bei Lessing und Goethe

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' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe
85 
ISSN 1227-0122
Toleranz als Komödienintention
bei Lessing und Goethe
Yim, Han-Soon (SNU)
I
In den Diskussionen über die Literatur des deutschen Idealismus,
vor allem über die Aufklärung und somit über Lessing steht oft die
Toleranzidee im Mittelpunkt. 1 Dabei kann man allerdings
beobachten, daß Lessings bahnbrechende Leistung als
Lustspielautor und -theoretiker selten mit der Thematik der
Toleranz in Verbindung gebracht wird.2 Schuld daran ist wohl die
geläufige Vorstellung von Komik, die als unentbehrliches
Konstituens der Komödie Distanz schafft, anstatt die Zuschauer
sich in die dramatischen Figuren und Handlungen einfühlen zu
lassen.3 So kommt Michael Böhler bei seiner Deutung einiger
philosophischer Komik-Theorien zu dem Schluß: „Als simultaner
Integrations- und Dissoziationsvorgang schafft das Lachen bei
diesem Verständnis Grenzen und Demarkationslinien zwischen
1 Vgl. Lessing und die Toleranz, Sonderband zum Lessing Yearbook,
München 1986.
2 Interessant ist angesichts dieser Forschungslage der Beitrag Michael
Böhlers auf der 4. internationalen Konferenz der Lessing Society:
Lachen oder Verlachen. Das Dilemma zwischen Toleranzidee und
traditioneller Lustspielfunktion in der Komödientheorie, in: Lessing
und die Toleranz, a.a.O., S. 245-262. Böhlers Ansätze sind bisher ohne
Resonanz geblieben.
3 In der Gegenwart insistierte Dürrenmatt noch, die Tragödie überwinde
die Distanz, während die Komödie Distanz schaffe. F. D.:
Theaterprobleme (1954), in: Ders., Theater, Zürich 1980, S. 61.
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Yim, Han-Soon
sozialen
Gruppen,
es
bestärkt
die
Lachenden
in
ihrem ,Wir-Gefühl‘ und in ihren sozialen Grenzziehungsakten –
den Normen, kollektiven Vorstellungen und Ideologien.“ 4 Im
Gegensatz zur ,Komödie der Intoleranz‘ dieser Art, die von
Gottsched bei der Konzipierung der Verlach- bzw. Typenkomödie
entschieden propagiert und praktiziert wurde, soll nun Lessing eine
neue Form der Komik eingeführt haben, die „in ihrem innersten
Kern mit dem Toleranzgedanken verbunden“ ist. In allen
Bemerkungen Lessings zur Komödie geht es nach Böhler nicht um
„Integration durch Dissoziation, Aggression und Degradation
gegenüber der zum Außenseiter gestempelten komischen Figur,
sondern Integration auch und gerade unter Einschluß des
Außenseiters“.5
Böhlers Auslegung zufolge liegt der Unterschied zwischen dem
Komödientyp Gottscheds und dem Lessings im wesentlichen darin,
daß die komische Figur dort einseitig zum Verlachen preisgegeben,
hier aber verständnisvoll in die normative Welt der Zuschauer
aufgenommen wird. In Wirklichkeit muß bei Lessing aber eine
noch gründlichere qualitative Veränderung der Lustspieltheorie
stattgefunden haben, die sich erst im Hinblick auf die
Objekt-Subjekt-Relation der Komik festmachen ließe. Worüber
bzw. über wen lacht das Publikum? Ist die belachte Figur bei
Lessing ein selbstverschuldeter Einzelgänger und Außenseiter wie
in der Gottschedschen sächsischen Typenkomödie oder eher
Vertreter bestimmter Normen, die selber als komisch empfunden
werden? Ist das Laster der komischen Figur persönlicher Art wie
etwa der Geiz Harpagons (l’Avare) oder gesellschaftlich bedingt
wie das starre Ehrgefühl Tellheims (Minna)? Wir gehen davon aus,
daß diese Fragen der Komik zum Verständnis der Toleranzidee in
Lessings und Goethes Lustspielen von wesentlicher Bedeutung
sind.
II
4 M. Böhler, ebd., S. 248.
5 Ebd., S. 254.
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87 
Der handlungsimmanente Gegensatz von Komödie und Tragödie
läßt sich insofern auf die Luthersche Formel „Toleranz der Liebe
und Intoleranz des Glaubens“6 beziehen, als es sich in den meisten
Lustspielen um einen scheinbaren Liebeskonflikt handelt, nicht
aber um einen unversöhnlichen Gesinnungskampf. Während sich
die Tragödie zum katastrophalen Ende hin bewegt, erhebt sich die
Komödie zum irdisch glücklichen Ende. In der das Lustspiel
konstituierenden Komik ist also grundsätzlich ein Moment der
Toleranz enthalten. Die relative Harmlosigkeit und damit die
Tolerierbarkeit der komischen Fehler sind bereits in der Poetik von
Aristoteles ausgesprochen worden. Die Komödie soll zwar
„gemeinere Menschen“ nachahmen, „als sie in Wirklichkeit sind“,
sie ist aber Nachahmung „nicht in bezug auf jede Art von
Schlechtigkeit, sondern nur des Lächerlichen“; und das Lächerliche
ist „ein Fehler und eine Schande, aber eine solche, die nicht
schmerzt und nicht verletzt.“7 Das der Komödie vorgeschriebene
Happyend ist in gewisser Hinsicht dadurch gewährleistet, daß die
komische Figur bei all ihren Torheiten und Lastern geduldet bzw.
akzeptiert werden kann und daher am Ende ohne empfindliche
Schäden zurückbleibt.
In
der
deutschen
Aufklärung
erfährt
die
alte
„Ständeklausel“ bekanntlich vom Leipziger Professor Gottsched
eine neue, aber schulmeisterlich-konservative Auslegung, wonach
zur Komödie „ordentliche Bürger oder doch Leute von mäßigem
Stande“ gehören: „Nicht als wenn die Großen dieser Welt etwa
keine Torheiten zu begehen pflegten, die lächerlich wären, […]
sondern weil es wider die Ehrerbietung läuft, die man ihnen
6 Luther beteuerte im Anschluß an den Apostel Paulus: „Die Liebe
vermag alles dulden, der Glaube nicht.“ Zit. nach: Geschichtliche
Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in
Deutschland, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 477.
7 Aristoteles: Poetik, Kap. 2 und 5. Übersetzung, Einleitung und
Anmerkungen von Olof Gigon, Stuttgart 1961 (RUB 2337), S. 25, 29.
S. 25: „Die eine [= Tragödie] ahmt edlere, die andere [= Komödie]
gemeinere Menschen nach, als sie in Wirklichkeit sind.“
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Yim, Han-Soon
schuldig ist, sie als auslachenswürdig vorzustellen.“8 Gottsched
sieht die Funktion der Komödie in der sozialen Kontrolle und der
Normbestätigung, wobei er ähnlich wie Aristoteles zwischen
Verbrechen und Fehler unterscheidet: „Die Bestrafung der
Spitzbuben [...] ist kein Werk der Poeten, sondern der Obrigkeit.
Die Komödie will nicht grobe Laster, sondern lächerliche Fehler
der Menschen verbessern“.9 Während in der griechischen Antike
possenhafte Improvisationen wie die Phallusbegehungen üblich
waren,10 findet das derart anarchische, karnevalistische Moment
des Lachens keinen Platz mehr in der Lustspieltheorie Gottscheds,
weil er das Lasterhafte und das Lächerliche nur zusammen, nicht
aber einzeln als komödiengerecht verstanden wissen will: „Vieles
läuft wider die Tugend, ist aber mehr strafbar und widerlich oder
gar abscheulich als lächerlich. Vieles ist auch lächerlich, wie zum
Exempel die Harlekinspossen der Italiener, aber darum gar nicht
lasterhaft.“ Die komischen Figuren wie der Harlekin [Arlecchino]
der Commedia dell’arte sollen ferner deshalb vermieden werden,
weil sie die klassischen Einheitsregeln verletzten: „Sie binden sich
an keine Einheit der Zeit und des Ortes, ja oft ist nicht einmal eine
rechte Haupthandlung in ihren Fabeln“.11 Bei seiner Ablehnung
der komischen Person wird deutlich, daß Gottsched selbst im
Vergleich zu Aristoteles die Funktion der Komik erheblich einengt.
Auch wenn die Komödie „nicht einzelne Personen“ verspotten,
sondern „allgemeine Torheiten“ lächerlich machen soll, werden
solche Torheiten nur in dem Maße als komödiengemäß erklärt, wie
sie am Ende die Richtigkeit der gängigen Normen und
Weltanschauungen bestätigen. Der glückliche Ausgang der
Komödie ist nur möglich, weil die Komödienfiguren auch mit
ihrem Verstoß gegen die bestehende Ordnung keine Gefahr für die
8 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor
die Deutschen [Leipzig 1730], I. Teil, 4. Kapitel: Von den drei
Gattungen, S. 35.
9 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. 4., vermehrte Aufl.,
Leipzig 1751, § 15, S. 645.
10 Aristoteles, a.a.O., Kap. 4, S. 28.
11 Ebd. (wie Anm. 7), II., 11., S. 113.
' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe
89 
Gesellschaft darstellen.
Die Vertreibung des Harlekins aus der Komödie und damit die
Einengung des Komischen stießen auf heftige Kritik Lessings und
anderer Autoren. Die Maßnahme Gottscheds nannte Lessing
spöttisch „die größte Harlekinade [...], die jemals gespielt
worden“ (5, 71).12 Obwohl die lustige Person in einigen seiner
Werke deutliche Spuren hinterlassen hat, wollte er freilich kein
Possenspiel italienischer Art nachbilden, sondern suchte er „die
wahre Komödie“ zu begründen, die sowohl erheitern als auch
rühren sollte:
Das Possenspiel will nur zum Lachen bewegen; das
weinerliche Lustspiel will nur rühren; die wahre Komödie will
beides. [...] Die wahre Komödie allein ist für das Volk, und
allein fähig einen allgemeinen Beifall zu erlangen, und folglich
auch einen allgemeinen Nutzen zu stiften. (4, 56)
Die „wahre Komödie“ als Synthese von Possenspiel und
rührendem Lustspiel leitet Lessing aus seinem Verständnis des
gemischten Charakters ab, der sowohl für das Lust- wie auch für
das Trauerspiel gelten soll. Dabei beruft er sich auf die
menschliche Realität: Wahre Komödien seien diejenigen, die
sowohl Tugenden als auch Laster schildern, „weil sie eben durch
diese Vermischung ihrem Originale, dem menschlichen Leben, am
nächsten kommen“ (5, 55). Indem der gemischte Charakter zum
„Original“ der komischen Darbietung erklärt wird, geraten sowohl
Laster als auch Tugenden in die Reichweite der Komik.
Zur Erweiterung des Komischen heißt es im 28. Stück der
Hamburgischen Dramaturgie [HD]:
Jede Ungereimtheit, jeder Kontrast von Mangel und Realität,
ist lächerlich. Aber lachen und verlachen ist sehr weit
auseinander. Wir können über einen Menschen lachen, bei
Gelegenheit seiner lachen, ohne ihn im geringsten zu
12 Lessing wird zitiert aus: Gotthold Ephraim Lessing, Werke, 8 Bde.,
hg. von Herbert G. Göpfert. München 1970 ff., hier Bd. 5, S. 71.

