Ringintrige, die als ein Spiel im Spiel vorgeführt wird, ist die traditionelle, auf dem Widerspruch von Schein und Wirklichkeit basierende Kontrastkomik „zu einer im deutschen Lustspiel bisher nicht erreichten Grenze getrieben“.27 Tellheim ist eine Figur, die uns durch Großmut und Mitleidsfähigkeit rührt, die sich aber wegen ihrer Blindheit und Verstocktheit, vor allem wegen ihres starren übertriebenen Ehrgefühls lächerlich macht. So macht Minna auf das Lächerliche des tragisch anmutenden Selbstporträts Tellheims aufmerksam: „Ist das keine Übertreibung? Und ist es meine Einrichtung, daß alle Übertreibungen des Lächerlichen so fähig sind?“ (IV/6, 677) An der gleichen Stelle vertritt Minna offenbar die in der HD dargelegte erkenntnisfördernde Funktion des Lachens, wenn sie meint: Lieber Major, das Lachen erhält uns vernünftiger als der Verdruß. Der Beweis liegt vor uns. Ihre lachende Freundin beurteilt Ihre Umstände weit richtiger als Sie selbst. (IV/6, 676 f.) 27 E. Catholy: Das deutsche Lustspiel, a.a.O., S. 72. ' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 101 Neu ist in dieser Auffassung des Komischen, daß die tradierte Komik des Verlachens überwunden ist. Das ,anti-typische‘ Gestaltungsprinzip gilt auch für die Nebenfiguren wie Just, Franziska und Werner. Treue und Ehrlichkeit zwischen Herrn und Diener, Freundschaft zwischen Major und Wachtmeister, Gleichheit in der Liebe zwischen Mann und Frau – das sind die Tugenden, die Tellheim sukzessiv erlebt und am Ende jeweils auf der Basis der Gegenseitigkeit annimmt und gibt. Auf diese Weise gelang es Lessing, die Kluft zwischen den Ständen ästhetisch zu überwinden und damit Humanität in Form von Toleranz und gegenseitiger Anerkennung auch im Lustspiel zum Ausdruck zu bringen. Bei der Darstellung und Konfiguration der personae dramatis vermied er es, wie in den französischen oder den „sächsischen“ Typenkomödien üblich positive und negative, verlachenswerte und vorbildliche Figuren einander gegenüberzustellen, und begründete damit in der Gattung Komödie das Prinzip der identifizierenden Illusion, das in erster Linie in seiner Theorie und Praxis des bürgerlichen Trauerspiels eine entscheidende Funktion erhielt. Ein weiterer Durchbruch bei Lessing besteht darin, daß in der gestörten Beziehung Tellheims zum Wechsel ein gestörtes Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft zutage tritt. In dem von Goethe als „die erste aus dem bedeutenden Leben gegriffene Theaterproduktion von spezifisch temporärem Gehalt“ gepriesenen Lustspiel werden die Wertvorstellungen der Männerwelt lächerlich gemacht. Über die Aktualität des politisch brisanten Stoffes informiere man sich am besten weiterhin bei Goethe: Die gehässige Spannung, in welcher Preußen und Sachsen sich während dieses Krieges gegeneinander befanden, konnte durch die Beendigung desselben nicht aufgehoben werden. [...] Dieses aber sollte gedachtes Schauspiel im Bilde bewirken. Die Anmut und Liebenswürdigkeit der Sächsinnen überwindet den 102 Yim, Han-Soon Wert, die Würde, den Starrsinn der Preußen.28 Die Kränkung der Ehre und Würde Tellheims wird aber weder durch ein individuelles Laster verursacht noch trifft sie ihn allein, sondern sie stellt ein epochales Problem der behandelten Zeit dar. Ausgerechnet einer der besten Offiziere im Heer des Königs gerät schuldlos in Verdacht, verliert sein Vermögen, seine Ehre und Gesundheit. Gemäß der Zahlensymbolik von drei ist sein Verlust und somit sein Unglück vollkommen. Mit der Enthüllung der Vorgeschichte stellt sich dann heraus, daß die Ehre für ihn weder „Stolz“ noch „Gespenst“ ist, sondern ein objektiv verbindlicher Verhaltenskodex, der seine gesellschaftliche Existenz bedingt. So ist Minna eine „ernste Komödie“, die „als die Folge einer als Ganzes ernsthaft, nämlich offenkundig problematisch werdenden Gesellschaft“29 entstanden ist. Lessing demonstriert, wie sich die bürgerlich gesinnten, selbstbewußt gewordenen Menschen des 18. Jahrhunderts aus den Fesseln der feudalabsolutistischen Gesellschaft befreien (sollten). Aus dieser Sicht ist das Lustspiel eine bewußt „vermiedene Tragödie“30 oder eher eine abgelehnte Tragödie. Daß die Triebkraft zur Überwindung der latenten Tragödie aus Mitleid und Toleranz kommt, zeigt sich am deutlichsten in der Szene, wo Tellheim angesichts des vorgetäuschten Unglücks seiner Geliebten sich von seinem starren Ehrbegirff umlenken läßt (V/5), und auch am Schluß des Stückes, wo die Idee der Toleranz dem sächsischen Grafen Bruchsal in den Mund gelegt wird: Ich bin sonst den Offizieren von dieser Farbe, (auf Tellheims Uniform 28 Johann Wolfgang Goethe: Werke, Hamburger Ausgabe (HA), Bd. 9, S. 281 (Dichtung und Wahrheit, 7. Buch). 29 Helmut Arntzen: Die ernste Komödie, in Wesen und Formen des Komischen im Drama, hg. v. Reinhold Grimm und Klaus L. Berghahn, Darmstadt 1975, S. 419-440, hier S. 438. 30 Heinz Schlaffer: Tragödie und Komödie. Ehre und Geld. Lessings Minna von Barnhelm, in: H. S., Bürger als Held. 