Unbestritten ist heute, dass die persönliche Selbstentfaltung das selbst bestimmte Ausleben der Sexualität mit einschliesst. Eine Auffassung, die in vielen Institutionen auf das Tabu «Sexualität im Heim» trifft. Das Bedürfnis, die eigene Sexualität leben zu können und der Anspruch der Menschen auf Intimität führen in den Institutionen zu Spannungen und Auseinandersetzungen, die mehr verlangen als nur ein Bekenntnis im Leitbild oder allgemeingültige Aussagen in Konzepten zum Thema Sexualität. Von Markus Kopp I nstitutionen versprechen in ihren Leitbildern und Konzepten persönliche Selbstentfaltung, Selbstbestimmung, Achtung der Integrität der Bewohner und Bewohnerinnen, persönlicher Lebensraum und Akzeptanz der Einzigartigkeit. Es sind alles Begriffe, die ein Leben in Selbstbestimmung und Freiheit signalisieren. Die Wirklichkeit sieht aber oft anders aus. Die Freiheit der Bewohner ist durch den Alltag, die Kultur und die Regeln der Institutionen begrenzt. Selbstbestimmung ist toleriert, solange sie den Lebens- und Arbeitskreis von Bewohnern und Mitarbeitenden nicht tangiert. Wo die Freiheit beginnt und wann die Grenzen überschritten werden, definieren die Institution und das Personal genauso wie sie den versprochenen persönlichen Lebensraum bestimmen. 38 NOVA 3 | 2008 Sexualität leben im Heim? Gefordert sind mutige Schritte Eine nicht repräsentative und persönliche Nachfrage in grösseren Institutionen im Heimbereich in der Innerschweiz zeigt, dass die Themen Sexualität, sexueller Missbrauch, sexueller Selbstbestimmung usw. beschäftigen. Auf die Frage «Verfügen Sie über Unterlagen und Verfahrensanweisungen für den Umgang mit dem Thema Sexualität in ihrer Institution und werden sie angewandt?» wurden die folgenden Antworten gegeben: • «Die Thematik ist für uns dringend, wir haben dafür aber noch keine Zeit reservieren können. Wir sind daran interessiert, was andere Institutionen auf diesem Gebiet entwickeln.» • «Wir sollten schon lange zu diesem Thema Grundlagen erarbeiten. Gott sei dank hatten wir bis heute keine Probleme. Sollte es zu Problemen kommen, werden wir Grundlagen und Verfahren erarbeiten.» • «Es ist ein Thema in der Institution. Wir reagieren individuell, wenn eine Situation dies erfordert. Wenn es Grundlagen und definierte Verfahren geben würde, würden wir gerne davon profitieren.» • «Das Thema ist heiss, wir wollen unsere Finger nicht verbrennen. Wir warten auf einen guten Zeitpunkt, das Thema angehen zu können.» Grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Thema Weg vom Tabu «Sexualität im Heim» und hin zum verantwortungsvollen Umgang mit der Thematik in der Institution, diese Zielsetzung setzte sich das Zentrum für Pflege und Betreuung Reusspark in Niederwil im Kanton Aargau. Die Institution hat sich mit der Thematik auseinandergesetzt und das Verhältnis der Institution zur Sexualität im Heim in einem eigenen «Grundlagenpapier Sexualität» geklärt. (s. Kasten, S. ••) Ergänzend dazu wurde das «Vierphasenmodell» entwickelt, um mit dem Thema Sexualität im Alltag in verantwortungsvoller Art und Weise umgehen zu können. Mit dem Modell wurde eine differenzierte Entscheidungshilfe für den Umgang mit den verschiedensten, im Heimalltag auftretenden Situationen im Zusammenhang mit Sexualität erarbeitet. Alle Phasen wurden gleichermassen strukturiert und