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Yim, Han-Soon
verlachen. (4, 362).
Der Funktionswandel der Komik vollzieht sich also quantitativ wie
qualitativ. In scharfer Wendung gegen Gottscheds enge Auslegung
betont er immer wieder den Unterschied zwischen Lachen und
Verlachen. Im nächsten, dem 29. Stück der HD meint er: Die
Komödie wolle durch Lachen, aber nicht eben durch Verlachen
bessern. Denn:
Ihr wahrer allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen selbst; in
der Übung unserer Fähigkeit das Lächerliche zu bemerken, es
unter allen Bemäntelungen der Leidenschaft und der Mode, es
in allen Vermischungen mit noch schlimmern oder mit guten
Eigenschaften, sogar in den Runzeln des feierlichen Ernstes,
leicht und geschwind zu bemerken. (4, 363)
Der Zuschauer soll nicht mehr allein normwidrige Schwächen
zu vermeiden lernen, deren Lächerlichkeit er an bestimmten
Menschen, Handlungen oder Situationen entlarvt hat. Das Lachen,
dem selbst die Nützlichkeit der Komödie zugesprochen wird, setzt
voraus, daß der Zuschauer die dargestellte Person grundsätzlich
nicht zu verachten braucht. Das Lachen entspringt eher Situationen
als charakterlichen Fehlern. Ein passendes Beispiel für diese
Situationskomik fand Lessing in Le Misanthrope von Molière.
Gegen Rousseaus Kritik an diesem Lustspiel nimmt er im 27.
Stück der HD den fanatisch um Aufrichtigkeit bemühten Alceste in
Schutz und meint, dieser werde nicht verächtlich, und das
situationsbedingte Lachen nehme ihm „von unserer Hochachtung
nicht das geringste“ weg (4. 362).
Üblicherweise bezieht die Forschung die oben zitierten Stellen
der HD auf das späte Werk Minna von Barnhelm,13 zumal sie
Anfang August 1767, also kurz vor der Erstaufführung des Stückes
verfaßt wurden. Lessing begründete seine Idee der erweiterten
Komik jedoch nicht erst zu dieser Zeit. Offenbar in Hinblick auf
13 Vgl. Eckehard Catholy: Das deutsche Lustspiel. Von der
Aufklärung bis zur Romantik, Stuttgart: Kohlhammer 1982, S. 65.
' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe
91 
seine frühen Lustspiele formulierte er seine Ansicht über die
„wahre Komödie“ (4, 56), die sowohl zum Lachen bewegen als
auch rühren sollte, bereits in den fünfziger Jahren. Auch sein
Nützlichkeitsstandpunkt ist schon in seinem Brief an Nicolai vom
November 1756 festgehalten: „[Die Komödie] soll uns zur
Fertigkeit verhelfen, alle Arten des Lächerlichen leicht
wahrzunehmen“ (4, 163. Hervorhebung vom Verf. - Yim). Aus
diesem erneuerten wirkungsästhetischen Konzept heraus ergeben
sich zwei bedeutende Konsequenzen, die Lessings Lustspieltheorie
wie -praxis von Anfang an bestimmen. Einerseits werden die alte
„Ständeklausel“ sowie die Überlegenheitstheorie der Komik
stillschweigend aufgehoben, weil nunmehr jeder Mensch
unabhängig von seiner gesellschaftlichen Zugehörigkeit komisch
sein kann, also nicht nur „der Pöbel“, sondern auch Adlige und
Könige. Andererseits öffnet sich für das Lustspiel die Möglichkeit,
sich vom „moralischen Regulativ“ zum Spiegel der Gesellschaft zu
entwickeln. Wo das Lächerliche gerade an geläufigen
Wertvorstellungen erkannt wird, da richtet sich die Kritik weniger
gegen die ausgelachte Person als gegen die Konvention der
Gesellschaft, die einem jene Vorstellungen, auch wenn sie
vorurteilsbehaftet und unwahr sind, direkt oder indirekt
aufoktroyiert. Dieser ideologiekritische Aspekt des aufklärerischen
Lustspielbegiffs ist mit dem Toleranzgedanken Lessings eng
verbunden, der bereits in seinen frühen Werken zum Vorschein
gebracht und dann in seiner gelungensten Komödie Minna von
Barnhelm meisterhaft gestaltet worden ist. In der folgenden
Werkanalyse wenden wir uns dem frühen Lustspiel Freigeist und
dann der Minna zu.
II.1
Die Toleranzidee, für die Lessing in seinen Lustspielen plädiert,
läßt sich insbesondere am Umkehrverfahren feststellen, das nach
Peter Pütz als „gedankliches Grundprinzip der Aufklärung“ und
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92
Yim, Han-Soon
zugleich als „Strukturprinzip“ seiner Komödie anzusehen ist.14
Gehört die Kontrastierung in Form der Gegenüberstellung von
Schein und Sein, Laster und Tugend usw. zu den üblichen Mitteln
des Lustspiels, so ist die Umkehrung eher ein spezifisches
Merkmal von Lessings Komödien und hat eine vielfältige
Wurzel.15 Er bedient sich der Umkehrung fast nie zum bloßen
Zweck
momentaner
komödiantischer
Verblüffung.
Charakteristisch für sein Verfahren ist vielmehr die Verbindung
der Komik mit den über den amüsanten Augenblick
hinausführenden aufklärerischen Leistungen, zu denen die Kritik
an dem von Erstarrung bedrohten System der Komödie selbst
gehört. Unsere besondere Aufmerksamkeit verdient dabei das
wirkungsästhetische, aufklärerisch-erkenntnisethische Moment,
das zu einer grundsätzlichen Revision der Vorurteile führt und
dadurch die humanitäre Idee der Toleranz vermittelt.
Mit dieser Absicht zerbricht Lessing schon in seinen frühen
Lustspielen das tradierte Muster der Verlachkomödie. Was Horst
Steinmetz hinsichtlich der Minna von Barnhelm meinte, in dem
Stück werde das „Modell der traditionellen Komödie“ Gegenstand
der Lustspielhandlung, das Modell werde „im eigentlichen Sinne
des Wortes aufs Spiel gesetzt, und muß sich seine Ohnmacht
bescheinigen lassen“16 – diese Auslegung läßt sich auf das bereits
in den frühen Lustspielen theamatisierte Typenproblem übertragen.
Die beiden Lustspiele aus dem Jahre 1749, Die Juden und Der
Freigeist, sind nach Böhler „Lehrstücke gegen die Typenkomödie
14 Peter Pütz: Die Leistung der Form. Lessings Dramen, Frankfurt a.
M. 1986, S. 53, 67.
15 Pütz spricht von der „dreifachen Wurzel des Strukturprinzips der
Umkehrung“: Diese habe eine „komödiantische, aufklärerische und
religiöse Herkunft“. Aber dazu kommt nach Pütz noch das vierte,
politisch-soziale Ursprungsfeld in Frage. Ebd., S. 65 ff. und 98.
16 Horst Steinmetz: Minna von Barnhelm oder die Schwierigkeit, ein
Lustspiel zu verstehen, in: Wissen aus Erfahrungen. Werkbegriff und
Interpretation heute. Festschrift für Herman Meyer zum 65. Geburtstag,
hg. von A. v. Bormann, Tübingen 1976, S. 135-153, hier S. 151.
' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe
93 
und die hinter ihr stehenden sozialen Einstellungsmechanismen.“17
Bereits die Titel und Themen dieser Stücke dienen dazu, den
geläufigen Erwartungen zu widersprechen. Der erste Titel ist „in
seiner unzulässigen Generalisierung bereits sinnfälligster Ausdruck
des Vorurteils“.18 Wird durch die Pluralform ein ganzes Volk als
Objekt der Komik bezeichnet, so setzt der Autor dann in der
Spielhandlung alles daran, die Hauptperson von der klischeehaften
Vorstellung eines menschenfeindlichen Juden zu befreien, ja sie
umgekehrt
als
einen
vorbildlichen
Menschenfreund
herauszustellen.
Sein Vorhaben, auch den Freigeist als eine ,Anti-Typenkomödie‘ zu schreiben, hat Lessing in einem Entwurf des Stückes
unmißverständlich dargelegt. Im Personenverzeichnis sind nämlich
drei Positionen aufgeführt, die gleichsam einen synthetischen
Versöhnungsprozeß zweier Kontrahenten veranschaulichen sollen:
Den einen Pol vertritt der viel gereiste Atheist Adrast, den anderen
der ansässige Geistliche Theophan und die Mitte der alte reiche
Kaufmann Lisidor, der ihnen seine Töchter versprochen hat.
Adrast ist als ein Mann „ohne Religion, aber voller tugendhafter
Gesinnungen“ konzipiert, und Theophan soll „so tugendhaft und
edel als fromm“ sein, obwohl er aus der Sicht des Freidenkers
einfach ein „Heuchler“, „Schleicher“ und „blöde[r] Verleugner
seines Verstandes“ (I/2, 480)19 ist. Der alte Lisidor ist „ungewiß
und schwankend in seinen Grundsätzen, jetzt auf des Adrasts, jetzt
auf des Theophans Seite“. 20 Es ist falsch, aus seiner
Unschlüssigkeit auf Charakterlosigkeit oder rein kaufmännischen
Pragmatismus zu schließen. Im Gegensatz zu den Alten etwa bei
Molière, die wie Harpagon, Sganarelle, Orgon u.a. fast
ausschließlich dumm und/oder geizig sind, verkörpert Lisidor
Weisheit, Vernunft und nicht zuletzt Toleranz, indem er sozusagen
17 M. Böhler, a.a.O., S. 257.
18 Ebd., S. 68.
19 Der Freigeist und Minna werden mit Angaben vom Akt, Auftritt
und der Seitenzahl zitiert aus: Lessing, Werke (wie Anm. 12), Bd. 1.
20 Alle Zitate mit Ausnahme von Nr. 19 aus dem Entwurf: Lessing,
Werke, Bd. 2, S. 651.