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1981, S. 95. ' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 103 weisend) eben nicht gut. Doch Sie sind ein ehrlicher Mann, Tellheim, und ein ehrlicher Mann mag stecken, in welchem Kleide er will, man muß ihn lieben. (V/13, 702) Diese weisen Worte eines alten Familienvaters, die im Geist der Aufklärung für die Überwindung der durch Machtpolitik geschaffenen nationalen Antagonismen plädieren, scheinen die viel zitierte Unterscheidung Goethes zwischen Toleranz und Anerkennung vorwegzunehmen: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen. Die wahre Liberalität ist Anerkennung.“ 31 Die Haltung des Barons ist eher die der gegenseitigen Anerkennung als die der eingleisigen Duldung. In diesem progressiven Sinn der Toleranz erinnert die Lebensweisheit Bruchsals an den oben dargelegten Standpunkt des alten Kaufmanns Lisidor und ferner an das „Schauspiel“ Nathan (1779) sowie den philosophischen Dialog Ernst und Falk (1778-80). In Ernst und Falk läßt Lessing zum Beispiel den Freimaurer Falk implizit der katholischen Orthodoxie wie der Popularaufklärung widersprechen, die beide nur „sichere“ Wahrheiten anerkennen wollten. Im Gegensatz zu einem absoluten Wahrheitsbegriff der Religion wie der Philosophie ist nach Lessing Wahrheit „überall gegenwärtig: auch noch in dem primitiven Glauben, auch noch im offensichtlichen Irrtum ist etwas enthalten, das mittelbar oder unmittelbar der Erkenntnis nützlich sein kann.“32 Aus seiner Auseinandersetzung mit der Freimaurerei ist eine Bemerkung überliefert, die in diesem Kontext steht und zum Verständnis seiner Lustspieltheorie aufschlußreich ist. Jacobi berichtet: „Ob er gleich in Staatsverfassungen kein Arg hatte, [...] so waren doch seine Grundbegriffe gesund und tief, denn er sah überhaupt das Lächerliche und Unseligmachende aller moralischen Maschinerieen auf das lebhafteste ein.“ 33 Dem Lustspielautor 31 Goethe, HA 12, 385. Maximen und Reflexionen, Nr. 151 f. 32 Harald Schultze: Lessings Toleranzbegriff, Göttingen 1969, S. 82. 33 Friedrich Heinrich Jacobi in einem Brief an Elise Reimarus, zit. nach Richard Daunicht (Hg.): Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen, München 1971, S. 519. 104 Yim, Han-Soon Lessing ging es darum, die Verabsolutierung jeglicher Wahrheit lächerlich zu machen, „das Lächerliche“ in allen als gesichert geltenden Wahrheiten sichtbar zu machen. Aus dieser Perspektive fühlt man sich versucht, wie Böhler die Komödienauffassung Lessings mit Bachtins Begriff der Lachkultur und/oder sogar mit der von Umberto Eco geschilderten postmodernen Lachtheorie in Verbindung zu bringen. Am Ende seines Romans Der Name der Rose läßt Eco die Angst des blinden Mörders Jorge vor dem fiktiven zweiten Teil der aristotelischen Poetik, in dem das Lachen und die Komödie wissenschaftlich ergründet sein sollen, folgendermaßen auslegen: „Jorge fürchtete jenes zweite Buch des Aristoteles, weil es vielleicht wirklich lehrte, das Antlitz jeder Wahrheit zu entstellen, damit wir nicht zu Sklaven unserer Einbildungen werden. Vielleicht gibt es am Ende nur eins zu tun, wenn man die Menschen liebt: sie über die Wahrheit zum Lachen bringen, die Wahrheit zum Lachen bringen, denn die einzige Wahrheit heißt: lernen, sich von der krankhaften Leidenschaft für die Wahrheit zu befreien.“ Lachend zu bekämpfen sind also die „Wahrheitspropheten“, „die bereit sind, für die Wahrheit zu sterben: Gewöhnlich lassen sie viele andere mit sich sterben, oft bereits vor sich, manchmal für sich.“34 Hier scheint sich Eco auf Adornos Dialektik der Aufklärung bzw. Negative Dialektik zu stützen. Lessing kennt aber keine totale Verneinung solcher Art. Von der einseitig negativen Bestimmung des Lachens unterscheidet sich seine Auffassung darin, daß sie vom Toleranzgedanken durchdrungen ist und diese sowohl Lachenden als auch Belachten gelten soll. Die zwei entgegengesetzten Positionen, seien es der Geistliche und der Atheist im Freigeist oder Liebe des Individuums und Ehre als gesellschaftliche Konvention in der Minna, sind insofern beide lächerlich, 35 als sie sich 34 Umberto Eco: Der Name der Rose, München 1982, S. 643. 35 Daß das Stück Minna keinen einseitigen Sieg der Liebe Minnas über die Ehre Tellheims beabsichtigt, hat Ingrid Strohschneider-Kohrs nachgewiesen in ihrem Aufsatz: Die überwundene Komödiantin in Lessings Lustsiel, in: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung II (1975), S. ' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 105 verabsolutieren, d.h. sich einbilden, daß sie sich unversöhnlich gegenüberstünden. Lächerlich sind für Lisidor daher die „Einbildungen“, „daß ihr [Adrast und Theophan] so sehr von einander unterschieden wäret“ (I/3, 482). Es ist nur folgerichtig, daß im Komödienschluß bei Lessing nicht Ausscheidung oder „Integration durch Dissoziation“ der belachten Figur gezeigt, sondern allgemeine Versöhnung durch gegenseitige Anerkennung gefeiert wird. Zeittypisch ist dabei, daß aus dieser Versöhnung ein Freundschafts- und Liebesbund entsteht, der später in Nathan gleichsam zu einem globalen Familienbund erweitert werden sollte. III In der Toleranzidee, die bei Lessing in einem intim-familiären Kreis vorgeführt wird, spiegelt sich jene „Sphäre der bürgerlich-familiären Privatheit“ wider, deren emanzipatorischen Moment Habermas in seiner Analyse des Strukturwandels der bürgerlichen Gesellschaft hervorgehoben hat: Sie war „nicht bloße Ideologie“ 36 , vielmehr schuf sie erst die Möglichkeit für die Ausbildung individueller Lebenshaltungen und entwickelte kraft ihrer Abschirmung gegen politischen wie konfessionellen Druck die Idee der Humanität. Das Theater der Aufklärung gehört wie ihre geistige Bewegung überhaupt zur Sphäre kritischer Öffentlichkeit, die das Bürgertum des 18. Jahrhunderts sich erst zu schaffen hatte. Die Bedingungen des absolutistischen Systems verhinderten aber die Realisation seiner Ideale, so daß die bürgerlichen Intellektuellen schon bald ihre Ohnmacht erfuhren. Unter den Lustspielautoren war es insbesondere der junge Goethe, der angesichts dieser Entwicklung auch die Grenze und 182-199 nachgewiesen. 