Mimosen haben in der Politik nichts verloren

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an unsere Zeit. Seite 17
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in Cleveland lange nicht
bemerktwerden.Seite23
Mimosen haben in der
Politik nichts verloren
I
Schweizer Politiker
klagen darüber,
dass die Medien sie
zu hart anpackten.
Der Vorwurf ist
unbegründet. An
der Dünnhäutigkeit
der Amtsträger
tragen die Medien
keine Schuld, meint
Francesco Benini
n Zürich räumt in diesen
Tagen Stadtrat Martin Vollenwyder sein Büro. Der Finanzvorsteher ist die profilierteste
Figur in dieser Exekutive. In
einem Abschiedsinterview
mit dem «Magazin» stellt der
FDP-Politiker Überlegungen dazu an,
wieso die Laufbahn als Politiker nicht
mehr so erstrebenswert sei wie ehedem. Vollenwyder sagt, dass das Ansehen der Politiker abgenommen und
das Misstrauen ihnen gegenüber zugenommen habe. Die Bereitschaft der
Medien, Politiker wegen kleinster
Fehler zu verurteilen, sei enorm gross
geworden. Es sei schlimm, was die
Medien mit ihrem «Reinheitsterror»
in der Politik anrichteten.
Springen die Medien in der Schweiz
zu hart um mit den Politikern? Das
Interesse der Öffentlichkeit am politischen Personal ergibt sich daraus,
dass dieses Entscheide fällt, welche
jeden einzelnen Bürger betreffen. Politiker befinden über den Einsatz von
Steuergeldern und Gebühren, die alle
bezahlen müssen. Es ist darum richtig,
dass die Medien Amtsträger kritisch
begleiten. Für Politiker gilt das Gleiche wie für alle Personen, die an die
Öffentlichkeit treten, die gewissermassen den Kopf zum Fenster hinausstrecken: Es kann einem die Sonne ins
Gesicht scheinen – man kann aber
auch nass werden vom Regen.
Letzteres ist keine Tragödie. Es
kommt auf die Reaktion an. Erst wenn
diese fehlerhaft ist, wird es schlimm.
Viele Exekutivpolitiker führen heute
Kommunikationsstellen mit mehreren
Angestellten. Trotzdem gelingt es
ihnen nicht, eine heikle Lage zu entschärfen. Sie machen im Gegenteil
alles noch schlimmer, indem sie einen
Missstand verwedeln. Indem sie nur
so viel eingestehen, wie ihnen die
Medien nachzuweisen vermögen, und
indem sie Verantwortung abschieben.
Damit wecken sie Zweifel an ihrer
Führungseignung und manchmal auch
an ihrer Redlichkeit. Von einer Leitungsperson erwartet die Öffentlichkeit etwas anderes, mit Recht.
Martin Vollenwyder untermauert
seine These, indem er die Medienopfer Philipp Hildebrand und Christian Wulff erwähnt. Ersterer beging
eine Handlung, die mit seiner Funktion als Präsident der Nationalbank
nicht vereinbar war. Zum Rücktritt
gab es keine Alternative. An den Inhaber eines hohen Amtes werden andere
Ansprüche gestellt als an einen gewöhnlichen Angestellten. Wenn das
nicht so ist, wird das Amt beschädigt.
Zwiespältiger ist der Fall des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten. Hier entstand tatsächlich der Eindruck, dass die Medien das Mass verloren und Wulff sich für Lappalien zu
rechtfertigen hatte. Wenig hilfreich
war allerdings, dass er dem Chefredaktor der Boulevardzeitung «Bild»
telefonisch den Krieg erklärte.
Der Tugendfuror, wie man ihn aus
deutschen Medien kennt, ist in der
Schweiz aber nur in Ansätzen zu
erkennen. Verschiedentlich ist im
Gegenteil festgestellt worden, dass es
hierzulande keine «Rücktrittskultur»
gebe – Politiker halten sich auch nach
recht schweren Fehltritten im Amt.
Ein politischer Amtsträger hat in der
Schweiz von den Medien wenig zu
befürchten, sofern er einigermassen
kompetent ist und nicht gleich den
Kopf verliert, wenn in seinem Verantwortungsbereich etwas schiefgeht.
