Tillmann, K.J. Ist die Schule ewig? Ein schultheoretisches Essay Tillmann, K.-J.: Ist die Schule ewig? Ein schultheoretisches Essay. In: Pädagogik 49 (1997) H. 6. S. 6-10. Hier aus: Baumgart, Franzjörg; Lange, Ute (Hg.): Theorien der Schule. Erläuterungen – Texte – Aurbeitsauftgaben. Bad Heilbrunn 1999, S. 305-314. Sind gesellschaftliche Einrichtungen, die wir seit langem kennen, die wir gegenwärtig für selbstverständlich halten, eigentlich auf unabsehbare Dauer angelegt? Ist die Schule ewig? Über eine solche Frage kann man nur spekulieren– und genau das will ich hier tun. I. Wer vor zehn Jahren gesagt hätte: Die katholische Kirche, das Finanzamt und die KPdSU sind auf Ewigkeit angelegt, hätte wohl keinen Widerspruch geerntet. Nun ist die KPdSU sang- und klanglos verschwunden, und mit ihr so scheinbar stabile DDR-Institutionen wie Stasi, Grenztruppen und FDJ. Daß diese Institutionen von ihrer »Ewigkeit« überzeugt waren, habe ich im Sommer 1991 ganz augenfällig feststellen können: In einer Dachkammer des früheren »Zentralinstituts für die Weiterbildung der Lehrer und Erzieher« der DDR in Ludwigsfelde (bei Potsdam) fand ich ein knallrotes Transparent mit der gelben Aufschrift: »Mit der Sowjetunion auf ewig brüderlich verbunden«. Doch muß ich mich hier nicht allein auf das (zugegebenermaßen) seltene Beispiel eines staatlichen Zusammenbruchs beziehen, es gibt auch andere Fälle: Als 1960 im Ruhrgebiet die ersten Fernsehgeräte auftauchten, hätte niemand geglaubt, daß 30 Jahre später weit mehr Menschen in der Fernsehproduktion als in der Kohleproduktion beschäftigt sein würden. Und inzwischen wird ein völliges Ende der einst so mächtigen Zechengesellschaften immer wahrscheinlicher. In der gleichen Zeit sind neue Institutionen, neue Einrichtungen entstanden, die uns in kürzester Zeit schon wieder »selbstverständlich« geworden sind: Frauen- und Umweltministerien, private Telefon- und Fernsehgesellschaften, Altenpflegedienste etc. Kurz: Es gibt hinreichend viele– auch aktuelle – Beispiele, um deutlich zu machen, daß Institutionen nicht »auf ewig« eingerichtet sind; vielmehr wandeln sie sich mit der gesellschaftlichhistorischen Entwicklung. Und das kann auch bedeuten, daß einstmals mächtige Einrichtungen zerfallen, weil sie gesellschaftlich nicht mehr benötigt werden. II. Wer sich mit einer solchen Perspektive der »Zukunft der Schule« nähert und damit auch in Rechnung stellt, mit der uns bekannten Schule könnte es einmal ein [306] Ende nehmen, wird vermutlich als ein merkwürdiger Spinner betrachtet. Denn all unsere Erfahrungen sprechen gegen eine solche Perspektive: Zum einen haben wir alle den subjektiven (aber falschen) Eindruck, daß es diese Schule– die staatliche Pflichtschule für alle – eigentlich schon immer gegeben hat. Und zum anderen haben wir im Schulbereich in den letzten vierzig Jahren keinen Abbau, sondern immer nur Zuwachs erlebt: Allem Krisengerede zum Trotz ist das staatliche Bildungswesen immer mehr gewachsen, hat immer mehr Heranwachsende immer länger festgehalten und zu immer höheren Abschlüssen geführt. Die Schule ist seit langem die größte soziale Institution in dieser Gesellschaft, sie wird in der BRD täglich von mehr als 11 Millionen Menschen besucht. Wenn vor diesem Hintergrund Erziehungs- und Sozialwissenschaftler gebeten werden, ihre Vorstellungen über die Zukunft der Schule abzugeben, so greifen sie sehr oft