Sexualität leben im Heim?

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Unbestritten ist heute, dass die persönliche Selbstentfaltung das selbst
bestimmte Ausleben der Sexualität
mit einschliesst. Eine Auffassung, die
in vielen Institutionen auf das Tabu
«Sexualität im Heim» trifft. Das Bedürfnis, die eigene Sexualität leben zu
können und der Anspruch der Menschen auf Intimität führen in den Institutionen zu Spannungen und Auseinandersetzungen, die mehr verlangen
als nur ein Bekenntnis im Leitbild oder
allgemeingültige Aussagen in Konzepten zum Thema Sexualität.
Von Markus Kopp
I
nstitutionen versprechen in ihren Leitbildern und Konzepten persönliche Selbstentfaltung, Selbstbestimmung, Achtung
der Integrität der Bewohner und Bewohnerinnen, persönlicher Lebensraum und
Akzeptanz der Einzigartigkeit. Es sind alles Begriffe, die ein Leben in Selbstbestimmung und Freiheit signalisieren. Die
Wirklichkeit sieht aber oft anders aus.
Die Freiheit der Bewohner ist durch den
Alltag, die Kultur und die Regeln der Institutionen begrenzt. Selbstbestimmung ist
toleriert, solange sie den Lebens- und
Arbeitskreis von Bewohnern und Mitarbeitenden nicht tangiert. Wo die Freiheit beginnt und wann die Grenzen überschritten
werden, definieren die Institution und das
Personal genauso wie sie den versprochenen persönlichen Lebensraum bestimmen.
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Sexualität
leben im Heim?
Gefordert sind mutige Schritte
Eine nicht repräsentative und persönliche
Nachfrage in grösseren Institutionen im
Heimbereich in der Innerschweiz zeigt,
dass die Themen Sexualität, sexueller
Missbrauch, sexueller Selbstbestimmung
usw. beschäftigen. Auf die Frage «Verfügen Sie über Unterlagen und Verfahrensanweisungen für den Umgang mit dem
Thema Sexualität in ihrer Institution und
werden sie angewandt?» wurden die folgenden Antworten gegeben:
• «Die Thematik ist für uns dringend, wir
haben dafür aber noch keine Zeit reservieren können. Wir sind daran interessiert, was andere Institutionen auf diesem Gebiet entwickeln.»
• «Wir sollten schon lange zu diesem
Thema Grundlagen erarbeiten. Gott sei
dank hatten wir bis heute keine Probleme. Sollte es zu Problemen kommen,
werden wir Grundlagen und Verfahren
erarbeiten.»
• «Es ist ein Thema in der Institution. Wir
reagieren individuell, wenn eine Situation dies erfordert. Wenn es Grundlagen
und definierte Verfahren geben würde,
würden wir gerne davon profitieren.»
• «Das Thema ist heiss, wir wollen unsere Finger nicht verbrennen. Wir warten auf einen guten Zeitpunkt, das
Thema angehen zu können.»
Grundsätzliche Auseinandersetzung
mit dem Thema
Weg vom Tabu «Sexualität im Heim» und
hin zum verantwortungsvollen Umgang
mit der Thematik in der Institution, diese
Zielsetzung setzte sich das Zentrum für
Pflege und Betreuung Reusspark in Niederwil im Kanton Aargau. Die Institution
hat sich mit der Thematik auseinandergesetzt und das Verhältnis der Institution zur
Sexualität im Heim in einem eigenen
«Grundlagenpapier Sexualität» geklärt. (s.
Kasten, S. ••)
Ergänzend dazu wurde das «Vierphasenmodell» entwickelt, um mit dem Thema
Sexualität im Alltag in verantwortungsvoller Art und Weise umgehen zu können.
Mit dem Modell wurde eine differenzierte
Entscheidungshilfe für den Umgang mit
den verschiedensten, im Heimalltag auftretenden Situationen im Zusammenhang
mit Sexualität erarbeitet. Alle Phasen wurden gleichermassen strukturiert und aufgeteilt in Definition, Abklärungsverfahren
und Massnahmen.
