Ist die Schule ewig? Ein schultheoretisches Essay

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Tillmann, K.J.
Ist die Schule ewig? Ein schultheoretisches Essay
Tillmann, K.-J.: Ist die Schule ewig? Ein schultheoretisches Essay. In: Pädagogik
49 (1997) H. 6. S. 6-10. Hier aus: Baumgart, Franzjörg; Lange, Ute (Hg.): Theorien
der Schule. Erläuterungen – Texte – Aurbeitsauftgaben. Bad Heilbrunn 1999, S.
305-314.
Sind gesellschaftliche Einrichtungen, die wir seit langem kennen, die wir gegenwärtig für
selbstverständlich halten, eigentlich auf unabsehbare Dauer angelegt? Ist die Schule ewig?
Über eine solche Frage kann man nur spekulieren– und genau das will ich hier tun.
I.
Wer vor zehn Jahren gesagt hätte: Die katholische Kirche, das Finanzamt und die KPdSU sind
auf Ewigkeit angelegt, hätte wohl keinen Widerspruch geerntet. Nun ist die KPdSU sang- und
klanglos verschwunden, und mit ihr so scheinbar stabile DDR-Institutionen wie Stasi,
Grenztruppen und FDJ. Daß diese Institutionen von ihrer »Ewigkeit« überzeugt waren, habe
ich im Sommer 1991 ganz augenfällig feststellen können: In einer Dachkammer des früheren
»Zentralinstituts für die Weiterbildung der Lehrer und Erzieher« der DDR in Ludwigsfelde
(bei Potsdam) fand ich ein knallrotes Transparent mit der gelben Aufschrift: »Mit der
Sowjetunion auf ewig brüderlich verbunden«. Doch muß ich mich hier nicht allein auf das
(zugegebenermaßen) seltene Beispiel eines staatlichen Zusammenbruchs beziehen, es gibt
auch andere Fälle: Als 1960 im Ruhrgebiet die ersten Fernsehgeräte auftauchten, hätte
niemand geglaubt, daß 30 Jahre später weit mehr Menschen in der Fernsehproduktion als in
der Kohleproduktion beschäftigt sein würden. Und inzwischen wird ein völliges Ende der
einst so mächtigen Zechengesellschaften immer wahrscheinlicher. In der gleichen Zeit sind
neue Institutionen, neue Einrichtungen entstanden, die uns in kürzester Zeit schon wieder
»selbstverständlich« geworden sind: Frauen- und Umweltministerien, private Telefon- und
Fernsehgesellschaften, Altenpflegedienste etc. Kurz: Es gibt hinreichend viele– auch aktuelle
– Beispiele, um deutlich zu machen, daß Institutionen nicht »auf ewig« eingerichtet sind;
vielmehr wandeln sie sich mit der gesellschaftlichhistorischen Entwicklung. Und das kann
auch bedeuten, daß einstmals mächtige Einrichtungen zerfallen, weil sie gesellschaftlich nicht
mehr benötigt werden.
II.