aufgeteilt in Definition, Abklärungsverfahren und Massnahmen. Das Modell unterscheidet unproblematisches (Phase grün) von problematischem sexuellen Verhalten (Phasen gelb, rot, schwarz). Im Weiteren wurden zu jeder Phase die entsprechenden Vorgehensschritte und Zuständigkeiten definiert. Das «Vierphasenmodell» wurde am 19. September 2007 unter dem Titel «Vorgehen bei vermuteten und erwiesenen sexuellen Übergriffen» in Kraft gesetzt. Der Weg zum «Vierphasenmodell» Im Arbeitsalltag zeigte sich, dass das «Grundlagenpapier zur Sexualität» eine gute Basis darstellte, jedoch viele Fragen der Praxis offen liess, die für einen guten Umgang mit der Sexualität auf der Abteilung «Betreutes Wohnen» als notwendig erachtet wurden. Auf dieser Abteilung leben Frauen und Männer mit psychischen Erkrankungen oder geistiger Behinderung. Team, Leitung und der verantwortliche Abteilungsarzt der Abteilung entwickelten aufgrund konkreter Erfahrungen in der Teamsupervision für diese Abteilung im Jahr 2006 ein erstes «Vierphasenmodell». Der Geltungsbereich, die Zuständigkeit, klare Definitionen, Abklärungsverfahren und Massnahmen wurden definiert und getestet. Dies geschah im Wissen darum, dass unterschiedliche Krankheitsbilder der Bewohnerinnen und Bewohner und die Vielzahl denkbarer Situationen nicht abschliessend in das Modell eingebaut werden konnten. Der Mut zur Definition, klare Abklärungsverfahren und Massnahmen stärkten die Abteilung, sodass sie in der Lage war, auf die Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner einheitlicher und mit einer differenzierten und reflektierten Haltung zu reagieren. Mit der ersten Phase «Grün» wurde die grundlegende Aussage des «Grundlagenpapiers zur Sexualität» konkretisiert und bestätigt. Der Blickwinkel des Modells sollte bewusst nicht allein auf vermutete und erwiesene sexuelle Übergriffe ausgerichtet sein. Neben der Akzeptanz der Sexualität wurden aber klare Grenzen und Haltungen als wichtig und notwendig erachtet. Nach guten Erfahrungen mit dem Modell wurde es für das ganze Zentrum übernommen. Die vier Phasen Im Zentrum der Phase Grün steht die Akzeptanz der gleichwertigen, gegenseitigen gewünschten sexuellen Aktivität des Bewohners und der Bewohnerin. Die Mitarbeitenden wissen, dass ein Eintritt in das Zentrum eine Zäsur bedeutet und die Menschen ihre Geschichte, ihre Fähigkeiten mitnehmen an ihren neuen Lebensmittelpunkt. Indem die sexuellen Bedürfnisse nach dem Eintritt im Abklärungsverfahren aufgenommen werden, sind Mitarbeitende in der Lage, auf Die vier Phasen und ihre Definitionen Phase Grün Definition Gleichwertige, gegenseitig gewünschte, sexuelle Aktivität: Unproblematische, im gegenseitigen Einvernehmen gelebte Sexualität, die auch zu keinen Konflikten mit anderen Mitbewohnern und dem Personal führt Phase Gelb Definition Unklare sexuelle Aktivität: problematische Situation mit wenig Leidensdruck oder geringem Gefahrenpotenzial für die Beteiligten Phase Rot Definition Problematische sexuelle Aktivität: findet im Verborgenen statt, weist auf einseitige Abhängigkeiten der Betroffenen hin. Zwischen den Beteiligten besteht ein Ungleichgewicht bezüglich Intellekt, sozialer Fähigkeiten, sexueller Erfahrung oder sexueller Bedürfnisse. Phase Schwarz Definition Sexueller Übergriff: Verhalten, das vermutlich strafrechtliche Konsequenzen