Das Modell unterscheidet unproblematisches (Phase grün) von problematischem
sexuellen Verhalten (Phasen gelb, rot,
schwarz). Im Weiteren wurden zu jeder
Phase die entsprechenden Vorgehensschritte und Zuständigkeiten definiert. Das
«Vierphasenmodell» wurde am 19. September 2007 unter dem Titel «Vorgehen
bei vermuteten und erwiesenen sexuellen
Übergriffen» in Kraft gesetzt.
Der Weg zum «Vierphasenmodell»
Im Arbeitsalltag zeigte sich, dass das
«Grundlagenpapier zur Sexualität» eine
gute Basis darstellte, jedoch viele Fragen
der Praxis offen liess, die für einen guten
Umgang mit der Sexualität auf der Abteilung «Betreutes Wohnen» als notwendig
erachtet wurden. Auf dieser Abteilung leben Frauen und Männer mit psychischen
Erkrankungen oder geistiger Behinderung.
Team, Leitung und der verantwortliche Abteilungsarzt der Abteilung entwickelten
aufgrund konkreter Erfahrungen in der
Teamsupervision für diese Abteilung im
Jahr 2006 ein erstes «Vierphasenmodell».
Der Geltungsbereich, die Zuständigkeit,
klare Definitionen, Abklärungsverfahren
und Massnahmen wurden definiert und
getestet. Dies geschah im Wissen darum,
dass unterschiedliche Krankheitsbilder der
Bewohnerinnen und Bewohner und die
Vielzahl denkbarer Situationen nicht abschliessend in das Modell eingebaut werden konnten.
Der Mut zur Definition, klare Abklärungsverfahren und Massnahmen stärkten die
Abteilung, sodass sie in der Lage war, auf
die Bedürfnisse der Bewohnerinnen und
Bewohner einheitlicher und mit einer differenzierten und reflektierten Haltung zu
reagieren. Mit der ersten Phase «Grün»
wurde die grundlegende Aussage des
«Grundlagenpapiers zur Sexualität» konkretisiert und bestätigt.
Der Blickwinkel des Modells sollte bewusst nicht allein auf vermutete und erwiesene sexuelle Übergriffe ausgerichtet
sein. Neben der Akzeptanz der Sexualität
wurden aber klare Grenzen und Haltungen
als wichtig und notwendig erachtet.
Nach guten Erfahrungen mit dem Modell
wurde es für das ganze Zentrum übernommen.
Die vier Phasen
Im Zentrum der Phase Grün
steht die Akzeptanz der gleichwertigen,
gegenseitigen gewünschten sexuellen
Aktivität des Bewohners und der Bewohnerin. Die Mitarbeitenden wissen, dass
ein Eintritt in das Zentrum eine Zäsur bedeutet und die Menschen ihre Geschichte,
ihre Fähigkeiten mitnehmen an ihren
neuen Lebensmittelpunkt. Indem die sexuellen Bedürfnisse nach dem Eintritt im
Abklärungsverfahren aufgenommen werden, sind Mitarbeitende in der Lage, auf
Die vier Phasen und ihre
Definitionen
Phase Grün
Definition
Gleichwertige, gegenseitig gewünschte,
sexuelle Aktivität: Unproblematische, im
gegenseitigen Einvernehmen gelebte
Sexualität, die auch zu keinen Konflikten
mit anderen Mitbewohnern und dem
Personal führt
Phase Gelb
Definition
Unklare sexuelle Aktivität: problematische Situation mit wenig Leidensdruck
oder geringem Gefahrenpotenzial für die
Beteiligten
Phase Rot
Definition
Problematische sexuelle Aktivität: findet
im Verborgenen statt, weist auf einseitige Abhängigkeiten der Betroffenen hin.
Zwischen den Beteiligten besteht ein
Ungleichgewicht bezüglich Intellekt, sozialer Fähigkeiten, sexueller Erfahrung
oder sexueller Bedürfnisse.