zu einer sehr schlichten Prognoseform – sie schreiben die gegenwärtigen quantitativen Trends einfach fort: Wir werden noch mehr Gymnasiasten und noch weniger Hauptschüler bekommen, der Mädchenanteil in naturwissenschaftlichen Kursen der Oberstufe wird steigen, der Anteil offenen Unterrichts nimmt zu, die Teilzeitbeschäftigung von Lehrkräften ebenfalls. Kurz: Mehr desgleichen, so lauten diese Prognosen. Doch selbst Unternehmensberater gehen inzwischen von der Einsicht aus: »Wir leben in einer Zeit des säkularisierten Umbruchs. Jeder, der die bisherige Entwicklung fortgeschrieben hat, lag schief« (ROLAND BERGER, in SPIEGEL 91 97, S. 114). Und auch aus dem Schulbereich wissen wir, daß Entwicklungen erst dann richtig interessant werden, wenn solche Trends gebrochen werden: Über viele Jahre ist der Anteil von Sonderschülern gestiegen, die Modelle zur »integrativen Förderung« haben diese Entwicklung umgedreht. Über viele Jahre sind Klassenfrequenzen geringer geworden, die Krise der öffentlichen Haushalte hat diesen Trend gebrochen. Prognosen, die die alten Trends nur fortschreiben, sind nicht nur langweilig; sie führen an entscheidenden Punkten auch in die Irre. Angesichts dieser Überlegungen wage ich ein Gedankenspiel, das zwei Einsichten ernst nimmt: Die Erkenntnis, daß Institutionen auch vergehen können, und die Einschätzung, daß reine Fortschreibungen wahrscheinlich falsch sind. Was wird zukünftig aus unserer Schule? Diese Frage läßt sich nur beantworten, wenn wir uns zunächst noch einmal klarmachen, was wir mit »unserer Schule« meinen. Gemeint ist damit das öffentliche Pflichtschulsystem, das von allen Heranwachsenden besucht werden muß, das staatlich finanziert und kontrolliert wird, das zu einem Schulabschluß führt, der in Berufs- bzw. in Studienchancen eingewechselt wird. Ein solches öffentliches Pflichtschulsystem gibt es inzwischen in allen entwickelten Gesellschaften der Welt, es hat in Deutschland einige beson- [307]dere Ausprägungen: die enge staatliche Zuständigkeit (z. B. Lehrer als Beamte), die hierarchische Gliederung der Schulformen (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) und die scharfe Trennung zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung. Was wird aus diesem Schulsystem? Es gibt sicher gute Gründe anzunehmen, daß es sich durch interne Wandlungsprozesse (z. B. mehr Gymnasiasten, höhere »Autonomie«) den veränderten gesellschaftlichen Anforderungen anpassen wird. [...] Aber gibt es nicht auch Gründe, davon auszugehen, daß dieses Schulsystem als System sich so radikal verändern wird, daß man von einem Fortbestand nicht mehr reden kann? Auf diesem Pfad bewege ich mich im folgenden und beginne mein Gedankenspiel bewußt mit einem historischen Rückgriff; denn wenn man einschätzen will, ob dieses Schulsystem Bestand haben wird, muß man wissen, warum es eigentlich eingerichtet wurde: Welche gesellschaftlichen Ursachen, welche gesellschaftliche Bedarfe haben uns dieses öffentliche Pflichtschulsystem beschert? III. 1717 hat der Preußische König erstmals die allgemeine Schulpflicht verkündet –es sollte etwa 160 Jahre dauern, bis sie tatsächlich realisiert wurde. Das Jahr 1880 wird gemeinhin als Zeitpunkt genannt, zu dem in Preußen alle Heranwachsenden mindestens acht Jahre eine allgemeine Schule besuchten. Dieses Bildungssystem galt damals im internationalen Vergleich als führend, mit seinen