94
Yim, Han-Soon
den goldenen Mittelweg geht.
Noch eindeutiger als der Vater sind seine Schwiegersöhne
als ,Anti-Typen‘ gestaltet. Während der Geistliche in der Komödie,
wiederum durch Molières Tartuffe unübertroffen dargestellt,
ausschließlich als frömmelnder Heuchler und Betrüger zu
erscheinen pflegte, ist Theophan zum Vorbild des edlen, toleranten
Menschen erhoben. Ungeachtet der spröden Verschlossenheit
Adrasts rettet er diesen mehrmals aus dem Bankrott und bietet ihm
wiederholt Freundschaft an, allerdings aus einem handfesten
persönlichen Interesse: Er liebt die Adrast zugedachte Frau. Im
Mittelpunkt der komischen Spielhandlung steht natürlich der
Prinzipienreiter Adrast. Nachdem er sich im ersten Aufzug mit
jedem überworfen und dadurch von der Umwelt völlig isoliert hat,
wird in den Aufzügen II-V vorgeführt, wie er sich immer wieder
auf sein vorgefaßtes rationalistisches Begriffssystem zurückzieht
und vor konkreten Erfahrungen die Augen zu verschließen sucht.
Die mit dem Titel erweckte Vorstellung von einem gottlosen
Freigeist wird aber im Spielverlauf Stück für Stück widerlegt.
Adrast ist durchaus zur Freundschaft und Liebe fähig, sobald man
ihm nur richtig zur Entfaltung seiner verborgenen „tugendhaften
Gesinnungen“ verhilft. In dieser Hinsicht ist die Spielhandlung ein
Aufklärungsprozeß, den er dank der Nachsicht und Hilfe seiner
Mitmenschen erfolgreich durchmacht. Allmählich gelangt er zur
Erkenntnis, daß zu einem harmonischen Zusammenleben der
Menschen gegenseitige Anerkennung, Toleranz und Duldung
erforderlich sind. Allein die Umwandlung des Protagonisten zeigt
deutlich, daß mit dem Freigeist die Konvention der ,Typenkomödie‘ überwunden ist. So wandte sich Lessing vornehmlich
gegen das Vorurteil seiner Zeit, das die Vereinigung von
Atheismus und Tugend, also die Tugendhaftigkeit der Freidenker
für ausgeschlossen hielt und die rationalistischen Deisten als
unverbesserliche Gottesleugner und Religionsspötter, sogar als
gefährliche Sittenstrolche bekämpfte.21
21 Siehe zur Freigeistproblematik der Zeit in Deutschland und
Europa: Wilfried Barner u.a., Lessing. Epoche-Werk-Wirkung, 5. Aufl.,
München 1987, S. 129.
' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe
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Lächerlich im Stück sind sowohl der grundlose Verdacht und
die starre Voreingenommenheit Adrasts gegenüber den Geistlichen
als auch das Vorurteil gegen die Freigeisterei; der Schwerpunkt der
Kritik liegt aber auf dem letzteren. Dies wird in einem Dialog
zwischen den Dienern augenfällig demonstriert:
Martin.
Jahann.
Martin.
Du mußt mich für sehr dumm ansehen. Dein Herr ein
Atheist? das glaube sonst einer! Er sieht ja aus, wie ich und
du. Er hat Hände und Füße; er hat das Maul in der Breite
und die Nase in der Länge, wie ein Mensch; [...] und soll
ein Atheist sein?
Nun, sind denn die Atheisten keine Menschen? [...]
Hör zu! – – Ein Atheist ist – – eine Brut der Hölle, die
sich, wie der Teufel, tausendmal verstellen kann. Bald ists
ein listiger Fuchs, bald ein wilder Bär; [...] Kurz, es ist ein
Untier, das schon lebendig bei dem Satan in der Hölle
brennt, – – eine Pest der Erde [...]. (II/5, 500)
Hier werden das sukzessive Einkreisen eines Menschen zu einem
fixierten Typus und somit das gängige Vorurteil gegen den
Atheismus zum eigentlichen Gegenstand der Komik.
Bei der Verdammung des Atheisten verrät Martin nicht nur
seine eigene Einfältigkeit, sondern auch den engstirnigen
Standpunkt der Kirche: Ein Atheist sei, so habe „ihn unser Pfarr
abgemalt,“ „ein Wechselbalg, den die Hölle durch – – durch einen
unzüchtigen Beischlaf mit der Weisheit dieser Welt erzeugt hat“.
Auf diese Weise herrscht die komische Selbstentlarvung des
Vorurteils in der ganzen Dienerszene. Johann und Martin setzen
nämlich den Konflikt ihrer Herren auf der Ebene der derben Komik
fort, die aus publikumswirksamen Gründen beibehalten wird. Sie
stellen „die wahren Bilder ihrer Herren von der häßlichen
Seite“ dar: „Aus Freigeisterei ist jener ein Spitzbube; und aus
Frömmigkeit dieser ein Dummkopf“ (II/4, 499). Ebenso beschränkt
wie dieser ist jener Popanz, der seinen Herrn nachahmt und sich
stolz als Freigeist ausgibt: Er sei selber „ein starker Geist, wie es
jetzt jeder ehrliche Kerl nach der Mode sein muß“ (II/5, 500) – das
ist Selbstverherrlichung eines Maulhelden, die im weiteren Verlauf
des Dialogs völlig ins Leere geht.

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Yim, Han-Soon
In der Dienerszene demonstriert Lessing, daß sich jeder
Standpunkt, falls ins Extrem gesteigert, in unsinniges Vorurteil
umkehrt. Ihm geht es nicht darum, zur Schilderung eines „Erziehungsprozesses“ die beiden Kontrahenten, Theophan und Adrast,
etwa ins alte Tugend-Laster-Schema zu zwingen. Auch der
großmütige Theophan ist stark voreingenommen gegen die
Freidenkerei. Atheisten hält er für „Feinde der Tugend“ und
„Bösewichter“. „Freidenker, starker Geist, Deist“ – das ist ihm
einerlei, „ein Ungeheuer“ schlechthin und „die Schande der
Menschheit“ (I/1, 476). Aus der Sicht Lisidors drehen sich die
Auseinandersetzungen zwischen den beiden daher nur um die
Frage, ob die Vernunft stark oder schwach sei, und: „Jener
beweiset mit starken Gründen, daß die Vernunft schwach ist; und
dieser mit schwachen Gründen, daß sie stark ist“ (V/4, 549).
Offenbar will der Alte auffordern: ,Beweist mit starken Gründen,
daß sowohl die Vernunft als auch die Religion stark sind!‘ Seines
Erachtens ist dies erst möglich, wenn die beiden sich durch
Versöhnung gegenseitig ergänzen. Jeder soll sich bessern und
bereichern, indem er die nachgewiesenen Vorzüge des anderen
anerkennt und davon profitiert.
Wohl
aus
diesem
Bedürfnis
nach
eigener
Persönlichkeitsvollendung fühlt sich jeder zur Braut des anderen
hingezogen, deren Veranlagung der Seinigen entgegengesetzt ist:
Den Geistlichen fesselt immer mehr die Adrast zugedachte,
ausgelassene Henriette, während sich dieser ausgerechnet als
Atheist auf den ersten Blick für die „geborene Priesterfrau“ Juliane
(I/3, 483) brennend interessiert. 22 Der Liebeskonflikt, der aus
einem Mißverständnis des ansonsten weltklugen Kaufmanns
entstanden ist, wird zum Ausgleich und zur gegenseitigen
Anerkennung durch den allseits, auch von den Mädchen
erwünschten Brautaustausch gelöst, den der biedere Lisidor
22 Die Liebesintrige der beiden über Kreuz verliebten Paare hat
Lessing zwar von der französischen Vorlage Les caprices du coeur et de
l’esprit von De Lisle übernommen, der weltanschauliche Gegensatz, den
die beiden Freier im Geist der Aufklärung auszugleichen haben, ist aber
sein eigenes Werk. Vgl. W. Barner u.a., ebd., S. 129 f.
' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe
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kopfschüttelnd segnet:
Ich wollte jedem zu seinem Rocke egales Futter geben, aber ich sehe
wohl, euer Geschmack ist bunt. Der Fromme sollte die Fromme, und
der Lustige die Lustige haben: Nichts! der Fromme will die Lustige,
und der Lustige die Fromme. (I, V/7, 554)
Der Konflikt der über Kreuz verliebten Paare und dessen
Lösung durch Brautaustausch 23 werden bereits in der
Expositionsphase (I/3) angedeutet und bestimmen mit
zunehmender Intensität den Spielverlauf. Die gegensätzlichen
Positionen der Freidenkerei und Frömmigkeit schwächen sich ab,
und die dogmatischen Streitigkeiten werden in den beiden letzten
Akten durch die sich überkreuzenden Liebeshändel völlig ersetzt.
Am Ende lösen sich alle Gegensätze und Widersprüche im Schoß
der Familie auf, wie Martin Kramer treffend formuliert: „In diesem
modellhaften
Komödienschluß
wird
bereits
die
Familienproblematik angesprochen, die in späteren Dramen
Lessings immer wieder thematisiert wird, sei es als Desintegration
einer Familie in Miß Sara Sampson und Emilia Galotti, sei es als
utopische Schlußapotheose in Nathan.“ 24 In diesem
Zusammenhang verdient die Vaterfigur Lisidor, die in der
bisherigen Forschung nicht gebührend beachtet worden ist, unsere
besondere Aufmerksamkeit. In ihm ist der weise Kaufmann Nathan
vorwegenommen, der Feinde versöhnt, Überwindung religiöser
und politischer Trennungen herbeiführt und eine neue, natürliche
und geistige Familie konstituiert.
Dieselbe Vermittlerrolle spielt bereits Lisidor, freilich noch im
Mikrokosmus eines kaufmännischen Bürgerhauses und gegenüber
zwei sich einander bekämpfenden Kontrahenten kleineren Formats.
Dabei verbindet Lessing den Toleranzgedanken mit der
praktischen Idee der Vernunft, indem er eben dem pragmatischen
Kaufmann Lisidor seinen eigenen Nützlichkeitsstandpunkt in den
23 In dem Motiv des Brautaustausches scheint übrigens die Grundidee
des Romans Die Wahlverwandtschaften vorweggenommen zu sein.
24 Ebd., S. 134.
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98
Yim, Han-Soon
Mund legt: „[...] ich bereichere mich nicht von einem allein. Das
nehme ich von dir, mein lieber Adrast; und das vom Theophan;
und aus allen dem mache ich mir hernach ein Ganzes – –“. Adrasts
schwarzweißmalerischen Widerspruch – „Sie verbinden Tag und
Nacht, wenn Sie meine mit Theophans Gedanken verbinden“ –
nimmt der Alte zu einem willkommenen Anlaß, implizit auf die
Eule der griechischen Weisheitsgöttin zu verweisen: „[...] so wird
eine angenehme Dämmerung daraus“ (I/3, 482). Ob Lessing hier
auf den Abendflug der Eule der Minerva als Symbol der Weisheit
verweist oder das Bild der schwarzen Kühe in Hegels Nacht der
„Leere an Erkenntnis“ 25 vorwegnimmt, soll dahinstehen. Auf
jeden Fall stellt Lisidor eine Vorstufe von mindestens zwei
Weisheitsträgern des Autors dar: Minnas Oheim Bruchsal und
Nathan dem Weisen, jenen Vaterfiguren also, die die zentralen
Themen des späten Lessing und die Haupttugend der deutschen
Aufklärung, Toleranz und Duldung, verkörpern.
Die Verbindungslinie von Lisidor zu Bruchsal zeigt sich unter
anderem darin, daß sie beide bei der Beurteilung der Menschen den
praktischen Tugendbegriff der „Ehrlichkeit“ zum hauptsächlichen
Maßstab nehmen. Wie jener den der „Ehre“ verlustig gewordenen
und verarmten Major Tellheim allein wegen seiner „Ehrlichkeit“ in
seine Familie aufnimmt,26 will auch dieser die heterogen gesinnten
Männer beide bei sich behalten, weil er überzeugt ist, daß sie
ehrlich sind und „daß alle ehrliche Leute einerlei glauben“ (I/3,
482). So steht in der Anti-Typenkomödie Freigeist die Vaterfigur
selber als Antityp im Mittelpunkt der Figurenkonstellation und
bildet den Knotenpunkt der dramatischen Handlungen. Gemeinsam
mit den zwei verliebten Paaren, die ebenso wie er nach dem
Vorbild wirklicher Menschen als „gemischte Charaktere“ geformt
25 Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 1986, S.
22: „Dies eine Wissen, daß im Absoluten alles gleich ist, der
unterscheidenden und erfüllten oder Erfüllung suchenden und fordernden
Erkenntnis entgegenzusetzen oder sein Absolutes für die Nacht
auszugeben, worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind, ist
die Naivität der Leere der Erkenntnis.“
26 Siehe u. S. 18.
' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe
99 
sind, bildet Lisidor gleichsam ein stabiles gleichseitiges Dreieck,
das gemäß der Zahlensymbolik Vollendung und Vollkommenheit
darstellt, und führt das Happyend für eine neue große Familie
durch seinen vermittelnden Einsatz zur Realisation des
Toleranzideals herbei.
II.2
In Minna von Barnhelm läßt sich im Grunde dieselbe, auf der Idee
der Toleranz beruhende Lustspielkonzeption konstatieren. Hier
plädiert Lessing für neu zu stiftende Tugenden wie Ehrlichkeit,
Freundschaft, Mitleid und Liebe, indem er sie dem tradierten
patriarchalischen Ehrbegriff entgegensetzt. Dabei lassen sich die
neuen Werte insofern unter das Wort Toleranz subsumieren, als sie
gemeinsam auf der Gegenseitigkeit des zwischenmenschlichen
Lebens beruhen. Kontrastierung und Umkehrung, die beide der
Bloßstellung hinfällig gewordener alter Wertvorstellungen dienen,
fungieren auch in diesem Lustspiel als herrschende
Gestaltungsprinzipien auf allen Ebenen des dramatischen Sprachund Handlungsgefüges. Sie sind nicht nur in der
sogenannten ,Spiegeltechnik‘ der Dialoggestaltung realisiert, die
etwa in Minnas triumphierender Replik an den Major
angesprochen wird: „Wollen Sie es wagen, Ihre eigene Rede in
meinem Munde zu schelten?“ (V/9, 697), sondern sie erfassen auch
den Titel, die Konfiguration, die räumliche Anordnung der Akte,
die szenischen Fügungen und schließlich die Gesamtkomposition
des Stückes.
Die Komik in der Minna ergibt sich im wesentlichen aus dem
Widerspruch von Schein und Realität. Im Siebenjährigen Krieg hat
der Major Tellheim die Kontribution der sächsischen Landstände
aus eigener Tasche vorgestreckt und dafür einen Wechsel von
ihnen erhalten. Nach dem Ende des Krieges wird der Wechsel aber
von den Kriegskassen nicht als Schuld der Stände an ihn im
Ausgleich für die vorgeschossene Kontribution anerkannt, sondern
als Bestechungsgeld dafür, daß er sich mit den Ständen auf die
niedrigste Summe geeinigt hatte. Da Tellheim nun seine Ehre und

