Predigt - Die Johanniter

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Predigt im Gottesdienst am Sonntag, den 15.11.2015 (vorletzter Sonntag des
Kirchenjahres) von Alexander Dietz
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des
Heiligen Geistes sei mit euch allen.
Das Wort der Heiligen Schrift für die heutige Predigt steht im Evangelium nach Matthäus,
Kapitel 25, Verse 31 bis 46: Das Gleichnis vom Weltgericht
„Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm,
dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm
versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den
Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da
wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines
Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig
gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu
trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt
gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich
bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten
antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen
gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden
gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben
wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird
antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen
meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Dann wird er auch sagen zu denen zur
Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel
und seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben.
Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder
gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich
nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht.
Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder
durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir
nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr
nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie
werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.“
Liebe Gemeinde,
während wir in diesem Gottesdienst das Orgelvorspiel gehört haben, liegt Heinz Schmidt im
Sterben. So wie 800 andere Menschen an jedem Tag in Deutschland. Er wurde 82 Jahre alt.
Das sind 30.000 Tage. 700.000 Stunden. Ist das viel oder wenig? Die letzte Stunde davon ist
angebrochen. Irgendwann ist immer die letzte Stunde. Er hatte Glück gehabt. 82 Jahre. Und
bis zum Schluss geistig fit. Hoffentlich bin ich in Deinem Alter auch noch so fit. Das hatte
seine Tochter ihm an Weihnachten gesagt. Wo ist sie jetzt eigentlich? Er hatte sich in den
vergangenen Jahren gerne mit Philosophie beschäftigt. Alle möglichen Bücher gelesen. Auf
dem Nachttisch stapeln sie sich. Erkenne dich selbst. Damit meinten die alten Griechen:
Erkenne, dass du sterblich bist. Erkenne, dass du begrenzt bist. 700.000 Stunden. Keine davon
kommt zurück. Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, das zu tun, was ich wirklich will,
denkt er. Keine Entscheidung kann jetzt mehr rückgängig gemacht werden. Ich wünschte, ich
hätte den Mut gehabt, mehr Risiken einzugehen. Keine Beziehung kann jetzt mehr gepflegt
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werden. Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meiner Tochter meine Gefühle zu zeigen.
Ihm ist schwindelig. War das jetzt eigentlich ein gutes Leben?
Während wir in diesem Gottesdienst das Eingangslied gesungen haben, sitzt Daniela Schmidt
vor dem Fernseher. Wie an jedem Sonntag. Dreizehn Jahre ihres Lebens verbringen
Menschen in Deutschland durchschnittlich mit Fernsehen. Irgendwann muss man ja mal
ausspannen. Sie arbeitet 60 Stunden in der Woche, montags bis samstags. Für eine
erfolgreiche Beraterin in einer der Top-PR-Agenturen ist das ganz normal. Jetzt zappt sie zum
dritten Mal alle Kanäle durch. Es kommt aber auch gar nichts. Die ganze Woche muss sie sich
mit den nervigen Kunden abgeben. Heute will sie keinen Menschen sehen. Auf ZDF wird ein
evangelischer Gottesdienst übertragen. Es geht um das Weltgericht. Sind wir denn noch im
Mittelalter?, denkt sie. Der Mensch hat eine Bestimmung. Der Pfarrer im Fernsehen zieht die
Augenbrauen hoch. Eine Bestimmung zu einem Leben in Mitmenschlichkeit. Diese
Bestimmung kann auch verfehlt werden. Will der mir jetzt Angst machen, oder was?, denkt
sie. Woher will der meine Bestimmung kennen? Ich bin niemandem gegenüber
rechenschaftspflichtig. Außer mir selbst. Und ich muss mich nicht verstecken. Ich habe viel
erreicht. Oder? Nicht alles natürlich. Leider ließen sich Kinder mit dem Beruf nicht
vereinbaren. Deswegen ist auch damals aus der Sache mit Christian nichts geworden. Und ich
musste umziehen. So dass ich meinen Vater nur noch an Weihnachten sehe. Wie es ihm wohl
geht? Aber ich habe viel erreicht. Oder?
Während wir in diesem Gottesdienst das Ordensgebet gesprochen haben, klopft Christian
Weber an die Tür Nummer 116 im Johanniter-Pflegeheim. Er hat der hochbetagten Dame
versprochen, heute mit ihr zusammen den Fernsehgottesdienst anzuschauen. Sie kann das Bett
nicht mehr verlassen. Er gehört zur ehrenamtlichen Besuchsdienst-Gruppe. Seit er im
Vorruhestand ist, kommt er endlich dazu, das zu tun, weswegen er einmal vor vielen Jahren in
den Orden eingetreten ist. Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern,
das habt ihr mir getan. Ja, genau das war der Grund für ihn, Johanniter zu werden. Als ob der
Pfarrer im Fernsehen es gewusst hätte, denkt er. Dieser Bibeltext hatte ihn schon immer
fasziniert. Hier wird klipp und klar gesagt, worauf es im Leben ankommt. Worauf es am Ende
wirklich ankommt. Es ist ihm im Zimmer eindeutig zu warm. Ob unser Leben im Rückblick
sinnvoll oder sinnlos war, hängt nicht von unserer Karriere ab. Nicht einmal unsere
Kirchenzugehörigkeit scheint für Gottes Urteil eine Rolle zu spielen. Merkwürdig eigentlich.