Wer sich mit einer solchen Perspektive der »Zukunft der Schule« nähert und damit auch in
Rechnung stellt, mit der uns bekannten Schule könnte es einmal ein [306] Ende nehmen, wird
vermutlich als ein merkwürdiger Spinner betrachtet. Denn all unsere Erfahrungen sprechen
gegen eine solche Perspektive: Zum einen haben wir alle den subjektiven (aber falschen)
Eindruck, daß es diese Schule– die staatliche Pflichtschule für alle – eigentlich schon immer
gegeben hat. Und zum anderen haben wir im Schulbereich in den letzten vierzig Jahren
keinen Abbau, sondern immer nur Zuwachs erlebt: Allem Krisengerede zum Trotz ist das
staatliche Bildungswesen immer mehr gewachsen, hat immer mehr Heranwachsende immer
länger festgehalten und zu immer höheren Abschlüssen geführt. Die Schule ist seit langem die
größte soziale Institution in dieser Gesellschaft, sie wird in der BRD täglich von mehr als 11
Millionen Menschen besucht. Wenn vor diesem Hintergrund Erziehungs- und
Sozialwissenschaftler gebeten werden, ihre Vorstellungen über die Zukunft der Schule
abzugeben, so greifen sie sehr oft zu einer sehr schlichten Prognoseform – sie schreiben die
gegenwärtigen quantitativen Trends einfach fort: Wir werden noch mehr Gymnasiasten und
noch weniger Hauptschüler bekommen, der Mädchenanteil in naturwissenschaftlichen Kursen
der Oberstufe wird steigen, der Anteil offenen Unterrichts nimmt zu, die
Teilzeitbeschäftigung von Lehrkräften ebenfalls. Kurz: Mehr desgleichen, so lauten diese
Prognosen. Doch selbst Unternehmensberater gehen inzwischen von der Einsicht aus: »Wir
leben in einer Zeit des säkularisierten Umbruchs. Jeder, der die bisherige Entwicklung
fortgeschrieben hat, lag schief« (ROLAND BERGER, in SPIEGEL 91 97, S. 114). Und auch aus
dem Schulbereich wissen wir, daß Entwicklungen erst dann richtig interessant werden, wenn
solche Trends gebrochen werden: Über viele Jahre ist der Anteil von Sonderschülern
gestiegen, die Modelle zur »integrativen Förderung« haben diese Entwicklung umgedreht.
Über viele Jahre sind Klassenfrequenzen geringer geworden, die Krise der öffentlichen
Haushalte hat diesen Trend gebrochen. Prognosen, die die alten Trends nur fortschreiben, sind
nicht nur langweilig; sie führen an entscheidenden Punkten auch in die Irre. Angesichts dieser
Überlegungen wage ich ein Gedankenspiel, das zwei Einsichten ernst nimmt: Die Erkenntnis,
daß Institutionen auch vergehen können, und die Einschätzung, daß reine Fortschreibungen
wahrscheinlich falsch sind.
Was wird zukünftig aus unserer Schule? Diese Frage läßt sich nur beantworten, wenn wir
uns zunächst noch einmal klarmachen, was wir mit »unserer Schule« meinen. Gemeint ist
damit das öffentliche Pflichtschulsystem, das von allen Heranwachsenden besucht werden
muß, das staatlich finanziert und kontrolliert wird, das zu einem Schulabschluß führt, der in
Berufs- bzw. in Studienchancen eingewechselt wird. Ein solches öffentliches
Pflichtschulsystem gibt es inzwischen in allen entwickelten Gesellschaften der Welt, es hat in
Deutschland einige beson- [307]dere Ausprägungen: die enge staatliche Zuständigkeit (z. B.
Lehrer als Beamte), die hierarchische Gliederung der Schulformen (Hauptschule, Realschule,
Gymnasium) und die scharfe Trennung zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung. Was
wird aus diesem Schulsystem? Es gibt sicher gute Gründe anzunehmen, daß es sich durch
interne Wandlungsprozesse (z. B. mehr Gymnasiasten, höhere »Autonomie«) den veränderten
gesellschaftlichen Anforderungen anpassen wird. [...] Aber gibt es nicht auch Gründe, davon
auszugehen, daß dieses Schulsystem als System sich so radikal verändern wird, daß man von
einem Fortbestand nicht mehr reden kann? Auf diesem Pfad bewege ich mich im folgenden
und beginne mein Gedankenspiel bewußt mit einem historischen Rückgriff; denn wenn man
einschätzen will, ob dieses Schulsystem Bestand haben wird, muß man wissen, warum es
eigentlich eingerichtet wurde: Welche gesellschaftlichen Ursachen, welche gesellschaftliche
Bedarfe haben uns dieses öffentliche Pflichtschulsystem beschert?
III.