Grundstrukturen haben wir es bis heute zu tun. Warum brauchte es so lange, um durchgesetzt zu werden? Und: Welche gesellschaftlichen Ursachen führten schließlich zu seiner Etablierung? Ursprünglich (im 18. Jh.) hatte nur die preußische Zentralmacht – der König – ein Interesse daran, daß auch die Kinder des niederen Volkes eine Schule besuchten: Durch Schulerziehung auf dem Lande sollte der brauchbare, gottesfürchtige und königstreue Untertan erzogen werden. Parallel zur Herausbildung des preußischen Staates (als Vorläufer des deutschen Nationalstaates) mußte das entsprechende Staatsbewußtsein bei den Untertanen verankert werden. Dies war zunächst das Hauptmotiv zum Ausbau des niederen Schulwesens. Bildungssoziologen bezeichnen dies als Funktion der politischen Loyalisierung. Der Widerstand gegen diese Schulerrichtungen hatte im 18. Jh. überwiegend ökonomische Gründe: Um Landarbeit zu verrichten, brauchten die Bauernkinder weder schreiben noch lesen zu können; die Grundherren wollten kein Geld für Schulgebäude ausgeben; und die Eltern wollten nicht auf die Arbeitskraft ihrer Kinder verzichten. Den entscheidenden Ausbauschwung bekam das preußische Volksschulwesen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als ökonomische In- [308]teressen mehrheitlich nicht mehr gegen, sondern für einen Schulbesuch aller Heranwachsenden sprachen: Der Ausbau der großen Industrie führte zu wachsenden Qualifikationsanforderungen an die Arbeitskräfte: Schreiben, Lesen, Rechnen, aber auch die Kenntnisse einfacher mechanischer Zusammenhänge – dies wurde zunehmend von den Arbeitskräften verlangt. Dementsprechend zogen die Mechanismen der »Leistungsschule« auch in die Volksschule ein; Zensuren und Zeugnisse, Versetzungen, Abweisungen (in die neuen »Hilfsschulen«), Erteilung von Abschlußzeugnissen. Kurz: Die vorberufliche Qualifikationsfunktion, die das gymnasiale Schulwesen schon lange besaß, wurde nun auch auf die Volksschulen (und damit auf das gesamte Schulsystem) ausgedehnt. Parallel dazu wurde die Schulpflicht für alle endgültig durchgesetzt, das staatliche Pflichtschulsystem hatte sich fest etabliert und in allen seinen Zweigen eine Auslesefunktion für künftige Berufs- und Lebenschancen übernommen. Qualifizierung, politische Loyalisierung, Auslese – dies sind die gesellschaftlichen Funktionen des Pflichtschulsystems in der Industriegesellschaft. Ihre Erfüllung ist für den Bestand dieser Gesellschaft unverzichtbar. Bisher gibt es keine Einrichtung, die dies besser leisten kann als die Schule. Und eine weitere Funktion ist hinzuzufügen: die der Aufbewahrung von Kindern und Jugendlichen. In dem Maße, in dem die Industrie- und Autogesellschaft immer unwirtlicher für Heranwachsende wurde, mußten berufstätige Eltern ihre Kinder unter Aufsicht wissen. Auch diese Aufgabe erfüllt die Schule – zumindest für einen halben Tag. Wird dieses öffentliche Pflichtschulsystem auch in der Zukunft Bestand haben? Wird es den geschilderten Bedarf an Qualifikation, Auslese, politischer Loyalisierung und Aurbewahrung auch in der post-industriellen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts geben – und wird er durch Schule befriedigt werden? IV Über die postmoderne Gesellschaft wird viel spekuliert, doch niemand kann in die Zukunft schauen. Ich kann deshalb nur in der Form eines Gedankenexperiments denkbare oder gar wahrscheinliche gesellschaftliche