Sondern unsere Mitmenschlichkeit im Alltag. Und doch setzen wir immer wieder andere
Prioritäten. Wie oft gehen wir in eine Kirche, wenn wir Jesus suchen, dabei sitzt er bettelnd
auf den Stufen vor der Kirche. Wir übersehen die Würde im Gesicht des Bettlers, dabei ist es
die Würde, die ihm von Jesus Christus verliehen wurde. Und dabei ist es auch unsere eigene
Würde, die wir darin entdecken könnten. In diesem Moment drückt die hochbetagte Dame
seine Hand und lächelt.
Während wir in diesem Gottesdienst das Lied vor der Predigt gesungen haben, fährt Sophie
Weber auf ihrem Fahrrad von der Flüchtlingsunterkunft nach Hause. Die Straßen sind leer.
Ein kalter Wind weht. Sie ist verwirrt. In diesem Monat hat sie ihr Studium der Sozialen
Arbeit begonnen. Aber schon seit einem halben Jahr demonstriert sie mit ihren Freunden für
eine Öffnung der Grenzen. Sie schreibt Leserbriefe an Zeitungen. Sie diskutiert lautstark mit
allen Menschen, die politisch andere Positionen vertreten. Für sie sind solche Leute herzlos
und gewissenlos. Sie ist da anders. Zum Beispiel besser als ihr Vater, obwohl der seine
christliche Überzeugung so betont. Aber im Unterschied zu den anderen Christen,lebt sie
wirklich danach. Oder? Im Armen begegnet uns Jesus Christus und so weiter. Sie weiß, dass
sie ihren Vater mit ihrem Engagement ärgern kann. Das macht ihr Spaß. Sie gehört jetzt
eindeutig zu den Guten. Die Guten, die eine neue Gesellschaft schaffen. Eine gerechte
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Gesellschaft ohne Schuld und ohne Leid. Oft wurde sie für ihr Engagement gelobt. Sie fühlte
sich gut. Bis eben. Jetzt weiß sie nicht mehr, wie sie sich fühlen soll. In der
Flüchtlingsunterkunft ist sie zum ersten Mal den Menschen begegnet, in deren Namen sie
kämpft. Und sie hat dabei nicht das gefühlt, was sie erwartet hatte. Im Gegenteil. War es ihr
die ganze Zeit überhaupt um diese Menschen gegangen? Oder doch nur um sich selbst? Hatte
sie diese Menschen nur gebraucht, um Anerkennung zu bekommen? Um sich moralisch
überlegen zu fühlen? Um politische Ziele zu erreichen? Es war bei mir gerade nicht so wie im
Gleichnis vom Weltgericht, denkt sie. Da wenden sich Menschen den Armen aus
Mitmenschlichkeit zu. Später wundern sie sich, dass sie dabei Jesus etwas Gutes getan haben.
Ich habe die Armen als Objekte zur Erreichung meiner Ziele missbraucht. Habe ich jetzt Jesus
missbraucht?
Während wir in diesem Gottesdienst gerade die Predigt hören, sitzt Christian Weber immer
noch am Bett der hochbetagten Dame im Johanniter-Pflegeheim. Der Fernsehgottesdienst ist
zu Ende. Die beiden unterhalten sich über die Predigt. Das letzte Wort über unser Leben
sprechen nicht andere Menschen, flüstert sie. Nicht einmal wir selbst. Sondern Gott. Bald
werde auch ich ihm gegenübertreten. Er glaubt, in ihrem Blick auch etwas Angst zu
bemerken. Darum sagt er: Aber wir haben ja gerade gehört, dass unser Richter kein anderer ist
als unser Erlöser. Der uns so sehr liebt, dass er sogar den Tod am Kreuz ertragen hat. Sie
schaut skeptisch. Aber er ist sicherlich nicht gestorben, damit wir uns nicht mehr um die
Kranken und Hungernden kümmern müssen, sagt sie ernst. Wer wirklich an die Liebe glaubt,
der wird auch Werke der Liebe tun. Aber Sie meinen doch nicht, erwidert er, dass im Gericht
die Gerechtigkeit über die Gnade siegen wird? Nein. Jetzt lächelt sie wieder. Auf die Gnade
bleiben wir angewiesen. Auf die Gnade verlasse ich mich. Sonst könnte niemand im Gericht
bestehen. Nach einem kurzen Schweigen fügt sie hinzu: Andererseits kann keine Gnade unser
Leben rückgängig machen. Ein Leben ohne Mitmenschlichkeit ist ein weggeworfenes Leben.
Was kann schlimmer sein, als das im Rückblick erkennen zu müssen? Auf dem Weg zum
Parkplatz denkt er an die letzten Sätze des Ordensgebets: Dem Schwachen hilf, treu zu sein,
den Schwachen hilf! Herr, höre uns!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in
Christus Jesus.
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