36 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, 4. Aufl., Neuwied und Berlin 1969, S. 58. Näheres hierzu vgl. Jürgen Jacobs: Prosa der Aufklärung, Kommentar zu einer Epoche, München: Winkler 1976, S. 14-24, vor allem S. 23. 106 Yim, Han-Soon Ohnmacht der Aufklärungskomödie spürte. Zunächst wandte er sich wie Lessing gegen die Verlachkomödie. In seinem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre kritisiert Wilhelm die gängige Praxis des Lustspieltheaters mit dem Argument: „Jetzt stellen wir nur die lächerliche Seite der Menschen dar; der Lustspieldichter ist gleichsam nur ein hämischer Kontrolleur, der auf die Fehler seiner Mitbürger ein wachsames Auge hat und froh zu sein scheint, wenn er ihnen eins anhängen kann“ (HA 7, 95). Hier ärgert sich Wilhelm offenbar über das Gottschedsche Verständnis der Komödie, und dahinter steckt gewiß Goethes eigenes Urteil. Nicht nur von Gottsched, auch von Lessing distanzierte sich Goethe, auch wenn er dessen Werke wie Emilia Galotti und Minna hochschätzte. Um die Entwicklung des Lustspiels von Lessing zu Goethe im Rahmen der Komik-Diskussion näher zu verstehen, ist es angebracht, die von Hans Robert Jauß vorgenommene Unterscheidung zwischen Komik der Herabsetzung und Komik der Heraufsetzung mit in Betracht zu ziehen. Jauß stellte am Komischen zwei grundverschiedene Aspekte fest, „je nachdem ob das Komische der Herabsetzung eines heroischen Ideals in eine Gegenbildlichkeit oder ob es der Heraufsetzung des materiell Leiblichen der menschlichen Natur entspringt“.37 Die Komik der Herabsetzung stellt einen Helden oder eine Norm in Frage, wobei das komische Objekt nicht an sich selbst lächerlich ist, sondern gemessen an bestimmten Erwartungen und Normen. Die Funktion dieser Komik besteht darin, daß menschliche Eigenschaften bzw. gesellschaftliche Normen zur Debatte gestellt, in Zweifel gezogen oder verspottet werden. Diese Komik betrifft vornehmlich die Charakterkomik Gottscheds, aber im Grunde auch die Situationskomik Lessings. Denn die Herabsetzung kann nicht nur in destruktiver, sondern auch in affirmativer Hinsicht geschehen, wobei sie einschließt, daß sich der Betrachter dem komischen Helden gegenüber überlegen fühlt. Wenn wir mit Lessing über Tellheims Blindheit und Starrsinn lachen, ohne ihn zu verlachen, 37 H. R. Jauß: Über den Grund des Vergnügens am komischen Helden, in: W. Preisendanz / R. Warning (Hgg.), Das Komische, München 1976, S. 104. ' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 107 so befinden wir uns doch in einem nüchternen, ihm an Überblick und Auskünften überlegenen Zustand. Für den zweiten, grundlegend anderen Aspekt der Komik nimmt Jauß als Prototypen jene Lachgestalten, die bereits Bachtin für sein Konzept des Karnevalistischen im Roman bei Rabelais u.a. herangezogen hat. Die Komik der Heraufsetzung kommt beim Freisetzen und Bejahen unterdrückter Kreatürlichkeit zum Ausdruck. Im Unterschied zur Lessingschen Komik der Kontrastivität, Inkongruenz oder Überlegenheit kennt diese Komik das intellektuelle Moment des Vergleichens und Abgrenzens nicht. So läßt sie, wie Bernhard Greiner treffend formuliert, „den Abstand zwischen Rezipienten und Helden in einem lachenden Einvernehmen verschwinden, sei dies ein Einvernehmen über die Befreiung des Sinnlichen, über das Sich-Durchsetzen des Lustprinzips oder des Triumphes über die Gewalt der normativen Welt.“38 Die kulturhistorische Dimension des heraufsetzenden Lachens hat bekanntlich Michail Bachtin dargelegt, indem er die „Lachkultur“ des Mittelalters und deren Aufnahme in der neuzeitlichen Literatur untersuchte. Er beschreibt die antiautoritäre Wirkung des Lachens wie folgt: In der Klassenkultur ist der Ernst offiziell und autoritär, er ist mit Gewalt, Verbot und Einschränkung verquickt. Ein solcher Ernst trägt immer ein Element der Furcht und der Einschüchterung in sich. In der mittelalterlichen Ernsthaftigkeit dominierte dieses Element sehr stark. Das Lachen setzte im Gegenteil die Überwindung der Furcht voraus. Das Lachen verfügt keine Verbote und Einschränkungen. Macht, Gewalt, Autorität sprechen niemals die Sprache des Lachens. 39 Das Lachen dieser Art ist frei und offen, es zeichnet sich durch eine universelle „Familiarität“ aus: „Der Mensch empfindet die Unaufhörlichkeit des Lebens auf dem öffentlichen Festplatz, in der 38 Bernhard Greiner: Die Komödie, Tübingen 1992, S. 98. 39 Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. (Übers. von Alexander Kaempfe) Frankfurt a. M. 1990 (zuerst München / Wien 1969), S. 35. 