Kann denn Arbeit Sünde sein? Von Überstunden und Überallstunden in der modernen Arbeitswelt Dr. Stefan Poppelreuter, TÜV Rheinland Akademie GmbH Bonn Vorstellung Dr. Stefan Poppelreuter Diplom-Psychologe Trainer, Coach, Berater Arbeitsschwerpunkte: Arbeit und Gesundheit, Psychische Belastungen am Arbeitsplatz, Mitarbeiterführung und strategische Personalentwicklung Leiter des Bereichs Corporate & HR Development bei der TÜV Rheinland Akademie GmbH 2 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Ein kurzer Überblick Relevanz des Themas Arbeitssucht Was ist Arbeitssucht? Symptomatik und Entstehung Folgen und Diagnose Arbeitssucht überwinden 3 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Arbeitssucht - Relevanz Arbeit Sucht Wie passt das zusammen? Kann man zu viel arbeiten? Für wen stellt es ein Problem dar, wenn man zu viel arbeitet, wenn zu viel gearbeitet wird? 4 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Warum ist Arbeitssucht ein Thema? 59% 56% 43% …der Beschäftigten in Deutschland leisten pro Woche bis zu 10 Überstunden oder mehr …aller Arbeitnehmer(innen) bundesweit fühlen sich sehr häufig oder oft bei der Arbeit gehetzt …der Beschäftigten glauben nicht, dass sie unter den Anforderungen ihrer Tätigkeit bis zur Rente durchhalten (DGB-Index Gute Arbeit, 2014) 5 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Warum ist Arbeitssucht ein Thema? mindestens jeder neunte Arbeitnehmer ist arbeitssüchtig jeder siebte Arbeitnehmer ist gefährdet (Poppelreuter, 2001) 6 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Grund für Zunahme der Belastung Dynamik Produkte, Dienstleistungen, Prozesse, Organisationen verändern sich in Richtung und Intensität immer schneller und werden komplexer Komplexität Anzahl, Vielfalt der Systemelemente und deren Vernetzungsgrad steigen Dynaxität (Kastner, 2005) 7 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Definition Sucht Sucht: Unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Gefühls-, Erlebnis- und Bewusstseinszustand, der durch die Einnahme psychotroper Substanzen ( Abhängigkeit) oder durch das Praktizieren bestimmter Verhaltensweisen erzielt wird. Kriterien zur Diagnose von Sucht (nach Gross, 1992): Toleranzentwicklung Interessenabsorption Kontrollverlust Gesellschaftlicher Abstieg Entzugserscheinungen Rückfall Wiederholungszwang Psychischer/körperlicher Zerfall Dosissteigerung 8 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Arbeitssucht – eine Tugend? „Kein Erfolg ohne Mühe und Arbeit“ Ernst Thälmann „Einfach kann schwerer als komplex sein: Man muss hart arbeiten, um das eigene Denken so sauber zu bekommen, damit man es einfach machen kann.“ Steve Jobs „Wenn die Arbeit ein Vergnügen ist, wird das Leben zur Freude.“ Maxim Gorki „Ohne Arbeit ist das Leben elend. Aber wenn die Arbeit ohne Seele ist, erstickt das Leben und stirbt.“ Albert Camus „Früher arbeiteten die Menschen, um zu leben, heute leben die Menschen, um zu arbeiten.“ Berthold Brecht 9 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Arbeitssucht – eine Tugend? Arbeitssucht als Tugend Im Gegensatz zu anderen Süchten, deren Risiken man kennt, werden Arbeit, Fleiß, Tüchtigkeit und Erfolg als Tugenden in unserer Leistungsgesellschaft gesehen. Grund: Menschen erwarten nicht, dass Tugenden wie z.B. Fleiß Symptome psychischer Störungen sein können sondern verbinden Sucht mit Substanzabhängigkeit. 10 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Definition Arbeitssucht Arbeitssucht entscheidet sich NICHT nach Anzahl der Stunden die jemand pro Woche arbeitet! „Ich arbeite, also bin ich.“ 11 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Definition Arbeitssucht Der Begriff „Workaholism“ kennzeichnet ein exzessives Bedürfnis nach Arbeit, das ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es für den Betroffenen zu unübersehbaren Beeinträchtigungen der körperlichen Gesundheit, des persönlichen Wohlbefindens, der interpersonalen Beziehungen und des sozialen Funktionierens kommt. Wayne Oates, 1971 „Arbeitssucht ist eine Form pathologischen Arbeitsverhaltens und kann definiert werden als ein unkontrollierbarer, innerer Zwang, in der Arbeitswelt, aber auch in der Freizeit und im Privatleben tätig zu werden, während gleichzeitig andere Verhaltensmöglichkeiten dem Arbeiten untergeordnet und den stoffgebundenen Abhängigkeiten ähnliche Suchtverhaltensweisen gezeigt werden.