100
Yim, Han-Soon
damit seine Reputation von diesem falschen Urteil abhängig
macht, handelt er aus der Sicht Minnas nicht nach dem Wesen der
Sache, sondern nach dem Schein, dem „Gespenst der Ehre“ (IV/6,
679). Zu diesem falschen Bewußtsein gehört nach ihrer Auffassung
auch sein Stolz: „Denn auch seiner Geliebten sein Glück nicht
wollen zu danken haben, ist Stolz, unverzeihlicher Stolz!“ (III/12,
662) Als Tellheim nicht einlenkt, nimmt auch Minna seine Haltung
ein und stellt sich als angeblich Enterbte und Verstoßene hin. Sie
trennt sich von Tellheim nur mit Worten und spielt ihm dabei den
Verlobungsring wieder zu, den er aus Not hatte verpfänden lassen,
den sie aber heimlich wieder zurückgekauft hat. Nun scheint der
Ring die Verlobung zu lösen, in Wirklichkeit aber bekräftigt er das
Heiratsversprechen Minnas. (Dazu kommt noch die dritte
Täuschung, die freilich im Hintergrund bleibt und daher während
der Spielhandlung kaum komisch wirkt: Der königliche Brief, der
dem Major die völlige Rehabilitierung mitteilen soll, erreicht ihn
einen Tag später als vorgesehen, weil der Bote den Adressaten
nicht rechtzeitig ausfindig machen konnte.) In Minnas Ringintrige,
die als ein Spiel im Spiel vorgeführt wird, ist die traditionelle, auf
dem Widerspruch von Schein und Wirklichkeit basierende
Kontrastkomik „zu einer im deutschen Lustspiel bisher nicht
erreichten Grenze getrieben“.27
Tellheim ist eine Figur, die uns durch Großmut und
Mitleidsfähigkeit rührt, die sich aber wegen ihrer Blindheit und
Verstocktheit, vor allem wegen ihres starren übertriebenen
Ehrgefühls lächerlich macht. So macht Minna auf das Lächerliche
des tragisch anmutenden Selbstporträts Tellheims aufmerksam:
„Ist das keine Übertreibung? Und ist es meine Einrichtung, daß alle
Übertreibungen des Lächerlichen so fähig sind?“ (IV/6, 677) An
der gleichen Stelle vertritt Minna offenbar die in der HD dargelegte
erkenntnisfördernde Funktion des Lachens, wenn sie meint:
Lieber Major, das Lachen erhält uns vernünftiger als der Verdruß.
Der Beweis liegt vor uns. Ihre lachende Freundin beurteilt Ihre
Umstände weit richtiger als Sie selbst. (IV/6, 676 f.)
27 E. Catholy: Das deutsche Lustspiel, a.a.O., S. 72.
' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 101 
Neu ist in dieser Auffassung des Komischen, daß die tradierte
Komik des Verlachens überwunden ist.
Das ,anti-typische‘ Gestaltungsprinzip gilt auch für die
Nebenfiguren wie Just, Franziska und Werner. Treue und
Ehrlichkeit zwischen Herrn und Diener, Freundschaft zwischen
Major und Wachtmeister, Gleichheit in der Liebe zwischen Mann
und Frau – das sind die Tugenden, die Tellheim sukzessiv erlebt
und am Ende jeweils auf der Basis der Gegenseitigkeit annimmt
und gibt. Auf diese Weise gelang es Lessing, die Kluft zwischen
den Ständen ästhetisch zu überwinden und damit Humanität in
Form von Toleranz und gegenseitiger Anerkennung auch im
Lustspiel zum Ausdruck zu bringen. Bei der Darstellung und
Konfiguration der personae dramatis vermied er es, wie in den
französischen oder den „sächsischen“ Typenkomödien üblich
positive und negative, verlachenswerte und vorbildliche Figuren
einander gegenüberzustellen, und begründete damit in der Gattung
Komödie das Prinzip der identifizierenden Illusion, das in erster
Linie in seiner Theorie und Praxis des bürgerlichen Trauerspiels
eine entscheidende Funktion erhielt.
Ein weiterer Durchbruch bei Lessing besteht darin, daß in der
gestörten Beziehung Tellheims zum Wechsel ein gestörtes
Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft zutage tritt. In
dem von Goethe als „die erste aus dem bedeutenden Leben
gegriffene Theaterproduktion von spezifisch temporärem
Gehalt“ gepriesenen Lustspiel werden die Wertvorstellungen der
Männerwelt lächerlich gemacht. Über die Aktualität des politisch
brisanten Stoffes informiere man sich am besten weiterhin bei
Goethe:
Die gehässige Spannung, in welcher Preußen und Sachsen sich
während dieses Krieges gegeneinander befanden, konnte durch
die Beendigung desselben nicht aufgehoben werden. [...]
Dieses aber sollte gedachtes Schauspiel im Bilde bewirken. Die
Anmut und Liebenswürdigkeit der Sächsinnen überwindet den

102
Yim, Han-Soon
Wert, die Würde, den Starrsinn der Preußen.28
Die Kränkung der Ehre und Würde Tellheims wird aber weder
durch ein individuelles Laster verursacht noch trifft sie ihn allein,
sondern sie stellt ein epochales Problem der behandelten Zeit dar.
Ausgerechnet einer der besten Offiziere im Heer des Königs gerät
schuldlos in Verdacht, verliert sein Vermögen, seine Ehre und
Gesundheit. Gemäß der Zahlensymbolik von drei ist sein Verlust
und somit sein Unglück vollkommen. Mit der Enthüllung der
Vorgeschichte stellt sich dann heraus, daß die Ehre für ihn weder
„Stolz“ noch „Gespenst“ ist, sondern ein objektiv verbindlicher
Verhaltenskodex, der seine gesellschaftliche Existenz bedingt. So
ist Minna eine „ernste Komödie“, die „als die Folge einer als
Ganzes ernsthaft, nämlich offenkundig problematisch werdenden
Gesellschaft“29 entstanden ist. Lessing demonstriert, wie sich die
bürgerlich gesinnten, selbstbewußt gewordenen Menschen des 18.
Jahrhunderts aus den Fesseln der feudalabsolutistischen
Gesellschaft befreien (sollten). Aus dieser Sicht ist das Lustspiel
eine bewußt „vermiedene Tragödie“30 oder eher eine abgelehnte
Tragödie.
Daß die Triebkraft zur Überwindung der latenten Tragödie aus
Mitleid und Toleranz kommt, zeigt sich am deutlichsten in der
Szene, wo Tellheim angesichts des vorgetäuschten Unglücks seiner
Geliebten sich von seinem starren Ehrbegirff umlenken läßt (V/5),
und auch am Schluß des Stückes, wo die Idee der Toleranz dem
sächsischen Grafen Bruchsal in den Mund gelegt wird:
Ich bin sonst den Offizieren von dieser Farbe, (auf Tellheims Uniform
28 Johann Wolfgang Goethe: Werke, Hamburger Ausgabe (HA), Bd.
9, S. 281 (Dichtung und Wahrheit, 7. Buch).
29 Helmut Arntzen: Die ernste Komödie, in Wesen und Formen des
Komischen im Drama, hg. v. Reinhold Grimm und Klaus L. Berghahn,
Darmstadt 1975, S. 419-440, hier S. 438.
30 Heinz Schlaffer: Tragödie und Komödie. Ehre und Geld. Lessings
Minna von Barnhelm, in: H. S., Bürger als Held. 3. Aufl., Frankfurt a. M.
1981, S. 95.
' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 103 
weisend) eben nicht gut. Doch Sie sind ein ehrlicher Mann, Tellheim,
und ein ehrlicher Mann mag stecken, in welchem Kleide er will, man
muß ihn lieben. (V/13, 702)
Diese weisen Worte eines alten Familienvaters, die im Geist der
Aufklärung für die Überwindung der durch Machtpolitik
geschaffenen nationalen Antagonismen plädieren, scheinen die viel
zitierte Unterscheidung Goethes zwischen Toleranz und
Anerkennung vorwegzunehmen: „Toleranz sollte eigentlich nur
eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung
führen. Dulden heißt beleidigen. Die wahre Liberalität ist
Anerkennung.“ 31 Die Haltung des Barons ist eher die der
gegenseitigen Anerkennung als die der eingleisigen Duldung. In
diesem progressiven Sinn der Toleranz erinnert die Lebensweisheit
Bruchsals an den oben dargelegten Standpunkt des alten
Kaufmanns Lisidor und ferner an das „Schauspiel“ Nathan (1779)
sowie den philosophischen Dialog Ernst und Falk (1778-80).
In Ernst und Falk läßt Lessing zum Beispiel den Freimaurer
Falk implizit der katholischen Orthodoxie wie der
Popularaufklärung
widersprechen,
die
beide
nur
„sichere“ Wahrheiten anerkennen wollten. Im Gegensatz zu einem
absoluten Wahrheitsbegriff der Religion wie der Philosophie ist
nach Lessing Wahrheit „überall gegenwärtig: auch noch in dem
primitiven Glauben, auch noch im offensichtlichen Irrtum ist etwas
enthalten, das mittelbar oder unmittelbar der Erkenntnis nützlich
sein kann.“32 Aus seiner Auseinandersetzung mit der Freimaurerei
ist eine Bemerkung überliefert, die in diesem Kontext steht und
zum Verständnis seiner Lustspieltheorie aufschlußreich ist. Jacobi
berichtet: „Ob er gleich in Staatsverfassungen kein Arg hatte, [...]
so waren doch seine Grundbegriffe gesund und tief, denn er sah
überhaupt das Lächerliche und Unseligmachende aller moralischen
Maschinerieen auf das lebhafteste ein.“ 33 Dem Lustspielautor
31 Goethe, HA 12, 385. Maximen und Reflexionen, Nr. 151 f.
32 Harald Schultze: Lessings Toleranzbegriff, Göttingen 1969, S. 82.
33 Friedrich Heinrich Jacobi in einem Brief an Elise Reimarus, zit.
nach Richard Daunicht (Hg.): Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile
von Freunden und Zeitgenossen, München 1971, S. 519.