Überempfindliche Personen, welche
Bitte noch
ein Album,
Ms. Hill
hre Haare sind kurz, ihr Aufzug unscheinbar. Mit finsterer
Miene schreitet sie zum Auto
– abgeschirmt von schrankgrossen Bodyguards. Journalistenfragen lässt sie unbeantwortet. Die Frau ist Lauryn
Hill, 37, Hip-Hop-Diva der Neunziger.
Minuten zuvor wurde sie von einer
Richterin in Newark, New Jersey, zu
drei Monaten Gefängnis und drei Monaten Hausarrest verurteilt. Hill unterliess es, Steuerrechnungen in der
Höhe von fast zwei Millionen Dollar
zu zahlen. Das Urteil ist milde. Die
Richterin berücksichtigte, dass Lauryn
Hill Mutter von sechs Kindern ist.
Vor Gericht bekannte sich Hill
schuldig, stellte sich jedoch trotzig als
Opfer dar. Sie habe der Musikindustrie Hunderte Millionen Dollar eingebracht. «Und nun muss ich mich mit
Steuerschulden herumschlagen. Wenn
das nicht der Sklaverei gleichkommt,
dann weiss ich auch nicht.»
Ihren Fans kommt das Steuerdrama
gerade recht. Seit 15 Jahren warten sie
auf ein neues Studioalbum des Ausnahmetalents. Hill muss neue Musik
machen, um ihre Schulden zu begleichen. Den Plattenvertrag mit Sony hat
sie schon unterschrieben.
Berühmt wurde Lauryn Hill mit der
Hip-Hop-Gruppe The Fugees. 1996
stürmte sie mit «Ready or Not» und
«Killing Me Softly» die Charts. Lauryn Hill war erst 21 und eine Schönheit. Ihre warme, kräftige Stimme, mit
der sie betörend sang und virtuos
rappte, war ein Markenzeichen der
Fugees. Dennoch stand sie im Schatten ihrer Bandkollegen Wyclef Jean
und Pras Michel. Sie fühlte sich nicht
ernst genommen. «Die Journalisten
fragten mich, was die Lieblingsfarbe
meines Lippenstiftes ist.»
Zwei Jahre später zeigte sie es allen.
Vor allem Wyclef Jean, mit dem sie
eine schwierige Liebesgeschichte verband. Sie veröffentlichte «The
Miseducation of Lauryn Hill».
Das Album klang souliger als
die Musik der Fugees und
tiefsinniger. Durch Hills
Musik floss Rhythm and
Blues, den sie schon in
der Kindheit über alte
Platten ihrer Eltern
eingesogen hatte. Die
Texte waren poetisch
und aussagestark.
«Doo Wop (That
Thing)» stieg direkt
als Nr. 1 in die USHitparade ein. Das
Album verkaufte sich
über 19 Millionen Mal.
Hill gewann fünf Grammys – keine Frau vor ihr
hatte das je geschafft.
Es hätte der Anfang der
Musiklegende Lauryn
Hill sein können. Doch
es wurde der Anfang
vom Ende. Lauryn Hill
hielt ihr Dasein als
Star nicht
mehr
Lauryn Hill,
Ex-Musikstar, muss
ins Gefängnis. Sie
hat ihre Steuern
nicht bezahlt.
Nun will sie ein
neues Album
herausbringen. Ihre
Fans warten seit 15
Jahren darauf. Von
Gordana Mijuk
Weite Reise der Rosen
Aus Äthiopien in
die Schweizer
Blumenläden. Seite 20
I
Ein politischer Amtsträger
hat in der Schweiz von den
Medien wenig zu befürchten,
sofern er einigermassen
kompetent ist und nicht
gleich den Kopf verliert,
wenn in seinem
Verantwortungsbereich
etwas schiefgeht.
aus. Ihr Leben bestand nur aus Studio,
Hotel, Bühne, Hotel, Studio, Hotel. Sie
konnte nicht mehr ungeschminkt einkaufen gehen, sie war gefangen in der
perfekten Illusion ihrer selbst. Von
der Plattenfirma fühlte sie sich eingeengt und instrumentalisiert.