Entwicklungen auf die genannten Funktionen beziehen – und von dort aus über Konsequenzen für das Schulsystem spekulieren. Dabei beschreibe ich nicht die von mir gewünschte Zukunft, sondern nur eine (von mehreren) möglichen Entwicklungen. Beginnen wir mit der Qualifikationsfunktion: Darunter wird zum einen die Herausbildung von Grundfähigkeiten (Lesen, Schreiben, Rechnen etc.) zur Teilhabe am gesellschaftlichen Alltagsleben verstanden. Diese Basisqualifizierung wird weiter wichtig sein, sie gewinnt in einer zunehmend heterogenen Gesellschaft sogar weiter an [309] Bedeutung. Zum zweiten wird unter Qualifizierung die allgemeinbildende Vorbereitung auf die berufliche Ausbildung und die berufliche Tätigkeit verstanden. Dabei geht das Schul- und Bildungssystem bisher davon aus, daß alle Heranwachsenden in das Beschäftigungssystem zu integrieren sind. Dies ist ein demokratisch berechtigter Anspruch, der allerdings von der Realität zunehmend ausgehöhlt wird: Knapp fünf Millionen Arbeitslose gibt es gegenwärtig, eine Trendwende ist nicht in Sicht. Und vieles spricht dafür, daß in Zukunft die Produktion von immer mehr Waren und Dienstleistungen von immer weniger Menschen bewältigt werden wird. Gegenwärtig arbeitet das Bildungssystem gegen diesen Trend an, indem immer mehr Heranwachsende immer besser qualifiziert werden, um in der Konkurrenz um die immer knapper werdenden Jobs erfolgreich sein zu können. Allerdings: Mehr Arbeitsplätze entstehen durch diese schulische Höherqualifizierung nicht. Wie wahrscheinlich, wie unwahrscheinlich ist es, daß dieses System von immer mehr Bildung und immer weniger Arbeitsplätzen – etwa im Jahre 2015 – im Kollaps zusammenbricht? Wie wahrscheinlich ist es, daß dann die Annahme, die Schule qualifiziere alle Heranwachsenden auf einen künftigen Arbeitsplatz hin, von niemandem mehr geglaubt wird? Und daß die öffentlichen Kosten, die aus dieser Annahme erwachsen, den gesellschaftlichen Konsens dann völlig überstrapazieren? Anders formuliert: Warum soll ein so teures Pflichtschulsystem unterhalten werden, wenn vielleicht nur für 50 Prozent eines Altersjahrgangs eine Berufstätigkeit notwendig und wahrscheinlich ist? Viele Fragen, die auf einen zentralen Punkt verweisen: Daß Schule die große Mehrheit der Heranwachsenden für die spätere Berufsarbeit vorbereiten soll, ist gegenwärtig die ganz zentrale Begründung für unser großes und teures Schulsystem. Diese Legitimation der Pflichtschule – die Vorbereitung auf den Beruf- ist seit Ende des 19. Jahrhunderts glaubwürdig – es könnte nun aber sein, daß genau diese Glaubwürdigkeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts verloren geht. Und wie sieht das mit der Funktion der Schule aus, die Loyalität zum politischen System zu stärken und zu stützen? Dies bedeutet in der Bundesrepublik, den Heranwachsenden zu helfen, kritische Bürger einer demokratischen Gesellschaft zu werden. Es ist wohl nicht zu bestreiten, daß dies auch künftig eine wichtige Aufgabe im Sozialisations- und Erziehungsbereich sein wird. Doch ist deshalb die Pflichtschule für alle unverzichtbar? Zwei Tendenzen sprechen dagegen: Als die Schule als Instrument politischer Loyalitätsbeschaffung durchgesetzt wurde, hatte sie ein Informationsmonopol. Was in der Welt passierte, erfuhren die preußischen Bauernkinder gefiltert – vom Pastor und vom Lehrer. Inzwischen werden schon Grundschulkinder von