hat oder zu einem FFE führen muss (Gekürzter Auszug aus dem «Vierphasenmodell» 19. September 2007) Wünsche des Bewohners oder der Bewohnerin Rücksicht zu nehmen und wo gewünscht unterstützende Massnahmen anzubieten. Im Zentrum der Phase Gelb stehen unklare sexuelle Aktivitäten der Bewohner und Bewohnerinnen und Unsicherheit der Mitarbeitenden, wenn sie Zeichen oder Situationen wahrnehmen, die auf ungeklärte sexuelle Wünsche und Aktivitäten hinweisen. Zum Beispiel: Die Mitarbeitenden sind sich unsicher bezüglich der Freiwilligkeit der Beziehung. Oder der Schutz der Würde des verwirrten Menschen gibt zu Diskussionen und Fragen Anlass. Die Phase Gelb ist gezeichnet durch einen Bedarf an Beratung, Unterstützung und Veränderung der Rahmenbedingungen. Die Mitarbeitenden und die Abteilung sind gefordert, die Situation wahrzunehmen und abzuklären. Das Abklärungsverfahren ist anspruchsvoll. Gespräche mit den Beteiligten, Beobachtungen, die Dokumentation der Situation usw. sind notwendig. Mit den Massnahmen wie Gespräche, Begleitung der Betroffenen durch Arzt und Pflegende und durch klare Vereinbarungen und Hilfestellungen soll die Situation stabilisiert werden, sodass sich die Bewohnerinnen und Bewohner in der Institution wohl fühlen, ohne in persönliche Not zu geraten. Im Zentrum der Phase Rot stehen problematische sexuelle Aktivitäten. Meistens finden sie im Verborgenen statt. Es sind Aktivitäten, bei denen zwischen den Beteiligten eine einseitige Abhängigkeit und/oder ein Ungleichgewicht bezüglich Intellekt, sozialer Fähigkeiten, sexueller Erfahrung und Bedürfnisse besteht. Zum Beispiel: Eine hilflose Person wird von einer urteilsunfähigen Person sexuell missbraucht. Aus Sicht des Betreuungsteams besteht der Verdacht auf Missbrauch. Eine Situation, die im Institutionsalltag oft zu Krisen bei Bewohnern und Bewohnerinnen und im Team führt, wenn nicht ein klares Abklärungsverfahren und ein Massnahmenkatalog besteht. Ein gutes Abklärungsverfahren und ein sinnvolFoto: Werner Krüper Foto: © irisblende.de Körper – Pflege «Sexualität und sexuelle Bedürfnisse gehören zum menschlichen Leben. Der Wunsch nach Liebe, Zärtlichkeit und die geschlechtliche Vereinigung ist natürlich und wird von uns akzeptiert.» (Grundlagenpapier zur Sexualität, S. 1, 4.10.2006) NOVA 3 | 2008 39 ler Massnahmenkatalog verhindern, dass in diesen schwierigen Situationen Persönlichkeitsrechte verletzt und Menschen falsch beurteilt werden. Das Abklärungsverfahren umfasst unter anderem die folgenden Punkte: die Anhörung der Beteiligten, die Art der Einbindung des Teams in den Abklärungsprozess und den Dienstweg in der Institution, die Dokumentation der Situation, die Abklärung der Fremdund Selbstgefährdung, den Einbezug externer Fachpersonen usw. Aus den im Abklärungsverfahren erhaltenen Informationen werden Ziele und Massnahmen abgeleitet. Diese sind schriftlich festgehalten. Sie müssen umsetzbar und überprüfbar formuliert sein. Der Reusspark definiert in der Phase Rot Sofortmassnahmen und die Grundsätze des weiteren Vorgehens. Diese Massnahmen beinhalten unter anderem die räumliche Trennung und Versetzung der beteiligten Personen, um die Situation sachlich zu klären; das Setzen von klaren Grenzen und Verwarnungen, wenn notwendig durch Team und Leitung; die Art der Kommunikation und Information Sexualität ist eine