104
Yim, Han-Soon
Lessing ging es darum, die Verabsolutierung jeglicher Wahrheit
lächerlich zu machen, „das Lächerliche“ in allen als gesichert
geltenden Wahrheiten sichtbar zu machen.
Aus dieser Perspektive fühlt man sich versucht, wie Böhler die
Komödienauffassung Lessings mit Bachtins Begriff der Lachkultur
und/oder sogar mit der von Umberto Eco geschilderten
postmodernen Lachtheorie in Verbindung zu bringen. Am Ende
seines Romans Der Name der Rose läßt Eco die Angst des blinden
Mörders Jorge vor dem fiktiven zweiten Teil der aristotelischen
Poetik, in dem das Lachen und die Komödie wissenschaftlich
ergründet sein sollen, folgendermaßen auslegen: „Jorge fürchtete
jenes zweite Buch des Aristoteles, weil es vielleicht wirklich
lehrte, das Antlitz jeder Wahrheit zu entstellen, damit wir nicht zu
Sklaven unserer Einbildungen werden. Vielleicht gibt es am Ende
nur eins zu tun, wenn man die Menschen liebt: sie über die
Wahrheit zum Lachen bringen, die Wahrheit zum Lachen bringen,
denn die einzige Wahrheit heißt: lernen, sich von der krankhaften
Leidenschaft für die Wahrheit zu befreien.“ Lachend zu bekämpfen
sind also die „Wahrheitspropheten“, „die bereit sind, für die
Wahrheit zu sterben: Gewöhnlich lassen sie viele andere mit sich
sterben, oft bereits vor sich, manchmal für sich.“34 Hier scheint
sich Eco auf Adornos Dialektik der Aufklärung bzw. Negative
Dialektik zu stützen.
Lessing kennt aber keine totale Verneinung solcher Art. Von der
einseitig negativen Bestimmung des Lachens unterscheidet sich
seine Auffassung darin, daß sie vom Toleranzgedanken durchdrungen ist und diese sowohl Lachenden als auch Belachten gelten
soll. Die zwei entgegengesetzten Positionen, seien es der
Geistliche und der Atheist im Freigeist oder Liebe des
Individuums und Ehre als gesellschaftliche Konvention in der
Minna, sind insofern beide lächerlich, 35 als sie sich
34 Umberto Eco: Der Name der Rose, München 1982, S. 643.
35 Daß das Stück Minna keinen einseitigen Sieg der Liebe Minnas
über die Ehre Tellheims beabsichtigt, hat Ingrid Strohschneider-Kohrs
nachgewiesen in ihrem Aufsatz: Die überwundene Komödiantin in
Lessings Lustsiel, in: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung II (1975), S.
' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 105 
verabsolutieren, d.h. sich einbilden, daß sie sich unversöhnlich
gegenüberstünden. Lächerlich sind für Lisidor daher die
„Einbildungen“, „daß ihr [Adrast und Theophan] so sehr von
einander unterschieden wäret“ (I/3, 482). Es ist nur folgerichtig,
daß im Komödienschluß bei Lessing nicht Ausscheidung oder
„Integration durch Dissoziation“ der belachten Figur gezeigt,
sondern allgemeine Versöhnung durch gegenseitige Anerkennung
gefeiert wird. Zeittypisch ist dabei, daß aus dieser Versöhnung ein
Freundschafts- und Liebesbund entsteht, der später in Nathan
gleichsam zu einem globalen Familienbund erweitert werden
sollte.
III
In der Toleranzidee, die bei Lessing in einem intim-familiären
Kreis vorgeführt wird, spiegelt sich jene „Sphäre der
bürgerlich-familiären Privatheit“ wider, deren emanzipatorischen
Moment Habermas in seiner Analyse des Strukturwandels der
bürgerlichen Gesellschaft hervorgehoben hat: Sie war „nicht bloße
Ideologie“ 36 , vielmehr schuf sie erst die Möglichkeit für die
Ausbildung individueller Lebenshaltungen und entwickelte kraft
ihrer Abschirmung gegen politischen wie konfessionellen Druck
die Idee der Humanität. Das Theater der Aufklärung gehört wie
ihre geistige Bewegung überhaupt zur Sphäre kritischer
Öffentlichkeit, die das Bürgertum des 18. Jahrhunderts sich erst zu
schaffen hatte. Die Bedingungen des absolutistischen Systems
verhinderten aber die Realisation seiner Ideale, so daß die
bürgerlichen Intellektuellen schon bald ihre Ohnmacht erfuhren.
Unter den Lustspielautoren war es insbesondere der junge
Goethe, der angesichts dieser Entwicklung auch die Grenze und
182-199 nachgewiesen.
36 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, 4. Aufl.,
Neuwied und Berlin 1969, S. 58. Näheres hierzu vgl. Jürgen Jacobs:
Prosa der Aufklärung, Kommentar zu einer Epoche, München: Winkler
1976, S. 14-24, vor allem S. 23.

106
Yim, Han-Soon
Ohnmacht der Aufklärungskomödie spürte. Zunächst wandte er
sich wie Lessing gegen die Verlachkomödie. In seinem Roman
Wilhelm Meisters Lehrjahre kritisiert Wilhelm die gängige Praxis
des Lustspieltheaters mit dem Argument: „Jetzt stellen wir nur die
lächerliche Seite der Menschen dar; der Lustspieldichter ist
gleichsam nur ein hämischer Kontrolleur, der auf die Fehler seiner
Mitbürger ein wachsames Auge hat und froh zu sein scheint, wenn
er ihnen eins anhängen kann“ (HA 7, 95). Hier ärgert sich Wilhelm
offenbar über das Gottschedsche Verständnis der Komödie, und
dahinter steckt gewiß Goethes eigenes Urteil. Nicht nur von
Gottsched, auch von Lessing distanzierte sich Goethe, auch wenn
er dessen Werke wie Emilia Galotti und Minna hochschätzte.
Um die Entwicklung des Lustspiels von Lessing zu Goethe im
Rahmen der Komik-Diskussion näher zu verstehen, ist es
angebracht, die von Hans Robert Jauß vorgenommene
Unterscheidung zwischen Komik der Herabsetzung und Komik der
Heraufsetzung mit in Betracht zu ziehen. Jauß stellte am
Komischen zwei grundverschiedene Aspekte fest, „je nachdem ob
das Komische der Herabsetzung eines heroischen Ideals in eine
Gegenbildlichkeit oder ob es der Heraufsetzung des materiell
Leiblichen der menschlichen Natur entspringt“.37 Die Komik der
Herabsetzung stellt einen Helden oder eine Norm in Frage, wobei
das komische Objekt nicht an sich selbst lächerlich ist, sondern
gemessen an bestimmten Erwartungen und Normen. Die Funktion
dieser Komik besteht darin, daß menschliche Eigenschaften bzw.
gesellschaftliche Normen zur Debatte gestellt, in Zweifel gezogen
oder verspottet werden. Diese Komik betrifft vornehmlich die
Charakterkomik Gottscheds, aber im Grunde auch die
Situationskomik Lessings. Denn die Herabsetzung kann nicht nur
in destruktiver, sondern auch in affirmativer Hinsicht geschehen,
wobei sie einschließt, daß sich der Betrachter dem komischen
Helden gegenüber überlegen fühlt. Wenn wir mit Lessing über
Tellheims Blindheit und Starrsinn lachen, ohne ihn zu verlachen,
37 H. R. Jauß: Über den Grund des Vergnügens am komischen
Helden, in: W. Preisendanz / R. Warning (Hgg.), Das Komische,
München 1976, S. 104.
' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 107 
so befinden wir uns doch in einem nüchternen, ihm an Überblick
und Auskünften überlegenen Zustand.
Für den zweiten, grundlegend anderen Aspekt der Komik nimmt
Jauß als Prototypen jene Lachgestalten, die bereits Bachtin für sein
Konzept des Karnevalistischen im Roman bei Rabelais u.a.
herangezogen hat. Die Komik der Heraufsetzung kommt beim
Freisetzen und Bejahen unterdrückter Kreatürlichkeit zum
Ausdruck. Im Unterschied zur Lessingschen Komik der
Kontrastivität, Inkongruenz oder Überlegenheit kennt diese Komik
das intellektuelle Moment des Vergleichens und Abgrenzens nicht.
So läßt sie, wie Bernhard Greiner treffend formuliert, „den
Abstand zwischen Rezipienten und Helden in einem lachenden
Einvernehmen verschwinden, sei dies ein Einvernehmen über die
Befreiung des Sinnlichen, über das Sich-Durchsetzen des
Lustprinzips oder des Triumphes über die Gewalt der normativen
Welt.“38
Die kulturhistorische Dimension des heraufsetzenden Lachens
hat bekanntlich Michail Bachtin dargelegt, indem er die „Lachkultur“ des Mittelalters und deren Aufnahme in der neuzeitlichen
Literatur untersuchte. Er beschreibt die antiautoritäre Wirkung des
Lachens wie folgt:
In der Klassenkultur ist der Ernst offiziell und autoritär, er ist mit
Gewalt, Verbot und Einschränkung verquickt. Ein solcher Ernst trägt
immer ein Element der Furcht und der Einschüchterung in sich. In der
mittelalterlichen Ernsthaftigkeit dominierte dieses Element sehr stark.
Das Lachen setzte im Gegenteil die Überwindung der Furcht voraus.
Das Lachen verfügt keine Verbote und Einschränkungen. Macht,
Gewalt, Autorität sprechen niemals die Sprache des Lachens. 39
Das Lachen dieser Art ist frei und offen, es zeichnet sich durch
eine universelle „Familiarität“ aus: „Der Mensch empfindet die
Unaufhörlichkeit des Lebens auf dem öffentlichen Festplatz, in der
38 Bernhard Greiner: Die Komödie, Tübingen 1992, S. 98.
39 Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie
und Lachkultur. (Übers. von Alexander Kaempfe) Frankfurt a. M. 1990
(zuerst München / Wien 1969), S. 35.