vielfältigen Medien über die realen und [310] fiktiven Ereignisse in dieser Welt informiert – und tatsächlich verfügen Kinder heute über weit mehr politische Informationen als alle ihre Vorgängergenerationen. (Allerdings: Wie aus Informationen »Bildung« wird, ist damit noch nicht beantwortet.) Ein zweiter Trend kommt hinzu: Die Pflichtschule ist gemeinsam mit dem Nationalstaat entstanden, sie hat – in Deutschland und anderswo – die Hochsprache durchgesetzt und dazu beigetragen, die nationale politische Herrschaft durch Loyalitätsbeschaffung abzusichern: Das Bewußtsein »Wir Deutsche« wurde nicht zuletzt in den Schulen geschaffen. Doch wir sind inzwischen in massive Prozesse der Internationalisierung eingebunden, aus »Wir Deutsche« soll »Wir Europäer« werden. Kann aber – so die Frage – eine Schule mit national bestimmten Kulturtraditionen die Integration des Bürgers in ein kulturell vielfältiges Europa leisten? Ob man zur Vermittlung eines Bewußtseins »Wir Europäer« eine staatliche Pflichtschule noch braucht, erscheint vielen höchst zweifelhaft. Wird vielleicht die Rolle, die im Zuge des ersten deutschen Einigungsprozesses (1871) die Pflichtschule gespielt hat, im Verlaufe des europäischen Einigungsprozesses vom Fernsehen übernommen? »Sky-channel«, »MTV« und »Eurosport« als zentrale Medien eines europäischen Bewußtseins? Jedenfalls: Was die politische Sozialisation angeht, ist ein Funktionsverlust der Schule unübersehbar. Im Unterschied zum frühen Preußen wird sich die allgemeine Pflichtschule allein aus dieser Funktion heraus nicht mehr begründen lassen. Und wie sieht es mit der Auslesefunktion aus? In einer bürgerlich-demokratischen Gesellschaft müssen soziale Ungleichheiten legitimiert werden – und zwar anhand des Leistungskriteriums. Jede(r) hat angeblich die gleichen Startchancen, die notwendige soziale Ausdifferenzierung erfolgt aufgrund der unterschiedlichen individuellen Leistungen. Ungleichheit ist berechtigt, wenn sie durch unterschiedliche Leistungen zustande gekommen ist. Die Schule mit ihren Zensuren und Zeugnissen übt in dieses meritokratische System ein, sie praktiziert eine soziale Auslese und versieht diese mit dem Anschein von »Gerechtigkeit«. Ich sehe nicht, daß diese Funktion der Auslese nach dem Leistungsprinzip künftig entfallen kann. Doch brauchen wir dazu die Schule in der jetzigen Form? Zentrale Testinstitute, wie sie in einigen Nachbarländern (Niederlande, England) bereits bestehen, verweisen auf Alternativen: Ob und in welcher Schule man gelernt hat, ist dann nicht mehr von großer Bedeutung. Vielmehr wird dann zum zentralen Kriterium, ob man zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Leistungsprüfung (als Aufnahmeprüfung) besteht. Die Vorboten dieser Entwicklung erreichen uns inzwischen: Wenn demnächst die Universitäten sich einen Teil der Studierenden selbst »hineinprüfen« dürfen, ist der Einstieg in eine solche Struktur geschafft: Die[311] Zertifikate der Schule verlieren im Ausleseprozeß an Bedeutung, der Qualifikationsnachweis bei Aufnahme wird zum entscheidenden Kriterium. V. Bleibt schließlich die Frage nach der Aufbewahrungsfunktion. Sie ist und bleibt bedeutend für Kinder etwa bis zum 12. und 13. Lebensjahr. Doch auch hier gibt es Entwicklungen, die modifizierend eingreifen. Zu nennen ist zunächst eine technische Entwicklung, die auch auf alle anderen Funktionen der Schule ausstrahlt: Die Entwicklung der »Neuen Medien« und ihr Siegeszug, der inzwischen auch die privaten Haushalte erreicht hat. Für die Schule ist dabei wichtig: Die Heranwachsenden können künftig auch von zu Hause aus mit anderen lernend kommunizieren; und sie können dabei in einer bisher nicht bekannten Weise auf Informationen aller Art zurückgreifen. Es ist inzwischen nicht mehr zwingend, daß man sich persönlich und gemeinsam mit anderen in Gebäude begeben muß, wenn man in einen lernenden Austausch treten will. Schule vom Wohnzimmer aus ist (mit allen sozialen Einschränkungen) inzwischen möglich. Gleiches gilt für berufliche Arbeit – dort hat es inzwischen sogar eine gewisse Verbreitung gefunden. Heimarbeit, die vom häuslichen Terminal aus erledigt wird, ist besonders attraktiv für Frauen, denen nach wie vor die Hauptaufgabe bei der Kinderbetreuung zufällt. Und hier ist dann auch der Bezug zur Aufbewahrungsfunktion zu sehen: Wenn das Kind nicht mehr in ein Schulgebäude gehen muß, und zumindest ein Elternteil seine Arbeit zu Hause verrichten kann, stellt sich die Lage ganz anders dar. Nimmt man hinzu, daß die Quote der erwerbstätigen Erwachsenen weiter drastisch sinken wird, so geht vielleicht eine spezifische familiäre Situation ihrem historischen Ende entgegen: Daß Vater und Mutter beide ganztags aushäusig berufstätig sind, stellt sich möglicherweise sehr bald als Relikt der industriellen Arbeitsgesellschaft des 20. Jahrhunderts dar. Freilich: Es bleiben immer noch genug Betreuungsaufgaben – insbesondere für die wachsende Zahl von Kindern alleinerziehender Eltern. Ob dafür aber die Einrichtung »Pflichtschule« vorgehalten werden muß, ist fraglich. Jedenfalls ließe sich von allen schulischen Funktionen die der Aufbewahrung am ehesten privatisieren. VI. Die Zukunft ist offen. Nichts muß so kommen, wie ich es hier skizziere – doch in unserer Zukunft steckt auch diese Möglichkeit. Wenn also – wie hier angedeutet – die allgemeine Pflichtschule in den nächsten Jahrzehnten an gesellschaftlicher Legitimation so stark verliert, wenn darüber hinaus eine fortdauernde staat- [312]liche Finanzkrise auf die Privatisierung der Bildungsangebote drängt, wenn sich die Mediatisierung des Lernens weiter durchsetzt, welche Szenarien würden sich daraus ergeben? Die Bildungslandschaft des Jahres 2030 könnte wie folgt aussehen: Im Vorschulbereich treten neben die bisher bekannten Angebote (von Kirchengemeinden, Kommunen etc.) privatwirtschaftliche Firmen: Diese werden – wie in den USA – Kindergarten-Ketten aufziehen, die sich vor allem an zahlungskräftige Eltern richten: frühe Begegnungssprachen, Computer für Vierjährige, vielleicht sogar Intelligenztests als Eingangsprüfung (in Kindergärten für »Hochbegabte« ) – dies alles wird sich marktmäßig etablieren. In den kirchlichen und den kommunalen Einrichtungen (mit geringeren Elternbeiträgen) werden sich dann vor allem die Kinder der sozialen Grundschicht sammeln. Was die Grundschule angeht, so ist meine Prognose eher konservativ: Die vierjährige Grundschule für alle wird weiterbestehen, sie wird ein besonderes Gewicht auf die Aneignung von Kulturtechniken – einschließlich der Bedienung von Computern – legen. Die Grundschulen werden frei wählbar sein; die Zahl der privaten Grundschulen wird vor allem in den Städten deutlich steigen. Jenseits der Grundschule, also im Bereich der Sekundarstufe, gibt es kein