Sprache der Gefühle und des Geschlechts. Gleichzeitig ist es die stärkste und die schwierigste Sprache eines Menschen, sei er behindert oder nicht. Grundhaltung Normalisierung als Prinzip Sexualität und sexuelle Bedürfnisse gehören zum menschlichen Leben. Der Wunsch nach Liebe, Zärtlichkeit und die geschlechtliche Vereinigung ist natürlich und wird von uns akzeptiert. Die Bewohner/innen in unserer Institution können freundschaftliche Beziehungen unabhängig von Alter und Geschlecht pflegen sowie Partnerschaft und Sexualität leben. Dies bedingt, dass wir uns bemühen, kreativ nach Möglichkeiten zu suchen, um die Privatsphäre unserer Bewohner/innen zu respektieren und zu wahren. Den Schwächeren bieten wir Schutz vor Gewalt und Missbrauch. Wo nötig sind wir für Informationen und Empfängnisverhütung mitverantwortlich. Die Normen der Sexualität werden beeinflusst von Kultur und Religion. Wir anerkennen das Recht auf Selbstbestimmung, soweit das eigene Wohl und das der anderen nicht gefährdet wird. (Auszug aus: Grundlagenpapier zur Sexualität, Seite 1., 4.10.2006) über die Situation, um einer weiteren Eskalation der Situation zu begegnen. Grundsätze des Vorgehens: • «Eine definitive Lösung wird innerhalb eines Monats von Arzt, Vertretern des Pflegeteams, Pflegeressortleitung und eventuell weiteren internen oder exter- Der Reusspark Der Reusspark ist ein Zuhause für betagte und kranke Menschen. Die innovative Institution setzt auf hohem Niveau Standards in Pflege und Betreuung. Die familiäre Atmosphäre auf den zeitgemäss ausgestalteten Wohnbereichen bietet Platz für rund 230 Bewohnerinnen und Bewohner. Der Reusspark orientiert sich einer Werthaltung, welche die Einzigartigkeit jeder Bewohnerin und jedes Bewohners achtet und persönliche Wertvorstellungen akzeptiert. Durch aktivierende und reaktivierende Pflege sollen die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit der Bewohnerin und Bewohner soweit wie möglich wiederhergestellt und verbliebene Kräfte erhalten und gefördert werden. Das Angebot Betreuung und Pflege Der Reusspark bietet eine Vielzahl von Dienstleistungen für Menschen an, die auf Pflege und Betreuung angewiesen sind. Die Bewohnerinnen und Bewohner werden rund um die Uhr von einem engagierten interdisziplinären Team versorgt, bestehend aus Pflegepersonal, Ärzten, Physio-, Ergo- oder Aktivierungstherapeutinnen und -therapeuten. Wohnen im Alter Der Reusspark bietet Pflege und Betreuung für betagte und kranke Menschen mit unterschiedlichen medizinischen und pflegerischen Bedürfnissen. Demenz und Alzheimer Zu den Kernkompetenzen des Reussparks gehört die Pflege und Betreuung von Menschen, die von irgendeiner Form von Demenz betroffen sind. Den Betroffenen stehen verschiedene Wohnformen zur Verfügung. Palliative Care Eine spezielle Einheit Palliative Care befindet sich im Wohnbereich 3. Ost. Die palliative Betreuung ist ein Angebot, das sich an erwachsene Menschen aller Altersgruppen richtet, die sich mit einer unheilbaren Krankheitssituation konfrontiert sehen. Betreutes Wohnen Hier leben Frauen und Männer mit psychischen Erkrankungen oder geistiger Behinderung. Sie sind weitgehend selbstständig, arbeiten an verschiedenen Stellen im Haus – vom Tierpark über die Wäscherei bis zum Kurierdienst. Die erlebte sinnvolle Tagesstruktur ermöglicht Lebensqualität und