108 Yim, Han-Soon Karnevalsmenge, in dem er sich mit fremden Leibern jeden Alters und jeder sozialen Stellung berührt. Er fühlt sich als Glied des ewig wachsenden und sich erneuernden Volkes“.40 Aus Familiarität entsteht Solidarität, die wohl einzige wirksame Waffe des Volkes gegen die Unterdrückung. Dabei ist das Lachen als Mittel und Folge aufzufassen, da es zur Überwindung der Furcht Solidarität zugleich voraussetzt und bewirkt. Im Lachen vereinen sich Belachte und Lachende gegen den Ernst der Macht und Autorität. Es ist offenkundig, daß das Lachen ebenfalls Toleranz und Anerkennung als Voraussetzung braucht und herbeiführen kann. Wenn wir zum Beispiel mit Minna über Tellheim lachen, „ohne ihn im geringsten zu verlachen“, so richtet sich unser Lachen zunächst gegen seinen Ehrbegriff, der uns überzogen vorkommt. Wir freuen uns aber über sein wiederholtes Umlenken und, nach der Entdeckung der Vorgeschichte, insbesondere über seine Entscheidung, mit Minna im privaten Glück auch ohne Ehre und Fürstendienst leben zu wollen. Unausgesprochen entsteht zwischen ihm und uns Übereinstimmung darüber, daß sein Abschied von der höfischen Welt des Absolutismus fällig geworden ist. Gefühlsmäßig solidarisieren wir uns mit ihm, weil das Komische an ihm, in Anbetracht des ihm angetanen Unrechts bzw. des Übergewichts der Ehre als Verhaltenskodex, durchaus verständlich und tolerierbar ist. ,Komik der Heraufsetzung‘ läßt sich also in begrenztem Maße auch auf Tellheim übertragen. Satirische Züge, die, oft in Verbindung mit der Rolle der komischen Person des Harlekin, dieser Komik eigentümlich sind, werden in seinen Lustspielen jedoch nie beherrschend, kommen in Minna nur bescheiden zum Vorschein und gelangen uns nur unterschwellig ins Bewußtsein. Sie verschwinden am Ende von selbst, da der Abgrund der trübseligen Wirklichkeit im Interesse der Komödie gleichsam „mit dem Teppichgewebe des Scheins überspannt“41 40 Ebd., S. 36 f. 41 Peter Michelsen: Die Verbergung der Kunst. Über die Exposition in Lessings Minna von Barnhelm, in: Jb. d. deutschen Schillergesellschaft 17 (1973), S. 192-252, hier S. 251. ' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 109 wird. IV In der Folgezeit Lessings war es kein Geringerer als Goethe, der, von der karnevalistischen Lachkultur sowie von der Commedia dell’arte gefesselt, stets über deren Neubelebung in Deutschland grübelte und zeitweilig intensiv daran arbeitete.42 Am römischen Karneval hebt er immer wieder hervor, daß das Volk sich im Fest als Spieler und Zuschauer zugleich gibt. „Das Römische Karneval ist,“ so schreibt er, „ein Fest, das dem Volke eigentlich nicht gegeben wird, sondern das sich das Volk selbst gibt“ (HA 11, 484). Zur vereinenden Funktion des Karnevals heißt es an der gleichen Stelle: Der Unterschied zwischen Hohen und Niedern scheint einen Augenblick aufgehoben: alles nähert sich einander, jeder nimmt, was ihm begegnet, leicht auf, und die wechselseitige Frechheit und Freiheit wird durch eine allgemeine gute Laune im Gleichgewicht erhalten. (HA 11, 485) Ungeachtet dieser und anderer bedeutender Zeugnisse über Goethes Interesse am Komischen hat man in bezug auf die deutsche Klassik vom Mangel an der Komödie sowie am komischen Theater gesprochen. Denn ihr fehlen einfach Stücke, die sich auf der Bühne hätten behaupten können und in der Theatergeschichte lebendig geblieben wären. Schiller hat eine Theorie der Komödie entworfen, die aber kaum in die dichterische Praxis umgesetzt wurde. Beim jungen Goethe jedoch hat die jüngste Forschung seit den sechziger Jahren einige bedeutende Ansätze des Lustspiels neu herausgearbeitet, so daß ihm niemand mehr die Fähigkeit zum Komischen abzusprechen wagen dürfte. Seine dramatischen Anfänge in der Vorweimarer Zeit bewegten sich in der Tat vornehmlich in den Gattungen des Komischen. Er verfaßte eine ansehnliche Zahl 42 Vgl. seine Italienische Reise, vor allem den Bericht Das römische Karneval aus seinem zweiten Aufenthalt in Rom. 110 Yim, Han-Soon von Stücken für das komische Theater, wobei er bezeichnenderweise zunächst nicht an den bürgerlich-aufklärerischen, ,realistischen‘ Stil des sächsischen bzw. rührenden Lustspiels anknüpfte, sondern auf die älteren und alten Grundformen des komischen Spiels zurückgriff wie die Commedia dell'arte (á la Goldoni oder Molière) und das mittelalterliche Fastnachtsspiel. Diese Formen entsprachen der Unabhängigkeit seiner Lebensstimmung in der Zeit des Sturm und Drang. Von seiner ursprünglichen, schon vor seiner ersten Italienreise (1786) sich bekundenden Nähe zur dionysisch-karnevalistischen Tradition der Komödie zeugt eine Reihe von Farcen, Satiren und Hanswurstiaden. Es waren vier Typen des komischen Theaters, in denen er dramatisch produzierte: das Schäferspiel, das Lustspiel im engeren Sinne, die Farce und das Singspiel. Von den frühen Versuchen dieser Richtung, die eine Welt des unbeschwerten Spiels, der moralischen Indifferenz und des fröhlich betriebenen Unsinns feierten, gehören das Schäferspiel Die Laune des Verliebten (1768) und das Lustspiel Die Mitschuldigen (1769) zu den gelungensten. IV.1 Beide Stücke gelten als die besten sowohl unter den Lustspielversuchen Goethes als auch in der deutschen Rezeptionsgeschichte des jeweils angewandten Genres, der in die Antike zurückreichenden Schäferdichtung sowie der Farce italienisch-französischer Provenienz. Die Laune ist „der Gipfel des ganzen deutschen Schäferspiels“ 43 genannt worden und Die Mitschuldigen „das komische Meisterwerk der Frühzeit“, „das in der Geschichte der deutschen Alexandrinerkomödie des 18. Jahrhunderts den ehrenvollsten Platz behauptet“. 