allgemeinbildendes Pflichtschulsystem mehr, sondern einen offenen Bildungsmarkt: Die Schulpflicht ist aufgehoben, sie wird zu einer Verpflichtung für die Eltern umdefiniert, ihren Kindern Lernmöglichkeiten zu bieten. Dies ist in unterschiedlicher Weise möglich: Durch vernetzte Computer-Lernstudios, durch traditionelle »Anwesenheits-Schulen«, durch konzentrierte Lern- und Erlebnisphasen in Internatskursen, durch Zertifikate des Bildungsfernsehens. Eltern und Kinder wählen aus – und zwar nach Interessen, nach der familiären Lebenssituation, nach den finanziellen Möglichkeiten. Der Staat gibt jedem Kind einen »Bildungsgutschein«, der die Grundversorgung abdeckt. Es wird sichergestellt, daß es genügend »Anwesenheitsschulen« gibt, die ohne weitere Zuzahlung besucht werden können. Bei allen anderen Angeboten müssen die Eltern zum »Bildungsgutschein« zuzahlen. Dafür wird aber auch Kreatives geboten: Ein Drei-Monats-Kurs »Griechische Geschichte« (für 14bis 16jährige) auf Kreta, Sprach-Intensiv-unterricht in England, ein NaturwissenschaftlerWorkshop mit Max-Planck-Forschern. Dies alles wird von privaten Bildungsfirmen angeboten und organisiert, es ist für die Eltern nicht billig. Staatliche Kontrollen gibt es nur noch an einer Stelle: Im 16. Lebensjahr ist eine zentrale Prüfung in »Allgemeinbildung« abzulegen. Die jährlichen Prüfungsaufgaben werden in einem bundeszentralen Testinstitut festgelegt. Nur wer diese Prüfung mit »gut« oder »sehr gut« absolviert, [313] kann in die Bildungsstufe eintreten, die zur Universität führt. Berufliche Ausbildungsplätze sind ohne Bestehen dieser Prüfung kaum erreichbar – allerdings sind da die Notenanforderungen nicht so hoch. Auch in dem Bereich, den wir heute noch »gymnasiale Oberstufe« nennen, gibt es einen freien Bildungsmarkt: Das Abitur bleibt erhalten, berechtigt aber lediglich zur Aufnahmeprüfung an einer Universität. Viele Universitäten werden inzwischen privat oder halb-privat betrieben, unterschiedlich hohe Studiengebühren (je nach Prestige der Universität) sind längst selbstverständlich geworden. Eine solche Struktur des Bildungsmarktes bedeutet auch: Die Schulaufsicht ist bis auf einen Rest zusammengeschrumpft; das staatliche Schulmonopol ist gefallen; Lehrkräfte sind längst keine Beamte mehr, viele arbeiten mit Einjahres-Verträgen; Bildungsunternehmer(in) ist zu einem weitverbreiteten Beruf geworden; die großen Medienkonzerne sind in diesem Markt stark vertreten. Ein solches System des weitgehend freien Bildungsmarktes könnte die zuvor angesprochenen gesellschaftlichen Funktionen in der post-industriellen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts erfüllen: Die Aneignung von Grundqualifikationen für das alltägliche Leben würde durch die Grundschulpflicht weitgehend gesichert. Der elterliche Ehrgeiz wird bei genügend Kindern groß genug sein, um einen entsprechenden Anteil gut qualifizierter junger Menschen in Berufsausbildung und Studium schicken zu können. Das leistungsorientierte Auslesesystem wird von diesen Umstellungen nicht berührt, es funktioniert – sogar in verschärfter Form – weiter. Der Staat hat sich von einem kostenträchtigen institutionellen Bereich weitgehend befreit; er muß nicht mehr (wie gegenwärtig) etwa 700.000 Lehrkräfte besolden. Und was die Funktion der politischen Loyalisierung angeht, so wird es darum gehen, diese Aufgabe durch andere institutionelle Aktivitäten