Phase Schwarz
Definition
Sexueller Übergriff: Verhalten, das vermutlich strafrechtliche Konsequenzen
hat oder zu einem FFE führen muss
(Gekürzter Auszug aus dem «Vierphasenmodell» 19. September 2007)
Wünsche des Bewohners oder der Bewohnerin Rücksicht zu nehmen und wo
gewünscht unterstützende Massnahmen
anzubieten.
Im Zentrum der Phase Gelb
stehen unklare sexuelle Aktivitäten der
Bewohner und Bewohnerinnen und Unsicherheit der Mitarbeitenden, wenn sie Zeichen oder Situationen wahrnehmen, die
auf ungeklärte sexuelle Wünsche und Aktivitäten hinweisen.
Zum Beispiel: Die Mitarbeitenden sind
sich unsicher bezüglich der Freiwilligkeit
der Beziehung. Oder der Schutz der
Würde des verwirrten Menschen gibt zu
Diskussionen und Fragen Anlass. Die
Phase Gelb ist gezeichnet durch einen Bedarf an Beratung, Unterstützung und Veränderung der Rahmenbedingungen. Die
Mitarbeitenden und die Abteilung sind gefordert, die Situation wahrzunehmen und
abzuklären. Das Abklärungsverfahren ist
anspruchsvoll. Gespräche mit den Beteiligten, Beobachtungen, die Dokumentation der Situation usw. sind notwendig.
Mit den Massnahmen wie Gespräche, Begleitung der Betroffenen durch Arzt und
Pflegende und durch klare Vereinbarungen
und Hilfestellungen soll die Situation stabilisiert werden, sodass sich die Bewohnerinnen und Bewohner in der Institution
wohl fühlen, ohne in persönliche Not zu
geraten.
Im Zentrum der Phase Rot
stehen problematische sexuelle Aktivitäten. Meistens finden sie im Verborgenen
statt. Es sind Aktivitäten, bei denen zwischen den Beteiligten eine einseitige Abhängigkeit und/oder ein Ungleichgewicht
bezüglich Intellekt, sozialer Fähigkeiten,
sexueller Erfahrung und Bedürfnisse besteht.
Zum Beispiel: Eine hilflose Person wird
von einer urteilsunfähigen Person sexuell
missbraucht. Aus Sicht des Betreuungsteams besteht der Verdacht auf Missbrauch. Eine Situation, die im Institutionsalltag oft zu Krisen bei Bewohnern und Bewohnerinnen und im Team führt, wenn
nicht ein klares Abklärungsverfahren und
ein Massnahmenkatalog besteht. Ein gutes Abklärungsverfahren und ein sinnvolFoto: Werner Krüper
Foto: © irisblende.de
Körper – Pflege
«Sexualität und sexuelle
Bedürfnisse gehören
zum menschlichen Leben. Der Wunsch nach
Liebe, Zärtlichkeit und
die geschlechtliche
Vereinigung ist natürlich
und wird von uns
akzeptiert.»
(Grundlagenpapier
zur Sexualität, S. 1,
4.10.2006)
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ler Massnahmenkatalog verhindern, dass
in diesen schwierigen Situationen Persönlichkeitsrechte verletzt und Menschen
falsch beurteilt werden. Das Abklärungsverfahren umfasst unter anderem die folgenden Punkte: die Anhörung der Beteiligten, die Art der Einbindung des Teams
in den Abklärungsprozess und den Dienstweg in der Institution, die Dokumentation
der Situation, die Abklärung der Fremdund Selbstgefährdung, den Einbezug externer Fachpersonen usw. Aus den im Abklärungsverfahren erhaltenen Informationen werden Ziele und Massnahmen abgeleitet. Diese sind schriftlich festgehalten.
Sie müssen umsetzbar und überprüfbar
formuliert sein. Der Reusspark definiert in
der Phase Rot Sofortmassnahmen und die
Grundsätze des weiteren Vorgehens.
Diese Massnahmen beinhalten unter anderem die räumliche Trennung und Versetzung der beteiligten Personen, um die Situation sachlich zu klären; das Setzen von
klaren Grenzen und Verwarnungen, wenn
notwendig durch Team und Leitung; die
Art der Kommunikation und Information
Sexualität ist eine Sprache der Gefühle und des Geschlechts.