44 Zu beiden Erstlingen hat der Dichter selber eine besondere Neigung gezeigt. 43 Wolfgang Kayser, Anmerkungen zu HA 4, 468. 44 Emil Staiger, Goethe, Bd. 1, 4. Aufl., Zürich und Freiburg 1964, S. 49. ' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 111 Als er 1770 nach Straßburg aufbrach, rettete er sie ausnahmsweise vom (zweiten) Autodafé, zu dem er die meisten seiner Arbeiten verdammte; vor allem ist das letztere Stück, das in drei Fassungen existiert, für ihn sein ganzes Leben hindurch „ein Lieblings- und Schmerzenskind“45 geblieben. In dem Einakter Die Laune werden zwei Paare bei der Vorbereitung eines Tanzfestes gezeigt. Von übersteigerter Eifersucht geplagt, stört Eridon die schäferliche Glückswelt: Er wittert bei seiner Geliebten Amine Treulosigkeit, auch nur wenn sie andern als begehrenswert erscheint und an unschuldiger Geselligkeit wie am Tanz Vergnügen findet. Das andere Paar, Egle und Lamon, versuchen ihn, gemeinsam mit Amine, von seiner Eifersucht zu heilen. Das Ziel wird dadurch erreicht, daß Egle, die kluge, liebeskundige Freundin und Intrigantin, den Eifersüchtigen zu einem leidenschaftlichen Kuß verführt und ihn damit einer vermeintlichen Untreue überführt. Da bleibt ihm nichts anderes als sein Fehlverhalten einzusehen und zu begreifen, wie wenig gerade er dazu berechtigt war, sein Mädchen mit eifersüchtigen Vorwürfen zu schikanieren. Das Schlußwort erteilt Egle nun dem Publikum: Ihr Eifersüchtigen! die ihr ein Mädchen plagt, Denkt euren Streichen nach, dann habt das Herz, und klagt. (HA 4, 27) Die Lehrmethode der Umkehrung könnte von Lessing übernommen worden sein. Gerade hier wird auch ein Bezugspunkt zur Toleranzidee in Goethes Lustspielkonzeption sichtbar. Seinem späteren Bekenntnis in Dichtung und Wahrheit zufolge ist das Schäferspiel als „quälende und belehrende Buße“ (HA 9, 285) für sein betrübliches Verhältnis zu Käthchen Schönkopf zu verstehen. Aus Schmerz und Reue entstand ein dramatisches Werk, in dem der ernsthafte „Drang einer siedenden Leidenschaft“ eines 45 Fritz Martini: Goethes Die Mitschuldigen oder die Problematisierung des Lustspiels, in: Hans Steffen (Hg.), Das deutsche Lustspiel, Bd. 1, Göttingen 1968, S. 68-93, hier S. 71. 112 Yim, Han-Soon jungen Manns ins Feld distanzierender Komik gerückt wird. Das Stück macht auf den ersten Blick den Anschein eines harmlosen, verspielten Rokoko-Spielwerks und scheint insofern noch stark durch die Gottschedsche Typenkomödie bedingt zu sein, als es auch hier um die Bloßstellung einer Charakterschwäche, der Eifersucht, geht. Hinter dem poetisch abstrahierten Liebeskonflikt und der ebenso artistisch herbeigeführten Konfliktlösung verbirgt sich jedoch eine bestimmte Komödienintention, die das Stück als eine „ernste Komödie“ auffassen läßt. Das Schäferspiel führt nämlich die Möglichkeit einer Emanzipation der Erotik vor, was konservativen Kräften noch heute nicht geheuer sein dürfte. „Für die lutherische und pietistische Ethik“ stellt die Rechtfertigung einer sinnlich-erotischen Geselligkeit „einen Affront“ 46 dar. So bezeichnet Conrady das Stück als „den Entwurf eines geselligen Zusammenlebens, in dem die Ansprüche der Liebe zweier Menschen mit den Bedürfnissen einer Gesellschaft, die die Freiheit zu spielerischer Erotik bewahrt wissen will, zum Ausgleich gebracht sind“.47 Der Ausgleich setzt voraus, daß die Freiheit zu spielerischer Erotik geduldet und anerkannt wird. Gegen die Eifersucht ihres Geliebten wendet sich Amine eben mit der Forderung zur Nachsicht: „Heißt uns die Liebe denn die Menschlichkeit verlassen? / Ein Herz, das Einen liebt, kann keinen Menschen hassen“ (HA 4, 19). Es ist ersichtlich, daß Duldung und Toleranz zum wesentlichen Gehalt des Werkes gehören. Rückblickend bestätigt Goethe diese Thematik, wenn er schreibt: Sie [Die Laune des Verliebten und Die Mitschuldigen] deuten auf eine vorsichtige Duldung bei moralischer Zurechnung, und sprechen in etwas herben und derben Zügen jenes höchst christliche Wort spielend aus: Wer sich ohne Sünde fühlt, der hebe den ersten Stein auf. (HA 9, 286. Dichtung und Wahrheit, II 7) 46 Gerhard Sauder, Kommentar zu J. W. Goethe, SW, Münchner Ausgabe (MA), Bd. I.1, S. 907. 