zu beherrschen: etwa durch »akzeptierende Sozialarbeit« bei rechtsextremistischen, arbeitslosen Jugendlichen. VII. Ist die Schule – genauer: die öffentliche Pflichtschule – ewig? Vor dem Hintergrund meiner (spekulativen) Überlegungen läßt sich wohl sagen: »Nein« – ewig wird sie nicht bestehen. Am Ende des 20. Jahrhunderts sind jedenfalls gesellschaftliche Entwicklungen erkennbar, die auf eine Verdrängung der Schule und auf die Privatisierung eines Bildungsmarktes hinweisen: Eine Gesellschaft (fast) ohne öffentliche Pflichtschule wird vorstellbar. Einmal unterstellt, mein Szenario für das Jahr 2030 würde Wirklichkeit. Was würde dies für den Bildungsprozeß der Heranwachsenden bedeuten? [314] Ohne Zweifel, die Gewinner wären die Kinder zahlungskräftiger Eltern: Sie könnten schon im Grundschulalter in »feine« Einrichtungen gehen, könnten zwischen dem 11. und 19. Lebensjahr Lernen als eine Aufeinanderfolge interessanter »Events« erleben, müßten sich nicht von langweilenden Lehrern traktieren lassen, könnten in Crash-Kursen auf die anstehenden Prüfungen vorbereitet werden, würden als Sieger aus der »gerechten« Konkurrenz hervorgehen. Sie hätten beste Chancen, attraktive Ausbildungs-, Studien- und Arbeitsplätze zu erhalten. Die Verlierer wären die Kinder der »einfachen« Bevölkerung: der Sohn des deutschen Stahlarbeiters, die Tochter der griechischen Änderungsschneiderin; wahrscheinlich auch die Kinder von (dann schlecht bezahlten) Lehrer(inne)n: All diese Kinder sind dann auf die »staatliche Grundversorgung« angewiesen, die qualitativ mit den frei finanzierten Angeboten nicht wird mithalten können. Kinder und Jugendliche, in deren Bildungsprozeß Eltern nicht zusätzlich finanziell investieren können, werden bei den zentralen Prüfungen weit geringere Chancen haben: Sie werden mit schlechteren Zertifikaten eine Berufsausbildung oder nur einen Job suchen – und sehr oft nichts finden. Die gesellschaftliche Ausgrenzung von Jugendlichen wird zunehmen, und sie wird noch stärker als heute durch soziale und ethnische Herkunft bestimmt werden. Bereits bei den l6jährigen wird feststehen, welche 30 bis 40 Prozent »überflüssig« sind. Ich gestehe, bei dieser Vision läuft es mir kalt über den Rücken. Damit wird zugleich aber auch deutlich, welche wichtige und – wie ich finde – unverzichtbare Leistung die kostenlose Pflichtschule für alle in unserer Gesellschaft bisher erbringt: Sie leistet Widerstand gegen eine Verschärfung der gesellschaftlichen Desintegration, indem sie sich um Bildung für alle bemüht. Je stärker die Desintegrations-Tendenzen in dieser Gesellschaft werden, desto mehr werden wir diese Leistung unseres Schulsystems benötigen. Institutionen sind nicht ewig, aber es gibt auch keine zwangsläufigen Entwicklungen in der Geschichte. Die öffentliche Schule für alle hat (in reformierter, in modernisierter Form) auch im 21. Jahrhundert wichtige gesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen. Sie hat eine sehr gute Existenzchance, wenn die Mehrheit der Bürger(innen) sie weiter will, wenn »Bildung für alle« von der Mehrheit der Bevölkerung weiter eingefordert wird. Allerdings: Es gibt keine Bestandsgarantie, vielmehr wird die Existenz eines (reformierten) öffentlichen Schulsystems gegen mächtige gesellschaftliche Trends und Interessen verteidigt werden müssen. Ob dies gelungen ist, werde ich 2030– als dann 86jähriger– ja sehen.