Gleichzeitig ist es die stärkste und die schwierigste Sprache eines Menschen,
sei er behindert oder nicht.
Grundhaltung Normalisierung als Prinzip
Sexualität und sexuelle Bedürfnisse gehören zum menschlichen Leben. Der Wunsch nach
Liebe, Zärtlichkeit und die geschlechtliche Vereinigung ist natürlich und wird von uns akzeptiert.
Die Bewohner/innen in unserer Institution können freundschaftliche Beziehungen
unabhängig von Alter und Geschlecht pflegen sowie Partnerschaft und Sexualität
leben. Dies bedingt, dass wir uns bemühen, kreativ nach Möglichkeiten zu suchen, um
die Privatsphäre unserer Bewohner/innen zu respektieren und zu wahren. Den Schwächeren bieten wir Schutz vor Gewalt und Missbrauch. Wo nötig sind wir für Informationen und Empfängnisverhütung mitverantwortlich.
Die Normen der Sexualität werden beeinflusst von Kultur und Religion.
Wir anerkennen das Recht auf Selbstbestimmung, soweit das eigene Wohl und das der
anderen nicht gefährdet wird.
(Auszug aus: Grundlagenpapier zur Sexualität, Seite 1., 4.10.2006)
über die Situation, um einer weiteren Eskalation der Situation zu begegnen.
Grundsätze des Vorgehens:
• «Eine definitive Lösung wird innerhalb
eines Monats von Arzt, Vertretern des
Pflegeteams, Pflegeressortleitung und
eventuell weiteren internen oder exter-
Der Reusspark
Der Reusspark ist ein Zuhause für betagte und kranke Menschen. Die innovative Institution setzt auf hohem Niveau Standards in Pflege und Betreuung. Die familiäre Atmosphäre auf den zeitgemäss ausgestalteten Wohnbereichen bietet Platz für rund 230
Bewohnerinnen und Bewohner. Der Reusspark orientiert sich einer Werthaltung, welche die Einzigartigkeit jeder Bewohnerin und jedes Bewohners achtet und persönliche
Wertvorstellungen akzeptiert. Durch aktivierende und reaktivierende Pflege sollen die
Selbstständigkeit und Unabhängigkeit der Bewohnerin und Bewohner soweit wie möglich wiederhergestellt und verbliebene Kräfte erhalten und gefördert werden.
Das Angebot
Betreuung und Pflege
Der Reusspark bietet eine Vielzahl von Dienstleistungen für Menschen an, die auf
Pflege und Betreuung angewiesen sind. Die Bewohnerinnen und Bewohner werden
rund um die Uhr von einem engagierten interdisziplinären Team versorgt, bestehend
aus Pflegepersonal, Ärzten, Physio-, Ergo- oder Aktivierungstherapeutinnen und -therapeuten.
Wohnen im Alter
Der Reusspark bietet Pflege und Betreuung für betagte und kranke Menschen mit unterschiedlichen medizinischen und pflegerischen Bedürfnissen.
Demenz und Alzheimer
Zu den Kernkompetenzen des Reussparks gehört die Pflege und Betreuung von Menschen, die von irgendeiner Form von Demenz betroffen sind. Den Betroffenen stehen
verschiedene Wohnformen zur Verfügung.
Palliative Care
Eine spezielle Einheit Palliative Care befindet sich im Wohnbereich 3. Ost. Die palliative Betreuung ist ein Angebot, das sich an erwachsene Menschen aller Altersgruppen
richtet, die sich mit einer unheilbaren Krankheitssituation konfrontiert sehen.
Betreutes Wohnen
Hier leben Frauen und Männer mit psychischen Erkrankungen oder geistiger Behinderung. Sie sind weitgehend selbstständig, arbeiten an verschiedenen Stellen im Haus –
vom Tierpark über die Wäscherei bis zum Kurierdienst. Die erlebte sinnvolle Tagesstruktur ermöglicht Lebensqualität und stabilisiert das Wohlbefinden.