108
Yim, Han-Soon
Karnevalsmenge, in dem er sich mit fremden Leibern jeden Alters
und jeder sozialen Stellung berührt. Er fühlt sich als Glied des
ewig wachsenden und sich erneuernden Volkes“.40
Aus Familiarität entsteht Solidarität, die wohl einzige wirksame
Waffe des Volkes gegen die Unterdrückung. Dabei ist das Lachen
als Mittel und Folge aufzufassen, da es zur Überwindung der
Furcht Solidarität zugleich voraussetzt und bewirkt. Im Lachen
vereinen sich Belachte und Lachende gegen den Ernst der Macht
und Autorität. Es ist offenkundig, daß das Lachen ebenfalls
Toleranz und Anerkennung als Voraussetzung braucht und
herbeiführen kann. Wenn wir zum Beispiel mit Minna über
Tellheim lachen, „ohne ihn im geringsten zu verlachen“, so richtet
sich unser Lachen zunächst gegen seinen Ehrbegriff, der uns
überzogen vorkommt. Wir freuen uns aber über sein wiederholtes
Umlenken und, nach der Entdeckung der Vorgeschichte,
insbesondere über seine Entscheidung, mit Minna im privaten
Glück auch ohne Ehre und Fürstendienst leben zu wollen.
Unausgesprochen
entsteht
zwischen
ihm
und
uns
Übereinstimmung darüber, daß sein Abschied von der höfischen
Welt des Absolutismus fällig geworden ist. Gefühlsmäßig
solidarisieren wir uns mit ihm, weil das Komische an ihm, in
Anbetracht des ihm angetanen Unrechts bzw. des Übergewichts
der Ehre als Verhaltenskodex, durchaus verständlich und
tolerierbar ist. ,Komik der Heraufsetzung‘ läßt sich also in
begrenztem Maße auch auf Tellheim übertragen. Satirische Züge,
die, oft in Verbindung mit der Rolle der komischen Person des
Harlekin, dieser Komik eigentümlich sind, werden in seinen
Lustspielen jedoch nie beherrschend, kommen in Minna nur
bescheiden zum Vorschein und gelangen uns nur unterschwellig
ins Bewußtsein. Sie verschwinden am Ende von selbst, da der
Abgrund der trübseligen Wirklichkeit im Interesse der Komödie
gleichsam „mit dem Teppichgewebe des Scheins überspannt“41
40 Ebd., S. 36 f.
41 Peter Michelsen: Die Verbergung der Kunst. Über die Exposition
in Lessings Minna von Barnhelm, in: Jb. d. deutschen Schillergesellschaft
17 (1973), S. 192-252, hier S. 251.
' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 109 
wird.
IV
In der Folgezeit Lessings war es kein Geringerer als Goethe, der,
von der karnevalistischen Lachkultur sowie von der Commedia
dell’arte gefesselt, stets über deren Neubelebung in Deutschland
grübelte und zeitweilig intensiv daran arbeitete.42 Am römischen
Karneval hebt er immer wieder hervor, daß das Volk sich im Fest
als Spieler und Zuschauer zugleich gibt. „Das Römische Karneval
ist,“ so schreibt er, „ein Fest, das dem Volke eigentlich nicht
gegeben wird, sondern das sich das Volk selbst gibt“ (HA 11, 484).
Zur vereinenden Funktion des Karnevals heißt es an der gleichen
Stelle:
Der Unterschied zwischen Hohen und Niedern scheint einen
Augenblick aufgehoben: alles nähert sich einander, jeder nimmt, was
ihm begegnet, leicht auf, und die wechselseitige Frechheit und
Freiheit wird durch eine allgemeine gute Laune im Gleichgewicht
erhalten. (HA 11, 485)
Ungeachtet dieser und anderer bedeutender Zeugnisse über Goethes Interesse am Komischen hat man in bezug auf die deutsche
Klassik vom Mangel an der Komödie sowie am komischen Theater
gesprochen. Denn ihr fehlen einfach Stücke, die sich auf der Bühne
hätten behaupten können und in der Theatergeschichte lebendig
geblieben wären. Schiller hat eine Theorie der Komödie entworfen,
die aber kaum in die dichterische Praxis umgesetzt wurde. Beim
jungen Goethe jedoch hat die jüngste Forschung seit den sechziger
Jahren einige bedeutende Ansätze des Lustspiels neu
herausgearbeitet, so daß ihm niemand mehr die Fähigkeit zum Komischen abzusprechen wagen dürfte. Seine dramatischen Anfänge
in der Vorweimarer Zeit bewegten sich in der Tat vornehmlich in
den Gattungen des Komischen. Er verfaßte eine ansehnliche Zahl
42 Vgl. seine Italienische Reise, vor allem den Bericht Das römische
Karneval aus seinem zweiten Aufenthalt in Rom.

110
Yim, Han-Soon
von Stücken für das komische Theater, wobei er
bezeichnenderweise
zunächst
nicht
an
den
bürgerlich-aufklärerischen, ,realistischen‘ Stil des sächsischen bzw.
rührenden Lustspiels anknüpfte, sondern auf die älteren und alten
Grundformen des komischen Spiels zurückgriff wie die Commedia
dell'arte (á la Goldoni oder Molière) und das mittelalterliche
Fastnachtsspiel. Diese Formen entsprachen der Unabhängigkeit
seiner Lebensstimmung in der Zeit des Sturm und Drang.
Von seiner ursprünglichen, schon vor seiner ersten Italienreise
(1786) sich bekundenden Nähe zur dionysisch-karnevalistischen
Tradition der Komödie zeugt eine Reihe von Farcen, Satiren und
Hanswurstiaden. Es waren vier Typen des komischen Theaters, in
denen er dramatisch produzierte: das Schäferspiel, das Lustspiel im
engeren Sinne, die Farce und das Singspiel. Von den frühen
Versuchen dieser Richtung, die eine Welt des unbeschwerten
Spiels, der moralischen Indifferenz und des fröhlich betriebenen
Unsinns feierten, gehören das Schäferspiel Die Laune des
Verliebten (1768) und das Lustspiel Die Mitschuldigen (1769) zu
den gelungensten.
IV.1
Beide Stücke gelten als die besten sowohl unter den
Lustspielversuchen Goethes als auch in der deutschen
Rezeptionsgeschichte des jeweils angewandten Genres, der in die
Antike zurückreichenden Schäferdichtung sowie der Farce
italienisch-französischer Provenienz. Die Laune ist „der Gipfel des
ganzen deutschen Schäferspiels“ 43 genannt worden und Die
Mitschuldigen „das komische Meisterwerk der Frühzeit“, „das in
der Geschichte der deutschen Alexandrinerkomödie des 18.
Jahrhunderts den ehrenvollsten Platz behauptet“. 44 Zu beiden
Erstlingen hat der Dichter selber eine besondere Neigung gezeigt.
43 Wolfgang Kayser, Anmerkungen zu HA 4, 468.
44 Emil Staiger, Goethe, Bd. 1, 4. Aufl., Zürich und Freiburg 1964, S.
49.
' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 111 
Als er 1770 nach Straßburg aufbrach, rettete er sie ausnahmsweise
vom (zweiten) Autodafé, zu dem er die meisten seiner Arbeiten
verdammte; vor allem ist das letztere Stück, das in drei Fassungen
existiert, für ihn sein ganzes Leben hindurch „ein Lieblings- und
Schmerzenskind“45 geblieben.
In dem Einakter Die Laune werden zwei Paare bei der
Vorbereitung eines Tanzfestes gezeigt. Von übersteigerter
Eifersucht geplagt, stört Eridon die schäferliche Glückswelt: Er
wittert bei seiner Geliebten Amine Treulosigkeit, auch nur wenn
sie andern als begehrenswert erscheint und an unschuldiger
Geselligkeit wie am Tanz Vergnügen findet. Das andere Paar, Egle
und Lamon, versuchen ihn, gemeinsam mit Amine, von seiner
Eifersucht zu heilen. Das Ziel wird dadurch erreicht, daß Egle, die
kluge, liebeskundige Freundin und Intrigantin, den Eifersüchtigen
zu einem leidenschaftlichen Kuß verführt und ihn damit einer
vermeintlichen Untreue überführt. Da bleibt ihm nichts anderes als
sein Fehlverhalten einzusehen und zu begreifen, wie wenig gerade
er dazu berechtigt war, sein Mädchen mit eifersüchtigen
Vorwürfen zu schikanieren. Das Schlußwort erteilt Egle nun dem
Publikum:
Ihr Eifersüchtigen! die ihr ein Mädchen plagt,
Denkt euren Streichen nach, dann habt das Herz, und klagt.
(HA 4, 27)
Die Lehrmethode der Umkehrung könnte von Lessing
übernommen worden sein. Gerade hier wird auch ein Bezugspunkt
zur Toleranzidee in Goethes Lustspielkonzeption sichtbar.
Seinem späteren Bekenntnis in Dichtung und Wahrheit zufolge
ist das Schäferspiel als „quälende und belehrende Buße“ (HA 9,
285) für sein betrübliches Verhältnis zu Käthchen Schönkopf zu
verstehen. Aus Schmerz und Reue entstand ein dramatisches Werk,
in dem der ernsthafte „Drang einer siedenden Leidenschaft“ eines
45 Fritz Martini: Goethes Die Mitschuldigen oder die
Problematisierung des Lustspiels, in: Hans Steffen (Hg.), Das deutsche
Lustspiel, Bd. 1, Göttingen 1968, S. 68-93, hier S. 71.