1717 hat der Preußische König erstmals die allgemeine Schulpflicht verkündet –es sollte etwa
160 Jahre dauern, bis sie tatsächlich realisiert wurde. Das Jahr 1880 wird gemeinhin als
Zeitpunkt genannt, zu dem in Preußen alle Heranwachsenden mindestens acht Jahre eine
allgemeine Schule besuchten. Dieses Bildungssystem galt damals im internationalen
Vergleich als führend, mit seinen Grundstrukturen haben wir es bis heute zu tun. Warum
brauchte es so lange, um durchgesetzt zu werden? Und: Welche gesellschaftlichen Ursachen
führten schließlich zu seiner Etablierung? Ursprünglich (im 18. Jh.) hatte nur die preußische
Zentralmacht – der König – ein Interesse daran, daß auch die Kinder des niederen Volkes eine
Schule besuchten: Durch Schulerziehung auf dem Lande sollte der brauchbare,
gottesfürchtige und königstreue Untertan erzogen werden. Parallel zur Herausbildung des
preußischen Staates (als Vorläufer des deutschen Nationalstaates) mußte das entsprechende
Staatsbewußtsein bei den Untertanen verankert werden. Dies war zunächst das Hauptmotiv
zum Ausbau des niederen Schulwesens. Bildungssoziologen bezeichnen dies als Funktion der
politischen Loyalisierung. Der Widerstand gegen diese Schulerrichtungen hatte im 18. Jh.
überwiegend ökonomische Gründe: Um Landarbeit zu verrichten, brauchten die Bauernkinder
weder schreiben noch lesen zu können; die Grundherren wollten kein Geld für Schulgebäude
ausgeben; und die Eltern wollten nicht auf die Arbeitskraft ihrer Kinder verzichten. Den
entscheidenden Ausbauschwung bekam das preußische Volksschulwesen erst in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts, als ökonomische In- [308]teressen mehrheitlich nicht mehr
gegen, sondern für einen Schulbesuch aller Heranwachsenden sprachen: Der Ausbau der
großen Industrie führte zu wachsenden Qualifikationsanforderungen an die Arbeitskräfte:
Schreiben, Lesen, Rechnen, aber auch die Kenntnisse einfacher mechanischer
Zusammenhänge – dies wurde zunehmend von den Arbeitskräften verlangt. Dementsprechend
zogen die Mechanismen der »Leistungsschule« auch in die Volksschule ein; Zensuren und
Zeugnisse, Versetzungen, Abweisungen (in die neuen »Hilfsschulen«), Erteilung von
Abschlußzeugnissen. Kurz: Die vorberufliche Qualifikationsfunktion, die das gymnasiale
Schulwesen schon lange besaß, wurde nun auch auf die Volksschulen (und damit auf das
gesamte Schulsystem) ausgedehnt. Parallel dazu wurde die Schulpflicht für alle endgültig
durchgesetzt, das staatliche Pflichtschulsystem hatte sich fest etabliert und in allen seinen
Zweigen eine Auslesefunktion für künftige Berufs- und Lebenschancen übernommen.
Qualifizierung, politische Loyalisierung, Auslese – dies sind die gesellschaftlichen
Funktionen des Pflichtschulsystems in der Industriegesellschaft. Ihre Erfüllung ist für den
Bestand dieser Gesellschaft unverzichtbar. Bisher gibt es keine Einrichtung, die dies besser
leisten kann als die Schule. Und eine weitere Funktion ist hinzuzufügen: die der
Aufbewahrung von Kindern und Jugendlichen. In dem Maße, in dem die Industrie- und
Autogesellschaft immer unwirtlicher für Heranwachsende wurde, mußten berufstätige Eltern
ihre Kinder unter Aufsicht wissen. Auch diese Aufgabe erfüllt die Schule – zumindest für
einen halben Tag. Wird dieses öffentliche Pflichtschulsystem auch in der Zukunft Bestand
haben? Wird es den geschilderten Bedarf an Qualifikation, Auslese, politischer Loyalisierung
und Aurbewahrung auch in der post-industriellen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts geben –
und wird er durch Schule befriedigt werden?