stabilisiert das Wohlbefinden. (Gekürzter Auszug von der Website www.reusspark.ch/abgerufen Januar, 2008) 40 NOVA 3 | 2008 Foto: Werner Krüper Körper – Pflege nen Personen erarbeitet. Diese Lösung wird spätestens nach einem weiteren Monat Umsetzungszeit überprüft und gegebenenfalls angepasst. • Sofern notwendig, Hilfestellung für die involvierten Bewohner durch externe Therapien, ärztliche oder soziale Massnahmen. • Wird in der Folge die Vereinbarung nicht eingehalten, so wird die äussere Situation durch interne oder externe Versetzung der belästigenden Person innerhalb von 24 Stunden entschärft.» (Auszug aus dem Vierphasenkonzept, Seite 3–4, 19.September 2008) Im Zentrum der Phase Schwarz steht der sexuelle Übergriff. Ein Verhalten, das strafrechtliche Konsequenzen hat und aus Sicht der Institution zum Schutz der Beteiligten zu einem FFE führen muss. Beispiele dazu sind: Eine nicht urteilsfähige Person wird von einer urteilsfähigen Person für sexuelle Handlungen missbraucht, sexuelle Aktivität mit Anwendung körperlicher oder seelischer Gewalt zwischen urteilsfähigen Personen, sexueller Übergriff mit Fremd- und Selbstgefährdung usw. Das Abklärungsverfahren in der Phase Schwarz umfasst die gleichen Schritte wie in der Phase Rot. Der Massnahmenkatalog enthält unter anderem ergänzend zu den Massnahmen in der Phase Rot die folgenden Massnahmen zusätzlich fest. • «Wird eine strafbare Handlung vermutet oder deuten Indizien stark darauf hin, ist eine polizeiliche Abklärung notwendig. Die Polizei wird in Absprache mit der Direktion beigezogen. Die Befragung und Abklärung soll wenn immer möglich durch geschulte Spezialkräfte der Polizei erfolgen. Legende???•••• • Liegt eine Fremd- oder Selbstgefährdung vor, ist durch den Arzt ein FFE zu prüfen und eventuell zu veranlassen. • Auf einem erwiesenen sexuellen Missbrauch durch eine/urteilsfähige/n Bewohner/in wird mit umgehender Entlas- sung durch den Reusspark reagiert und bei der Polizei Anzeige erstattet. • Erwiesener sexueller Missbrauch durch eine/n Mitarbeiter/in führt zwingend zu einer fristlosen Entlassung und strafrechtlicher Verfolgung.“ (Auszug aus dem Vierphasenkonzept, Seite 5, 19.September 2008) Die Herausforderung Im Reusspark weiss man, dass ein Modell so gut ist wie die Mitarbeitenden, die Führung und die Organisation damit umgehen. Das «Vierphasenmodell» und das «Grundlagenpapier zur Sexualität» sind beides Schritte zu einem veränderten Umgang mit der Thematik «Sexualität im Heim». Mitarbeitende und Führung wissen, dass eine Weiterentwicklung und Anpassung des Modells in Zukunft notwendig und sinnvoll sein wird, denn nicht alle Situationen und Aspekte konnten im Modell während der Entwicklung berücksichtigt werden. Das Modell wurde von der Praxis für die Praxis geschaffen. Was es auszeichnet, ist der Mut, Situationen zu definieren und Abklärungsverfahren und Massnahmen festzulegen. Es entbindet Mitarbeitende und Führung nicht von ihrer Verantwortung, es gibt ihnen eine Wegleitung, verantwortungsvoll und professionell mit dem Thema umzugehen. Man kann gespannt sein auf die Weiterentwicklung des Modells und die Diskussion, die es auslösen wird. Der Autor Markus Kopp arbeitet in verschiedensten Institutionen als freier Berater und als Projekt- und Schulungsleiter für Sozial-, Gesundheits- und Kulturorganisationen. Seit