112
Yim, Han-Soon
jungen Manns ins Feld distanzierender Komik gerückt wird. Das
Stück macht auf den ersten Blick den Anschein eines harmlosen,
verspielten Rokoko-Spielwerks und scheint insofern noch stark
durch die Gottschedsche Typenkomödie bedingt zu sein, als es
auch hier um die Bloßstellung einer Charakterschwäche, der
Eifersucht, geht. Hinter dem poetisch abstrahierten Liebeskonflikt
und der ebenso artistisch herbeigeführten Konfliktlösung verbirgt
sich jedoch eine bestimmte Komödienintention, die das Stück als
eine „ernste Komödie“ auffassen läßt. Das Schäferspiel führt nämlich die Möglichkeit einer Emanzipation der Erotik vor, was
konservativen Kräften noch heute nicht geheuer sein dürfte. „Für
die lutherische und pietistische Ethik“ stellt die Rechtfertigung
einer sinnlich-erotischen Geselligkeit „einen Affront“ 46 dar. So
bezeichnet Conrady das Stück als „den Entwurf eines geselligen
Zusammenlebens, in dem die Ansprüche der Liebe zweier
Menschen mit den Bedürfnissen einer Gesellschaft, die die Freiheit
zu spielerischer Erotik bewahrt wissen will, zum Ausgleich
gebracht sind“.47
Der Ausgleich setzt voraus, daß die Freiheit zu spielerischer
Erotik geduldet und anerkannt wird. Gegen die Eifersucht ihres
Geliebten wendet sich Amine eben mit der Forderung zur
Nachsicht: „Heißt uns die Liebe denn die Menschlichkeit
verlassen? / Ein Herz, das Einen liebt, kann keinen Menschen
hassen“ (HA 4, 19). Es ist ersichtlich, daß Duldung und Toleranz
zum wesentlichen Gehalt des Werkes gehören. Rückblickend
bestätigt Goethe diese Thematik, wenn er schreibt:
Sie [Die Laune des Verliebten und Die Mitschuldigen] deuten auf
eine vorsichtige Duldung bei moralischer Zurechnung, und sprechen
in etwas herben und derben Zügen jenes höchst christliche Wort
spielend aus: Wer sich ohne Sünde fühlt, der hebe den ersten Stein
auf. (HA 9, 286. Dichtung und Wahrheit, II 7)
46 Gerhard Sauder, Kommentar zu J. W. Goethe, SW, Münchner
Ausgabe (MA), Bd. I.1, S. 907.
47 Karl Otto Conrady: Goethe. Leben und Werk, München und Zürich
1994, S. 70.
' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 113 
Mit seinem Plädoyer für Duldung wendet sich Goethe gegen den
als Liebe getarnten Egozentrismus. Andererseits ist der Kniefall
Eridons vor seinem Mädchen ebenso wie der Mauersturz, den sich
Goethe in bezug auf sein nächstes Lustspiel Die Mitschuldigen
ausmalt, als ein satirisches Sinnbild für die bereits in Auflösung
begriffene bürgerliche Ideologie zu deuten. In diesem Punkt zeigt
sich ein bedeutsamer Unterschied zwischen den lustspielbezogenen
Toleranzbegriffen Lessings und Goethes. Bei seiner Kritik am
geläufigen vorurteilsverhafteten Denken geht jener stets vom
moralischen Selbstbewußtsein des Bürgertums aus. Die
Überzeugung von der moralischen Integrität der bürgerlichen
Gesellschaft gerät nun beim jungen Goethe ins Wanken.
IV.2
Über den sozialen Hintergrund der Mitschuldigen schreibt Goethe
zunächst in den Tag- und Jahresheften, er habe „mancherlei
Verbrechen innerhalb des übertünchten Zustandes des bürgerlichen
Gesellschaft“ (HA 10, 429) wahrgenommen. Seinen Eindruck über
die bürgerlichen Lebensverhältnisse schildert er später in einem
Bild des Mauersturzes genauer:
[Ich hatte] in die seltsamen Irrgänge geblickt, mit welchen die
bürgerliche Sozietät unterminiert ist. Religion, Sitte, Gesetz, Stand,
Verhältnisse, Gewohnheit, alles beherrscht nur die Oberfläche des
städtischen Daseins. [...] und ein glattes Äußere übertüncht, als ein
schwacher Bewurf, manches morsche Gemäuer, das über Nacht
zusammenstürzt, und eine desto schrecklichere Wirkung
hervorbringt, als es mitten in den friedlichsten Zustand hereinbricht.
(HA 9, 285. Dichtung und Wahrheit, II 7)
Satirische Züge dieser Art beherrschen ganz unumwunden das
Lustspiel, das eigentlich als Farce verfaßt wurde. Die erste Fassung
war einaktig, die zweite und die dritte sind zu einem Dreiakter
erweitert worden. Die kleinbürgerliche Familie des Wirtshauses
und die Liebesbeziehung zwischen dem Adligen Alcest und der
Bürgerstochter Sophie werden so dargestellt, daß die

114
Yim, Han-Soon
Fragwürdigkeit der gesellschaftlichen Zustände ans Licht kommt.
Für den Grobian und Schmarotzer Söller, die unbefriedigte Ehefrau
Sophie und den krankhaft neugierigen, vom Geschäftsinteresse
korrumpierten Alten wird der reiche Gast Alcest zur Prüfung: Alle
drei schleichen unter dem Schutz der Dunkelheit in sein Zimmer,
der erste, um den Gast und ehemaligen Liebhaber seiner Frau zu
bestehlen, die andere, um ein Rendezvous mit dem Geliebten zu
halten, der dritte, um einen Brief des Gastes zu lesen. Jedem
durchkreuzt ein anderer unbewußt die Erfüllung seiner
bedenklichen bzw. verbrecherischen Absichten. Hat Söller das
Geld gerade noch an sich gerissen, so ist der weitere Verlauf der
Handlung
auf
die
Entdeckung
der
dreifachen ,Diebstähle‘ abgestimmt. Die harte Satire der Familie
gilt auch dem Liebenden Alcest, weil es ihm nur darum geht, seine
frühere Geliebte wieder zu besitzen und sie je nach Bedarf zu
verehren oder sexuell zu genießen.
Söller stammt aus der italienisch-französischen bzw. deutschen
Tradition von Harlekin, Buffo und Hanswurst. Er ist in jeder
Hinsicht der Protagonist der Komik: Er inszeniert komische
Situationen und kann sogleich selbst Objekt des Lachens und
Verlachens werden. Außerdem verkörpert er die moralische
Freiheit, die in der Farce und dem Lustspiel herrschen darf; das
Stück spielt ja in der Karnevalszeit. Die ,moralische Indifferenz‘,
die der Farce eigentümlich ist und die Schiller und Goethe der
Gattung Komödie allgemein zugeschrieben hat,48 gipfelt in der
Schlußszene, wo alles beim Alten bleibt und der unbestrafte Dieb
beruhigt das letzte Wort ausspricht: „Nein das wär zuviel, ein
Hahnrei und gehangen“ (HA 4, 72).
Seine Anklage gegen Alcest ist freilich bei aller Zwielichtigkeit
plausibel und berechtigt:
Allein, ihr großen Herrn, ihr habt wohl immer recht?
48 Vgl. Friedrich Schiller: SW, 5. Bde., 5. Aufl., München 1975, Bd.
5, 845: „[...] jene geistreiche Heiterkeit und Freiheit des Gemüts, welche
in uns hervorzubringen das schöne Ziel der Komödie ist, läßt sich nur
durch eine absolute moralische Gleichgültigkeit erreichen“.
' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 115 
Ihr wollt mit unserm Gut nur nach Belieben schalten;
Ihr haltet kein Gesetz, und andre sollens halten?
Das ist sehr einerlei: Gelust nach Fleisch, nach Gold.
[...]
Ich stahl dem Herrn sein Geld, und er mir meine Frau. (HA 4, 70)
Wenig zuvor widersetzte sich Söller dem Buhler ebenfalls mit Andeutungen auf den versuchten Ehebruch und somit auf die Willkür
des Adelsstandes: „[...] die Herren Ihresgleichen, / Die schneiden
meist für sich das ganze Kornfeld um, / Und lassen dann dem
Mann das Spicilegium“ (HA 4, 68). Hier wird am deutlichsten, daß
das Stück als Satire konzipiert ist.
Goethe war freilich weit entfernt und hat sich immer weiter
davon entfernt, die Gegensätze von Adel und Bürgertum, Stadt und
Land zugunsten des letzteren als wesentliche Wertkontraste
herauszustellen. Gerade gegen solche Ideologie der Spätaufklärung
wird in den Mitschuldigen „die schlechte Gemeinsamkeit“ des
Adelsstandes und des Bürgertums betont: „Beide leben vom
›Stehlen‹“, 49 wie Arntzen lakonisch feststellt. Das Schlußwort,
„Diesmal blieben [bleiben] wir wohl alle unbehangen“ (FA I.5,
368), sagt Söller in der 1787 erschienenen dritten Fassung direkt
„zum Parterre“. Das Publikum sollte „nicht mehr einen verlachen,
sondern im Lachen über alle sich selbst erkennen“.50 Aus dieser
Sicht betrachtet, erinnert das Stück zum Beispiel an Die
Dreigroschenoper Brechts und beinhaltet so ein noch heute
aktuelles Moment.
In der bisherigen Forschung herrscht dennoch die Ansicht, es
fehle dem Stück gerade wegen der am Schluß zutage tretenden
moralischen Gleichgültigkeit an satirisch-provokativer Tendenz.
Weiterhin wird behauptet, daß die in der zweiten Fassung
vorgenommene und in der dritten noch weiter geführte Mischung
zweier Typen der Komödientradition – der Farce (Commedia
dell'arte) und des bürgerlichen, rührenden Lustspiels – die
Wirkungskraft des Stückes erheblich geschwächt und es somit
49 Helmut Arntzen: Die ernste Komödie. Das deutsche Lustspiel von
Lessing bis Kleist, München 1968, S. 59.
50 Ebd.