IV
Über die postmoderne Gesellschaft wird viel spekuliert, doch niemand kann in die Zukunft
schauen. Ich kann deshalb nur in der Form eines Gedankenexperiments denkbare oder gar
wahrscheinliche gesellschaftliche Entwicklungen auf die genannten Funktionen beziehen –
und von dort aus über Konsequenzen für das Schulsystem spekulieren. Dabei beschreibe ich
nicht die von mir gewünschte Zukunft, sondern nur eine (von mehreren) möglichen
Entwicklungen. Beginnen wir mit der Qualifikationsfunktion: Darunter wird zum einen die
Herausbildung von Grundfähigkeiten (Lesen, Schreiben, Rechnen etc.) zur Teilhabe am
gesellschaftlichen Alltagsleben verstanden. Diese Basisqualifizierung wird weiter wichtig
sein, sie gewinnt in einer zunehmend heterogenen Gesellschaft sogar weiter an [309]
Bedeutung. Zum zweiten wird unter Qualifizierung die allgemeinbildende Vorbereitung auf
die berufliche Ausbildung und die berufliche Tätigkeit verstanden. Dabei geht das Schul- und
Bildungssystem bisher davon aus, daß alle Heranwachsenden in das Beschäftigungssystem zu
integrieren sind. Dies ist ein demokratisch berechtigter Anspruch, der allerdings von der
Realität zunehmend ausgehöhlt wird: Knapp fünf Millionen Arbeitslose gibt es gegenwärtig,
eine Trendwende ist nicht in Sicht. Und vieles spricht dafür, daß in Zukunft die Produktion
von immer mehr Waren und Dienstleistungen von immer weniger Menschen bewältigt
werden wird. Gegenwärtig arbeitet das Bildungssystem gegen diesen Trend an, indem immer
mehr Heranwachsende immer besser qualifiziert werden, um in der Konkurrenz um die immer
knapper werdenden Jobs erfolgreich sein zu können. Allerdings: Mehr Arbeitsplätze entstehen
durch diese schulische Höherqualifizierung nicht. Wie wahrscheinlich, wie unwahrscheinlich
ist es, daß dieses System von immer mehr Bildung und immer weniger Arbeitsplätzen – etwa
im Jahre 2015 – im Kollaps zusammenbricht? Wie wahrscheinlich ist es, daß dann die
Annahme, die Schule qualifiziere alle Heranwachsenden auf einen künftigen Arbeitsplatz hin,
von niemandem mehr geglaubt wird? Und daß die öffentlichen Kosten, die aus dieser
Annahme erwachsen, den gesellschaftlichen Konsens dann völlig überstrapazieren? Anders
formuliert: Warum soll ein so teures Pflichtschulsystem unterhalten werden, wenn vielleicht
nur für 50 Prozent eines Altersjahrgangs eine Berufstätigkeit notwendig und wahrscheinlich
ist? Viele Fragen, die auf einen zentralen Punkt verweisen: Daß Schule die große Mehrheit
der Heranwachsenden für die spätere Berufsarbeit vorbereiten soll, ist gegenwärtig die ganz
zentrale Begründung für unser großes und teures Schulsystem. Diese Legitimation der
Pflichtschule – die Vorbereitung auf den Beruf- ist seit Ende des 19. Jahrhunderts
glaubwürdig – es könnte nun aber sein, daß genau diese Glaubwürdigkeit zu Beginn des 21.
Jahrhunderts verloren geht.