47 Karl Otto Conrady: Goethe. Leben und Werk, München und Zürich 1994, S. 70. ' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 113 Mit seinem Plädoyer für Duldung wendet sich Goethe gegen den als Liebe getarnten Egozentrismus. Andererseits ist der Kniefall Eridons vor seinem Mädchen ebenso wie der Mauersturz, den sich Goethe in bezug auf sein nächstes Lustspiel Die Mitschuldigen ausmalt, als ein satirisches Sinnbild für die bereits in Auflösung begriffene bürgerliche Ideologie zu deuten. In diesem Punkt zeigt sich ein bedeutsamer Unterschied zwischen den lustspielbezogenen Toleranzbegriffen Lessings und Goethes. Bei seiner Kritik am geläufigen vorurteilsverhafteten Denken geht jener stets vom moralischen Selbstbewußtsein des Bürgertums aus. Die Überzeugung von der moralischen Integrität der bürgerlichen Gesellschaft gerät nun beim jungen Goethe ins Wanken. IV.2 Über den sozialen Hintergrund der Mitschuldigen schreibt Goethe zunächst in den Tag- und Jahresheften, er habe „mancherlei Verbrechen innerhalb des übertünchten Zustandes des bürgerlichen Gesellschaft“ (HA 10, 429) wahrgenommen. Seinen Eindruck über die bürgerlichen Lebensverhältnisse schildert er später in einem Bild des Mauersturzes genauer: [Ich hatte] in die seltsamen Irrgänge geblickt, mit welchen die bürgerliche Sozietät unterminiert ist. Religion, Sitte, Gesetz, Stand, Verhältnisse, Gewohnheit, alles beherrscht nur die Oberfläche des städtischen Daseins. [...] und ein glattes Äußere übertüncht, als ein schwacher Bewurf, manches morsche Gemäuer, das über Nacht zusammenstürzt, und eine desto schrecklichere Wirkung hervorbringt, als es mitten in den friedlichsten Zustand hereinbricht. (HA 9, 285. Dichtung und Wahrheit, II 7) Satirische Züge dieser Art beherrschen ganz unumwunden das Lustspiel, das eigentlich als Farce verfaßt wurde. Die erste Fassung war einaktig, die zweite und die dritte sind zu einem Dreiakter erweitert worden. Die kleinbürgerliche Familie des Wirtshauses und die Liebesbeziehung zwischen dem Adligen Alcest und der Bürgerstochter Sophie werden so dargestellt, daß die 114 Yim, Han-Soon Fragwürdigkeit der gesellschaftlichen Zustände ans Licht kommt. Für den Grobian und Schmarotzer Söller, die unbefriedigte Ehefrau Sophie und den krankhaft neugierigen, vom Geschäftsinteresse korrumpierten Alten wird der reiche Gast Alcest zur Prüfung: Alle drei schleichen unter dem Schutz der Dunkelheit in sein Zimmer, der erste, um den Gast und ehemaligen Liebhaber seiner Frau zu bestehlen, die andere, um ein Rendezvous mit dem Geliebten zu halten, der dritte, um einen Brief des Gastes zu lesen. Jedem durchkreuzt ein anderer unbewußt die Erfüllung seiner bedenklichen bzw. verbrecherischen Absichten. Hat Söller das Geld gerade noch an sich gerissen, so ist der weitere Verlauf der Handlung auf die Entdeckung der dreifachen ,Diebstähle‘ abgestimmt. Die harte Satire der Familie gilt auch dem Liebenden Alcest, weil es ihm nur darum geht, seine frühere Geliebte wieder zu besitzen und sie je nach Bedarf zu verehren oder sexuell zu genießen. Söller stammt aus der italienisch-französischen bzw. deutschen Tradition von Harlekin, Buffo und Hanswurst. Er ist in jeder Hinsicht der Protagonist der Komik: Er inszeniert komische Situationen und kann sogleich selbst Objekt des Lachens und Verlachens werden. Außerdem verkörpert er die moralische Freiheit, die in der Farce und dem Lustspiel herrschen darf; das Stück spielt ja in der Karnevalszeit. Die ,moralische Indifferenz‘, die der Farce eigentümlich ist und die Schiller und Goethe der Gattung Komödie allgemein zugeschrieben hat,48 gipfelt in der Schlußszene, wo alles beim Alten bleibt und der unbestrafte Dieb beruhigt das letzte Wort ausspricht: „Nein das wär zuviel, ein Hahnrei und gehangen“ (HA 4, 72). Seine Anklage gegen Alcest ist freilich bei aller Zwielichtigkeit plausibel und berechtigt: Allein, ihr großen Herrn, ihr habt wohl immer recht? 48 Vgl. Friedrich Schiller: SW, 5. Bde., 5. Aufl., München 1975, Bd. 5, 845: „[...] jene geistreiche Heiterkeit und Freiheit des Gemüts, welche in uns hervorzubringen das schöne Ziel der Komödie ist, läßt sich nur durch eine absolute moralische Gleichgültigkeit erreichen“. ' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 115 Ihr wollt mit unserm Gut nur nach Belieben schalten; Ihr haltet kein Gesetz, und andre sollens halten? Das ist sehr einerlei: Gelust nach Fleisch, nach Gold. [...] Ich stahl dem Herrn sein Geld, und er mir meine Frau. (HA 4, 70) Wenig zuvor widersetzte sich Söller dem Buhler ebenfalls mit Andeutungen auf den versuchten Ehebruch und somit auf die Willkür des Adelsstandes: „[...] die Herren Ihresgleichen, / Die schneiden meist für sich das ganze Kornfeld um, / Und lassen dann dem Mann das Spicilegium“ (HA 4, 68). Hier wird am deutlichsten, daß das Stück als Satire konzipiert ist. Goethe war freilich weit entfernt und hat sich immer weiter davon entfernt, die Gegensätze von Adel und Bürgertum, Stadt und Land zugunsten des letzteren als wesentliche Wertkontraste herauszustellen. Gerade gegen solche Ideologie der Spätaufklärung wird in den Mitschuldigen „die schlechte Gemeinsamkeit“ des Adelsstandes und des Bürgertums betont: „Beide leben vom ›Stehlen‹“, 49 wie Arntzen lakonisch feststellt. Das Schlußwort, „Diesmal blieben [bleiben] wir wohl alle unbehangen“ (FA I.5, 368), sagt Söller in der 1787 erschienenen dritten Fassung direkt „zum Parterre“. Das Publikum sollte „nicht mehr einen verlachen, sondern im Lachen über alle sich selbst erkennen“.50 Aus dieser Sicht betrachtet, erinnert das Stück zum Beispiel an Die Dreigroschenoper Brechts und beinhaltet so ein noch heute aktuelles Moment. In der bisherigen Forschung herrscht dennoch die Ansicht, es fehle dem Stück gerade wegen der am Schluß zutage tretenden moralischen Gleichgültigkeit an satirisch-provokativer Tendenz. Weiterhin wird behauptet, daß die in der zweiten Fassung vorgenommene und in der dritten noch weiter geführte Mischung zweier Typen der Komödientradition – der Farce (Commedia dell'arte) und des bürgerlichen, rührenden Lustspiels – die Wirkungskraft des Stückes erheblich geschwächt und es somit 49 Helmut Arntzen: Die ernste Komödie. Das deutsche Lustspiel von Lessing bis Kleist, München 1968, S. 59. 