“ Städele, 2008; Wehner, 2006 12 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Arbeitssucht – Symptomatik Arbeitssüchtige… verfallen psychisch und physisch der Arbeit können Arbeitsverhalten nicht mehr kontrollieren arbeiten länger als vorgenommen bzw. in Situationen in denen sie nicht arbeiten sollten haben Probleme nicht zu arbeiten und leiden bei Nicht-Arbeiten unter Entzugserscheinungen entwickeln eine Toleranz sie müssen immer mehr arbeiten um gewünschte Effekte (z.B. Gefühl der Leistungserbringung, Daseinsberechtigung, Verdrängung von Angst-/Unlustgefühlen) zu erzielen neigen dazu sich um Arbeiten zu kümmern für die sie gar nicht/zu gut qualifiziert sind haben weitere psychosoziale/psychoreaktive Störungen (Poppelreuter & Evers, 2000) 13 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Entstehung der Arbeitssucht – Erklärungsmöglichkeiten feste Vorstellungen eigener Großartigkeit („Narzissmus“) keine richtige Entwicklung einer Identität („Ich bin, was ich verdiene!“) dysfunktionales Familiensystem in der Kindheit (durch starre Regeln und unrealistisch hohe Ansprüche entstehen Minderwertigkeitsgefühle und Versagungsängste, denen mit Vielarbeit begegnet wird) („Schrei nach Liebe“) 14 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Arbeitssucht als Managerkrankheit? Es gibt keine einheitlichen Persönlichkeitsmerkmale, die einen Arbeitssüchtigen eineindeutig kennzeichnen Es handelt sich um ein universelles Phänomen, das jeden treffen kann, der in irgendeiner Form produktiv tätig ist/sein möchte Risikogruppen: Erwerbstätige Abhängig Beschäftigte Personen außerhalb des Erwerbslebens (Heide, 2001) 15 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Folgen der Arbeitssucht für das Individuum Erste Phase: Einleitungsphase/ psychovegetatives Stadium • Erschöpfungsgefühle, leichte psychische und physische Störungen/Beschwerden Zweite Phase: kritische Phase/psychosomatisches Stadium • Durch massive psychische und/oder physische Beeinträchtigungen gekennzeichnet; deutliche Depressionen, schwerwiegende körperliche Probleme, aber psychische Bindung an Arbeit und Suchtverschiebung Dritte Phase: chronische Phase • Arbeit hat Arbeitssüchtigen völlig unter Kontrolle, es treten psychische u. physische Entzugserscheinungen auf wenn nicht gearbeitet wird, sozialen Verpflichtungen wird nicht nachgegangen Endstadium • irreparablen Minderungen der Leistungsfähigkeit, Konzentrationsschwächen, chronische Depressionen bis hin zum vorzeitigen (Frei-) Tod (nach Mentzel, 1979) 16 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Negative Effekte von Arbeitssucht im Arbeitsalltag Unternehmen sehen in mehr Arbeit zunächst eigenen Nutzen Glaube daran, dass der Vielarbeiter immer auch ein guter Arbeiter ist Folgen: - Wenig effektives Arbeiten während der regulären Arbeitszeit - Verlust an Aufnahme- und Verarbeitungsleistung bei wachsender Arbeitszeit - Vernachlässigung wesentlicher anderer - insbesondere strategisch wichtiger Tätigkeiten - Unausgeglichene Beziehung zwischen Arbeit und Freizeit - Verhinderung anderer, am Arbeitsplatz erwünschter Verhaltensweisen (Delegation, Verantwortungsabgabe, Kooperation und Teamarbeit etc.) 17 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Negative Effekte von Arbeitssucht für das Unternehmen Fehlzeiten, Konflikte am Arbeitsplatz längere Arbeitsunfähigkeit/ Frühinvalidität Abweichendes Verhalten Unternehmen physische & psychische Auffälligkeiten Missachtung Arbeitsteilung/ Verantwortlichkeiten Negativer Einfluss auf Interaktionsverhalten 18 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Schwierigkeit bei Arbeitssucht Ichsyntone Störung Symptome werden aus Eigenperspektive selten als störend/abweichend erlebt Betroffene erkennen zwar zunehmend zwischenmenschliche Schwierigkeiten/ körperliche Probleme können diese aber nicht auf vorhandene psychische Störungen zurückführen Süchtige sind deshalb angewiesen auf Feedback des Umfeldes (Partner, Freunde, Verwandte, Kollegen, Vorgesetzte) Oft muss es aber erst zu schwerwiegenden körperlichen, psychischen, sozialen Probleme kommen um Einsicht zu erzielen 19 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Diagnose von Arbeitssucht Problem: Arbeitssucht nicht in der offiziellen medizinisch-psychiatrischen und psychologischen Diagnostik anerkannt Keine einheitlichen Kriterien-/Fragenkatalog Klassifizierung in der bisherigen Forschung oftmals allein anhand der Anzahl der Arbeitsstunden pro Woche Zwanghafte Persönlichkeitsmerkmale (Perfektionismus, Vernachlässigung von Freizeitaktivitäten, Vorliebe für Ordnung und Organisation, übermäßige Beschäftigung mit Regeln und Details) sind zuverlässiger für eine Diagnose Zur