Und wie sieht das mit der Funktion der Schule aus, die Loyalität zum politischen System
zu stärken und zu stützen? Dies bedeutet in der Bundesrepublik, den Heranwachsenden zu
helfen, kritische Bürger einer demokratischen Gesellschaft zu werden. Es ist wohl nicht zu
bestreiten, daß dies auch künftig eine wichtige Aufgabe im Sozialisations- und
Erziehungsbereich sein wird. Doch ist deshalb die Pflichtschule für alle unverzichtbar? Zwei
Tendenzen sprechen dagegen:
Als die Schule als Instrument politischer Loyalitätsbeschaffung durchgesetzt wurde, hatte
sie ein Informationsmonopol. Was in der Welt passierte, erfuhren die preußischen
Bauernkinder gefiltert – vom Pastor und vom Lehrer. Inzwischen werden schon
Grundschulkinder von vielfältigen Medien über die realen und [310] fiktiven Ereignisse in
dieser Welt informiert – und tatsächlich verfügen Kinder heute über weit mehr politische
Informationen als alle ihre Vorgängergenerationen. (Allerdings: Wie aus Informationen
»Bildung« wird, ist damit noch nicht beantwortet.) Ein zweiter Trend kommt hinzu: Die
Pflichtschule ist gemeinsam mit dem Nationalstaat entstanden, sie hat – in Deutschland und
anderswo – die Hochsprache durchgesetzt und dazu beigetragen, die nationale politische
Herrschaft durch Loyalitätsbeschaffung abzusichern: Das Bewußtsein »Wir Deutsche« wurde
nicht zuletzt in den Schulen geschaffen. Doch wir sind inzwischen in massive Prozesse der
Internationalisierung eingebunden, aus »Wir Deutsche« soll »Wir Europäer« werden. Kann
aber – so die Frage – eine Schule mit national bestimmten Kulturtraditionen die Integration
des Bürgers in ein kulturell vielfältiges Europa leisten? Ob man zur Vermittlung eines
Bewußtseins »Wir Europäer« eine staatliche Pflichtschule noch braucht, erscheint vielen
höchst zweifelhaft. Wird vielleicht die Rolle, die im Zuge des ersten deutschen
Einigungsprozesses (1871) die Pflichtschule gespielt hat, im Verlaufe des europäischen
Einigungsprozesses vom Fernsehen übernommen? »Sky-channel«, »MTV« und »Eurosport«
als zentrale Medien eines europäischen Bewußtseins? Jedenfalls: Was die politische
Sozialisation angeht, ist ein Funktionsverlust der Schule unübersehbar. Im Unterschied zum
frühen Preußen wird sich die allgemeine Pflichtschule allein aus dieser Funktion heraus nicht
mehr begründen lassen.
Und wie sieht es mit der Auslesefunktion aus? In einer bürgerlich-demokratischen
Gesellschaft müssen soziale Ungleichheiten legitimiert werden – und zwar anhand des
Leistungskriteriums. Jede(r) hat angeblich die gleichen Startchancen, die notwendige soziale
Ausdifferenzierung erfolgt aufgrund der unterschiedlichen individuellen Leistungen.
Ungleichheit ist berechtigt, wenn sie durch unterschiedliche Leistungen zustande gekommen
ist. Die Schule mit ihren Zensuren und Zeugnissen übt in dieses meritokratische System ein,
sie praktiziert eine soziale Auslese und versieht diese mit dem Anschein von »Gerechtigkeit«.
Ich sehe nicht, daß diese Funktion der Auslese nach dem Leistungsprinzip künftig entfallen
kann. Doch brauchen wir dazu die Schule in der jetzigen Form? Zentrale Testinstitute, wie sie
in einigen Nachbarländern (Niederlande, England) bereits bestehen, verweisen auf
Alternativen: Ob und in welcher Schule man gelernt hat, ist dann nicht mehr von großer
Bedeutung. Vielmehr wird dann zum zentralen Kriterium, ob man zu einem bestimmten
Zeitpunkt eine Leistungsprüfung (als Aufnahmeprüfung) besteht. Die Vorboten dieser
Entwicklung erreichen uns inzwischen: Wenn demnächst die Universitäten sich einen Teil der
Studierenden selbst »hineinprüfen« dürfen, ist der Einstieg in eine solche Struktur geschafft:
Die[311]
Zertifikate der Schule verlieren im Ausleseprozeß an Bedeutung, der
Qualifikationsnachweis bei Aufnahme wird zum entscheidenden Kriterium.
V.