50 Ebd. 116 Yim, Han-Soon unvollkommener gemacht habe.51 Dagegen gehen wir davon aus, daß die hauptsächliche Intention des Lustspiels nach wie vor provokative Satire ist und daß es dieses Ziel im wesentlichen weiterhin zu erreichen vermag. Die beanstandete moralische Indifferenz wäre doch als Widerspiegelung der Doppelmoral, als Selbstportrait der eben ,moralisch indifferenten‘ Gesellschaft zu verstehen. In diesem Zusammenhang verteidigte Goethe sogar den Diebstahl Söllers als einen berechtigten Vergeltungsakt: „Der Buffo [Söller] entschuldigt sein Verbrechen durch das Recht des Wiedervergeltens und somit wäre nichts daran auszusetzen.“52 Die Ursache des Mißerfolgs, den das Stück in der deutschen Theatergeschichte hatte, sah Goethe zwar mit Recht darin, daß die dort skrupellos vorgeführten verbrecherischen Handlungen das ästhetische und moralische Gefühl der Zuschauer verletzten. Auch hier sah er aber eben die Widerprüchlichkeit des Publikums: [...] wenn man sich gleich tagtäglich Liebeswechsel erlaubt, so möchte man da droben was Besseres gewahr werden; besonders ist dies Art der Deutschen, worüber viel zu sagen wäre.53 Die ausgebliebene Resonanz läßt sich also eher „mit der historisch bedingten Unfähigkeit des zeitgenössischen Publikums [erklären], die Form des Werks als genaue Entsprechung seiner Thematik zu verstehen“, 54 d.h. das Stück als eine farcenhafte Satire bzw. satirische Farce zu begreifen und zu genießen. Die provokativ-satirische Absicht kommt nämlich auch in dem raffinierten Zusammenspiel von Form und Inhalt zum Ausdruck. Die Virtuosität und Glätte des Alexandriners, vor allem das viel 51 W. Kayser, HA 4, 479; Fritz Martini, ebd., 88; Wolfgang Preisendanz, Das Schäferspiel Die Laune des Verliebten und das Lustspiel Die Mitschuldigen, in: Goethes Dramen. Neue Interpretationen, hg. v. Walter Hinderer, Stuttgart 1980, S. 20. 52 Goethe an Franz von Elscholtz, 16. 11. 1825. Zit. nach FA I.5, 1152. 53 Ebd., S. 1153. 54 E. Catholy: Das deutsche Lustspiel, S. 85. ' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 117 kritisierte, gleichsam zur Verwischung aller offenen Fragen notgedrungen herbeigeführte Happyend, das ist nur Tünche und entspricht genau dem gesellschaftlichen Firnis, unter dem sich Diebstahl, Ehebruch und andere Laster verbergen. Wie verhält sich die geforderte Duldung bei moralischer Fragwürdigkeit zur Gesellschaftssatire, die als die hauptsächliche Intention des Lustspiels anzusehen ist? Die Nachsicht sollte offenbar allen vier Figuren des Stückes gelten. Einerseits hat sich Goethe bei der späteren Umarbeitung viel Mühe gegeben, das Bedenkliche der Liebesbeziehung abzuschwächen. Andererseits hat er auch Söllers gesetzwidrige Handlungen, sei es lustspieltheoretisch oder unter Berufung auf die Bibel, mehrfach rechtfertigt. Offenbar konnte er sich weder für das schlechte Alte (Alcest) noch für das falsche Neue (Söller) entscheiden. „Wer sich ohne Sünde fühlt, der hebe den ersten Stein auf!“ – mit diesem Bibelzitat bringt er seine eigene Unentschiedenheit mit zum Ausdruck. Wahrscheinlich war er aber in seinem Innern nicht ganz abgeneigt, bei der Konfrontation zwischen Söller und Alcest jenem mehr Recht zu geben. Unter den bedrückenden Erfahrungen über die bürgerliche Sozietät habe er, so bedauert er in Dichtung und Wahrheit im Hinblick auf seine ersten Stücke, „sehr günstige Motive“ versäumt, die seinen neu erwachten Widerspruchsgeist angesprochen hätten. In ihm habe sich „ein verwegener Humor“ entwickelt, „der sich dem Augenblick überlegen fühlt, nicht allein keine Gefahr scheut, sondern sie vielmehr mutwillig herbeilockt“. Weiter heißt es: Solche humoristische Kühnheiten, mit Geist und Sinn auf das Theater gebracht, sind von der größten Wirkung. [...] Beaumarchais hat ihren ganzen Wert gefaßt, und die Wirkungen seiner Figaros entspringen vorzüglich daher. (HA 9, 286 f.) Indem er die Figaros von Beaumarchais, dessen Werke erst später erschienen,55 unausgesprochen neben Söller stellt, scheint Goethe 55 Pierre Augustin Caron de Beaumarchais (1723-1799): Le Barbier de Séville (1772), Le Mariage de Fiagro (1781). 