(Gekürzter Auszug von der Website www.reusspark.ch/abgerufen Januar, 2008)
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Foto: Werner Krüper
Körper – Pflege
nen Personen erarbeitet. Diese Lösung
wird spätestens nach einem weiteren
Monat Umsetzungszeit überprüft und
gegebenenfalls angepasst.
• Sofern notwendig, Hilfestellung für die
involvierten Bewohner durch externe
Therapien, ärztliche oder soziale Massnahmen.
• Wird in der Folge die Vereinbarung nicht
eingehalten, so wird die äussere Situation durch interne oder externe Versetzung der belästigenden Person innerhalb von 24 Stunden entschärft.»
(Auszug aus dem Vierphasenkonzept,
Seite 3–4, 19.September 2008)
Im Zentrum der Phase Schwarz
steht der sexuelle Übergriff. Ein Verhalten,
das strafrechtliche Konsequenzen hat und
aus Sicht der Institution zum Schutz der
Beteiligten zu einem FFE führen muss.
Beispiele dazu sind: Eine nicht urteilsfähige Person wird von einer urteilsfähigen
Person für sexuelle Handlungen missbraucht, sexuelle Aktivität mit Anwendung
körperlicher oder seelischer Gewalt zwischen urteilsfähigen Personen, sexueller
Übergriff mit Fremd- und Selbstgefährdung usw.
Das Abklärungsverfahren in der Phase
Schwarz umfasst die gleichen Schritte wie
in der Phase Rot. Der Massnahmenkatalog enthält unter anderem ergänzend zu
den Massnahmen in der Phase Rot die folgenden Massnahmen zusätzlich fest.
• «Wird eine strafbare Handlung vermutet oder deuten Indizien stark darauf hin,
ist eine polizeiliche Abklärung notwendig. Die Polizei wird in Absprache mit
der Direktion beigezogen. Die Befragung und Abklärung soll wenn immer
möglich durch geschulte Spezialkräfte
der Polizei erfolgen.
Legende???••••
• Liegt eine Fremd- oder Selbstgefährdung vor, ist durch den Arzt ein FFE zu
prüfen und eventuell zu veranlassen.
• Auf einem erwiesenen sexuellen Missbrauch durch eine/urteilsfähige/n Bewohner/in wird mit umgehender Entlas-
sung durch den Reusspark reagiert und
bei der Polizei Anzeige erstattet.
• Erwiesener sexueller Missbrauch durch
eine/n Mitarbeiter/in führt zwingend zu
einer fristlosen Entlassung und strafrechtlicher Verfolgung.“
(Auszug aus dem Vierphasenkonzept,
Seite 5, 19.September 2008)
Die Herausforderung
Im Reusspark weiss man, dass ein Modell
so gut ist wie die Mitarbeitenden, die Führung und die Organisation damit umgehen. Das «Vierphasenmodell» und das
«Grundlagenpapier zur Sexualität» sind
beides Schritte zu einem veränderten Umgang mit der Thematik «Sexualität im
Heim». Mitarbeitende und Führung wissen, dass eine Weiterentwicklung und Anpassung des Modells in Zukunft notwendig und sinnvoll sein wird, denn nicht alle
Situationen und Aspekte konnten im Modell während der Entwicklung berücksichtigt werden. Das Modell wurde von der
Praxis für die Praxis geschaffen. Was es
auszeichnet, ist der Mut, Situationen zu
definieren und Abklärungsverfahren und
Massnahmen festzulegen. Es entbindet
Mitarbeitende und Führung nicht von ihrer
Verantwortung, es gibt ihnen eine Wegleitung, verantwortungsvoll und professionell mit dem Thema umzugehen. Man
kann gespannt sein auf die Weiterentwicklung des Modells und die Diskussion,
die es auslösen wird.
Der Autor
Markus Kopp arbeitet in verschiedensten
Institutionen als freier Berater und als Projekt- und Schulungsleiter für Sozial-, Gesundheits- und Kulturorganisationen. Seit
Sommer 2007 ist er Geschäftsleiter der
Spitex Obwalden. Er ist redaktioneller Mitarbeiter der NOVA.