Bleibt schließlich die Frage nach der Aufbewahrungsfunktion. Sie ist und bleibt bedeutend für
Kinder etwa bis zum 12. und 13. Lebensjahr. Doch auch hier gibt es Entwicklungen, die
modifizierend eingreifen. Zu nennen ist zunächst eine technische Entwicklung, die auch auf
alle anderen Funktionen der Schule ausstrahlt:
Die Entwicklung der »Neuen Medien« und ihr Siegeszug, der inzwischen auch die privaten
Haushalte erreicht hat. Für die Schule ist dabei wichtig: Die Heranwachsenden können
künftig auch von zu Hause aus mit anderen lernend kommunizieren; und sie können dabei in
einer bisher nicht bekannten Weise auf Informationen aller Art zurückgreifen. Es ist
inzwischen nicht mehr zwingend, daß man sich persönlich und gemeinsam mit anderen in
Gebäude begeben muß, wenn man in einen lernenden Austausch treten will. Schule vom
Wohnzimmer aus ist (mit allen sozialen Einschränkungen) inzwischen möglich. Gleiches gilt
für berufliche Arbeit – dort hat es inzwischen sogar eine gewisse Verbreitung gefunden.
Heimarbeit, die vom häuslichen Terminal aus erledigt wird, ist besonders attraktiv für Frauen,
denen nach wie vor die Hauptaufgabe bei der Kinderbetreuung zufällt. Und hier ist dann auch
der Bezug zur Aufbewahrungsfunktion zu sehen:
Wenn das Kind nicht mehr in ein Schulgebäude gehen muß, und zumindest ein Elternteil
seine Arbeit zu Hause verrichten kann, stellt sich die Lage ganz anders dar. Nimmt man
hinzu, daß die Quote der erwerbstätigen Erwachsenen weiter drastisch sinken wird, so geht
vielleicht eine spezifische familiäre Situation ihrem historischen Ende entgegen: Daß Vater
und Mutter beide ganztags aushäusig berufstätig sind, stellt sich möglicherweise sehr bald als
Relikt der industriellen Arbeitsgesellschaft des 20. Jahrhunderts dar. Freilich: Es bleiben
immer noch genug Betreuungsaufgaben – insbesondere für die wachsende Zahl von Kindern
alleinerziehender Eltern. Ob dafür aber die Einrichtung »Pflichtschule« vorgehalten werden
muß, ist fraglich. Jedenfalls ließe sich von allen schulischen Funktionen die der
Aufbewahrung am ehesten privatisieren.
VI.
Die Zukunft ist offen. Nichts muß so kommen, wie ich es hier skizziere – doch in unserer
Zukunft steckt auch diese Möglichkeit. Wenn also – wie hier angedeutet – die allgemeine
Pflichtschule in den nächsten Jahrzehnten an gesellschaftlicher Legitimation so stark verliert,
wenn darüber hinaus eine fortdauernde staat- [312]liche Finanzkrise auf die Privatisierung
der Bildungsangebote drängt, wenn sich die Mediatisierung des Lernens weiter durchsetzt,
welche Szenarien würden sich daraus ergeben? Die Bildungslandschaft des Jahres 2030
könnte wie folgt aussehen:
Im Vorschulbereich treten neben die bisher bekannten Angebote (von Kirchengemeinden,
Kommunen etc.) privatwirtschaftliche Firmen: Diese werden – wie in den USA –
Kindergarten-Ketten aufziehen, die sich vor allem an zahlungskräftige Eltern richten: frühe
Begegnungssprachen, Computer für Vierjährige, vielleicht sogar Intelligenztests als
Eingangsprüfung (in Kindergärten für »Hochbegabte« ) – dies alles wird sich marktmäßig
etablieren. In den kirchlichen und den kommunalen Einrichtungen (mit geringeren
Elternbeiträgen) werden sich dann vor allem die Kinder der sozialen Grundschicht sammeln.
Was die Grundschule angeht, so ist meine Prognose eher konservativ: Die vierjährige
Grundschule für alle wird weiterbestehen, sie wird ein besonderes Gewicht auf die Aneignung
von Kulturtechniken – einschließlich der Bedienung von Computern – legen. Die
Grundschulen werden frei wählbar sein; die Zahl der privaten Grundschulen wird vor allem in
den Städten deutlich steigen.