118 Yim, Han-Soon die Existenzberechtigung seiner Lustspielfigur bestätigen zu wollen. Bei aller Verschiedenheit sind Söller und Figaro darin verwandt, daß sie sich, um nicht gehörnt zu werden, der Willkür des Adelsstandes widersetzen. Wenigstens einmal fand der späte Goethe die ursprüngliche, satirische Intention seines Lustspiels richtig verstanden und honoriert, als Zelter 1824 von einer Berliner Aufführung des Stückes nach Weimar berichtete: Das vorstädtische Publikum habe sich gegen den ersten Rang „in Dreistigkeit des Beifalls“ 56 hervorgetan, während das vornehme Publikum sich geschämt und zurückhaltend reagiert habe. Gleich darauf schrieb Goethe an seinen Freund zurück und bezeichnete die Wirkung als „ganz die rechte“: Ein sogenanntes gebildetes Publikum will sich selbst auf dem Theater sehen und fordert ungefähr eben soviel vom Drama als von der Sozietät; es entstehen Convenancen zwischen Acteur und Zuschauer; das Volk aber ist zufrieden, daß die Hanswürste da droben ihm Späße vormachen, an denen es keinen Teil verlangt.57 Goethe sah ein, daß das Volk besseres Gespür für Komik hatte als der gebildete Adelsstand. ,Komik der Heraufsetzung‘ ging doch auf, weil das Vergehen Söllers unter dem Publikum niederen Standes als tolerierbar oder sogar als berechtigt empfunden wurde und damit Übereinstimmungen zwischen Schauspieler [Lustspielfigur] und Zuschauer entstanden. V Der späte Goethe distanzierte sich zusehends vom „verwegenen Humor“ und „Übermut“ seiner frühen Jahre, entwickelte die klassische Humanitätsidee immer überzeugter aus dem Standpunkt 56 Briefwechsel mit Zelter, hg. v. L. Geiger, Leipzig o.J., Bd. 2, S. 292. 57 Ebd., S. 295. Auch: Goethes Werke, Weimarer Ausgabe (WA), Bd. 39, S. 27. ' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 119 eines aufgeklärten Feudalismus. Toleranz wird in seinen späteren Werken daher immer nur von oben nach unten erwiesen. In seinen drei ,Revolutionskomödien‘, Der Groß-Cophta, Die Aufgeregten und Der Bürgergeneral, wird das Happyend jedesmal erst durch großmütigen Einsatz des Herrscherhauses oder des hohen Adels ermöglicht. Bereits in den Mitschuldigen leistet Alcest als reicher Adel einen entscheidenden Beitrag zur allgemeinen Versöhnung, indem er seine gestohlenen Gelder großzügig dem Dieb schenkt. Duldung und Toleranz wirkt in diesem Kontext nicht günstig für die Komödie, es sei denn, der Zuschauer ist mit der Wiederherstellung bzw. Fortdauer der alten Ordnung einverstanden. Da dies eben nicht der Fall war, konnten sich die späteren Lustspiele des Dichters nicht auf der Bühne behaupten. Die in den frühen Versuchen gemeisterten Elemente und Typen des Komischen haben, selbst wenn sie ihre anfängliche Frische und Schlagkraft zusehends einbüßten, sein dichterisches Schaffen weiter maßgeblich mitbestimmt, wobei der Toleranzgedanke stets im Mittelpunkt seiner dramatischen Konzeption stand. Das zeigt sich am deutlichsten wohl in seinem Faust. Obwohl im Untertitel eindeutig als „Tragödie“ bezeichnet, ließe sich das Drama aufgrund der Rahmenstruktur und anderer lustspielhafter Elemente als „göttliche Komödie“, eben als eine Komödie besonderer Art, auslegen.58 Dann bräuchte der Zuschauer, um es als eine irdische Komödie rezipieren zu können, eigentlich nur die rettende Gnade Gottes im Bewußtsein zum zwischenmenschlichen Tugendbegriff Toleranz zu säkularisieren. Literaturhinweise Arntzen, Helmut: Die ernste Komödie. Das deutsche Lustspiel von 58 Vgl. Walter Müller-Seidel: Komik und Komödie in Goethes Faust, in: Das deutsche Lustspiel, 1. Teil, hg. v. Hans Steffen, Göttingen 1968, S. 94-119; Bernhard Greiner: Die Komödie, S. 208-223 (Kap. 3.1.: Das Theater als Garant der Komödie im Faust und die Komödienkonzeption der Klassik). 120 Yim, Han-Soon Lessing bis Kleist, München 1968. Bachtin, Michail M.: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, übers. von Alexander Kaempfe, Frankfurt a. M. 1990 (zuerst München / Wien 1969). Barner, Wilfried u.a., Lessing. Epoche-Werk-Wirkung, 5. Aufl., München 1987. Böhler, Michael: Lachen oder Verlachen. Das Dilemma zwischen Toleranzidee und traditioneller Lustspielfunktion in der Komödientheorie, in: Lessing und die Toleranz, Sonderband zum Lessing Yearbook, München 1986, S. 245-262. Catholy, Eckehard: Das deutsche Lustspiel. Von der Aufklärung bis zur Romantik, Stuttgart: Kohlhammer 1982. Conrady, Karl Otto: Goethe. Leben und Werk, München und Zürich 1994. Goethe, Johann Wolfgang: Werke, Hamburger Ausgabe (HA), 14 Bde., 5. Aufl., Hamburg 1962. _______: Sämtliche Werke, Frankfurter Ausgabe (FA), Abteilung I, Bd. 4, Frankfurt/M. 1988. _______: Sämtliche Werke, Münchner Ausgabe (MA), Bd. I.1, München 1985. Greiner, Bernhard: Die Komödie, Tübingen 1992. Jauß, Hans Robert.: Über den Grund des Vergnügens am komischen Helden, in: W. Preisendanz / R. Warning (Hgg.), Das Komische, München 1976. Lessing und die Toleranz, Sonderband zum Lessing Yearbook, München 1986. Lessing, Gotthold Ephraim: Werke, 8 Bände, hg. von Herbert G. Göpfert. München 1970 ff. Martini, Fritz: Goethes Die Mitschuldigen oder die Problematisierung des Lustspiels, in: Hans Steffen (Hg.), Das deutsche Lustspiel, Bd. 1, Göttingen 1968, S. 68-93. Müller-Seidel, Walter: Komik und Komödie in Goethes Faust, in: Das deutsche Lustspiel, 1. Teil, hg. v. Hans Steffen, Göttingen 1968, S. 94-119. Pütz, Peter: Die Leistung der Form. Lessings Dramen, Frankfurt a. M. 1986. Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke, 5. Bde., 5. Aufl., München ' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 121 1975. Schultze, Harald: Lessings Toleranzbegriff, Göttingen 1969. Steinmetz, Horst: Minna von Barnhelm oder die Schwierigkeit, ein Lustspiel zu verstehen, in: Wissen aus Erfahrungen. Werkbegriff und Interpretation heute. Festschrift für Herman Meyer zum 65. Geburtstag, hg. von A. v. Bormann, Tübingen 1976, S. 135-153.