gezielten Feststellung wäre ein Messinstrument nötig, welches auf die individuelle Arbeitssituation angewendet werden kann Ergebnisse der einzelnen Arbeitssuchtkennwerte wären somit aber nicht mehr vergleichbar 20 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Diagnose von Arbeitssucht Besteht aus 25 Fragen die mit Ja oder Nein beantwortet werden sollen Anzahl der Ja-Antworten als Grundlage der Arbeitssucht-Diagnose Diagnostischer Aussagegehalt nicht überprüft Eher als Anregung zur Reflexion Risikotest zur Arbeitssucht von Robinson (2000) 21 04.06.2015 Besteht aus 25 personenbezogenen Aussagen Aussagen sollen auf 4-stufiger Skala bewertet werden Summe der Ausprägungen als Grundlage der Arbeitssucht-Diagnose Kein belastbares diagnostisches Instrument Präsentation TÜV Rheinland Screening-Fragebögen Fragebogen zur Arbeitssucht von Menzel (1979) Sind Sie arbeitssüchtig? 1) Machen Sie mehr Überstunden als Ihre Kollegen? 2) Organisieren Sie Ihre Freizeit? 3) Neigen Sie dazu, persönliche Kontakte durch Arbeit zu ersetzen, d.h. ist Ihre Arbeit manchmal Mittel zu Vermeidung enger Beziehungen? 4) Planen Sie in der Regel jede Station einer bevorstehenden Reise und fühlen Sie sich unwohl, wenn Ihre Pläne daneben gehen? 5) Arbeiten die meisten Ihrer Freunde ähnlich wie Sie? 6) Nehmen Sie Arbeitsunterlagen mit zu Bett, wenn Sie krank zu Hause bleiben? 7) Lesen Sie fast ausschließlich arbeitsbezogene Bücher, Artikel usw.? 8) Können Sie sich besser mit Kollegen als mit Familienmitgliedern unterhalten? 9) Wachen Sie mitten in der Nacht auf und denken über arbeitsbezogene Probleme nach? 10) Werden Sie unruhig, wenn Sie Urlaub haben? 22 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Arbeitssucht überwinden - Ziele Reduktion des süchtigen Arbeitsverhaltens emotionale Haltung der Arbeit gegenüber verändern Stellenwert der Arbeit im Leben überdenken stärkere Differenzierung von Arbeit und Freizeit Verbesserung des physischen und psychischen Gesundheitszustands 23 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Veränderung überzogener Anspruchshaltungen Stärkung der Bereitschaft zur Teamarbeit Auflösung der irrationalzwanghaften Arbeitshaltung Verbesserung der interpersonellen Beziehungen Organisationale Maßnahmen zur Prävention Personalauswahlverfahren und Anforderungsprofile überdenken - Passung von Arbeitsanforderungen und Mitarbeiterqualifikationen Anreizsysteme, Arbeitszeit-, Pausen-, Urlaubsregelungen im Hinblick auf suchtfördernde Aspekte untersuchen Strukturierung der Arbeitsaufgaben Mitarbeiterpartizipation und Arbeit in Gruppen stärker betonen Karriereentwicklungsplanung Gestaltung des Arbeitsumfeldes 24 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Organisationale Maßnahmen zur Prävention Verbesserung der Arbeitsplatzbeziehungen Rollenanalyse Teamentwicklung Individuelle und kollektive Zielvereinbarung Angebote sozialer Unterstützung/Coaching Funktioniert nur, wenn der Betroffene bereit ist, das Problem aktiv zu bewältigen 25 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Individuelle Maßnahmen zur Prävention Entspannung und Reduzierung von Stresssymptomen: - Entspannungstrainings - körperliche Übungen - emotionale Entspannung - Coaching oder Psychotherapie - Regelmäßige medizinische Kontrollen - Besuch von Selbsthilfe- bzw. Unterstützungsgruppen 26 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Individuelle Maßnahmen zur Prävention Koordination von Arbeitsanforderungen und persönlichen Bedürfnissen: Ziel-/ Werteinventur Stressbewältigung Lebensstilgestaltung strukturell und inhaltlich veränderter Umgang mit Freizeit Gestaltung der persönlichen Arbeitsumgebung völlige Abstinenz nicht möglich 27 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Do you want to read more? Poppelreuter, S. (2013). Kann denn Arbeit Sünde sein? Von Überstunden und Überallstunden in der modernen Arbeitswelt, In B. Badura, A. Ducki, H. Schröder, J. Klose & N. Meyer (Hrsg.). FehlzeitenReport 2013 (101-112). Heidelberg: Springer 28 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland Poppelreuter, S. & Mierke, K. (2012). Psychische Belastungen am Arbeitsplatz: Ursachen Auswirkungen – Handlungsmöglichkeiten. Berlin: Erich Schmidt Verlag GmbH & Co VIELEN DANK! AUF WIEDERSEHEN! Für Rückfragen und/oder weitere Informationen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung: Dr. Stefan Poppelreuter TÜV Rheinland Akademie GmbH Römerstraße 45-47 53111 Bonn Fon: 0228/ 926169-16 Fax: 0228/ 926169-69 Mail: [email protected] 29 04.06.2015 Präsentation TÜV Rheinland