Gespräch mit Andreas Egger
Leiter Pflegeressort 2 im Zentrum für Pflege und Betreuung, Reusspark in Niederwil AG
Für wen wurde das Grundlagenpapier
zur Sexualität geschaffen, und welche
Vorteile bietet das Verfahren dem Mitarbeitenden, dem Abteilungsleitungen
und dem Kader des Reussparks?
Das Papier dient den Pflegeteams und
den Führungspersonen im Reusspark als
Orientierungs- und Handlungsanleitung,
um mit sexuellen Ansprüchen, die Konflikte auslösen, kompetent umzugehen.
Insbesondere geht es dabei um Situationen, bei denen es sich um sexuelle Übergriffe handeln könnte. Das Papier hilft zu
unterscheiden zwischen erwünschtem
oder toleriertem sexuellen Verhalten und
Handlungen, die zum Schutz der Würde
der Betroffenen klar verhindert werden
müssen. Ausserdem werden je nach Situation angepasste Massnahmen vorgegeben.
Situationen bei denen es zu vermuteten
oder tatsächlichen sexuellen Übergriffe
gekommen ist, lösen bei Pflegenden und
anderen Betroffenen starke Emotionen
aus wie zum Beispiel Mitleid, Wut, Ekel
oder auch Schuldgefühle. Diese von persönlichen Erfahrungen und Werten geprägten Gefühle, verbunden mit dem tabuisierten Thema «Sexualität im Heim»,
erschweren eine sachliche Diskussion
und die überlegte Entscheidungsfindung
im Arbeitsalltag.
Indirekt kommt das Papier allen unseren
Heimbewohnerinnen und -bewohnern zugute, wenn entsprechende Situationen
und Wünsche schnell und kompetent behandelt werden können.
Wann und wo wurde das Papier seit
seinem Entstehen eingesetzt?
Es handelte sich bisher oft um Situationen, in denen vor allem demenzkranke
Menschen durch ihr Verhalten andere Bewohner bedrängten. In einem Fall bestand
die Befürchtung, dass ein kognitiv kaum
beeinträchtiger Mann die Schwächen einer geistig stärker eingeschränkten Frau
ausnützen wollte. In einer weiteren Situation erregte ein Paar, das sich im öffentlichen Bereich nahe kam, Anstoss bei Mitbewohnern und Personal.
Wie sind die ersten Erfahrungen auf
den Abteilungen?
In mehreren Fällen konnte dank dem
«Vier-Phasen-Modell» die Situation beurteilt und ohne Zeitverlust gehandelt werden. In früheren Situationen entstand trotz
aufwendigen Diskussionen in den Teams
oft kein gemeinsamer Nenner, die Kompetenzen für Entscheidungen fehlten und
Massnahmen wurden immer wieder in
Frage gestellt. Dank der jetzt vorhandenen
Orientierungshilfe wird rascher ein gemeinsames Vorgehen gefunden.
In einem Fall kam es schneller und mit weniger negativen Gefühlen bei den Pflegenden zu einer Einweisung in eine andere Institution, weil anhand des Modells klar
wurde, dass einerseits vor allem andere
Bewohnerinnen geschützt werden mussten, andererseits Einsicht beim betroffenen Bewohner nicht mehr möglich war
und sein Handeln bei uns nicht wirksam
eingeschränkt werden konnte.
In einem anderen Fall wurden mit den Betroffenen in einem klärenden Gespräch
die für alle unbefriedigende, konflikthafte
Situation bearbeitet. Grenzen und Möglichkeiten bezüglich der sexuellen Bedürfnisse wurden diskutiert. In diesem Fall
konnte gemeinsam mit den Betroffenen
eine Lösung gefunden werden, die es ihnen heute erlaubt ihr sexuelles Bedürfnis
auszuleben, ohne andere im Heim lebende Menschen zu stören.
Interview: Markus Kopp
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