Hill zog sich aus der Öffentlichkeit zurück
und griff zur Bibel. Gott war für
Hill, die aus
einer Mittelstandsfami-
SANDRA NIEMANN
15
PATRICK ROHR
NZZ am Sonntag
12. Mai 2013
die leiseste Kritik als persönlichen
Angriff deuten, halten sich von der
Politik besser fern. Sie sind aber
gerade in Exekutiven zahlreich – und
werden mit fortschreitender Amtsdauer oft noch dünnhäutiger.
Wer in Schweizer Zeitungsarchiven
40, 50 Jahre zurückblättert, findet eine
Presse, die sich in den Dienst von politischen Parteien stellte. Viel Verlautbarung ist da zu lesen und wenig Recherchiertes. Für das politische Personal war dies angenehm: Die Journalisten stellten nicht viele Fragen. Mindestens ein Blatt – jenes der eigenen
Partei – stand einem stets zur Seite.
Heute müssen Politiker ohne publizistische Hausmacht auskommen. Für
die Information der Öffentlichkeit ist
dies positiv; es wird unvoreingenommener berichtet. Der englische
Schriftsteller Gilbert Chesterton sagte,
wenn einem die Welt viel schlechter
erscheine als früher, liege das vielleicht daran, dass die Berichterstattung viel besser geworden sei.
In zwei Wochen tritt in der Stadt
Zürich ein Polizeikommandant sein
Amt an, der für seinen Fahrstil auf
Autobahnen verschiedentlich gebüsst
worden ist, zuletzt im Februar (3500
Franken Busse, bedingte Geldstrafe
von 40 Tagessätzen). Die Aufregung
in den Medien hält sich in Grenzen.
Man gibt dem Polizeichef eine Chance. Von «Reinheitsterror» keine Spur.
Dass sich gerade bürgerliche Parteien
wie die FDP schwertun mit guten
Kandidaten für Exekutivämter, hat
damit zu tun, dass viele Karrieren
in der Privatwirtschaft einträglicher
und weniger zeitaufwendig sind. Und
mit der Förderung politischer Nachwuchstalente hapert es. In der Verantwortung der Medien liegt das nicht.
lie in Orange South, New Jersey,
stammt, stets wichtig. Doch nun besuchte sie täglich Bibelkurse, wurde
Anhängerin eines spirituellen Lehrers,
der sich «Brother Anthony» nannte.
2001 kehrte Hill auf die Bühne zurück. Sie spielte für MTV Unplugged
eine Live-CD ein. Hill war heiser. Ihre
Eigenkompositionen, mit der Gitarre
vorgetragen, tönten unfertig und austauschbar, dazwischen verfiel sie in
ausschweifende Monologe über ihre
seelische Heilung, über ihre Abkehr
vom Ruhm und das Trugbild, das in
der Öffentlichkeit von ihr herrschte.
«Ich musste akzeptieren, wer ich bin,
und ein bisschen sterben.»
Musikalisch produzierte Hill nichts
mehr von Belang. Zwar tourte sie Mitte der 2000er Jahre mit den Fugees,
doch die Wiedervereinigung besiegelte nur die endgültige Trennung. Ständig kam sie zu spät zu Konzerten. Sie
wollte als «Ms. Hill» angesprochen
werden, auch von den Bandmitgliedern. Danach tourte sie wieder allein,
sang ihre alten Hits oft bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Manchmal
hiess es, sie arbeite an einem neuen
Album.
Die letzte Nachricht war 2011 die
Geburt ihres sechsten Kindes. Wer
der Vater ist, sagt Hill nicht. Fünf
hatte sie mit Rohan Marley, dem Sohn
der Reggae-Legende Bob Marley.
Ihre Fans hoffen, dass sie wieder
Grosses schafft. Einen neuen Song
gibt es bereits zu kaufen: «Neurotic
Society». Hill rappt atemberaubend
schnell Reime zu pulsierenden Beats.
Über unsere verrückte Gesellschaft.
Das Lied klingt unfertig.
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