Sommer 2007 ist er Geschäftsleiter der Spitex Obwalden. Er ist redaktioneller Mitarbeiter der NOVA. Gespräch mit Andreas Egger Leiter Pflegeressort 2 im Zentrum für Pflege und Betreuung, Reusspark in Niederwil AG Für wen wurde das Grundlagenpapier zur Sexualität geschaffen, und welche Vorteile bietet das Verfahren dem Mitarbeitenden, dem Abteilungsleitungen und dem Kader des Reussparks? Das Papier dient den Pflegeteams und den Führungspersonen im Reusspark als Orientierungs- und Handlungsanleitung, um mit sexuellen Ansprüchen, die Konflikte auslösen, kompetent umzugehen. Insbesondere geht es dabei um Situationen, bei denen es sich um sexuelle Übergriffe handeln könnte. Das Papier hilft zu unterscheiden zwischen erwünschtem oder toleriertem sexuellen Verhalten und Handlungen, die zum Schutz der Würde der Betroffenen klar verhindert werden müssen. Ausserdem werden je nach Situation angepasste Massnahmen vorgegeben. Situationen bei denen es zu vermuteten oder tatsächlichen sexuellen Übergriffe gekommen ist, lösen bei Pflegenden und anderen Betroffenen starke Emotionen aus wie zum Beispiel Mitleid, Wut, Ekel oder auch Schuldgefühle. Diese von persönlichen Erfahrungen und Werten geprägten Gefühle, verbunden mit dem tabuisierten Thema «Sexualität im Heim», erschweren eine sachliche Diskussion und die überlegte Entscheidungsfindung im Arbeitsalltag. Indirekt kommt das Papier allen unseren Heimbewohnerinnen und -bewohnern zugute, wenn entsprechende Situationen und Wünsche schnell und kompetent behandelt werden können. Wann und wo wurde das Papier seit seinem Entstehen eingesetzt? Es handelte sich bisher oft um Situationen, in denen vor allem demenzkranke Menschen durch ihr Verhalten andere Bewohner bedrängten. In einem Fall bestand die Befürchtung, dass ein kognitiv kaum beeinträchtiger Mann die Schwächen einer geistig stärker eingeschränkten Frau ausnützen wollte. In einer weiteren Situation erregte ein Paar, das sich im öffentlichen Bereich nahe kam, Anstoss bei Mitbewohnern und Personal. Wie sind die ersten Erfahrungen auf den Abteilungen? In mehreren Fällen konnte dank dem «Vier-Phasen-Modell» die Situation beurteilt und ohne Zeitverlust gehandelt werden. In früheren Situationen entstand trotz aufwendigen Diskussionen in den Teams oft kein gemeinsamer Nenner, die Kompetenzen für Entscheidungen fehlten und Massnahmen wurden immer wieder in Frage gestellt. Dank der jetzt vorhandenen Orientierungshilfe wird rascher ein gemeinsames Vorgehen gefunden. In einem Fall kam es schneller und mit weniger negativen Gefühlen bei den Pflegenden zu einer Einweisung in eine andere Institution, weil anhand des Modells klar wurde, dass einerseits vor allem andere Bewohnerinnen geschützt werden mussten, andererseits Einsicht beim betroffenen Bewohner nicht mehr möglich war und sein Handeln bei uns nicht wirksam eingeschränkt werden konnte. In einem anderen Fall wurden mit den Betroffenen in einem klärenden Gespräch die für alle unbefriedigende, konflikthafte Situation bearbeitet. Grenzen und Möglichkeiten bezüglich der sexuellen Bedürfnisse wurden diskutiert. In diesem Fall konnte gemeinsam mit den Betroffenen eine Lösung gefunden werden, die es ihnen heute erlaubt ihr sexuelles Bedürfnis auszuleben, ohne andere im Heim lebende Menschen zu stören. Interview: Markus Kopp NOVA 3 | 2008 41