116
Yim, Han-Soon
unvollkommener gemacht habe.51 Dagegen gehen wir davon aus,
daß die hauptsächliche Intention des Lustspiels nach wie vor
provokative Satire ist und daß es dieses Ziel im wesentlichen
weiterhin zu erreichen vermag. Die beanstandete moralische
Indifferenz wäre doch als Widerspiegelung der Doppelmoral, als
Selbstportrait der eben ,moralisch indifferenten‘ Gesellschaft zu
verstehen.
In diesem Zusammenhang verteidigte Goethe sogar den
Diebstahl Söllers als einen berechtigten Vergeltungsakt: „Der
Buffo [Söller] entschuldigt sein Verbrechen durch das Recht des
Wiedervergeltens und somit wäre nichts daran auszusetzen.“52 Die
Ursache des Mißerfolgs, den das Stück in der deutschen
Theatergeschichte hatte, sah Goethe zwar mit Recht darin, daß die
dort skrupellos vorgeführten verbrecherischen Handlungen das
ästhetische und moralische Gefühl der Zuschauer verletzten. Auch
hier sah er aber eben die Widerprüchlichkeit des Publikums:
[...] wenn man sich gleich tagtäglich Liebeswechsel erlaubt, so
möchte man da droben was Besseres gewahr werden; besonders ist
dies Art der Deutschen, worüber viel zu sagen wäre.53
Die ausgebliebene Resonanz läßt sich also eher „mit der historisch
bedingten Unfähigkeit des zeitgenössischen Publikums [erklären],
die Form des Werks als genaue Entsprechung seiner Thematik zu
verstehen“, 54 d.h. das Stück als eine farcenhafte Satire bzw.
satirische Farce zu begreifen und zu genießen. Die
provokativ-satirische Absicht kommt nämlich auch in dem
raffinierten Zusammenspiel von Form und Inhalt zum Ausdruck.
Die Virtuosität und Glätte des Alexandriners, vor allem das viel
51 W. Kayser, HA 4, 479; Fritz Martini, ebd., 88; Wolfgang
Preisendanz, Das Schäferspiel Die Laune des Verliebten und das
Lustspiel Die Mitschuldigen, in: Goethes Dramen. Neue Interpretationen,
hg. v. Walter Hinderer, Stuttgart 1980, S. 20.
52 Goethe an Franz von Elscholtz, 16. 11. 1825. Zit. nach FA I.5,
1152.
53 Ebd., S. 1153.
54 E. Catholy: Das deutsche Lustspiel, S. 85.
' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 117 
kritisierte, gleichsam zur Verwischung aller offenen Fragen
notgedrungen herbeigeführte Happyend, das ist nur Tünche und
entspricht genau dem gesellschaftlichen Firnis, unter dem sich
Diebstahl, Ehebruch und andere Laster verbergen.
Wie verhält sich die geforderte Duldung bei moralischer
Fragwürdigkeit zur Gesellschaftssatire, die als die hauptsächliche
Intention des Lustspiels anzusehen ist? Die Nachsicht sollte
offenbar allen vier Figuren des Stückes gelten. Einerseits hat sich
Goethe bei der späteren Umarbeitung viel Mühe gegeben, das
Bedenkliche der Liebesbeziehung abzuschwächen. Andererseits
hat er auch Söllers gesetzwidrige Handlungen, sei es
lustspieltheoretisch oder unter Berufung auf die Bibel, mehrfach
rechtfertigt. Offenbar konnte er sich weder für das schlechte Alte
(Alcest) noch für das falsche Neue (Söller) entscheiden. „Wer sich
ohne Sünde fühlt, der hebe den ersten Stein auf!“ – mit diesem
Bibelzitat bringt er seine eigene Unentschiedenheit mit zum
Ausdruck.
Wahrscheinlich war er aber in seinem Innern nicht ganz
abgeneigt, bei der Konfrontation zwischen Söller und Alcest jenem
mehr Recht zu geben. Unter den bedrückenden Erfahrungen über
die bürgerliche Sozietät habe er, so bedauert er in Dichtung und
Wahrheit im Hinblick auf seine ersten Stücke, „sehr günstige
Motive“ versäumt, die seinen neu erwachten Widerspruchsgeist
angesprochen hätten. In ihm habe sich „ein verwegener
Humor“ entwickelt, „der sich dem Augenblick überlegen fühlt,
nicht allein keine Gefahr scheut, sondern sie vielmehr mutwillig
herbeilockt“. Weiter heißt es:
Solche humoristische Kühnheiten, mit Geist und Sinn auf das Theater
gebracht, sind von der größten Wirkung. [...] Beaumarchais hat ihren
ganzen Wert gefaßt, und die Wirkungen seiner Figaros entspringen
vorzüglich daher. (HA 9, 286 f.)
Indem er die Figaros von Beaumarchais, dessen Werke erst später
erschienen,55 unausgesprochen neben Söller stellt, scheint Goethe
55 Pierre Augustin Caron de Beaumarchais (1723-1799): Le Barbier
de Séville (1772), Le Mariage de Fiagro (1781).

118
Yim, Han-Soon
die Existenzberechtigung seiner Lustspielfigur bestätigen zu
wollen. Bei aller Verschiedenheit sind Söller und Figaro darin
verwandt, daß sie sich, um nicht gehörnt zu werden, der Willkür
des Adelsstandes widersetzen.
Wenigstens einmal fand der späte Goethe die ursprüngliche,
satirische Intention seines Lustspiels richtig verstanden und
honoriert, als Zelter 1824 von einer Berliner Aufführung des
Stückes nach Weimar berichtete: Das vorstädtische Publikum habe
sich gegen den ersten Rang „in Dreistigkeit des Beifalls“ 56
hervorgetan, während das vornehme Publikum sich geschämt und
zurückhaltend reagiert habe. Gleich darauf schrieb Goethe an
seinen Freund zurück und bezeichnete die Wirkung als „ganz die
rechte“:
Ein sogenanntes gebildetes Publikum will sich selbst auf dem Theater
sehen und fordert ungefähr eben soviel vom Drama als von der
Sozietät; es entstehen Convenancen zwischen Acteur und Zuschauer;
das Volk aber ist zufrieden, daß die Hanswürste da droben ihm Späße
vormachen, an denen es keinen Teil verlangt.57
Goethe sah ein, daß das Volk besseres Gespür für Komik hatte als
der gebildete Adelsstand. ,Komik der Heraufsetzung‘ ging doch
auf, weil das Vergehen Söllers unter dem Publikum niederen
Standes als tolerierbar oder sogar als berechtigt empfunden wurde
und
damit
Übereinstimmungen
zwischen
Schauspieler
[Lustspielfigur] und Zuschauer entstanden.
V
Der späte Goethe distanzierte sich zusehends vom „verwegenen
Humor“ und „Übermut“ seiner frühen Jahre, entwickelte die
klassische Humanitätsidee immer überzeugter aus dem Standpunkt
56 Briefwechsel mit Zelter, hg. v. L. Geiger, Leipzig o.J., Bd. 2, S. 292.
57 Ebd., S. 295. Auch: Goethes Werke, Weimarer Ausgabe (WA), Bd.
39, S. 27.
' Toleranz als Komödienintention bei Lessing und Goethe 119 
eines aufgeklärten Feudalismus. Toleranz wird in seinen späteren
Werken daher immer nur von oben nach unten erwiesen. In seinen
drei ,Revolutionskomödien‘, Der Groß-Cophta, Die Aufgeregten
und Der Bürgergeneral, wird das Happyend jedesmal erst durch
großmütigen Einsatz des Herrscherhauses oder des hohen Adels
ermöglicht. Bereits in den Mitschuldigen leistet Alcest als reicher
Adel einen entscheidenden Beitrag zur allgemeinen Versöhnung,
indem er seine gestohlenen Gelder großzügig dem Dieb schenkt.
Duldung und Toleranz wirkt in diesem Kontext nicht günstig für
die Komödie, es sei denn, der Zuschauer ist mit der
Wiederherstellung bzw. Fortdauer der alten Ordnung einverstanden.
Da dies eben nicht der Fall war, konnten sich die späteren
Lustspiele des Dichters nicht auf der Bühne behaupten.
Die in den frühen Versuchen gemeisterten Elemente und Typen
des Komischen haben, selbst wenn sie ihre anfängliche Frische und
Schlagkraft zusehends einbüßten, sein dichterisches Schaffen
weiter maßgeblich mitbestimmt, wobei der Toleranzgedanke stets
im Mittelpunkt seiner dramatischen Konzeption stand. Das zeigt
sich am deutlichsten wohl in seinem Faust. Obwohl im Untertitel
eindeutig als „Tragödie“ bezeichnet, ließe sich das Drama
aufgrund der Rahmenstruktur und anderer lustspielhafter Elemente
als „göttliche Komödie“, eben als eine Komödie besonderer Art,
auslegen.58 Dann bräuchte der Zuschauer, um es als eine irdische
Komödie rezipieren zu können, eigentlich nur die rettende Gnade
Gottes im Bewußtsein zum zwischenmenschlichen Tugendbegriff
Toleranz zu säkularisieren.
Literaturhinweise
Arntzen, Helmut: Die ernste Komödie. Das deutsche Lustspiel von
58 Vgl. Walter Müller-Seidel: Komik und Komödie in Goethes
Faust, in: Das deutsche Lustspiel, 1. Teil, hg. v. Hans Steffen, Göttingen
1968, S. 94-119; Bernhard Greiner: Die Komödie, S. 208-223 (Kap. 3.1.:
Das Theater als Garant der Komödie im Faust und die
Komödienkonzeption der Klassik).

120
Yim, Han-Soon
Lessing bis Kleist, München 1968.
Bachtin, Michail M.: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie
und Lachkultur, übers. von Alexander Kaempfe, Frankfurt a. M.
1990 (zuerst München / Wien 1969).
Barner, Wilfried u.a., Lessing. Epoche-Werk-Wirkung, 5. Aufl.,
München 1987.
Böhler, Michael: Lachen oder Verlachen. Das Dilemma zwischen
Toleranzidee und traditioneller Lustspielfunktion in der
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Catholy, Eckehard: Das deutsche Lustspiel. Von der Aufklärung
bis zur Romantik, Stuttgart: Kohlhammer 1982.
Conrady, Karl Otto: Goethe. Leben und Werk, München und
Zürich 1994.
Goethe, Johann Wolfgang: Werke, Hamburger Ausgabe (HA), 14
Bde., 5. Aufl., Hamburg 1962.
_______: Sämtliche Werke, Frankfurter Ausgabe (FA), Abteilung
I, Bd. 4, Frankfurt/M. 1988.
_______: Sämtliche Werke, Münchner Ausgabe (MA), Bd. I.1,
München 1985.
Greiner, Bernhard: Die Komödie, Tübingen 1992.
Jauß, Hans Robert.: Über den Grund des Vergnügens am
komischen Helden, in: W. Preisendanz / R. Warning (Hgg.), Das
Komische, München 1976.
Lessing und die Toleranz, Sonderband zum Lessing Yearbook,
München 1986.
Lessing, Gotthold Ephraim: Werke, 8 Bände, hg. von Herbert G.
Göpfert. München 1970 ff.
Martini, Fritz: Goethes Die Mitschuldigen oder die
Problematisierung des Lustspiels, in: Hans Steffen (Hg.), Das
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Müller-Seidel, Walter: Komik und Komödie in Goethes Faust, in:
Das deutsche Lustspiel, 1. Teil, hg. v. Hans Steffen, Göttingen
1968, S. 94-119.
Pütz, Peter: Die Leistung der Form. Lessings Dramen, Frankfurt a.
M. 1986.
Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke, 5. Bde., 5. Aufl., München
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Schultze, Harald: Lessings Toleranzbegriff, Göttingen 1969.
Steinmetz, Horst: Minna von Barnhelm oder die Schwierigkeit, ein
Lustspiel zu verstehen, in: Wissen aus Erfahrungen. Werkbegriff
und Interpretation heute. Festschrift für Herman Meyer zum 65.
Geburtstag, hg. von A. v. Bormann, Tübingen 1976, S. 135-153.
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