Jenseits der Grundschule, also im Bereich der Sekundarstufe, gibt es kein
allgemeinbildendes Pflichtschulsystem mehr, sondern einen offenen Bildungsmarkt:
Die Schulpflicht ist aufgehoben, sie wird zu einer Verpflichtung für die Eltern umdefiniert,
ihren Kindern Lernmöglichkeiten zu bieten. Dies ist in unterschiedlicher Weise möglich:
Durch vernetzte Computer-Lernstudios, durch traditionelle »Anwesenheits-Schulen«, durch
konzentrierte Lern- und Erlebnisphasen in Internatskursen, durch Zertifikate des
Bildungsfernsehens. Eltern und Kinder wählen aus – und zwar nach Interessen, nach der
familiären Lebenssituation, nach den finanziellen Möglichkeiten. Der Staat gibt jedem Kind
einen »Bildungsgutschein«, der die Grundversorgung abdeckt. Es wird sichergestellt, daß es
genügend »Anwesenheitsschulen« gibt, die ohne weitere Zuzahlung besucht werden können.
Bei allen anderen Angeboten müssen die Eltern zum »Bildungsgutschein« zuzahlen. Dafür
wird aber auch Kreatives geboten: Ein Drei-Monats-Kurs »Griechische Geschichte« (für 14bis 16jährige) auf Kreta, Sprach-Intensiv-unterricht in England, ein NaturwissenschaftlerWorkshop mit Max-Planck-Forschern. Dies alles wird von privaten Bildungsfirmen
angeboten und organisiert, es ist für die Eltern nicht billig. Staatliche Kontrollen gibt es nur
noch an einer Stelle: Im 16. Lebensjahr ist eine zentrale Prüfung in »Allgemeinbildung«
abzulegen. Die jährlichen Prüfungsaufgaben werden in einem bundeszentralen Testinstitut
festgelegt. Nur wer diese Prüfung mit »gut« oder »sehr gut« absolviert, [313] kann in die
Bildungsstufe eintreten, die zur Universität führt. Berufliche Ausbildungsplätze sind ohne
Bestehen dieser Prüfung kaum erreichbar – allerdings sind da die Notenanforderungen nicht
so hoch.
Auch in dem Bereich, den wir heute noch »gymnasiale Oberstufe« nennen, gibt es einen
freien Bildungsmarkt: Das Abitur bleibt erhalten, berechtigt aber lediglich zur
Aufnahmeprüfung an einer Universität. Viele Universitäten werden inzwischen privat oder
halb-privat betrieben, unterschiedlich hohe Studiengebühren (je nach Prestige der Universität)
sind längst selbstverständlich geworden. Eine solche Struktur des Bildungsmarktes bedeutet
auch: Die Schulaufsicht ist bis auf einen Rest zusammengeschrumpft; das staatliche
Schulmonopol ist gefallen; Lehrkräfte sind längst keine Beamte mehr, viele arbeiten mit
Einjahres-Verträgen; Bildungsunternehmer(in) ist zu einem weitverbreiteten Beruf geworden;
die großen Medienkonzerne sind in diesem Markt stark vertreten.
Ein solches System des weitgehend freien Bildungsmarktes könnte die zuvor
angesprochenen gesellschaftlichen Funktionen in der post-industriellen Gesellschaft des 21.
Jahrhunderts erfüllen: Die Aneignung von Grundqualifikationen für das alltägliche Leben
würde durch die Grundschulpflicht weitgehend gesichert. Der elterliche Ehrgeiz wird bei
genügend Kindern groß genug sein, um einen entsprechenden Anteil gut qualifizierter junger
Menschen in Berufsausbildung und Studium schicken zu können. Das leistungsorientierte
Auslesesystem wird von diesen Umstellungen nicht berührt, es funktioniert – sogar in
verschärfter Form – weiter. Der Staat hat sich von einem kostenträchtigen institutionellen
Bereich weitgehend befreit; er muß nicht mehr (wie gegenwärtig) etwa 700.000 Lehrkräfte
besolden. Und was die Funktion der politischen Loyalisierung angeht, so wird es darum
gehen, diese Aufgabe durch andere institutionelle Aktivitäten zu beherrschen: etwa durch
»akzeptierende Sozialarbeit« bei rechtsextremistischen, arbeitslosen Jugendlichen.
VII.
Ist die Schule – genauer: die öffentliche Pflichtschule – ewig? Vor dem Hintergrund meiner
(spekulativen) Überlegungen läßt sich wohl sagen: »Nein« – ewig wird sie nicht bestehen.
Am Ende des 20. Jahrhunderts sind jedenfalls gesellschaftliche Entwicklungen erkennbar, die
auf eine Verdrängung der Schule und auf die Privatisierung eines Bildungsmarktes hinweisen:
Eine Gesellschaft (fast) ohne öffentliche Pflichtschule wird vorstellbar. Einmal unterstellt,
mein Szenario für das Jahr 2030 würde Wirklichkeit. Was würde dies für den Bildungsprozeß
der Heranwachsenden bedeuten? [314]
Ohne Zweifel, die Gewinner wären die Kinder zahlungskräftiger Eltern: Sie könnten schon
im Grundschulalter in »feine« Einrichtungen gehen, könnten zwischen dem 11. und 19.
Lebensjahr Lernen als eine Aufeinanderfolge interessanter »Events« erleben, müßten sich
nicht von langweilenden Lehrern traktieren lassen, könnten in Crash-Kursen auf die
anstehenden Prüfungen vorbereitet werden, würden als Sieger aus der »gerechten«
Konkurrenz hervorgehen. Sie hätten beste Chancen, attraktive Ausbildungs-, Studien- und
Arbeitsplätze zu erhalten.
Die Verlierer wären die Kinder der »einfachen« Bevölkerung: der Sohn des deutschen
Stahlarbeiters, die Tochter der griechischen Änderungsschneiderin; wahrscheinlich auch die
Kinder von (dann schlecht bezahlten) Lehrer(inne)n: All diese Kinder sind dann auf die
»staatliche Grundversorgung« angewiesen, die qualitativ mit den frei finanzierten Angeboten
nicht wird mithalten können. Kinder und Jugendliche, in deren Bildungsprozeß Eltern nicht
zusätzlich finanziell investieren können, werden bei den zentralen Prüfungen weit geringere
Chancen haben: Sie werden mit schlechteren Zertifikaten eine Berufsausbildung oder nur
einen Job suchen – und sehr oft nichts finden. Die gesellschaftliche Ausgrenzung von
Jugendlichen wird zunehmen, und sie wird noch stärker als heute durch soziale und ethnische
Herkunft bestimmt werden. Bereits bei den l6jährigen wird feststehen, welche 30 bis 40
Prozent »überflüssig« sind. Ich gestehe, bei dieser Vision läuft es mir kalt über den Rücken.
Damit wird zugleich aber auch deutlich, welche wichtige und – wie ich finde – unverzichtbare
Leistung die kostenlose Pflichtschule für alle in unserer Gesellschaft bisher erbringt: Sie
leistet Widerstand gegen eine Verschärfung der gesellschaftlichen Desintegration, indem sie
sich um Bildung für alle bemüht. Je stärker die Desintegrations-Tendenzen in dieser
Gesellschaft werden, desto mehr werden wir diese Leistung unseres Schulsystems benötigen.
Institutionen sind nicht ewig, aber es gibt auch keine zwangsläufigen Entwicklungen in der
Geschichte. Die öffentliche Schule für alle hat (in reformierter, in modernisierter Form) auch
im 21. Jahrhundert wichtige gesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen. Sie hat eine sehr gute
Existenzchance, wenn die Mehrheit der Bürger(innen) sie weiter will, wenn »Bildung für
alle« von der Mehrheit der Bevölkerung weiter eingefordert wird. Allerdings: Es gibt keine
Bestandsgarantie, vielmehr wird die Existenz eines (reformierten) öffentlichen Schulsystems
gegen mächtige gesellschaftliche Trends und Interessen verteidigt werden müssen. Ob dies
gelungen ist, werde ich 2030– als dann 86jähriger– ja sehen.
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